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Die Neue Magdalena - Buch 2

Kapitel 13

Sie wird gesucht

Grace Roseberry, welche in ihrem Versteck bisher alles mitangehört hatte, erkannte jetzt in der Eintretenden die Herrin des Hauses und zog sich rasch zurück, um von dem Speisezimmer aus nicht gesehen werden zu können.

Lady Janet blieb auf der Schwelle wie angewurzelt stehen, als sie ihren Neffen und ihre Adoptivtochter in dieser Stellung überraschte.

Mercy sank in den nächsten Stuhl, während Julian neben ihr stehen blieb. Er war von der soeben gemachten Entdeckung wie betäubt; stumm und erschreckt richtete er seinen blick auf sie und schien außer ihr nichts zu sehen, nichts zu hören.

Lady Janet brach das Schweigen. Erbittert und streng wandte sie sich zu ihrem Neffen: „In der Tat, Mister Julian Gray!” sagte sie. „Es wäre besser gewesen, wenn Sie bei Ihrer Rückkehr nur mich hier gefunden hätten. Ich halte Sie nun nicht mehr auf. Sie können mein Haus auf der Stelle verlassen.”

Julian kehrte sich betroffen nach ihr um. Sie deutete nach der Tür. In seinem gegenwärtigen Gemütszustand schnitt ihm dies ins Herz. Ohne wie sonst das Alter und die Stellung seiner Tante ihm gegenüber zu berücksichtigen, sagte er:

„Sie scheinen zu vergessen, Lady Janet, dass ich nicht Ihr Bedienter bin. Ernste Gründe, die Sie gar nicht einmal kennen, zwingen mich, hier zu bleiben, trotz Ihrer Aufforderung, das Haus zu verlassen. Lange, darauf können Sie sich verlassen, werde ich Ihre Gastfreundschaft nicht in Anspruch nehmen.”

Bei diesen Worten wandte er sich nach Mercy um und überraschte sie, wie sie schüchtern ihre Augen auf ihn gerichtet hielt. Ihre Blicke begegneten sich, und alsbald legte sich der heftige Sturm in seinem Innern. Trauer - teilnehmende Trauer für Mercy füllte sein Herz; denn jetzt erst begriff er, was sie gelitten. Hatte er für jene ungenannte Sünderin schon Mitleid empfunden, so empfand er es für sie in zehnmal stärkerem Maße; und sein ehrlicher Glaube an die edle Natur dieser Fremden steigerte sich ihr gegenüber zur wahren Überzeugung. Er wandte sich abermals zu seiner Tante und sagte: „Diese Dame wünscht mir allein eine Mitteilung zu machen, doch hat sie es bis jetzt nicht getan. Dies ist der Grund und gleichzeitig die Entschuldigung für mein längeres Verweilen.”

Lady Janet stand noch unter dem Einfluss des Eindruckes, welchen sie beim Eintritt in das Zimmer gewonnen hatte. Sie blickte deshalb Julian zornig und erstaunt an, als verletze er noch jetzt Horace Holmcrofts Recht und dies dazu in Gegenwart seiner Verlobten. Sie sollte ihr sein Benehmen erklären. „Grace!” rief sie aus, „haben Sie seine Worte gehört? Und Sie erwidern nichts! Muss ich Sie erinnern -”

Sie stockte. Zum erstenmale, seit sie ihre junge Freundin kannte, hörte diese nicht auf das, was sie sprach. Mercy hatte nur Sinn für Julian, denn sein Blick sagte ihr, dass er sie endlich verstanden!

Lady Janet wandte sich noch einmal an ihren Neffen mit den strengsten Worten, die sie jemals ihrem Schwestersohne gegenüber gebraucht:

„Wenn Sie noch ein Gefühl für Anstand haben”, sagte sie, „ - von Ehre spreche ich gar nicht - so verlassen Sie sofort das Haus und brechen jeden Verkehr mit dieser Dame ab. Sparen Sie jede Entschuldigung; was ich bei meinem Eintritt hier gesehen, ist genug, um alles zu verstehen.”

„Sie missverstehen, was Sie gesehen haben”, antwortete Julian ruhig.

„Vielleicht habe ich auch missverstanden, was Sie mir vor kaum einer Stunde bekannt gaben?” gab Lady Janet zurück.

Julian warf einen Blick voll Unruhe auf Mercy. „Sprechen Sie davon nicht”, flüsterte er. „Sie könnte es hören.”

„Weiß Sie etwa nicht, dass Sie in sie verliebt sind?”

„Gott sei Dank, sie hat keine Ahnung davon.”

Der Ernst, womit er sprach, gab Zeugnis für seine Unschuld. Lady Janet trat einen Schritt zurück; sie war verwirrt und wusste nicht, was sie tun oder sagen sollte.

Es entstand eine Stille; da wurde an die Tür geklopft. Ein Diener trat ein. - In seinem verstörten Gesicht war deutlich zu lesen, dass er nichts Gutes zu berichten hatte.

Lady Janet, im Augenblick auf das höchste gereizt, empfand das Erscheinen dieses unschuldigen Menschen als eine offenbare Beleidigung. „Wer hat Sie gerufen?” fragte sie scharf. „Wer erlaubt Ihnen, uns zu unterbrechen?”

Der Diener stand verwirrt und stotterte eine Entschuldigung.

„Verzeihen Euer Gnaden. Ich wollte nur - mit Mister Julian Gray sprechen.”

„Was gibt's?” fragte Julian.

Der Mann zögerte und blickte verlegen auf Lady Janet, dann nach der Tür, als wünschte er schon wieder draußen zu sein.

„Ich weiß nicht, Sir, ob ich es hier sagen kann” - antwortete er.

Lady Janet erriet sofort, was dem zugrunde lag.

„Ich weiß, was geschehen ist”, sagte sie, „die greuliche Person ist abermals hier eingedrungen, habe ich recht oder nicht?”

Der Diener blickte hilfesuchend auf Julian.

„Ja oder Nein?” rief sie gebieterisch.

„Ja, Euer Gnaden.”

Julian erkannte es nun als seine Pflicht, sich näher zu erkundigen.

„Wo ist sie?” begann er.

„Wir glauben irgendwo im Garten, Sir.”

„Haben Sie sie gesehen?”

„Nein, Sir.”

„Wer hat sie denn gesehen?”

„Die Frau des Torwärters.”

Dann war sie es. Die Frau des Torwärters hatte gehört, was Julian ihrem Mann in Betreff der Personsbeschreibung gesagt hatte. Es war daher nicht wahrscheinlich, dass sie sich irrte.

„Wann hat sie sie gesehen?”

„Es ist noch nicht lange her.”

„Ich muss es genauer wissen. Wann?”

„Das weiß ich nicht, Sir.”

„Hat die Frau des Torwärters mit ihr gesprochen?”

„Nein, Sir; es ist ihr, scheint es, nicht gelungen. Sie ist ziemlich korpulent, wie Sie wissen, und war daher nicht im Stande, der anderen rasch genug zu folgen. Diese hatte sie gesehen und ist ihr gleich entwischt.”

„In welchem Teile des Gartens ist das alles geschehen?”

Der Diener deutete nach der Richtung des Vorhauses, welches seitwärts in das Freie führte. „Dort, Sir. Entweder im deutschen Garten, oder wo die Sträucher stehen. Ich weiß es nicht genau.”

Was Julian von dem Bedienten erfahren konnte, war, das sah er deutlich, nicht genügend; so fragte er, ob die Torwärterin hier im Hause sei.

„Nein, Sir. Ihr Mann durchsucht den Garten und sie überwacht indessen den Eingang am Tor. Sie haben nur ihren Jungen mit der Botschaft hierher geschickt; und so viel ich von dem erfahren kann, wäre es ihnen sehr lieb, wenn Sie ihnen weitere Befehle geben wollten.”

Julian überlegte.

Aller Wahrscheinlichkeit nach war die Fremde schon im Hause gewesen. Sie hatte offenbar vorhin im Billardzimmer gehorcht und, als er selbst sich näherte, um den Grund des fortgesetzten Tür-Öffnens und Schließens zu entdecken, rechtzeitig noch das Weite gesucht. Jetzt mochte sie nun allerdings - wie der Bediente sagte - „irgendwo im Garten” sein.

Die Sache war ernst und konnte bei der geringsten Unvorsichtigkeit zu argen Verwicklungen führen.

War es richtig, was aus dem nur angedeuteten Bekenntnisse Mercys hervorzugehen schien, so war die Fremde in der Tat diejenige, die sie hartnäckig zu sein behauptete, nämlich - die wahre Grace Roseberry.

Dann war es von höchster Wichtigkeit, sie allein zu sprechen; ein neuer Auftritt musste um jeden Preis verhindert und ein Zusammentreffen mit der Tochter des Hauses unmöglich gemacht werden. Die Wirtin, bei der die Fremde wohnte, hatte ihn schon wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass sie nur den Moment abwarte, wo sie „Miss Roseberry” allein überraschen konnte; war sie allein, ohne Lady Janet, ohne einen der Herren, die sich ihrer annahmen, so wollte sie ihr Aug' in Aug' gegenüber treten und dann - meinte sie - würde sich die Betrügerin selbst als das zu erkennen geben, was sie tatsächlich sei.

Nach alledem konnte man nicht vorsichtig genug zu Werke gehen. Eine solche Begegnung könnte die schlimmsten Folgen haben. Alles hing davon ab, dass Julian die aufs äußerste gereizte Person geschickt zu behandeln wusste; und gerade jetzt war sie nirgends zu sehen.

Es blieb nichts übrig; Julian musste sich zuerst über ihr Erscheinen näher informieren und dann persönlich den Garten nach ihr durchsuchen.

Sein Entschluss stand fest, als er den Blick auf Mercy richtete. Es war ein hartes Opfer, jetzt, wo er mit namenloser Unruhe und Spannung einer Unterredung mit ihr entgegensah, dieselbe aufzuschieben.

Mercy war indessen aufgestanden. Was zwischen Julian und Lady Janet vorgefallen war, hatte sie augenscheinlich gar nicht berührt; dagegen horchte sie aufmerksam auf die unvollkommenen Berichte des Bedienten. Sie schien sich dafür beinahe ebenso zu interessieren wie Lady Janet, nur dass diese im höchsten Grade davon betroffen und erschreckt war, während Mercy ziemlich gleichgültig blieb.

Im Begriffe fortzugehen, sagte Julian zu seiner Tante:

„Beruhigen Sie sich einstweilen. Ich bin überzeugt, dass wir die Fremde irgendwo finden werden. Sie haben gar keinen Grund, sich deshalb zu ängstigen; ich werde selbst mitsuchen. Ich bin so bald als möglich wieder zurück.”

Lady Janet hörte seine Worte kaum. Sie schien etwas Besonderes vorzuhaben. Im Vorübergehen nach der Tür in das Billardzimmer blieb Julian vor Mercy stehen. Es kostete ihn unsägliche Anstrengung, die heftigen, widerstreitenden Gefühle, welcher ihr bloßer Anblick in seinem Inneren hervorrief, zu unterdrücken. Mit klopfendem Herzen und einer tonlosen Stimme sagte er:

„Ich sehe Sie wieder. Sie können mehr als je auf meine treue Hilfe und warme Teilnahme für Sie zählen.”

Sie verstand, was er meinte. Ihre Brust hob sich in schweren Atemzügen, ihre Augen suchten den Boden - sie antwortete nicht. Julian traten Tränen in die Augen, als er sie so vor sich stehen sah. Er verließ rasch das Zimmer.

Als er die Tür schließen wollte, hörte er eben Lady Janet sagen: „Ich komme gleich wieder, Grace; gehen Sie indessen nicht fort.”

In der Meinung, seine Tante hätte irgend etwas im Bibliothekzimmer zu tun, schloss er die Tür. Er trat in das anstoßende Raucherzimmer; gleichzeitig öffnete sich die Tür hinter ihm wieder, und als er sich danach umkehrte, stand Lady Janet vor ihm; sie war ihm gefolgt.

„Wünschen Sie etwas von mir?” fragte er.

„Ich möchte gerne”, antwortete sie, „dass Sie mir, bevor Sie gehen, etwas geben.”

„Und das wäre?”

„Ihre Karte.”

„Meine Karte?”

„Sie haben mir zwar gerade gesagt, ich sollte keine Angst haben, deswegen habe ich sie aber doch. Ich bin nicht so fest überzeugt wie Sie, dass die Person im Garten ist. Sie mag ebenso gut im Hause irgendwo lauern, und sobald Sie den Rücken gekehrt haben, aus ihrem Versteck hervorkommen. Erinnern Sie sich, was Sie mir gesagt haben.”

Julian verstand die Anspielung. Er gab nichts zur Antwort.

„Sie sagten mir”, fuhr Lady Janet fort, „dass man auf der Polizeistation nur auf Ihre Karte warte, um einen verlässlichen Mann in gewöhnlicher Kleidung sofort nach der bezeichneten Adresse abzuschicken. Zu Graces Schutz verlange ich Ihre Karte, bevor Sie gehen.”

Julian konnte jetzt unmöglich die Gründe angeben, weshalb seine eigenen Vorsichtsmaßregeln nun unberechtigt geworden waren - jetzt umsoweniger, als der dringende Notfall, in dem sie gebraucht werden sollte, wahrscheinlich bevorstand. Aber wie konnte er die wirkliche, wahre Grace Roseberry für wahnsinnig erklären? Wie konnte er sie in Gewahrsam bringen lassen? Auf der anderen Seite hatte er selbst damals, als es die Verhältnisse zu fordern schienen, seiner Tante dieses gesetzliche Mittel zur Verfügung gestellt, um sie vor weiteren Überfällen zu sichern. Jetzt stand sie da, die Hand nach der Karte ausgestreckt; denn sie war gewöhnt, jeden ihrer Wünsche gleich erfüllt zu sehen!

Was war zu tun? Um sich, wenigstens für den Augenblick aus dieser schwierigen Lage zu befreien, blieb nichts übrig, als die Karte herzugeben. Fand er die Fremde, so konnte er sie selbst vor einer unwürdigen Behandlung schützen; gelang es ihr, in seiner Abwesenheit sich in das Innere des Hauses zu stehlen, so stand ihm noch immer der Weg offen, mit einer zweiten Karte dem Polizeichef seine Einflussnahme in dieser Angelegenheit bis auf Weiteres zu untersagen; und damit war sie auch in diesem Falle vor jeder Beleidigung gesichert. Er überreichte seiner Tante die Karte, jedoch nur unter einer Bedingung.

„Ich kann doch wohl sicher sein, dass Sie nur im dringendsten Notfalle davon Gebrauch machen?” sagte er. „Außerdem knüpfe ich die Bedingung daran, dass Sie mir das Versprechen geben, über diesen Verkehr zwischen mir und der Polizei strengstes Stillschweigen zu bewahren -”

„Sie meinen, Grace soll es nicht erfahren?” warf Lady Janet dazwischen. Julian verneigte sich, die Frage bejahend. „Glauben Sie, ich habe Lust, sie abermals zu erschrecken? Weiß Gott, ich habe genug Angst ihretwegen ausgestanden. Sie soll kein Wort davon erfahren!”

Auch über diesen Punkt nunmehr beruhigt, eilte Julian in den Garten. Kaum war er verschwunden, so zog Lady Janet den goldenen Bleistifthälter an ihrer Uhrkette hervor, und schrieb, es war die Instruktion für den Polizeibeamten, auf die Karte ihres Neffen: „Kommen Sie sofort nach Mablethorpe-House.” Dann steckte sie dieselbe in die Tasche und kehrte in das Speisezimmer zurück.

Grace hatte indessen, dem erhaltenen Befehl gemäß, hier gewartet.

Im ersten Augenblick herrschte tiefes Schweigen; keine von beiden sprach ein Wort. Lady Janet befand sich jetzt mit ihrer Adoptivtochter allein; ihr Benehmen gegen dieselbe war auf einmal kalt und streng geworden; die Entdeckung, welche sie vorhin beim Eintritt in das Zimmer gemacht, beschäftigte noch immer ihre Gedanken. Julian hatte zwar die Versicherung gegeben, dass sie den Auftritt falsch auslegte, und sie hatte ihm, obgleich ganz gegen ihren Willen, auch glauben müssen; allein Mercy war sehr bewegt und verdächtig schweigsam gewesen. Mochte auch Julian keine Schuld haben - sie gab dies zu - denn Männer waren stets unergründlich; aber Mercys Betragen war nicht zu entschuldigen; in der Regel fallen Frauen nicht Männern in die Arme, ohne zu wissen, was sie damit tun. Julian konnte sie freisprechen, Mercy nimmermehr. „Sie haben eine Geheimnis miteinander”, dachte die alte Dame, „und sie ist die zu Tadelnde; immer liegt die Schuld an den Frauen!”

Mercy wartete geduldig und schweigsam, dass Lady Janet zuerst spreche; einigermaßen befangen begann diese schließlich:

„Grace!” - Ihre Stimme klang scharf, als sie sie anrief.

„Ja, Lady Janet?”

„Wie lange werden Sie noch so dasitzen, ohne ein Wort zu sprechen, und ohne vom Boden aufzustehen. Haben Sie denn gar nichts zu sagen in Betreff der Nachricht, welche Julian soeben erhalten hat? Sie haben doch gehört, was der Diener gesagt hat. - Sind Sie sehr erschrocken?”

„Nein, Lady Janet.”

„Nicht einmal aufgeregt?”

„Auch das nicht.”

„Ha! So viel Mut hätte ich Ihnen nach den Erfahrungen, welche ich vor einer Woche darüber gemacht, nicht zugetraut. Ich gratuliere zu Ihrer Genesung. Haben Sie gehört? Ich gratuliere zu Ihrer Genesung.”

„Ich danke Ihnen, Lady Janet.”

„Ich bin nicht so ruhig wie Sie. In meiner Jugend waren wir alle leicht erregbar, und dies ist mir bis heute geblieben. Ich bin aufgeregt. Hören Sie? Ich bin aufgeregt.”

„Ich bedauere Sie deshalb.”

„Sie sind zu gütig. Aber wissen Sie, was ich nun tun werde?”

„Nein, Lady Janet.”

„Ich werde das ganze Haus zusammenrufen, das heißt die Männer, die Frauen sind ja zu nichts zu brauchen. Doch Sie scheinen sich dafür sehr wenig zu interessieren?”

„Im Gegenteile, Lady Janet, ich höre Ihnen aufmerksam zu.”

„Sie sind wirklich recht gut. Ich sagte, die Frauen seien zu nichts zu brauchen.”

„Jawohl, ich verstehe.”

„Ich will an jeden Eingang einen der Bedienten als Wachtposten stellen; und zwar tue ich es sogleich. Wollen Sie mich begleiten?”

„Bedürfen Sie dabei meiner Unterstützung?”

„Nicht im geringsten; denn hier im Hause befehle ich - nicht Sie. Der Grund, weshalb ich Sie mitnehmen wollte, war ein anderer; ich wollte Sie hier nicht allein zurücklassen. Verstehen Sie mich nun?”

„Ich bin Ihnen sehr verbunden, Lady Janet; doch ich mache mir nichts daraus, allein hier zurückzubleiben.”

„Sie machen sich nichts daraus? Das klingt ja ordentlich heldenmütig, wie in einem Roman! Wenn nun aber diese wahnsinnige Person hierher kommt?”

„Ich würde jetzt über sie nicht mehr so erschrecken, wie damals.”

„Seien Sie nicht zu vorschnell! Gesetzt den Fall - guter Gott! Jetzt erst denke ich daran - da ist ja der Wintergarten. Nun - den Fall gesetzt, sie ist da drinnen versteckt; und Julian durchsucht einstweilen den Garten. Wer wird dann im Wintergarten suchen?”

„Wenn Sie es erlauben, ich tue es gleich.”

„Sie!!?”

„Ja, wenn es Ihnen recht ist, gleich.”

„Das überrascht mich in der Tat! Nun, der Mensch lernt nie aus, ist ein altes Sprichwort. Ich habe mir eingebildet, Ihren Charakter zu kennen. Jetzt sehe ich, dass mir darin noch manches neu ist!”

„Sie vergessen, Lady Janet - wenn ich mir erlauben darf, so zu sagen - dass die Sache jetzt etwas anders liegt. Das erstemal hat mich ihr Erscheinen überrascht, jetzt bin ich darauf vorbereitet.”

„Fühlen Sie sich aber auch in Ihrem Innern so ruhig als Sie äußerlich scheinen?”

„Ja, Lady Janet, ganz so.”

„Tun Sie denn, was Sie wollen. Eine Vorsicht will ich für den Fall, als Sie Ihren Mut überschätzt haben, gebrauchen, das ist nämlich, einen Diener im Bibliothekzimmer aufzustellen; Sie brauchen dann nur zu klingeln, wenn Ihnen irgendetwas zustößt. Er gibt dann das Zeichen und ich handle demgemäß. Ich weiß schon, was ich zu tun habe”, sagte Lady Janet in dem angenehmen Bewusstsein, die Karte in der Tasche zu haben. „Machen Sie nicht solche Augen, als wollten Sie es wissen. Ich sage Ihnen doch nichts weiter - als dass es mir genügt. Noch einmal, und jetzt zum letzten Male fragte ich Sie - bleiben Sie hier, oder gehen Sie mit?”

„Ich bleibe hier.”

Dabei öffnete sie voll Artigkeit die Tür des Bibliothekzimmers für Lady Janet, und diese schritt hinaus. Mercy hatte während der ganzen Unterredung ein zwar ehrerbietiges, aber kühles Verhalten Lady Janet gegenüber beobachtet; nicht ein einziges Mal hatte sie die Augen bis zu ihr erhoben. Die feste Überzeugung, dass sie vielleicht schon in wenigen Stunden aus diesem Haus entlassen würde, schnürte ihr die Kehle zu; moralisch fühlte sie sich von ihrer Gebieterin, deren Liebe sie in einer Verkleidung gewonnen, schon jetzt getrennt. Lady Janet war gänzlich unfähig, die Veränderung in Mercy auf ihren wahren Grund zurückzuführen. So hatte sie in großer Verwirrung, und als notwendige Folge davon, in argem Unmut das Zimmer verlassen, um ihre häusliche Garnison zu versammeln.

Mercy stand nun, die Tür in der Hand, und sah ihr mit beklommenem Herzen nach, wie sie durch die Räume in das Vorhaus eilte. Sie hatte die wohlwollende, aufgeweckte alte Dame wahrhaft geliebt und verehrt. Der Gedanke, binnen kurzem in Lady Janets Achtung so tief zu sinken, dass diese es für eine Beleidigung halten würde, ihren Namen nur aussprechen zu hören, erfüllte sie mit namenloser Wehmut.

Doch sie schauderte nun nicht mehr vor dem fürchterlichen Bekenntnis; ungeduldig sogar erwartete sie Julians Rückkehr, denn das Vertrauen, welches er in sie setzte, sie wollte es sich verdienen.

„Sie soll die Wahrheit bekennen, und zwar nicht aus kleinlicher Furcht vor Entdeckung, sondern um des Rechtes willen, das der von ihr Beschädigten gebührt; sie soll sie jetzt noch bekennen, so lange jene keine Macht hat, das Vergehen aufzudecken. Sie opfere alles, was sie durch den Betrug gewonnen, der heiligen Pflicht, denselben zu sühnen. Ist sie im Stande, so zu handeln, nur um ihres eigenen Gewissens, um des Allmächtigen willen - ungeachtet des persönlichen Nachteiles, der Schande und Entbehrung, welche es ihr bringt - hat sie mit dieser Reue den edlen Kern ihres Inneren geoffenbart; wir dürfen ihr dann wieder vertrauen, sie achten und lieben.” So klang es in ihr wieder, als spräche er jetzt zu ihr. „Sähe ich dann die Pharisäer und religiösen Schwärmer dieser niedrigen Welt sie mit Verachtung von sich weisen, ich böte ihr vor ihnen allen die Hand und riefe der Verlassenen und Betrübten zu, erhebe dich, du armes, krankes Herz! Gottes Engel jauchzen über dich, du schöne, gereinigte Seele! Dir ziemt ein Platz unter den edelsten Geschöpfen dieser Erde!” Ihr Inneres erbebte noch bei der Erinnerung an die Größe dieser Worte. Wer einmal Julian Gray sie hatte sagen hören, der konnte nicht anders, als um jeden Preis sein Vertrauen zu rechtfertigen suchen. „O!” dachte sie mit sehnsüchtigem Verlangen, während ihre Augen Lady Janet bis an das Ende des Bibliothekzimmers verfolgt hatten, „geschähe es nur, wovor sie zittern; käme nur Grace Roseberry hierher, furchtlos träte ich ihr jetzt gegenüber!”

Sie schloss die Tür, während Lady Janet eben in das Vorhaus trat.

Als sie sich umwendete und nun wieder in dem Speisezimmer stand, entrang sich ein Aufschrei der Überraschung ihrer Brust.

Denn - gerade als hätte ihr Wunsch sie herbeigezaubert, saß auf dem Stuhl, welchen sie soeben verlassen - Grace Roseberry, triumphierend, in finsterem Schweigen ihrer harrend.


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