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Die Neue Magdalena - Buch 2

Kapitel 12

Der Schutzengel

„Sie waren dabei, nicht wahr, als ich ohnmächtig zusammenbrach?” begann sie. „Sie halten mich sicherlich, selbst als Frau, für recht feig.”

Er schüttelte den Kopf. „Dafür halte ich Sie durchaus nicht”, erwiderte er. „Diesen Schreck hätte der Mutigste nicht ruhig ertragen. Ich war gar nicht erstaunt, dass Sie darüber ohnmächtig und krank geworden sind.”

Sie hielt im Aufwinden der Wolle etwas inne. Was hatte diese unerwartete Teilnahme für sie zu bedeuten? War es eine Falle, die er ihr stellte? Dieser ernste Zweifel trieb sie an, mit der nächsten Frage kühner zu sein.

„Horace hat mir gesagt, dass Sie verreist waren”, sagte sie. „Haben Sie sich gut unterhalten?”

„Ich war nicht zu meinem Vergnügen nach dem Kontinent gereist, sondern vielmehr in der Absicht, dort in einer Sache Erkundigungen einzuziehen.” - Er stockte, um den für Mercy peinlichen Gegenstand nicht wieder zu berühren.

Ihre Stimme wurde schwächer und die Finger, in denen sie das Wollknäuel hielt, zitterten - doch überwand sie sich und fuhr fort:

„Haben Ihre Erkundigungen einen Erfolg gehabt?” fragte sie.

„Keinen, der nennenswert wäre.”

Die Zurückhaltung, welche aus diesen Worten sprach, erregte in ihr neuerdings den schlimmsten Verdacht, dass er alles wisse. In heller Verzweiflung brach sie damit heraus.

„Ich will Ihre Meinung wissen” - begann sie.

„Nicht so heftig!” sagte Julian. „Sie verwirren ja sonst die Wolle wieder.”

„Ich will wissen, wie Sie über die Fremde denken, die mich so entsetzlich erschreckt hat. Halten Sie sie” -

„Für was?”

„Für eine Abenteurerin?”

Bei diesen Worten wurden die Zweige eines Strauches im Wintergarten durch eine Hand in schwarzem Handschuhe geräuschlos auseinander gebogen und das Gesicht Grace Roseberrys tauchte undeutlich sichtbar zwischen den Blättern auf. Sie war unbemerkt aus dem Billardzimmer entschlüpft und hatte sich in den Wintergarten, in dies noch gesichertere Versteck, geschlichen. Hinter den Sträuchern konnte sie, ungesehen, selbst alles sehen und hören, was vorging und da wollte sie nun geduldig warten.

„Ich kann mich einer etwas milderen Anschauung nicht erwehren”, antwortete Julian. „Ich glaube, sie leidet an einer fixen Idee. Darum tadle ich sie auch nicht, sondern bedauere sie.”

„Sie bedauern sie?” wiederholte Mercy; dabei riss sie plötzlich die letzten ausgespannten Wollfäden von seinen Händen und warf sie samt dem halb aufgewundenen Knäuel in den Korb zurück. „Wollen Sie damit sagen”, fuhr sie aufgeregt fort, „dass Sie ihren Worten Glauben schenken?”

Julian erhob sich rasch und blickte Mercy erstaunt an.

„Guter Gott, Miss Roseberry! Wie kommen Sie auf diesen Gedanken?”

„Ich bin Ihnen kaum mehr als eine Fremde”, versetzte sie, bemüht, einen leichten Ton anzuschlagen. „Sie haben jene früher als mich gekannt; da ist es ziemlich wahrscheinlich, dass Sie sie nicht bloß bedauern, sondern ihr auch Glauben schenken. Wie kann ich wissen, ob Sie nicht gegen mich Verdacht hegen?”

„Verdacht, gegen Sie!” rief er aus. „Da wissen Sie wohl nicht, wie sehr Sie mich damit betrüben, wie wehe Sie mir tun. Verdacht gegen Sie! Nicht im entferntesten habe ich jemals auch nur daran gedacht. Kein Mensch vertraut Ihnen so unbedingt, kein Mensch glaubt Ihnen so hingebend als ich.”

Seine Augen, Stimme, sein ganzes Wesen sagten ihr, dass diese Worte wahrhaft vom Herzen kamen. Sie verglich das großmütige Vertrauen, welches er in sie setzte, und dessen sie doch unwürdig war, mit dem elenden Misstrauen, welches sie ihm gegenüber empfand. Sie hatte nicht bloß Grace Roseberry unrecht getan - sondern auch Julian Gray. Und konnte sie nun ihn, wie alle anderen betrügen, sein unbedingtes Vertrauen, seinen reinen Glauben an sie trotzdem hinnehmen? Noch nie hatte sie die Demütigung, die Erniedrigung, zu welcher sie sich selbst durch den begangenen Betrug verurteilt, mit so überwältigendem Abscheu erfüllt, wie eben jetzt. Im Entsetzen vor sich selbst, wendete sie den Kopf schweigend nach der Seite, denn sie schauderte, seinen Augen zu begegnen. Er bemerkte die Bewegung und legte sie sich in seiner Weise aus; dann trat er näher und fragte besorgt, ob er sie verletzt habe?

„Sie ahnen nicht, wie mich Ihr Vertrauen rührt”, sagte sie, ohne aufzublicken. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie tief ich Ihre Güte empfinde.”

Sie stockte plötzlich, ihr feines Taktgefühl hieß sie ihre Dankbarkeit mit weniger feurigen Worten ausdrücken; sie mussten Julian notwendig übertrieben erscheinen und in Erstaunen setzen. Sie reichte ihm, ehe sie wieder sprechen konnte, den Arbeitskorb hin.

„Wollen Sie so freundlich sein, den Korb wegzustellen?” fragte sie etwas ruhiger. „Ich bin jetzt nicht im Stande zu arbeiten.”

Während er nun ihrem Wunsch entsprach und ihr dabei den Rücken kehrte, wandte sich ihr Denken und Fühlen von der Gegenwart ab und richtete sich auf die Zukunft. Durch einen Zufall könnte die wahre Grace eines Tages in den Besitz der Beweise ihres Rechtes gelangen, und dann stand sie vor ihm als das, was sie war. Was würde er dann wohl von ihr denken? Aber konnte sie ihn denn erforschen, ohne sich selbst dabei zu verraten? Sie beschloss, es wenigstens zu versuchen.

„Kinder sind bekanntlich nie damit zufrieden, dass man ihnen eine Frage beantwortet, und von den Frauen kann dasselbe gelten”, sagte sie, als Julian wieder zu ihr trat. „Haben Sie die Geduld, mir zu folgen, wenn ich zum drittenmale auf das Wesen zurückkomme, von dem wir soeben sprachen?”

„Stellen Sie mich auf die Probe”, antwortete er lächelnd.

„Nehmen wir an, Sie hätten keinen Anlass, sie milder zu beurteilen?”

„Gut.”

„Nehmen wie vielmehr an, dass sie aus irgend einem persönlichen Grund sträflich gehandelt, nämlich andere betrogen habe, würden Sie sich nicht von einem solchen Geschöpf mit Entsetzen und Verachtung abwenden?”

„Gott bewahre mich, dass ich ein menschliches Wesen jemals von mir stoße!” antwortete er. „Wer von uns allen hätte dazu das Recht?”

Sie wagte kaum seinen Worten zu glauben. „Würden Sie sie trotzdem bedauern?” fragte sie weiter, „trotzdem Mitleid mir ihr haben?”

„Von ganzem Herzen.”

„O, Sie sind sehr gut!”

Er erhob die Hand dagegen. Seine Stimme klang tiefer und seine Augen schimmerten in weichem Glanz. Sie hatte das Heiligste in seiner großen Seele bewegt, es war der Glaube, in welchem er lebte und wirkte, die Richtschnur seines bescheidenen und doch so edel angewandten Daseins.

„Nein!” rief er, „das ist zu viel gesagt! Ich will meinen Nächsten lieben, wie mich selbst. Ein Pharisäer ist, wer überhaupt sich besser hält als andere; denn heute der erste, kann er, wenn es Gott gefällt, schon morgen der letzte von uns sein. Die wahre christliche Tugend gibt keinen Mitmenschen verloren; der wahre christliche Glaube vertraut auf die Menschen, wie auf Gott. Sind wir auch schwach und tief gesunken, die Reue trägt uns auf ihren Schwingen von dieser Erde zum Himmel empor. Die Menschheit ist heilig, sie ist zur Unsterblichkeit bestimmt; keines ihrer Glieder darf verstoßen werden; sie alle sind das Werk des Allmächtigen; und wem der Schöpfer selbst seinen Stempel aufgedrückt, den kann der Mensch nicht verdammen.”

Er wandte sich einen Augenblick ab; Mercys Worte hatten ihn in große Aufregung versetzt.

Ihre Augen folgten ihm, sie strahlten in Entzücken - dann plötzlich hefteten sie sich wieder auf den Boden; die Reue war umsonst, sie kam zu spät. Ach! Wäre er ihr an jenem verhängnisvollen Tage als Freund und Ratgeber zur Seite gestanden, als sie zum erstenmale ihre Schritte nach Mablethorpe-House lenkte! Sie seufzte schwer bei dem Gedanken, dass das Geschehene nun nicht mehr zu ändern sei. Er hörte es und kehrte sich um; ihr Anblick befremdete ihn.

„Miss Roseberry”, sagte er.

Sie hörte es nicht; die Erinnerung an ihre traurige Vergangenheit beschäftigte jetzt ausschließlich ihr Denken und Fühlen.

„Miss Roseberry”, wiederholte er, näher tretend.

Sie sah betroffen auf.

„Gestatten Sie mir, eine Frage zu tun?” sagte er sanft.

Bei dieser Frage zuckte sie zusammen.

„Glauben Sie nicht, dass mich ledige Neugierde dazu treibt”, fuhr er fort. „Auch sollen Sie mir nicht antworten, wenn Sie damit ein in Sie gesetztes Vertrauen missbrauchten.”

„Vertrauen?” wiederholte sie. „Welches Vertrauen meinen Sie?”

„Es ist mir plötzlich der Gedanke gekommen, dass Ihr Interesse für die Fragen, die Sie mir soeben stellten, einen tieferen Grund haben müsse”, antwortete er. „Kennen Sie vielleicht gerade ein so unglückliches Wesen? - Denn, dass Sie nicht von der Fremden sprechen, versteht sich von selbst.”

Ihr Kopf sank auf die Brust herab. Es war klar, er hegte nicht den leisesten Verdacht gegen sie, er ahnte nicht, dass sie von sich selber sprach; sein Ton, sein Benehmen, alles bewies, wie fest er an sie glaubte. Und doch, die letzten Worte machten sie zittern; sie fühlte sich nicht stark genug, um etwas darauf erwidern zu können.

Er fasste jedoch das Neigen des Kopfes als Erwiderung auf.

„Nehmen Sie näheren Anteil an ihr?” fragte er weiter.

Sie antwortete darauf mit einem kaum hörbaren „Ja”.

„Sprachen Sie ihr Mut zu?”

„Ich wagte nicht, es zu tun.”

Sein Gesicht leuchtete plötzlich auf vor Begeisterung. „Gehen Sie doch zu ihr”, sagte er, „ich gehe mit Ihnen, ich will Ihnen helfen, Sie aufzurichten!”

Matt und traurig klang es von ihren Lippen: „Es ist zu spät, sie ist bereits zu tief gesunken!”

Er unterbrach sie mit einer ungeduldigen Gebärde.

„Was hat sie denn verschuldet?” fragte er.

„Sie hat edle, harmlose Menschen, die ihr Glauben schenkten, hintergangen - schändlich hintergangen. Einer anderen hat sie - grausames Unrecht zugefügt.”

Zum erstenmale setzte sich Julian jetzt neben sie. Die Teilnahme, welche er nun für sie empfand, war über jeden Vorwurf erhaben; rückhaltlos durfte er mit ihr sprechen; ungescheut, reinen Herzens konnte er ihr in das Auge blicken.

„Sie urteilen hart über diese Unglückliche”, sagte er. „Kennen Sie auch alle die Versuchungen und Prüfungen, die an sie herangetreten sind?”

Keine Antwort.

„Lebt diejenige noch”, fuhr er fort, „welcher sie den Schaden zugefügt?”

„Ja.”

„Dann kann sie wieder gutmachen, was sie verbrochen. Dann kann auch für diese Sünderin die Zeit kommen, wo wir ihr gerne verzeihen, und die verdiente Achtung wieder zollen.”

„Würden Sie sie achten können?” fragte Mercy traurig. „Sollte ein Mann wie Sie ein Verständnis für ihre Verirrungen, für ihr Elend haben?”

Ein flüchtiges, freundliches Lächeln erhellte seine aufmerksamen Züge.

„Sie vergessen, dass ich durch meinen Beruf das Unglück der Menschen in all seinen Gestalten kennen gelernt habe”, antwortete er. „Obgleich ich jung bin, wird es kaum einen Mann geben, der, wie ich, weiß, wie Frauen sündigen und dafür leiden. Sie haben mir nicht viel von jener Unbekannten gesagt; aber ich begreife sie. Ich kann mir zum Beispiel denken, dass es für sie Versuchungen gab, denen nur übermenschliche Kräfte zu widerstehen vermögen. Habe ich recht?”

„Ja, Sie haben recht.”

„Vielleicht fehlte ihr ein freundlicher Beistand, der sie rechtzeitig warnte und beschützte. Ist es so?”

„Ja, es ist so.”

„Versucht und verlassen, den bösen Einflüssen des Augenblickes preisgegeben, mochte sie unüberlegt den Fehltritt begangen haben, welchen sie jetzt vergebens bereut. Vielleicht sehnt sie sich danach, für das Vergehen zu büßen, ohne zu wissen, wie. Ihre Kraft, ihr ganzes besseres Selbst geht zugrunde in der Verzweiflung, in dem Entsetzen über sich selbst, und doch entsteht daraus gerade die aufrichtigste Reue. Und dieses Geschöpf sollte ganz schlecht, sollte ganz verderbt sein? Ich glaube es nicht! Vielleicht birgt die Schale einen edlen Kern; vielleicht kommt dieser bei richtiger Behandlung zum Vorschein? Helft ihr auf - und das arme, gesunkene Geschöpf füllt wieder seinen Platz unter den Besten von uns aus; geehrt, vorwurfsfrei kann sie noch glücklich werden!”

Mercy hielt ihre Augen unverwandt auf ihn gerichtet und lauschte begierig seinen Worten; als er geendet, senkte sie den Blick verzweifelnd zu Boden.

„Derjenigen, die ich im Sinne habe”, antwortete sie, „winkt keine solche Zukunft. Ihr hilft niemand auf. Sie hat keine Hoffnung mehr.”

Julian dachte einen Augenblick ernsthaft nach.

„Wir müssen einander nur recht verstehen”, sagte er. „Sie hat einen Betrug begangen und eine zweite Person dadurch zu Schaden gebracht. So sagten Sie, nicht wahr?”

„Ja.”

„Und sie hat daraus einen Vorteil gezogen?”

„Ja.”

„Droht ihr Entdeckung?”

„Nein, davor ist sie gesichert - wenigstens für den Augenblick.”

„Das heißt, so lange sie selbst schweigt?”

„So ist es.”

„Nun, da bietet sich ihr die hilfreiche Hand dar!” rief Julian. „Benutzt sie diese Gelegenheit, so liegt eine neue Zukunft vor ihr; sie kann von neuem hoffen!”

Mit gefalteten Händen, in atemloser Erwartung blickte Mercy in seine von edlem Eifer wie verklärten Züge und horchte auf die goldenen Worte, die er sprach.

„Erklären Sie sich deutlicher”, sagte sie. „Zeigen Sie ihr durch mich den Weg, den sie gehen soll.”

„Sie soll die Wahrheit bekennen”, antwortete Julian; „und zwar nicht aus kleinlicher Furcht vor Entdeckung, sondern um des Rechtes willen, das der Beschädigten gebührt; sie soll jetzt noch bekennen, so lange jene keine Macht hat, das Vergehen aufzudecken. Sie opfere alles, was sie durch den Betrug gewonnen, der heiligen Pflicht, denselben zu sühnen. Ist sie im Stande, so zu handeln - nur um ihres eigenen Gewissens, nur um des Allmächtigen willen, ungeachtet des persönlichen Nachteiles, der Schande und Entehrung, die es ihr bringt - so hat sie mit dieser Reue den edlen Kern ihres Inneren geoffenbart; wir dürfen ihr dann wieder vertrauen, sie achten und lieben! Sähe ich dann die Pharisäer und religiösen Schwärmer dieser niedrigen Welt sie mit Verachtung von sich weisen, ich böte ihr vor allen die Hand und riefe der Verlassenen und Betrübten zu, erhebe dich, du armes, krankes Herz! Gottes Engel jauchzen über dich, du schöne, gereinigte Seele! Dir ziemt ein Platz unter den edelsten Geschöpfen dieser Erde!”

Wie unbewusst waren diese letzten Worte aus seinem tiefsten Innern hervorgedrungen; es waren dieselben, welche er vor Jahren zu der Versammlung in der Kapelle des Besserungshauses gesprochen hatte.

Mercy empfand ihre Macht und überzeugende Kraft in zehnfach erhöhtem Maße. Sie bewirkten in ihr eine plötzliche, ja geheimnisvolle Veränderung. Das bekümmerte Antlitz wurde noch schöner; aus ihren großen grauen Augen wich der wechselnde Ausdruck von Schrecken und banger Ungewissheit, und an seine Stelle trat der stete, milde Glanz eines großen, reinen Entschlusses.

Es entstand eine Stille, deren beide bedurften. Julian brach zuerst das Schweigen.

„Sind Sie nun überzeugt”, fragte er, „dass sie die hilfreiche Hand, die ihr das Schicksal mit einer solchen Gelegenheit bietet, nur zu fassen braucht, um ihre Hoffnung neu aufzurichten?”

„Die Überzeugung habe ich gewonnen, dass sie in der Welt keinen treueren Freund besitzt als Sie”, antwortete Mercy sanft und mit dem Gefühl der Dankbarkeit. „Sie soll Ihr edles Vertrauen rechtfertigen, sie soll Ihnen beweisen, dass Ihre Worte nicht umsonst gesprochen worden.”

Er verstand sie nicht und schritt voran zur Tür.

„Benutzen Sie die kostbare Zeit”, sagte er. „Überlassen Sie sie nicht grausam ihren Qualen; wenn Sie nicht selbst zu ihr gehen können, so schicken Sie mich an Ihrer statt.”

Sie hielt ihn mit einer Gebärde zurück. Er blieb stehen und bemerkte erstaunt, dass sie keine Miene machte, sich von ihrem Sitze zu erheben.

„Bleiben Sie hier”, sagte sie in plötzlich verändertem Tone.

„Verzeihen Sie”, versetzte er, „ich verstehe Sie nicht.”

„Sie sollen mich gleich verstehen; lassen Sie mir nur etwas Zeit.”

Er stand noch unschlüssig an der Tür, die Augen forschend auf sie gerichtet. Sein edler Sinn, das unbedingte Vertrauen in sie ließ ihn nicht einmal Verdacht schöpfen.

„Wünschen Sie allein zu sein?” fragte er bedachtsam. Soll ich Sie indessen verlassen und später wiederkommen?”

Sie sah erschreckt auf. „Mich verlassen?” wiederholte sie; sie stockte plötzlich.

Beinahe die ganze Länge des Zimmers trennte sie voneinander. Es drängte sie, ihm jetzt, jetzt alles zu sagen, aber die Worte wollten nicht über ihre Lippen; nur der Ausdruck seines Gesichtes konnte sie dazu ermutigen. „Nein!” brach sie in ihrer Herzensangst hervor. „Sie dürfen mich nicht verlassen! Kommen Sie näher!”

Er gehorchte schweigend. Schweigend deutete sie auf einen Stuhl neben ihr. Er setzte sich. Sie blickte ihn an und bezwang sich. Sie war entschlossen, die fürchterliche Wahrheit zu bekennen, aber immer noch zögerte sie; sie wusste nicht, wie beginnen. Der weibliche Instinkt riet ihr, in der Berührung von ihm Mut zu suchen! Einfach und unbefangen sagte sie: „Lassen Sie mich Ihre Hand fassen; es gibt mir Mut und Kraft.” Er antwortete nicht und blieb unbeweglich. Seine Gedanken schienen mit einem anderen Gegenstande beschäftigt, wie verloren ruhte sein Blick auf ihr; er war auf dem Punkt, das Geheimnis zu entdecken; noch einen Augenblick, und die ganze Wahrheit lag unverhüllt vor seinen Augen. Da gerade fasste sie schwesterlich seine Hand. Der sanfte Druck, mit welchem ihre Finger die seinen umschlossen, riss ihn aus seinem Brüten; die Leidenschaft für sie loderte in hellen Flammen auf und erstickte das reine Streben, welches soeben noch seine Seele erfüllt hatte; sein Scharfsinn, welcher hart daran gewesen, den Grund ihres verstörten Wesens, ihrer befremdenden Worte zu erraten, er war plötzlich wie gelähmt. Der ganze Mensch in ihm erzitterte vor Wonne, als sie ihn berührte. Der Gedanke an Horace jedoch verließ ihn nicht; er hielt ihre Hand untätig in der seinen; seine Augen wandten sich unbehaglich von ihr ab.

Unbefangen drückte sie seine Hand fester und sagte: „Wenden Sie sich nicht weg von mir; ein Blick in Ihre Augen gibt mir Mut.”

Ihre Worte, ihre Berührung bestrickten ihn, seine Hand erwiderte den Druck der ihren; in vollen Zügen genoss er das Entzücken ihres Anblickes. Seine Selbstbeherrschung war dahin; Horace, seine Ehre selbst existierten nicht mehr für ihn; und so hätte ihn die Leidenschaft sicherlich zu einem Geständnis hingerissen, das er zeitlebens bereut haben würde, wäre nicht Mercy unbewusst dem zuvorgekommen, sie sprach zuerst. „Ich habe Ihnen mehr zu sagen”, begann sie plötzlich im Gefühl der Kraft, ihr Inneres ihm nun endlich zu enthüllen - „mehr, viel mehr, als Sie bis jetzt gehört. Edler, barmherziger Freund, lassen Sie mich alles hier bekennen.” Bei diesen Worte versuchte sie, sich ihm zu Füßen zu werfen. Er sprang auf und hielt sie zurück; sie mit beiden Händen fassend, zog er sie zu sich empor.

In den Worten, welche ihr soeben entschlüpft waren, in der befremdenden Gebärde, welche sie begleitet hatte, drängte sich ihm die Wahrheit auf. Es war kein Zweifel mehr, die Schuldige, von der sie sprach, war sie selbst.

Sprachlos lag sie in seinen Armen, ihre Brust an die seine gepresst. Da öffnete sich die Tür des Bibliothekzimmers und Lady Janet trat herein.


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