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Herr Marmaduke und der Pfarrer

I.

Es scheint schon Winter bei uns, am Rande des schottischen Hochlandes, zu sein.

Als der Abend hereinbrach, sah ich zum Fenster hinaus, ehe ich die Fensterläden schloss und die Vorhänge für die Nacht zuzog. Die Wolken verbargen die Gipfel der Hügel auf jeder Seite unseres Tales. Seltsame Nebel zogen von niedrigeren Abhängen weg und kamen ihnen wieder nahe, je nachdem der wechselnde Wind sie trieb. Die sich verdunstenden Gewässer des Sees vor unserem Fenster schienen die kommende Finsternis im voraus anzunehmen. An den entfernteren Hügeln wurden Gießbäche sichtbar, als die Nebel sich teilten, und schlichen wie Silberfäden über den braunen Boden. Es war ein trauriges Bild. Die allgemeine Stille wurde nur durch das Rauschen unseres kleinen Wasserfalles auf der Rückseite des Hauses unterbrochen. Es tat mir nicht leid, die Fensterläden zu schließen und den Blick auf die vier Wände unseres Wohnzimmers zu beschränken.

Dieser Tag war gerade mein Geburtstag. Ich saß beim Braunkohlenfeuer, indem ich auf die Lampe und den Tee wartete und sozusagen von der ausblickfreien Warte meines fünfundfünfzigsten Lebensjahres herab über mein vergangenes Leben nachdachte. Es gab erstaunlich wenig, worauf ich zurückblicken konnte. Seit beinahe dreißig Jahren hatte es der allweisen Vorsehung gefallen, mein Schicksal an diesen entlegenen schottischen Weiler zu binden und mich zum Pfarrer von Cauldkirk mit einem jährlichen Gehalte von vierundsiebzig Pfund Sterling zu machen. Ich und meine Angehörigen sind zusammen in Ruhe älter und älter geworden. Ich habe meine Frau überlebt; ich habe ein Geschlecht meiner Pfarrkinder begraben, ein anderes verheiratet; ich habe die Abnutzung der Jahre besser ertragen als die Kirche, in welcher ich predige, und das Pfarrhaus, in welchem ich wohne, die beiden jämmerlich baufällig sind und die beide noch auf die frommen Wohltaten reicherer Leute, als ich es bin, rechnen, um die Mittel für eine Baureparatur zu erlangen. Man möge mich nicht missverstehen!

Nicht, dass ich mich über die geringe Stellung beklage, die ich einnehme. Ich habe reichliche Segnungen erfahren und ich danke Gott für dieselben. Ich habe mein bisschen Land und meine Kuh. Ich habe auch meine gute Tochter Felicia, die nach ihrer verstorbenen Mutter genannt ist, aber ihre anmutigen Blicke, wie man meint, eher von mir geerbt hat. Auch lasst mich meine ältere Schwester Judith nicht vergessen, eine freundlose, ledige Person, unter meinem Dache geborgen, deren Gemütsart ich etwas weniger geneigt wünschen könnte, Personen und Dinge von der dunklen Seite zu betrachten, aber der Himmel verhüte, dass ich ihre ausgleichenden Tugenden verleugnen sollte. Nein! Ich bin dankbar für das, was mir von oben gegeben worden, und ergeben bei dem, was mir genommen worden ist.

Mit was für schönen Aussichten trat ich ins Leben ein! Entsprossen von einem guten, alten schottischen Stamme, beglückt mit allen Vorteilen der Erziehung, welche die Einrichtungen Schottlands und Englands abwechselnd bieten konnten; mit einer Laufbahn vor mir als Jurist und im Parlament - und alles gleichsam in den Wind geworfen durch die maßlose Verschwendung meines unglücklichen Vaters; Gott vergib ihm!

Ich zweifle, ob ich fünf Pfund in meiner Börse hatte, als das Mitleid meiner Verwandten mütterlicher Seite mir eine Zufluchtsstätte in Cauldkirk eröffnete und mich vor der Welt für den Rest meines Lebens verbarg.

14. September - So weit hatte ich mein Tagebuch am Abend des dreizehnten geführt, als ein meinem Haushalte und mir selbst so völlig unerwartetes Ereignis eintrat, dass mir die Feder, möchte ich sagen, sogleich aus der Hand fiel.

Es war die Zeit, als wir unseren Tee oder unser Abendessen beendigt hatten - ich weiß kaum, wie ich es nennen soll. In der Stille konnten wir hören, wie der Regen sich gegen das Fenster ergoss und der Wind, welcher sich mit der Dunkelheit erhoben hatte, um das Haus heulte.

Meine Schwester Judith, die ihrer Gewohnheit nach die düstere Ansicht vertrat - reichliche Züge guten schwarzen Tees und zwei Vorlagen eines solchen Hammelschenkels, wie nur Schottland ihn hervorbringen kann, hatten nicht die Wirkung, ihre Lebensgeister aufzurichten - meine Schwester, sage ich, bemerkte, dass es diese Nacht auf der See zugrunde gehende Schiffe und ertrinkende Menschen geben würde. Meine Tochter Felicia, das heiterste weibliche Wesen, das ich je gekannt habe, versuchte, den düsteren Prophezeiungen ihrer Tante eine freundlichere Wendung zu geben. »Wenn die Schiffe zugrunde gehen müssen«, sagte sie, »können wir sicherlich hoffen, dass die Menschen gerettet werden.« »Wenn Gott will«, setzte ich hinzu, indem ich damit dem menschenfreundlichen Gefühlsausdruck meiner Tochter den passenden religiösen Ton gab, da war alles, was ihm fehlte - und dann fuhr ich mit meiner Aufzeichnung der Ereignisse und Betrachtungen des Tages fort. Nichts wurde gesprochen. Felicia ergriff ein Buch, Judith ihre Stickerei. - Auf einmal wurde die Stille durch einen Schlag gegen die Haustür unterbrochen. Meine beiden Gesellschafterinnen stießen, wie es die Art der Frauen ist, einen Schrei aus. Ich selbst war bestürzt und wunderte mich, wer draußen in dem Regen und in der Dunkelheit sein könnte. Es musste ein Fremder sein. Mochte es hell oder dunkel sein, jede Person in oder bei Caulskirk, die Einlass wünschte, wusste, wo der Schellengriff an der Seite der Tür zu finden war.

Ich wartete eine Weile, um zu hören, was folgen würde. Der Schlag wurde wiederholt, aber sanfter. Es geziemte mir als Mann und als Geistlicher, ein Beispiel zu geben. Ich ging in den Hausgang hinaus und rief durch die Tür: »Wer ist da?« Die Stimme eines Mannes antwortete - so schwach, dass ich ihn kaum hören konnte: »Ein verirrter Reisender.«

Hierauf drückte sogleich meine freundliche Schwester ihre Ansicht von der Sache durch die offene Tür des Sprechzimmers aus: »Bruder Noah, es ist ein Dieb, lass ihn nicht herein!«

Was würde der barmherzige Samariter an meiner Stelle getan haben? Sicherlich würde er es gewagt und die Tür geöffnet haben. Ich ahmte den barmherzigen Samariter nach.

Ein Mann, der vom Regen troff, wankte, mit einem Ränzchen auf dem Rücken und einem dicken Stock in der Hand, herein und würde, glaube ich, in den Hausgang gefallen sein, wenn ich ihn nicht aufgefangen hätte. Judith guckte aus dem Zimmer und sagte: »Er ist betrunken.« Felicia stand hinter ihr und hielt ein angezündetes Licht in die Höhe, um besser zu sehen, was vorging. »Sieh ihm ins Gesicht, Tante!« sagte sie. »Er ist von Müdigkeit erschöpft, der arme Mann! Bringe ihn herein, Vater, bringe ihn herein!«

Gute Felicia! Ich war stolz auf mein Mädchen. »Er wird den Teppich verderben!« sagte Schwester Judith. Ich entgegnete: »Still! Schäme dich!«, brachte ihn herein und ließ ihn noch triefend in meinem eigenen Lehnstuhl nieder. Würde der barmherzige Samariter an seinen Teppich oder seinen Sessel gedacht haben? Ich dachte an sie, aber ich blieb Sieger. Ach, wir sind ein in Verfall geratenes Geschlecht in unseren Tagen!

»Sei schnell, Vater!« sagte Felicia, »er wird in Ohnmacht fallen, wenn du ihm nicht etwas gibst!«

»Ich nahm einen von unseren kleinen Trinkbechern heraus (unter uns »Quaigh« genannt) während Felicia auf mein Geheiß nach der Rahmkanne in die Küche eilte. Nachdem ich den Becher mit Kornbranntwein und Rahm in gleichen Teilen gefüllt hatte, bot ich ihm denselben an. Er trank ihn aus, als wenn es ebensoviel Wasser gewesen wäre. »Anregend und nährend im gleichen Grade, Sie werden's spüren, mein Herr«, bemerkte ich ihm. »Wie fühlen Sie sich jetzt?« »Bereit für einen anderen!« erwiderte er.

Felicia lachte laut auf. Ich gab ihm einen anderen. Als ich mich wendete, um ihm den Trank zu geben, trat Schwester Judith auf mich zu und schnappte die Rahmkanne weg. Niemals war Schwester Judith, auch in ihrer besten Zeit nicht, eine freigebige Person, besonders nicht, wenn es sich um Rahm handelte. Er reichte mir den leeren Becher zurück. »Ich glaube, mein Herr, Sie haben mir das Leben gerettet«, sagte er. »Im Namen der Vorsehung«, setzte ich hinzu. »Aber ich möchte bemerken, wenn ich den Zustand Ihrer Kleider betrachte, dass ich Ihnen noch einen anderen Dienst anzubieten habe, ehe Sie uns erzählen, wie Sie in diesen bejammernswerten Zustand gerieten.«

Mit dieser Erwiderung führte ich ihn die Treppe hinauf, legte die spärlichen Schätze meines Kleiderschrankes vor ihn hin und überließ ihm, dieselben so gut als möglich zu benutzen. Er war ein etwas kleiner Mann, ich habe an die sechs Fuß. Als er in meinen Kleidern zu uns herunter kam, hatten wir den fröhlichsten Abend, dessen ich mich seit Jahren erinnern kann.

Ich dachte, Felicia würde in einen Lachkrampf fallen, und selbst Schwester Judith lachte, so eine komische Figur spielte er im geistlichen Kleide.

Was das Missgeschick betrifft, welches ihn betroffen hatte, so bot es ein Beispiel mehr von der unnatürlichen Eilfertigkeit des englischen Reisenden in Gegenden, die ihm unbekannt sind.

Er befand sich auf einer Fußtour durch Schottland und er hatte sich gerühmt, ohne Führer von einer Stadt zwanzig Meilen zu Fuß quer über das schottische Hochland zu einer anderen Stadt zu gehen.

Einzig ein Wunder war es, dass er seinen Weg nach Cauldkirk fand, anstatt an seinem Wagnis in dem einsamen Hügelland zugrunde zu gehen.

»Wollen Sie heute abend in Ihrem Gebete zum Throne der Gnade Ihren Dank für Ihre Errettung darbringen?« fragte ich ihn. Und er antwortete: »Gewiss will ich dies!«

Wir haben im Pfarrhause ein Zimmer übrig, aber es ist seit mehr als einem Jahre nicht bewohnt worden. Wir machten ihm daher sein Bett für diese Nacht auf dem Sofa des Empfangszimmers und so ließen wir ihn mit dem Feuer an einer Seite seines Lagers und dem Branntwein nud dem Hammelschinken an der anderen für den Fall der Not. Er nannte seinen Namen, als wir ihm gute Nacht wünschten: Marmaduke Felmer von Lonion, Sohn eines jetzt verstorbenen Geistlichen der englischen Staatskirche. Es war klar, will ich hinzufügen, dass wir, ehe er sprach, die Gastfreundschaft des Pfarrhauses einem Manne von seiner Bildung gewährt hatten.

15. September. Ich habe einen besonders angenehmen Tag zu verzeichnen, den wir teils der Rückkehr des schönen Wetters, teils den geselligen Talenten unseres Gastes verdankten.

Wieder in seiner eigenen Kleidung, war er, obschon es ihm an Höhe des Wuchses fehlte, doch ein Mann im schönsten Ebenmaß mit bemerkenswert kleinen Händen und Füßen; er hatte ein geistreiches, ausdrucksvolles Gesicht und große, dunkle Augen von außerordentlicher Mannigfaltigkeit des Blickes. Er war von angenehmem und heiterem Temperament, das sich über Geringfügiges freuen konnte, und in liebenswürdiger Weise bereit, seine Talente uns allen angenehm zu machen.

Zudem konnte eine Person von meiner Erfahrung und Einsicht nicht wohl übersehen, dass er am zufriedensten in Gesellschaft mit Felicia war. Ich habe schon die anmutigen Blicke und die weiblichen Vorzüge meiner Tochter erwähnt. Es war natürlich, dass ein junger Mann, um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, welcher vor seinem einunddreißigsten Geburtstag stand, zu einem schönen Mädchen von vierundzwanzig Jahren sich hingezogen fühlte. In derartigen Dingen habe ich immer, meiner eigenen Jugend wohl eingedenk, eine freiere Ansicht vertreten.

Als der Abend hereinbrach, nahm ich mit Bedauern eine gewisse Veränderung an unserem Gaste zum Schlimmern wahr. Er zeigte Müdigkeit, schlief mehrmals auf seinem Stuhle ein, wachte wieder auf und ein Zittern durchlief seinen Körper. Das Reserve-Zimmer war jetzt wohlgelüftet und hatte ein hellloderndes Feuer den ganzen Tag gehabt.

Ich bat ihn, keine Umstände zu machen und sich sogleich zu Bett zu begeben.

Felicia, welche die Zubereitung von ihrer ausgezeichneten Mutter gelernt hatte, machte ihm einen warmen Schlaftrunk von Eiern, Zucker, Muskatnuss und Spirituosen, ebenso köstlich für den Geruch wie für den Geschmack.

Schwester Judith wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, und erfreute mich dann mit einer ihrer Unglücksweissagungen. »Du wirst den Tag bereuen, Bruder, an dem du ihn in das Haus einließest; er ist nahe daran, in unseren Händen krank zu werden.«

II.

28. November. Gott sei gepriesen für all seine Barmherzigkeit!

An diesem Tage gesellte sich unser Gast Marmaduke Felmer zum ersten Mal seit seiner Krankheit zu uns unten in der Wohnstube. Er war durch das zehrende, rheumatische Fieber welches ihn dem Tode nahe brachte, körperlich ganz heruntergekommen. Aber er ist noch jung und der Arzt zweifelt (menschlich gesprochen) nicht an seiner schnellen und gänzlichen Wiederherstellung. Meine Schwester hat die entgegengesetzte Ansicht. Sie bemerkte in seiner Gegenwart, dass niemand je ein rheumatisches Fieber vollständig überwunden habe. O Judith, Judith, es ist gut für die Menschheit, dass du eine ledige Person bist! Wenn vielleicht irgend ein Mann verzweifelt genug gewesen wäre, solch eine Frau durch die Ehe an sich zu fesseln, was für eine schwarzblickende Nachkommenschaft würde von dir hergekommen sein!

Wenn ich mein Tagebuch in den zwei letzten Monaten oder etwas mehr überblicke, finde ich eine eintönige Aufzeichnung der Leiden des armen Burschen, welche, wie ich mit Freuden hinzufüge, durch die hingebenden Dienste meiner Tochter am Krankenbette des Mannes erleichtert und gelindert wurden.

Mit einiger Hilfe von ihrer Tante (am bereitwilligsten gewährt, als die Todesgefahr am größten war) und mit den notwendigen Diensten, welche von zwei bejahrten Frauen aus Cauldkirk abwechselnd verrichtet wurden, hätte ihn Felicia nicht sorgsamer verpflegt haben können, wenn er ihr eigener Bruder gewesen wäre.

Zur Hälfte gebührte das Verdienst, ihn durchgerissen zu haben, wie der Arzt selbst bekannte, der besonnenen jungen Wärterin, die während der schlimmsten Zeit der Krankheit immer hilfsbereit war und während der folgenden langwierigen Genesung nie ihre Heiterkeit verlor.

Ich muss auch zu Gunsten Marmadukes erwähnen, dass er in der Tat, wie sich's gebührte, dankbar war.

Wenn ich ihn in das Besuchszimmer führte und er Felicia, lächelnd und für ihn die Kissen klopfend, am Lehnstuhl wartend sah, nahm er sie bei der Hand und brach in Tränen aus. Teilweise Schwäche, kein Zweifel - aber im Grunde aufrichtige Dankbarkeit, dessen bin ich ebenso gewiss.

29. November. Indessen gibt es Grenzen selbst für die aufrichtige Dankbarkeit. Dieser Wahrheit gegenüber scheint Herr Marmaduke nicht vorsichtig genug zu sein. Als ich heute bald nach Mittag in die Wohnstube trat, fand ich unseren genesenden Gast und seine Pflegerin allein. Sein Kopf ruhte auf ihrer Schulter; sein Arm war um ihre Taille geschlungen und (die Wahrheit über alles) Felicia küsste ihn.

Ein Mann mag von einer freien Geistesrichtung sein und kann sich doch entschieden der Freiheit entgegenstellen, wenn sie die Form von unerlaubtem Umarmen und Küssen annimmt, wenn die Person seine eigene Tochter und der Ort sein eigenes Haus ist.

Ich winkte dem Mädchen, uns zu verlassen und ging auf Herrn Marmaduke zu; aber als die Meinung über seine Aufführung mir gerade in Worten über die Lippen kam, versetzte er mich in Erstaunen, indem er um die Hand Felicias bat.

»Sie brauchen keinen Zweifel zu hegen, ob ich imstande bin, Ihrer Tochter eine behagliche und achtbare Stellung zu bieten«, sagte er, »ich habe ein festes Einkommen von achthundert Pfund das Jahr.«

Sein Entzücken über Felicia, seine Beteuerungen, dass sie die erste Frau sei, die er je wirklich geliebt habe, seine gottlose Erklärung, dass er zu sterben vorziehe, wenn ich es ablehnte, ihn ihr Gatte werden zu lassen - alle diese Schnörkel, wie ich sie nennen möchte, gingen mir zu einem Ohr hinein und zum anderen heraus.

Aber achthundert Pfund Sterling fürs Jahr, die gleichsam in einer goldenen Lawine in das Gemüt eines schottischen Geistlichen hineinfuhren, der seit dreißig Jahren je vierundsiebzig Pfund vor sich zu sehen gewöhnt war, achthundert Pfund jährlich in der Tasche eines jungen Mannes, das, sage ich, überwältigte mich vollständig.

Ich konnte gerade nur antworten: »Warten Sie bis morgen!« und eilte hinaus, um meine Selbstachtung wieder zu erlangen, wenn dies irgendwie möglich sein sollte. Ich nahm meinen Weg durch das Tal. Die Sonne schien wundervoll. Als ich meinen Schatten an der Seite des Hügels erblickte, sah ich das goldene Kalb als einen wesentlichen Teil meines Selbst, das die Inschrift in Flammenbuchstaben trug: »Hier ist ihrer noch eines.«

30. November. Ich habe für den gestrigen Abfall Ersatz geleistet; ich habe gehandelt, wie es meiner väterlichen Würde und meinem heiligen Berufe geziemt. Die Versuchung, anders zu handeln, hat nicht gefehlt. Schwester Judiths Rat war: »Versichere dich, dass er zunächst das Geld bekommt und nagele ihn ums Himmels willen fest.«

Herrn Marmadukes Vorschlag war folgender: »Machen Sie irgendwelche beliebige Bedingungen, sofern Sie mir nur Ihre Tochter geben!« Und endlich Felicias Bekenntnis:

»Vater, mein Herz hängt an ihm, es gehört ihm. O, sei nicht zum ersten Mal in deinem Leben unfreundlich gegen mich!«

Aber ich blieb fest. Ich weigerte mich, irgendetwas weiter über den Gegenstand von einem von ihnen in den nächsten sechs Monaten zu hören. »Ein so wichtiges Vorhaben, als es das Wagnis einer Heirat ist«, sagte ich, »soll nicht in einem plötzlichen Anlaufe ausgeführt werden. Sobald Herr Marmaduke reisen kann, ersuche ich ihn, uns zu verlassen und nicht vor sechs Monaten zurückzukehren. Wenn er nach dieser Zeit noch derselben Meinung ist, auch meine Tochter noch ebenso denkt, lass ihn nach Caulskirk zurückkehren und vorausgesetzt, dass ich in jeder anderen Hinsicht befriedigt werde - mag er bei mir um dich werben.«

Es gab Tränen, es gab Beteuerungen; ich blieb unerschütterlich. Eine Woche später verließ uns Marmaduke, um in kleinen Tagereisen sich nach dem Süden zu begeben. Ich bin kein harter Mann. Ich belohnte die Liebenden für ihren Gehorsam dadurch, dass ich Schwester Judith aus dem Wege hielt und sie ihre Abschiedsworte einschließlich Zubehör unter vier Augen sagen ließ.

III.

28. Mai. Ein Brief von Marmaduke, welcher mich benachrichtigt, dass ich ihn zu Caulskirk erwarten möchte, genau beim Ablauf der sechsmonatlichen Frist: am 7. Juni.

Indem er zu diesem Zwecke schrieb, fügte er ein rechtzeitiges Wort in Betreff seiner Familie bei. Seine beiden Eltern waren tot; sein einziger Bruder hatte eine Zivilstellung in Indien, deren Ort genannt war. Sein Oheim (seines Vaters Bruder) war Kaufmann und in London wohnhaft, und auf diesen nahen Verwandten bezog er sich, wenn ich Nachforschungen über ihn zu machen wünschte. Es folgten die Namen seiner Bankiers, die ermächtigt seien, mir jede Auskunft über seine Vermögensverhältnisse zu geben. Nichts konnte klarer und redlicher sein. Ich schrieb an seinen Oheim und an seine Bankiers. In beiden Fällen waren die Antworten vollkommen befriedigend - nicht im geringsten Grade zweifelhaft, keine Ausflüchte, keine Geheimnisse.

Mit einem Worte, Marmaduke selbst war vollständig verbürgt und Marmadukes Einkommen war in Wertpapieren angelegt, die jede Besorgnis oder Zweifel ausschlossen. Selbst Schwester Judith, die geneigt war und eifrig versuchte, irgendein Loch in die Auskunft zu stechen, konnte daran nichts aussetzen.

Der letzte Satz in dem Briefe Marmadukes war der einzige Teil desselben, der mir beim Lesen keine Freude machen konnte. Er überließ es mir, den Tag für die Hochzeit festzusetzen, und bat mich, dies sobald als möglich zu tun.

Ich bekam einen Anfall von Herzweh, wenn ich daran dachte, mich von Felicia zu trennen und mit niemand als mit Schwester Judith zu Hause zurückzubleiben.

Indessen überwand ich dies damals; nachdem ich mich mit meiner Tochter beraten hatte, entschieden wir uns, einen Tag - vierzehn Tage nach der Ankunft Marmadukes - zu bestimmen; den 21. Juni.

Dies gab Felicia Zeit für ihre Vorbereitungen, außerdem bot es mir Gelegenheit, mit dem Charakter meines Schwiegersohnes besser bekannt zu werden.

Die glücklichste Heirat stellt unzweifelhaft ihre Forderungen an die menschliche Geduld, und ich war neben anderem besorgt, mich über das gute Gemüt Marmadukes zu vergewissern.

IV.

22. Juni. Die glückliche Veränderung in dem Leben meiner Tochter - lasst mich nichts von der Veränderung in meinem eigenen Leben sagen - ist gekommen; sie wurden gestern verheiratet.

Das Pfarrhaus ist eine Einöde und Schwester Judith war mir nie eine so unsympathische Gefährtin, als wie ich sie jetzt empfand. Ihre letzten Worte an das junge Paar, als es wegfuhr, waren: »Der Herr helfe euch beiden; all euer Kummer steht euch noch bevor.«

Ich hatte nicht die Kraft, den Tagebuchsbericht gestern abend wie gewöhnlich zu schreiben. Felicias Abwesenheit drückte mich völlig nieder. Ich, der ich so oft andere in ihrer Betrübnis aufgerichtet hatte, konnte für mich selbst keinen Trost finden. Selbst jetzt, wo der Tag vorüber ist, kommen mir die Tränen in die Augen, wenn ich nur davon schreibe. Traurige, traurige Schwäche!

Ich will mein Tagebuch schließen und die Bibel öffnen - lasst mich wieder mir selbst gehören!

23. Juni. Ergebener seit gestern, in einer geziemenderen und frömmeren Gemütsverfassung. Gottes heiligem Willen gehorsam und zufrieden in dem Glauben, dass meiner teuren Tochter Ehe eine glückliche sein werde.

Sie sind auf ihrer Hochzeitsreise durch Frankreich nach der Schweiz gekommen. Ich war alles andere eher als erfreut, als ich hörte, dass mein Schwiegersohn vorhatte, Felicia, in jenen Pfuhl der Sünde, nach Paris, mitzunehmen. Er weiß schon, was ich über Bälle, Theater und ähnlichen Teufels-Zeitvertreib denke und zu welchen Ansichten hierüber ich meine Tochter erzogen habe; der Gegenstand war in unserer Unterhaltung während der letzten Woche mehrfach berührt worden. Dass er daran denken konnte, mein Kind an den Hauptschauplatz unanständiger Tänze und abscheulicher Schauspiele, zu deklamierenden Schelmen und geschminkten Weibspersonen mitzunehmen, war wirklich ein schwerer Schlag für mich. Indessen söhnte mich Felicia zuletzt damit aus. Sie erklärte, dass, indem sie nach Paris gehe, ihr einziger Wunsch sei, die Gemäldegalerien, die öffentlichen Gebäude zu sehen und den hübschen äußeren Anblick der Stadt im allgemeinen zu genießen.

»Deine Ansichten, Vater, sind auch die meinigen«, sagte sie, »und Marmaduke wird sicherlich die Anordnungen so treffen, dass wir nicht einen Sonntag in Paris zuzubringen brauchen.«

Marmaduke mit seinem so guten Gemüt, von dem ich mehr als einen erfreulichen Beweis erhalten habe, willigte nicht allein ein, sondern versicherte mir überdies, dass es ihm selbst persönlich eine Beruhigung sein würde, wenn sie an den Bergen und Seen angelangt seien. So war diese Angelegenheit glücklich geordnet. Mögen sie gehen, wohin sie wollen, Gott segne und beglücke sie!

Wenn ich von Beruhigung spreche, muss ich erwähnen, dass Judith zum Besuche einiger Freundinnen nach Aberdeen gegangen ist. »Du wirst schon durch dich selbst hier unglücklich genug sein«, sagte sie beim Weggehen. Reine Eitelkeit und Selbstgefälligkeit! Mag es Ergebung in ihre Abwesenheit, oder mag es die natürliche Macht des Gemütes sein, ich fing an, ruhiger und gelassener in dem Augenblicke zu sein, wo ich allein war und dieses Glück des Gefühls hat seither ununterbrochen fortgedauert.

V.

5. September. Eine plötzliche Veränderung in meinem Leben, die ich nur mit Bestürzung aufzuzeichnen vermag.

Ich gehe nach London!

Meine Absicht bei diesem so ernsten Schritt ist zwiefacher Art. Ich habe ein größeres und ein geringeres Ziel vor Augen. Das größere ist, meine Tochter zu sehen und selbst zu urteilen, ob gewisse Zweifel über die Lebensfrage ihres Glückes, welche mich jetzt Tag und Nacht quälen, unglücklicherweise auf Wahrheit beruhen.

Sie und ihr Gatte kehrten im August von ihrer Hochzeitsreise zurück und nahmen ihren Aufenthalt in Marmadukes neuem Wohnsitz in London.

Bis zu dieser Zeit waren Felicias Briefe an mich in voller Wahrheit die Wonne meines Lebens - sie war so vollkommen glücklich, so voll Staunen und Freude über all die wundervollen Dinge, welche sie sah, so voll von Liebe und Bewunderung für den besten Gatten, welcher je gelebt. Seit ihrer Rückkehr nach London bemerkte ich eine vollständige Veränderung. Sie brachte keine bestimmte Frage vor, aber sie schreibt in einem Tone des überdrusses und der Unzufriedenheit; sie sagt fast nichts von Marmaduke, und sie verharrte fortwährend auf der einen Idee, dass ich nach London gehe und sie besuche.

Ich hoffe von ganzem Herzen, dass ich unrecht habe; aber die seltenen Anspielungen auf ihren Gemahl und der beständig wiederholte Wunsch, ihren Vater zu sehen, während sie noch nicht drei Monate verheiratet ist, scheinen mir schlimme Zeichen zu sein. Kurz, meine Besorgnis ist zu groß, als dass ich sie länger ertragen könnte.

Ich habe meine Angelegenheiten so mit einem meiner Amtsbrüder geordnet, dass ich frei bin, um wohlfeil mit einem Dampfer nach London zu reisen, und ich beginne morgen die Reise.

Der geringere Zweck meiner Reise mag in zwei Worten abgetan werden. Da ich mich schon entschieden habe, nach London zu gehen, will ich bei dem reichen Edelmann vorsprechen, welcher all das Land in der Umgegend besitzt, und ihm den jämmerlichen und wirklich gefährlichen Zustand der Pfarrkirche und den Mangel an Mitteln, die notwendige Reparatur vorzunehmen, vorstellen. Wenn ich mich gut aufgenommen finde, werde ich auch ein Wort für das Pfarrhaus einlegen, welches fast in einer ebenso jämmerlichen Beschaffenheit ist wie die Kirche. Mein Grundherr ist ein reicher Mann - möchte sein Herz und seine Börse mir geöffnet sein!

Schwester Judith packte meinen Mantelsack. Nach ihrer Gewohnheit sagt sie das Schlimmste voraus: »Vergiss nie«, bemerkt sie, »dass ich dich vor Marmaduke in der ersten Nacht warnte, als er das Haus betrat.«

VI.

10. September. Nach mehreren Hindernissen zu Wasser und zu Lande wurde ich endlich in der Nähe des Tower gestern nachmittag ans Ufer gesetzt. Gott helfe uns, meine schlimmsten Vorahnungen sind verwirklicht worden! Meine geliebte Felicia bedarf meiner aufs dringendste. Ich kann nicht leugnen, dass ich das Haus meines Schwiegersohnes in einer beunruhigten und gereizten Gemütsverfassung betrat. Zuerst wurde ich durch die beinahe endlose Reise von dem Flussquai bis zum Westende von London, wo Marmaduke wohnt, auf die Probe gestellt in dem lärmenden und unbequemen Fuhrwerk, welches man eine Droschke nennt.

Dann wurde ich durch einen Zwischenfall geärgert und beunruhigt, welcher noch auf der endlosen Reise von Osten nach Westen in einer Straße dicht an dem Markt vor Covent-Garden stattfand. Wir hatten uns gerade einem großen Gebäude genähert, welches sehr verschwenderisch mit Gas erleuchtet war, und an welchem ungeheuere farbige Plakate ausgehängt waren, auf welchen nichts als der Name Barrymore stand. Die Droschke stand plötzlich still, und indem ich herausschaute, um zu sehen, was für ein Hindernis vorhanden sein möchte, entdeckte ich einen gewaltigen Auflauf von Männern und Frauen, quer über das Trottoir und die Straße sich ziehend, sodass es unmöglich schien, an ihnen vorbeizukommen. Ich befragte den Kutscher, was diese Volksversammlung zu bedeuten habe. »O«, sagte er, »Barrymore hat wieder etwas Neues im Werk.« Da diese Antwort mir vollständig unverständlich war, bat ich um weitere Erklärung und erfuhr, dass Barrymore der Name eines Schauspielers war, der bei der Masse in Gunst stand, dass das Gebäude ein Theater war, und dass alle diese Geschöpfe mit unsterblicher Seele warteten, bis dass die Türen geöffnet wurden, um Plätze zum Schauspiel zu bekommen.

Die Gefühle des Kummers und des Unwillens, die durch diese Entdeckung verursacht wurden, nahmen mich so in Anspruch, dass ich nicht bemerkte, wie der Kutscher versuchte, durchzukommen, wo die Menge weniger dicht zu sein schien, bis das beleidigte Volk das Weiterfahren übelnahm. Einige von ihnen ergriffen die Zügel des Pferdes, andere waren daran, den Kutscher vom Bock zu zerren, als die Polizei vorsorglich sich einmischte. Unter ihrem Schutz zogen wir uns zurück und erreichten unsere Bestimmung in Sicherheit auf einem anderen Wege. Ich erwähne dieses sonst unwichtige Begebnis, weil es mich kränkte und empörte, wenn ich an die Seelen der Leute dachte und so mein Gemüt unfähig machte, einen heiteren Eindruck von irgendetwas anderem zu erhalten. Unter diesen Umständen gab ich mich der Hoffnung hin, die Sachlage hinsichtlich des ehelichen Lebens meiner Tochter übertrieben zu haben.

Mein gutes Mädchen erstickte mich fast mit Küssen. Als ich endlich dazu kam, sie zu betrachten, fand ich, dass sie blass, erschöpft und ängstlich aussah. Es ist die Frage: Würde ich zu diesem Schluss gelangt sein, wenn ich vorhin nicht der gottlosen Verschwendung in London begegnet und wenn ich behaglich in einem bequemen Fuhrwerk gefahren wäre?

Sie hatten ein kräftiges Mahl für mich bereitet, und, wie ich's gerne habe, einen echt reinen schottischen Branntwein. Jetzt bemerkte ich wieder, dass Felicia sehr wenig aß, und Marmaduke gar nichts. Er trank auch Wein - und, guter Himmel, Champagner! - sicherlich eine unnötige Geldverschwendung, wenn es Branntwein auf dem Tische gab. Als mein Appetit befriedigt war, verließ mein Schwiegersohn das Zimmer und kehrte mit dem Hute in der Hand zurück. »Sie und Felicia haben über manches an diesem ersten Abend miteinander zu plaudern. Ich will euch für eine Weile verlassen, - ich würde euch nur im Wege sein.«

So sprach er. Vergebens versicherte ihm seine Frau und ich, dass er durchaus nicht im Wege sei. Er küsste ihr die Hand, lächelte verbindlich und verließ uns.

»Da, Vater!« sagte Felicia. »In den letzten zehn Tagen ging er aus wie diesmal und ließ mich während des ganzen Abends allein. Als wir zuerst aus der Schweiz zurückkehrten, verließ er mich in derselben geheimnisvollen Weise, nur war es damals nach dem Frühstück. Jetzt bleibt er bei Tage zu Hause und geht abends aus.«

Ich fragte, ob sie ihn nicht aufgefordert habe, ihr eine Erklärung zu geben. »Ich weiß nicht, was ich aus seiner Erklärung machen soll«, sagte Felicia. »Als er bei Tag wegging, sagte er mir, er habe Geschäfte in der Stadt. Seitdem er sich darauf verlegt, abends auszugehen, sagt er, er gehe in seinen Klub.« »Hast du gefragt, wo sein Klub ist, meine Teure?« »Er sagt, es sei in Pall Mall. Es gibt Dutzende von Klubs in jener Straße, und er hat mir nie den Namen seines Klubs gesagt. Ich bin vollständig von seinem Vertrauen ausgeschlossen. Würdest du es glauben, Vater? ER hat noch nicht einen seiner Freunde bei mir eingeführt, seit wir heimkamen. Ich bezweifle, ob sie wissen, wo er wohnt, seitdem er dieses Haus mietete.«

Was konnte ich sagen? Ich sagte nichts und sah mich im Zimmer um. Es war mit größter Pracht eingerichtet. Ich bin ein unerfahrener Mann in derartigen Sachen, und teils um meine Neugier zu befriedigen, teils um das Thema des Gespräches zu ändern, wünschte ich das Haus zu sehen. Gottes Gnade behüte uns! Dieselbe Pracht überall! Ich möchte wissen, ob selbst ein Einkommen von achthundert Pfund das Jahr für all das ausreichen kann. Ja, als ich gerade darüber meine Betrachtung machte, durchkreuzte ein in der Tat schrecklicher Argwohn meinen Sinn. Bedeutete diese geheimnisvolle Abwesenheit in Verbindung mit dem ungewöhnlichen Luxus, welcher uns umgab, dass mein Schwiegersohn ein Spieler war? Ein schamloser Kartenmischer oder ein liederlicher Glücksjäger bei Pferderennen? Während ich noch vollständig in den Ahnungen kommenden Unglücks befangen war, legte meine Tochter ihren Arm in dem meinigen, um mich in den oberen Teil des Hauses zu geleiten. Zum ersten Mal bemerkte ich ein Armband von funkelnden Edelsteinen an ihrem Handgelenk. »Doch nicht Diamanten?« fragte ich. Sie antwortete mit so viel Gemütsruhe, als wenn sie die Gemahlin eines Edelmannes gewesen wäre: »Ja, Diamanten - ein Geschenk Marmadukes.« Das war zu viel für mich. Meine Ahnung brach in die Worte aus: »O mein armes Kind! Ich bin in Todesfurcht, dass dein Gemahl ein Spieler ist!« Sie zeigte nicht das Entsetzen, das ich erwartete; sie schüttelte nur den Kopf und fing an zu weinen. »Schlimmeres als das, fürchte ich«, sagte sie.

Ich war versteinert; meine Zunge verweigerte ihren Dienst, während ich sie gerne gefragt hätte, was sie meinte. Die Sünde, die sie beherrschte, die arme Seele, ist der Stolz. Sie trocknete sich rasch die Augen und erwiderte freimütig:

»Ich will nicht darüber weinen. Kürzlich, Vater, gingen wir im Parke spazieren. Eine abscheuliche, kecke, gelbhaarige Frau fuhr an uns in einem offenen Wagen vorüber. Sie warf Marmaduke eine Kusshand zu und rief: 'Wie geht es Ihnen, Marmy?' Ich war so erbittert, dass ich ihn wegstieß und ihm zurief, er solle gehen und mit seiner Dame eine Spazierfahrt machen. Er brach in ein Gelächter aus. 'Unsinn', sagte er, 'sie kennt mich schon seit Jahren; du verstehst unsere leichten Londoner Sitten nicht.' Wir haben den Streit seitdem beigelegt, aber ich habe meine eigene Meinung von dem Geschöpfe in dem offenen Wagen.«

Vom sittlichen Standpunkt aus war dies schlimmer als alles. Aber logisch betrachtet, konnte es durchaus nicht das diamantene Armband und die prächtige Einrichtung erklären. Wir gingen weiter in den obersten Stock. Er war von dem übrigen Hause durch eine starke Scheidewand von Holz und eine Tür abgeschlossen, die mit grünem Wollenzeug überzogen war.

Als ich die Tür untersuchte, fand ich sie verschlossen. »Ha!« sagte Felicia. »Ich wünschte, dass du es selber sähest.«

Ein noch verdächtigeres Verfahren meines Schwiegersohnes! Er hielt die Tür beständig verschlossen und den Schlüssel in der Tasche.

Wenn seine Frau ihn fragte, was dies bedeute, antwortete er: »Mein Studierzimmer ist dort oben und ich habe es gerne für mich ganz allein.« Nach solch einer Erwiderung erlaubte die Wahrung ihrer Würde meiner Tochter nur die eine Antwort: »O, so behalte es nur allein für dich selbst!« Meine böse Ahnung nahm jetzt eine andere Richtung. Ich fragte mich selbst, im Hinblick auf den verschwenderischen Aufwand meines Schwiegersohnes, ob die Lösung des Rätsels nicht vielleicht die Herstellung falscher Banknoten auf der Innenseite der mit Wollenzeug überzogenen Tür sein möchte. Mein Gemüt war damals auf alles vorbereitet. Wir gingen wieder in das Speisezimmer hinunter. Felicia sah, wie meine Lebensgeister am Verlöschen waren, sie kam und setzte sich auf meine Knie. »Genug von meinem Kummer für heute abend, Vater!« sagte sie. »Ich will wieder dein kleines Mädchen sein, und wir wollen von nichts als von Cauldkirk reden, bis Marmaduke zurückkommt.«

Ich bin einer der standhaftesten Männer, die leben; aber ich konnte nicht die heißen Tränen aus meinen Augen zurückhalten, als sie ihren Arm um meinen Hals schlang und diese Worte sagte. Zum Glück saß ich mit meinem Rücken gegen die Lampe; sie bemerkte es daher nicht.

Ein wenig nach 11 Uhr kehrte Marmaduke zurück. Er sah blass und ermüdet aus. Aber noch mehr Champagner und diesmal etwas Essen dazu schien ihn wieder zurechtzubringen: ohne Zweifel, weil er dadurch sich von den Vorwürfen eines schuldigen Gewissens befreite.

Ich war von Felicia vermahnt worden, das Vorgefallene für jetzt vor ihre Gemahl geheim zu halten; so hatten wir, äußerlich betrachtet, zuletzt einen fröhlichen Abend. Mein Schwiegersohn war fast ein ebenso guter Gesellschafter wie immer und erstaunlich fruchtbar in Ratschlägen und Auskunftsmitteln, wenn er sah, dass sie nötig waren. Als er von seiner Frau hörte, bei der ich es erwähnt hatte, dass ich beabsichtigte, dem Grundeigentümer von Cauldkirk und vom Lande ringsumher den verfallenen Zustand der Kirche und des Pfarrhauses vorzustellen, drängte er mich, eine Liste der Ausbesserungen, die am notwendigsten seien, aufzustellen, ehe ich meinem Herrn eine Aufwartung mache.

Dieser Rat, wie lasterhaft und unwürdig auch der Mann sein mochte, der ihn gab, ist nichtsdestoweniger ein gesunder Rat. - Ich werde ihn sicherlich annehmen.

So weit hatte ich am Vormittag mein Tagebuch geschrieben. Da ich zu meinem täglichen Bericht nach Verlauf einiger Stunden zurückkehre, habe ich ein neues Geheimnis seines Unrechts auszuzeichnen. Mein abscheulicher Schwiegersohn scheint jetzt, ich erröte, es zu schreiben, nicht mehr und weniger als ein Genosse von Dieben zu sein!

Nach der Mahlzeit, dem sogenannten Luncheon, erachtete ich es für gut, ehe ich mich an dem Anblick von London ergötzte, der schreienden Not der Kirche und des Pfarrhauses zu gedenken. Mit meiner geschriebenen Liste versehen, stellte ich mich im Palais Sr. Herrlichkeit vor. Ich wurde sofort benachrichtigt, dass er anderweitig beschäftigt sei und mich unmöglich empfangen könne. Wenn ich wünschte, meines Herrn Sekretär, Herrn Helmsley, zu sehen, könnte ich es tun. Da ich einwilligte, um meine Botschaft nicht gänzlich fehlschlagen zu lassen, wurde ich in das Zimmer des Sekretärs geführt.

Herr Helmsley hörte ganz höflich an, was ich zu sagen hatte; indessen drückte er ernste Zweifel aus, ob Se. Herrlichkeit etwas für mich tun würde, da die Anforderungen an seine Börse schon unerträglich zahlreich seien. Indessen übernahm er es, meine Liste seinem Herrn vorzulegen und mich das Ergebnis wissen zu lassen. »Wo halten Sie sich in London auf?« fragte er. Ich antwortete: »Bei meinem Schwiegersohne, Herrn Marmaduke Falmer.« Ehe ich die Adresse hinzufügen konnte, sprang der Sekretär auf und warf mir meine Liste über den Tisch hin in der unhöflichsten Weise wieder zu.

»Auf mein Wort«, sagte er; »Ihre Anmaßung überschreitet alles, was ich je gehört habe. Ihr Schwiegersohn ist beim Diebstahl des Diamant-Armbandes der gnädigen Frau beteiligt, die Entdeckung wurde vor noch nicht einer Stunde gemacht. Verlassen Sie das Haus, mein Herr, und schätzen Sie sich glücklich, dass ich keine Anweisung habe, Sie der Polizei zu übergeben!« Ich protestierte gegen diese grundlose Beschimpfung in so heftigen Ausdrücken, dass ich diese besser nicht wiederholen will. Als Geistlicher hätte ich trotz jener Herausforderung meine Selbstbeherrschung bewahren sollen.

Das einzige, was ich zunächst tun konnte, war, zu meiner unglücklichen Tochter zurückzufahren. Ihr schuldiger Gatte war bei ihr. Ich war zu zornig, um auf eine passende Gelegenheit zum Sprechen zu warten. Die christliche Demut, welche ich mein ganzes Leben lang als die erste der Tugenden gepflegt habe, schwand in mir. In Ausdrücken glühenden Unwillens erzählte ich ihnen, was vorgefallen war. Die Wirkung war über alle Beschreibung schmerzlich. Die Sache endigte damit, dass Felicia ihrem Gatten das Armband zurückgab. Der Verworfene lachte in seiner Verstockung über uns. »Wartet, bis ich Seine Herrlichkeit und Herrn Helmsley gesehen habe«, rief er und verließ das Haus.

Hat er die Absicht, ins Ausland zu fliehen?

Felicia glaubte noch immer an ihn nach Frauenart. Sie ist völlig überzeugt, dass irgendein Irrtum vorliegen müsse. Ich selbst bin in stündlicher Erwartung der Ankunft der Polizei.

*

Mit Dankbarkeit gegen die Vorsehung schreibe ich, ehe ich zu Bette gehe, die unbedenkliche glückliche Erledigung der Angelegenheit mit dem Armband nieder, soweit es Marmaduke angeht. Der Agent, welcher ihm das Juwel verkaufte, wurde gezwungen, zu erscheinen und die Wahrheit zu bekennen. Lady ... ist die schuldige Person; das Armband gehörte ihr; es war ein Geschenk ihres Gatten. Durch Schulden, die sie nicht zu gestehen wagte, in Verlegenheit gesetzt, hatte sie es verkauft. Der Lord entdeckte, dass es nicht mehr vorhanden war; und im Schrecken über seinen Zorn nahm das elende Weib seine Zuflucht zu einer Lüge. Sie erklärte, dass das Armband ihr gestohlen worden sei. Nach dem Namen des Diebes gefragt, nannte die leichtfertige Frau, da ihr im Augenblick kein anderer Name einfiel, den Mann, welcher das Juwel von ihrem Agenten in gutem Glauben gekauft hatte, meinen unglücklichen Schwiegersohn!

O über diese Verruchtheit des modernen Babel! Es war gut, dass ich zu dem Sekretär gegangen war, sonst hätten wir wirklich die Polizei im Hause gehabt.

Marmaduke fand sie in Beratung über den angeblichen Diebstahl. Es gab einen schrecklichen Auftritt voller Heftigkeit und Anklagen im Hause des Lords. Zuletzt kaufte er das Armband wieder zurück. Das Geld meines Schwiegersohnes wurde ihm zurückgegeben, und Herr Helmsley übersandte mir eine schriftliche Entschuldigung. Im Sinne der Welt würde dies vermutlich eine befriedigende Lösung heißen. Nach meiner Meinung ist es nicht so.

Ich gebe bereitwillig zu, dass ich Marmaduke zu voreilig misstraute. Nun soll ich ihm um deswillen sogleich die Stelle wieder einräumen, die er einst in meiner Achtung inne hatte?

Diesen Abend wieder verließ er geheimnisvoll das Haus, indem er mich mit Felicia allein ließ und keine bessere Entschuldigung für sein Betragen hatte, als dass er eine Verabredung getroffen habe. Und dieses tat er, obgleich ich als sein Schwiegervater und sein Gast einen doppelten Anspruch auf seine Rücksicht habe.

11. September. Der Tag begann ganz gut. Beim Frühstück sprach Marmaduke mit Bedauern von dem unglücklichen Ergebnis meines Besuches bei Sr. Herrlichkeit und bat mich, ihn die Liste der Reparaturen einsehen zu lassen.

»Es ist nach jenem Vorfall völlig unnütz, etwas von meinem Grundherrn zu erwarten«, sagte ich. Zudem machte mir Helmsley keinerlei Hoffnung, als ich ihm die Sache erzählte. Marmaduke begehrte noch immer die Liste: »Lass mich versuchen, ob ich einige ausfindig mache, die eine freiwillige Beihilfe zeichnen«, erwiderte er. Das war jedenfalls gut gemeint. Ich gab ihm das Verzeichnis und fing an, etwas von meinem früheren freundschaftlichen Gefühle für ihn wieder zu erlangen. Ach! Der geringe Hoffnungsstrahl erwies sich als von kurzer Dauer.

Wir machten recht angenehme Pläne für den kommenden Tag. Der Sturm brach los, als Felicia zunächst von unseren Plänen für den Abend sprach. »Mein Vater hat nur noch vier Tage, die er bei uns zubringen kann«, sagte sie zu ihrem Manne. »Sicherlich willst du nicht wieder heute abend ausgehen und ihn allein lassen?«

Marmadukes Gesicht umwölkte sich sofort, er sah verlegen und verdrossen aus. Ich saß schweigend da und überließ es ihnen, die Sache unter sich abzumachen.

»Du wirst diesen Abend bei uns zubringen, willst du?« sagte Felicia. »Nein;« er war für den Abend nicht frei. »Was! Wieder eine Einladung? Sicherlich kannst du sie ablehnen.« »Nein; es ist unmöglich, sie abzuweisen.« »Ist es ein Ball oder sonst irgendeine Partie?« Keine Antwort; er brach das Thema ab und bot Felicia das Geld an, das ihm für das Armband zurückbezahlt worden war. »Kaufe dir jetzt selbst eins, meine Teuere!« Felicia gab ihm das Geld zurück, vielleicht etwas zu hochmütig. »Ich bedarf keines Armbandes«, sagte sie, »ich wünsche abends deine Gesellschaft.«

Er sprang auf, gut gelaunt, wie er war, aber etwas sehr erregt - dann sah er nach mir und bezwang sich, als er, wie ich glaube, auf dem Punkte stand, eine böse Sprache zu führen. »Das ist offenbare Verfolgung!« platzte er heraus, mit einer zornigen Wendung seines Kopfes nach seiner Frau. Felicia stand ebenfalls auf. »Deine Sprache ist eine Beleidigung für meinen Vater und für mich!« Er erschien daraufhin vollständig verwirrt: es war augenscheinlich ihr erster ernstlicher Zank.

Felicia beachtete ihn nicht weiter. »Ich will mich gleich fertig machen, Vater, wir wollen zusammen ausgehen.« Er hielt sie an, als sie eben das Zimmer verlassen wollte, indem er seine gute Stimmung mit einer Schnelligkeit wieder erlangte, die mir gefiel. »Komm, komm, Felicia! Wir haben uns noch nicht gezankt, und wir wollen uns auch jetzt nicht zanken. Lass mich dies eine Mal noch gehen, und ich will die nächsten drei Abende deinem Vater und dir widmen. Gib mir einen Kuss und sei wieder gut!« Meine Tochter tut nichts zur Hälfte. Sie gab ihm, glaube ich, ein Dutzend Küsse, und sie Sache war glücklich abgemacht.

»Aber was wollen wir morgen abend treiben?« fragte Marmaduke, indem er sich zu seiner Frau setzte und ihr die Hand streichelte, die in der seinigen lag. »Nimm uns irgendwohin mit«, sagte sie. Marmaduke lachte. »Dein Vater verwirft die öffentlichen Vergnügungen. Wo wünscht er hinzugehen?« Felicia nahm die Zeitung. »Es wird ein Oratorium in Exeter Hall aufgeführt«, sagte sie, »mein Vater liebt die Musik.« Er wendete sich zu mir. »Sie sind kein Gegner von Oratorien?« »Ich bin kein Musikfeind«, antwortete ich, »solange ich kein Theater zu betreten brauche.« Felicia gab mir die Zeitung. »Um vom Theater zu reden, Vater, hast du gelesen, was sie über das neue Schauspiel sagen? Welches Mitgefühl kann von einem Theater ausgehen!« Ich sah sie in sprachlosem Erstaunen an. Sie versuchte, deutlicher zu werden.

»Die Zeitung sagt, dass das neue Schauspiel im Dienste der Tugend steht, und dass der große Schauspieler Barrymore mit seiner Aufführung ein Beispiel gegeben hat, welches die Ermutigung durch alle wahrhaft religiösen Leute verdient. Lies, Vater!«

Ich erhob die Hände in Bestürzung. Meine eigene Tochter verdorben! Ihr Vertrauen auf eine Zeitung zu setzen! Mit sündhaftem Interesse von einem Theaterstück und einem Schauspieler zu reden! Sogar Marmaduke zeigte bei diesem beklagenswerten Ausdruck des Abfalls einige Besorgnis. »Es ist nicht ihre Schuld«, sagte er, bei mir vermittelnd. »Die Zeitung ist schuld! Tadeln Sie sie nicht!«

Ich schwieg stille, innerlich entschlossen, für sie zu beten. Kurz nachher gingen ich und meine Tochter aus. Marmaduke begleitete uns eine Strecke und verließ uns an einem Telegraphen-Bureau. »Wem willst du telegraphieren?« fragte Felicia. »Wieder ein Geheimnis?« Er antwortete: »Eigene Geschäfte, meine Teure!« und ging ins Bureau.

12. September. Steht das Haus meines erbärmlichen Schwiegersohnes unter einem Fluche? Die gelbhaarige Frau fuhr diesen Morgen um halb elf im offenen Wagen an der Tür vor und war in großer Aufregung. Felicia und ich sahen sie vom Balkon des Gesellschaftszimmers aus, eine große Frau in prächtigen Kleidern. Sie klopfte mit eigener Hand an der Tür und rief erregt: »Wo ist er? Ich muss ihn sehen!« Beim Tone ihrer Stimme eilte Marmaduke, der mit seinem Hündchen im Gesellschaftszimmer spielte, die Treppe hinab und auf die Straße hinaus. »Schweigen Sie!« hörten wir ihn sagen. »Was wollen Sie hier?« Was sie antwortete, konnten wir nicht hören; sie weinte sicherlich. Marmaduke stampfte mit dem Fuße auf das Pflaster wie jemand, der außer sich ist, dann nahm er sie rauh beim Arm und führte sie in das Haus. Ehe ich ein Wort äußern konnte, ließ mich Felicia stehen und flog ungestüm die Treppe hinab. Sie war gerade unten, als sie den Speisesaal verschließen hörte. Indem ich ihr folgte, verhütete ich, dass das arme eifersüchtige Geschöpf an der Tür Lärm machte. Gott vergib mir; da ich nicht wusste, wie ich sie sonst beruhigen sollte, erniedrigte ich mich, indem ich ihr riet, sie zu behorchen. Sie öffnete rasch die Tür zum Zimmer hinter dem Speisesaal und winkte mir, zu folgen. Ich zögerte natürlich. »Ich werde wahnsinnig«, flüsterte sie, »wenn du mich allein lässt.« Was konnte ich tun? Ich erniedrigte mich zum zweiten Mal. Für mein eigenes Kind! Aus Mitleid für mein eigenes Kind!

Wir hörten durch die dünnen, modernen Flügeltüren gerade, als er im höchsten Zorne und sie in größter Verzweiflung war. Wir hörten sie, als sie sprachen. »Wie machten Sie ausfindig, wo ich wohne?« sagte er. »O, Sie schämen sich meiner?« entgegnete sie. »Helmsley war gestern abend bei uns. So habe ich Sie ausfindig gemacht!« »Was sagen Sie?« »Ich sage, dass Helmsley Ihre Karte und Adresse in seiner Tasche hatte. Sie waren ja verpflichtet, Ihre Adresse anzugeben, als Sie jene Angelegenheit mit dem Armband aufzuklären hatten! Sie grausamer, grausamer Mann, was habe ich getan, solch ein Schreiben zu verdienen, wie Sie mir es diesen Morgen sandten?« »Tun Sie, was das Schreiben Ihnen sagt!« »Tun, was es mir sagt? Hat man jemals einen Mann aus einem Irrenhaus so reden hören? Ja! Sie wollen nicht einmal Ihren eigenen gottlosen Betrug ausführen? Sie sind nicht einmal zu Bett gegangen?« Da wurden die Stimmen weniger zornig, und wir hörten das Folgende nicht. Bald brach die Dame wieder los, ihn diesmal kläglich bittend. »O Marney, richten Sie mich nicht zugrunde! Hat irgendjemand Sie beleidigt? Ist etwas, was Sie geändert haben wollen? Verlangen Sie mehr Geld? Es ist zu grausam, mich in dieser Weise zu behandeln - es ist's wirklich!« Er gab irgendeine Antwort, welche wir nicht imstande waren zu hören; wir konnten nur vermuten, dass er ihre Gemütsstimmung wieder umgewandelt hatte. Sie wurde lauter wie vorher.

»Ich habe gebettelt und gebeten - und Sie sind so hart wie Eisen. Ich habe Ihnen vom Fürsten gesagt - und auch das hat keine Wirkung auf Sie gehabt. Ich bin jetzt fertig. Wir wollen sehen, was der Doktor sagt.« Er wurde jetzt auch zornig, wir hörten ihn wieder. »Ich will den Doktor nicht sehen!« »Sie weigern sich, den Doktor zu sehen! Ich werde Ihre Weigerung bekannt machen - und wenn es ein Gesetz in England gibt, werden Sie es fühlen!«

Ihre Stimmen wurden wieder leiser, irgendeine neue Wendung schien in der Unterhaltung eingetreten zu sein.

Wir hörten die Dame wieder, diesmal lauter und fröhlich. »Wie lieb von Ihnen! Nicht wahr, Sie betrachten es im rechten Lichte? Und Sie haben die alten Zeiten nicht vergessen? Sie sind derselbe, teure, ehrenwerte, gutherzige Geselle, der Sie immer waren!« Ich hielt Felicia fest und legte meine Hand auf ihren Mund. Man hörte einen Schall im Nebenzimmer, welcher - ich bin nicht sicher - der Schall eines Kusses gewesen sein mag. Im nächsten Augenblick hörten wir die Tür des Zimmers aufschließen. Dann wurde die Haustür geöffnet, und das Geräusch sich entfernender Wagenräder folgte. Wir begegneten ihm im Korridor, als er wieder ins Haus zurückgetreten war.

Meine Tochter schritt auf ihn zu, blass und entschlossen. »Ich bestehe darauf zu wissen, wer jene Frau ist und was sie hier will?« Dies waren ihre ersten Worte. Er sah sie an, wie jemand, der in der äußersten Bestürzung ist. »Warte bis heute abend, ich bin nicht imstande, jetzt mit dir zu sprechen!« Damit ergriff er seinen Hut von dem Tisch im Hausflur und stürzte hinaus. Es sind wenig mehr als drei Wochen, seitdem sie von ihrer glücklichen Hochzeitsreise nach London zurückgekehrt sind, und nun ist es so weit gekommen!«

Die Uhr schlug gerade sieben, als ein Brief an meine Tochter von einem Boten abgegeben wurde. Ich hatte sie, die arme Seele, überredet, sich in ihrem Zimmer niederzulegen. Gott gebe es, dass der Brief ihr Mitteilung von ihrem Gemahl bringen möchte! Ich freue mich in der Hoffnung, gute Neuigkeiten zu hören.

Mein Gemüt ist nicht lange in Ungewissheit gehalten.

Felicias Kammerfrau brachte mir ein Blättchen Papier mit folgenden Zeilen in der Handschrift meiner Tochter:

»Teuerster Vater, erleichtere dein Herz. Alles ist aufgeklärt. Ich kann mich nicht getrauen, mit dir heute abend darüber zu sprechen - und er wünscht auch nicht, dass ich es tue. Warte nur bis morgen, und du sollst alles wissen. Er wird gegen elf Uhr zurück sein. Bitte nicht auf ihn zu warten - er wird gleich zu mir kommen.«

13. September. Die Schuppen sind mir von den Augen gefallen; das Licht ist mir endlich aufgegangen. Meine Verwirrung ist nicht in Worten auszusprechen - ich bin wie einer im Traum.

Ehe ich am Morgen mein Zimmer verließ, wurde ich durch den Empfang einer an mich gerichteten Depesche erschreckt. Es war überhaupt die erste, welche ich je erhalten hatte. Ich zitterte bei dem Gedanken an irgendein neues Missgeschick, als ich den Umschlag öffnete. Schwester Judith war von allen Leuten in der Welt die Person, welche die Depesche sandte! Niemals vorher hatte mich diese tolle Verwandte so wie jetzt verwirrt.

Hier ihre Botschaft: »Du kannst nicht zurückkommen. Ein Baumeister von Edinburgh will unbedingt die Kirche und das Pfarrhaus ausbessern. Der Mann wartet nur auf die gesetzliche Ermächtigung, um anzufangen. Das Geld dafür ist da, aber wer hat es aufgetrieben? Der Herr Baumeister darf es nicht sagen. Wir leben in schrecklichen Zeiten. Wie geht es Felicia?«

Da ich natürlich schloss, das Judiths Geist gestört sein müsse, ging ich ins Erdgeschoss und traf meinen Schwiegersohn zum ersten Mal seit den Vorfällen von gestern bei dem hier im Hause gewöhnlichen Spät-Frühstück.

Er wartete auf mich, Felicia aber war nicht anwesend.

»Sie frühstückt heute morgen in ihrem Zimmer«, sagte Marmaduke, »und ich will Ihnen die Erklärung geben, welche Ihre Tochter schon befriedigt hat. Wollen Sie sie in großer Länge entgegennehmen oder wollen Sie sie in einem Worte haben?« Es war etwas in seiner Manier, was ich durchaus nicht liebte - er schien mich herauszufordern, und ich sagte steif: »Kürze ist das beste. Ich will sie in einem Worte haben.« »Hier ist sie also«, antwortete er, »ich bin Barrymore.«

Felicias Nachschrift.

Wenn die letzte Zeile aus dem Tagebuche meines lieben Vaters nicht genug Aufklärung in sich selbst enthält, füge ich einige Sätze aus Marmadukes Brief an mich hinzu, den er die letzte Nacht aus dem Theater sandte.

(NB. Ich lasse die Ausdrücke der Zärtlichkeit aus: sie sind mein Privateigentum.)

»Erinnere Dich genau, wie Dein Vater über Theater und Schauspieler redete, als ich in Cauldkirk war, und wie Du in ehrerbietiger übereinstimmung mit ihm zuhörtest.

Würde er in Deine Heirat eingewilligt haben, wenn er gewusst hätte, dass ich einer von den »deklamierenden Schelmen« sei, verbündet mit den »geschminkten Weibspersonen« der Schauspielhäuser?

Er würde niemals eingewilligt haben, - und Du selbst, mein Liebling, würdest bei dem bloßen Gedanken, einen Schauspieler zu heiraten, gezittert haben.

Bin ich irgendeiner ernsthaften Täuschung schuldig gewesen? Und sind meine Freunde schuldig gewesen, indem sie mir halfen, mein Geheimnis zu bewahren? Meine Geburt, mein Name, meine überlebenden Verwandten, mein vom Vater ererbtes Vermögen - alle diese wichtigen Einzelheiten sind wahrheitsgemäß festgestellt worden. Der Name Barrymore ist nichts als der Name, welchen ich annahm, als ich auf die Bühne ging.

Was das anlangt, was sich seit unserer Rückkehr aus der Schweiz zugetragen hat, so bekenne ich, dass ich Dir mein Geständnis hätte machen müssen. Vergib mir, wenn ich schwächlich zögerte. Ich hatte Dich so lieb und ich misstraute so der puritanischen überzeugung, welche die Erziehung in Deinem Geiste hat einwurzeln lassen, dass ich es von Tag zu Tag aufschob. O mein Engel...

Ja, ich hielt die Adresse meines neuen Hauses vor allen meinen Freunden geheim, da ich wusste, dass sie mich verraten würden, wenn sie uns Besuche abstatteten. Was meine geheimnisvoll verschlossene Studierstube angeht, so war es der Ort, wo ich meine neue Rolle im geheimen probte. Wenn ich Dich morgens verließ, so war es, um zu den Theaterproben zu gehen. Meine Abwesenheit an den Abenden begann natürlich mit der ersten Aufführung - die Ankunft Deines Vaters setzte mich ernstlich in Verlegenheit.

Als Du darauf bestandet - und damit hattest Du recht - dass ich einige meiner Abende ihm widmete, machtest Du es mir notwendigerweise unmöglich, auf der Bühne aufzutreten. Die einzige Entschuldigung, die ich beim Theater machen konnte, war, dass ich zu krank war, um zu spielen. Es kam mir gewiss der Gedanke, den gordischen Knoten zu zerhauen, indem ich die Wahrheit bekannte. Aber das Entsetzen Deines Vaters, als Du von der Kritik des Stückes durch die Zeitung sprachst, und die Scham und Furcht, die Du über Deine eigene Kühnheit zeigtest, schreckten mich immer wieder ab. Das Eintreffen meiner schriftlichen Entschuldigung im Theater brachte die Directrice desselben in einem Zustande höchster Aufregung mir auf den Hals. Niemand konnte meine Stelle ersetzen; das Haus war ausverkauft, und der Fürst wurde erwartet. Es kam zu einem sogenannten Auftritt zwischen der armen Dame und mir. Ich fühlte, dass ich unrecht hatte. Ich sah, dass die Lage, in welche ich mich unwillkürlich gebracht hatte, meiner unwürdig war, und - ich tat zuletzt dem Theater und dem Publikum gegenüber meine Schuldigkeit.

Was das Armband anlangt, so war ich als ehrenwerter Mann verpflichtet, meinen Namen und meine Adresse anzugeben, ohne welches die Directrice mich nicht entdeckt hätte. Sie, wie jedermann sonst, wussten nur die Adresse meiner Junggesellenwohnung. Wie konntest Du auf die alte Theaterkollegin meiner ersten Bühnentage eifersüchtig sein? Weißt Du doch nicht, dass Du die einzige Frau in der Welt bist...?

Ein letztes Wort über Deinen Vater, und ich bin fertig.

Erinnerst Du Dich, dass ich Euch an dem Telegraphenbureau verließ? Ich musste an einen meiner Freunde, einen Baumeister in Edinburgh, einen Auftrag senden, sofort nach Cauldkirk zu gehen und die Reparaturen auf meine Kosten zu besorgen. Das Theater, meine Teure, verdreifacht mindestens mein väterliches Einkommen, und ich kann es wohl bestreiten. Wird Dein Vater den Achtungstribut für einen schottischen Geistlichen ablehnen, weil er aus der Tasche eines Schauspielers fließt? Du wirst ihm die Frage vorlegen.

Und, sag' einmal, Felicia, willst Du kommen und mich spielen sehen? Ich erwarte nicht, dass Dein Vater das Theater betritt, aber, um ihn weiter mit seinem Schwiegersohne auszusöhnen, darf ich wohl annehmen, dass Du ihn bittest, er möge mich das Stück vorlesen hören.«


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