Armadale



Viertes Kapitel.

»All-Saints-Terrace, New-Road, London.
Montag Abend, den 28. Juli.

Ich bin so müde, daß ich mich kaum aufrecht halten kann, aber in meiner kritischen Lage darf ich mich nicht auf mein Gedächtniß verlassen. Ehe ich mich schlafen lege, muß ich meinen gewohnten Bericht über die Ereignisse des Tages niederschreiben.

Bis hierher hat es den Anschein, als ob die Wendung, die das Schicksal zu meinen Gunsten genommen —— und es ließ sich Zeit, ehe es sich zu dieser Wendung entschloß! —— andauern wollte. Es gelang mir, Armadale dazu zu zwingen —— der Mensch war durch nichts Geringeres als Zwang zu bewegen —— mit mir allein in einem Wagen von Thorpe-Ambrose nach London zu reisen, und zwar angesichts all der Leute, die auf dem Perron standen. Eine förmliche Versammlung von Leuten; die in kleinlichem Klatsch machen, stand da beisammen, die uns grob anstierten und offenbar ihre Schlüsse zogen. Ich müßte mich sehr in Thorpe-Ambrose getäuscht haben, wenn der ganze Ort nicht in diesem Augenblicke von Mr. Armadale und Miß Gwilt voll ist.

Während der ersten halben Stunde unserer Fahrt hatte ich einige Noth mit ihm. Der Schaffner —— der vortreffliche Mann, ich war ihm so dankbar! —— hatte uns, offenbar in Erwartung eines Trinkgeldes am Ende der Reise, allein mit einander eingeschlossen. Armadale war argwöhnisch gegen mich und ließ dies deutlich merken. Nach und nach aber zähmte ich mein wildes Thier, theils indem ich keine Neugier über den Zweck seiner Reise nach der Stadt verrieth, theils indem ich sein Interesse für seinen Freund Midwinter erweckte, wobei ich namentlich die Gelegenheit hervorhob, die sich jetzt zu einer Versöhnung zwischen ihnen darböte. Bei diesem Gegenstande verweilte ich, bis es mir gelungen war, seine Zunge zu lösen, und er mich unterhalten mußte, wie es einem Herrn gebührt, der die Ehre genießt, eine Dame auf einer Eisenbahnfahrt zu begleiten.

Sein Kopf, der so wenig zu fassen vermag, war von seiner eigenen und Miß Milroy’s Angelegenheiten voll. Nicht mit Worten läßt sich beschreiben, welche Unbeholfenheit er zeigte, als er von sich selbst zu schwatzen suchte, ohne mich ins Vertrauen zu ziehen oder Miß Milroys Namen, auszusprechen Er unterrichtete mich, daß er in einer Angelegenheit von unbeschreiblicher Wichtigkeit für ihn nach London reise. Dieselbe sei für jetzt noch ein Geheimniß, doch hoffe er mir dasselbe bald vertrauen zu dürfen; diese Sache lasse ihn bereits die Verleumdungen, die in Thorpe-Ambrose über ihn in Umlauf gesetzt worden, von ganz anderer Seite betrachten; er sei zu glücklich, um sich darum zu kümmern, was die Klätscher jetzt von ihm sagten, und werde ihnen bald den Mund schließen, in einer neuen Rolle auftretend, die sie alle überraschen werde. In dieser Weise faselte er fort, fest überzeugt, daß ich vollkommen im Unklaren sei. Es war schwer, nicht zu lachen, als ich an meinen anonymen Brief dachte, Or an den Major unterwegs war; doch es gelang mir, wenngleich nur mit großer Mühe, mich zu bemeistern. Im Laufe der Fahrt überfiel mich eine fürchterliche Aufregung; ich glaube, die Sache wuchs mir über den Kopf. Da war ich nun mit ihm allein und plauderte aufs harmloseste und unbefangenste mit dem Menschen, dessen Leben ich, sobald der Augenblick dazu gekommen, aus meinem Pfade hinwegzuräumen gedenke, wie ich wohl einen Flecken aus einem Kleide vertilgen würde. Die Gemüthsbewegung machte mein Blut sieden und trieb es mir in die Wangen. Ein paarmal ertappte ich mich darauf, daß ich weit lauter lachte, als ich es hätte thun sollen, und lange, ehe wir in London anlangten, hielt ich es für gerathen, mein Gesicht hinter dem Schleier zu verstecken.

Als wir in London ausstiegen, hatte ich keine Mühe, ihn zu bewegen, mich im Fiaker nach dem Hotel zu begleiten, wo Midwinter logierte. Er war voller Begierde, sich mit seinem lieben Freunde auszusöhnen, namentlich, wie ich nicht bezweifle, weil er den Beistand dieses lieben Freundes zu seinem heimlichen davonlaufen mit Miß Milroy bedarf. Die wahre Schwierigkeit lag natürlich in Midwinter selbst. Meine unvorbereitete Abreise nach London hatte mir keine Zeit gelassen, an ihn zu schreiben und seine abergläubische Ueberzeugung zu bekämpfen, daß es besser sei, wenn er und sein Freund von einander geschieden blieben. Ich hielt es deshalb für gerathen, Armadale im Fiaker vor dem Hotel warten zu lassen und allein einzutreten, um Midwinter auf ihn vorzubereiten.

Dieser war glücklicherweise nicht aussgangen. Sein Jubel darüber, daß er mich schon einige Tage früher sah, als er erwartet, hatte, so muß ich annehmen, etwas Ansteckendes Bah! Meinem eigenen Tagebuche darf ich schon die Wahrheit bekennen! Aus einen Augenblick vergaß selbst ich ebenso vollständig wie er die ganze Welt außer uns beiden. Mir wars, als sei ich wieder sechzehn Jahre alt, bis ich mich plötzlich des Burschen unten im Fiaker erinnerte; da war ich auf der Stelle wieder fünfunddreißig.

Sein Gesicht veränderte sich, als er hörte, wer unten sei und was ich von ihm verlange; er sah nicht zornig, sondern vielmehr bekümmert aus. Doch gab er bald nicht etwa meinen Ueberzeugungsgründen, denn solche bot ich ihm gar nicht, sondern meinen Bitten nach. Seine alte Liebe zu seinem Freunde mochte möglicherweise dazu beitragen» daß er sich gegen seinen Willen überreden ließ; meine Ansicht ist indeß die, daß ihn hauptsächlich seine Liebe zu mir bestimmte.

Ich wartete in seinem Wohnzimmer, während er nach dem Fiaker hinunterging; deshalb weiß ich nichts von dem, was zwischen ihnen geschah, als sie einander wiedersahen. Aber welch ein Unterschied zwischen den Beiden, als sie zusammen zu mir hinaufkamen. Beide waren sie bewegt, doch in so verschiedener Weise! Der verhaßte Armadale so laut und plump und roh, der liebe, liebenswürdige Midwinter so blaß und ruhig, mit so sanfter Stimme, wenn er sprach, und solcher Zärtlichkeit im Blick, wenn dieser sich mir zuwandte. Armadale übersah mich so vollkommen, als ob ich gar nicht ins Zimmer gewesen wäre. Er dagegen wandte sich in der Unterhaltung fortwährend zu mir; er blickte, wie ich in meinem Winkel dasaß und sie beobachtete, beständig nach mir hin, um zu sehen, was ich dächte; er wollte mich durchaus nach meiner Wohnung begleiten, um mir alle Mühe mit dem Fiakerkutscher und dem Gepäck abzunehmen. Als ich dies dankend ausschlug, zeigte sich in Armadales Gesicht eine unverhohlene Zufriedenheit über die Aussicht, seinen Freund, sobald ich den Rücken gewendet, für sich haben zu können. Als ich fortging, saß er mit seinen weit vor sich auf dem Tische hingespreizten Armen da und schrieb einen Brief (ohne Zweifel an Miß Milroy) und schrie dem Kellner zu, daß er ein Schlafzimmer im Hotel zu haben wünsche. Natürlich hatte ich darauf gerechnet, daß er in demselben Gasthofe bleiben, in dem er seinen Freund finden würde. Es freute mich, meine Erwartungen sich erfüllen zu sehen und zu wissen, daß ich ihn jetzt so gut wie unter meiner Aufsicht habe.

Nachdem ich Midwinter versprochen, ihn wissen zu lassen, wo er mich morgen sehen könne, fuhr ich im Fiaker fort, um mir allein eine Wohnung zu suchen.

Nach einiger Mühe ist es mir geglückt, mir in diesem Hause, wo die Leute mir alle fremd sind, ein erträgliches Wohn- nebst Schlafzimmer zu verschaffen. Nachdem ich die Miethe auf eine Woche vorausbezahlt, denn ich zog dies natürlich etwaigen Erkundigungen über mich vor, finde ich, daß mir gerade noch drei Schillinge und neun Pence übrig bleiben. Unmöglich kann ich Midwinter um Geld bitten, da er schon Mrs. Oldershaw’s Wechsel gezahlt hat. Ich muß morgen meine Uhr und Kette versetzen; ich brauche ja nicht mehr, als was ich auf vierzehn Tage bedarf. Bis dahin oder schon früher wird Midwinter mich geheirathet haben.

Den 29. Juli. Zwei Uhr. Heute ganz früh ließ ich Midwinter durch eine Zeile wissen, daß er mich heute Nachmittag um drei Uhr hier treffen werde. Darauf widmete ich den Vormittag zwei Geschäften. Das erste verdient kaum erwähnt zu werden, es bestand nur im Versetzen meiner Uhr und Kette. Ich erhielt mehr dafür, als ich erwartet hatte, und mehr, selbst wenn ich mir inzwischen eine kleine wohlfeile Sommergarderobe kaufe, als ich aller Wahrscheinlichkeit nach bis zum Hochzeitstage werde ausgeben müssen.

Das zweite Geschäft war von weit ernsterer Beschaffenheit. Es führte mich nach einer Advocatenexpedition.

Ich wußte gestern Abend sehr wohl, obgleich ich zu müde war, es in meinem Tagebuche zu bemerken, daß ich Midwinter unmöglich heute Morgen werde sehen können, ohne in unserer gegenwärtigen Beziehung zu einander mir wenigstens den Anschein zu geben, als ob ich ihn über mich und meine Verhältnisse ins Vertrauen zöge. Einen einzigen Punkt ausgenommen, den ich ja nicht aus dem Auge verlieren darf, hindert mich durchaus nichts daran, meine Erfindungsgabe auszubeuten und ihm irgend eine beliebige Geschichte aufzutischen, denn bis jetzt habe ich noch Niemand irgend welche Geschichte erzählt. Was die Milroys betrifft, so konnte ich sie, da ich ihnen die übliche Empfehlung gebracht, glücklicherweise hinsichtlich aller Dinge, die sich ausschließlich auf mich bezogen, mir fern halten, und Midwinter begab sich nach London, ehe es möglich war, den Gegenstand zur Sprache zu bringen. Endlich, als ich auf der Rampe vor seinem Hause meine Aussöhnung mit Armadale bewerkstelligte, hatte dieser die wahnsinnige Großmuth, keinerlei Erklärung oder Vertheidigung meines Charakters von mir zu verlangen. Nachdem ich mein Bedauern darüber ausgedrückt, daß ich meine Selbstbeherrschung verloren und Miß Milroy gedroht, und dann seine Versicherung erhalten hatte, daß Milroy nie daran gedacht, mir ein Unrecht zuzufügen, war er viel zu großmüthig um ein Wort über meine eigenen Angelegenheiten anhören zu wollen. So, bin ich in keiner Weise durch frühere selbst gemachte Angaben gebunden und darf somit irgend eine mir beliebige Geschichte erfinden, mit Berücksichtigung des einen Punktes, dessen ich so eben gedacht. Die Rolle, in der ich in Thorpe-Ambrose auftrat, muß ich, welche sonstigen Erdichtungen ich mir auch gestatte, beibehalten, denn bei der Anrüchigkeit, die meinem andern Namen anhaftet, bleibt mir nichts Anderes übrig, als Midwinter unter meinem Mädchennamen Miß Gwilt zu heirathen.

Diese Erwägung führte mich zum Advocaten. Ich fühlte, daß ich mich, ehe ich Midwinter wiedersähe, darüber unterrichten müsse, welche unangenehmen Folgen es nach sich ziehen könne, wenn ich, eine Wittwe, mich verheirathete, ohne meinen Wittwennamen anzugeben.

Da mir kein anderer Sachwalter bekannt war, dem ich mich anvertrauen durfte, ging ich dreist zu dem Advocaten, der mein Interesse zu jener fürchterlichen Zeit meiner Vergangenheit vertreten hatte, an die zu denken ich mehr als je zu schaudern Grund habe. Er war erstaunt und, wie ich deutlich sehen konnte, nichts weniger als angenehm überrascht, mich zu sehen. Kaum hatte ich die Lippen geöffnet, als er schon sagte, er hoffe, ich sei nicht gekommen, um ihn nochmals (mit großem Nachdruck auf diesem Wort) für mich selbst zu Rathe zu ziehen. Ich benutzte den Wink und richtete die Frage, die mich zu ihm geführt, im Interesse jener bei solchen Gelegenheiten so bequemen Person einer abwesenden Freundin an ihn. Natürlich durchschaute dies der Advocat sofort, aber war schlau genug, sich meine Freundin seinerseits zu Nutze zu machen. Aus Höflichkeit für eine Dame, sagte er, die durch mich repräsentiert werde, wolle er die Frage beantworten; doch müsse er dabei die Bedingung stellen, daß diese Berathung mit ihm durch Stellvertretung nicht weiter bekannt gegeben würde.

Ich ging die Bedingung ein, denn ich achtete ihn wirklich um der schlauen Art und Weise willen, in der er mich fern zu halten wußte, ohne die gebührende Höflichkeit gegen eine Dame zu verlegen. In zwei Minuten hörte ich, was er zu sagen hatte, begriff es ohne Mühe und verließ ihn wieder.

So kurz sie gewesen, hatte die Besprechung doch hingereicht, mich von alledem zu unterrichten, was ich gern wissen wollte. Ich riskiere nichts, wenn ich Midwinter unter meinem Mädchennamen heirathe und meinen Wittwennamen verschweige. Die Heirath ist insofern völlig gültig, als sie nur ungültig gemacht werden kann, wenn mein Mann den Betrug entdeckt und noch während meiner Lebenszeit gerichtliche Schritte thut, die Heirath für null und nichtig zu erklären. So lautete die Antwort des Advocaten in seinen eigenen Worten. Sie befreit mich sofort, in dieser Beziehung wenigstens, von aller Sorge für die Zukunft. Der einzige Betrug, den mein Gatte je entdecken wird, und zwar nur dann, wenn er zufällig zur Stelle ist, ist der, welcher mir Stellung und Einkünfte von Armadale’s Wittwe verleiht, und bis dahin werde ich selbst seine Heirath für immer ungültig gemacht haben.

Halb drei! In einer halben Stunde wird Midwinter hier sein. Ich muß meinen Spiegel fragen, wie ich aussehe. Ich muß meine Erfindungsgabe auffrischen und meine kleine Familiengeschichte erdichten. Bin ich ängstlich dabei? Die Stelle, wo ehedem mein Herz zu sein pflegte, zittert mir etwas —— mit fünfunddreißig Jahren und nach einem Leben, wie das meinige gewesen ist!

Sechs Uhr. So eben ist er fortgegangen. Der Tag unserer Heirath ist bereits festgesetzt.

Ich habe zu ruhen und mich zu sammeln versucht, allein ich kann nicht ruhen. Ich kehre zu diesen Blättern zurück. Seit Midwinter hier war, ist Vieles passiert, was mich nahe angeht und deshalb hier verzeichnet werden muß.

Ich will mit dem anfangen, woran ich am wenigsten gern denken mag, um desto schneller darüber hinwegzukommen, mit dem erbärmlichen Lügengewebe, das ich ihm über meine häuslichen Leiden zurecht gemacht habe.

Was ist nur das Geheimniß der Macht, die dieser Mensch über mich besitzt? Wie kommt es, daß er mich so verändert, daß ich mich selbst nicht mehr kenne? Gestern im Eisenbahnwaggon mit Armadale war ich noch ganz ich selbst. Sicherlich war es doch etwas Schauerliches, während jener ganzen Reise mit jenem lebendigen Menschen zu plaudern und das beständige Bewußtsein zu haben, daß ich seine Wittwe werden will, und dennoch war ich nichts weiter als aufgeregt. Während der langen Stunden schauderte ich keinen Augenblick zurück, mit Armadale zu sprechen, und die erste erbärmliche kleine Unwahrheit, die ich Midwinter sagte, machte mich innerlich erstarren, als ich sah, daß er sie glaubte! Ich fühlte ein fürchterliches hysterisches Würgen im Halse, als er mich bat, nicht von meinen Leiden zu sprechen. Und einmal —— mir graust, wenn ich daran denke —— einmal, als er sagte: »Wenn es möglich wäre, daß ich Dich noch inniger lieben könnte, so würde ich dies jetzt thun«, war ich kein Haarbreit davon entfernt, mich selbst zu verrathen. Ich war auf dem Punkte, auszurufen: »Lügen! Nichts als Lügen! Ich bin ein Teufel in Frauengestalt! Heirathe das jämmerlichste Geschöpf, das in den Straßen umherschleicht, und Du wirst immer noch ein besseres Weib heirathen, als ich bin!« Ja, so erschütterte es mich, als ich seine Augen feucht werden sah und seine Stimme beben hörte, während ich ihn belog. Hunderte von schönem, Hunderte von gescheiteren Männern habe ich gesehen. Was kann dieser Mensch in mir erweckt haben? Ist es Liebe? Ich glaubte geliebt zu haben, um niemals wieder zu lieben. Oder liebt ein Weib etwa nicht, wenn es die Härte eines Mannes ins Wasser treibt? Zu solcher Verzweiflung hat mich einst ein Mann getrieben. Kam all mein damaliges Elend von etwas, das nicht Liebe war? Habe ich bis zu meinem fünfunddreißigsten Jahre gelebt, um erst jetzt zu erfahren, was wirklich Liebe ist? Jetzt, wo es zu spät ist? Lächerlich! Und wozu nützt übrigens das Fragen? Was weiß ich davon? Was weiß überhaupt je ein Weib davon? Je mehr wir darüber nachsinnen, desto mehr täuschen wir uns. Ich wollte, ich wäre als ein Thier in die Welt gekommen. Dann wäre meine Schönheit mir vielleicht von einigem Nutzen gewesen, sie hätte mir vielleicht einen guten Herrn verschafft.

Hier habe ich bereits eine ganze Seite in meinem Tagebuche beschrieben und noch kein Wort gesagt, das von der allermindesten Wichtigkeit für mich ist! Ich muß meine erbärmliche Erdichtung hier sogleich aufzeichnen, solange die Umstände derselben noch frisch in meinem Gedächtnisse leben, oder wie kann ich ihrer sonst später, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, zutreffend erwähnen?

In meiner Erzählung war nichts Neues —— das gewöhnliche Leihbibliothekengewäsch. Ein verstorbener Vater, ein verlorenes Vermögen, ungerathene Brüder, die ich wiederzusehen mich fürchte, eine bettlägerige Mutter, welche sich allein auf meine Hilfe zu verlassen hat —— nein, ich kann’s nicht niederschreiben! Ich hasse mich, ich verachte mich, wenn ich bedenke, daß er es glaubte, weil ich es sagte, daß er sich darüber betrübte, weil er es für meine Geschichte hielt. Lieber will ich riskieren, mir zu widersprechen, ich will es aus Entdeckung und Verderben ankommen lassen, Alles lieber, als noch einen Augenblick bei jenen verächtlichen Lügen verweilen.

Endlich hörten sie wirklich auf. Und dann sprach er von sich selbst und von seinen Aussichten. O welche Erleichterung diese Wendung der Unterhaltung mit sich brachte! Welche Erleichterung sie mir jetzt gewährt!

Er hat das Anerbieten angenommen, wegen dessen er mir nach Thorpe-Ambrose schrieb, und ist jetzt als gelegentlicher auswärtiger Correspondent der neuen Zeitung angestellt. Sein erster Bestimmungsort ist Neapel. Ich wollte, es wäre ein anderer Ort gewesen, denn ich habe gewisse Beziehungen zu Neapel, deren Erneuerung mir durchaus nicht angenehm ist. Es ist bestimmt, daß er England nicht später als am elften nächsten Monats verlassen soll. Dann also muß ich, da ich ihn begleiten soll, als seine Gattin mit ihm gehen.

Mit der Heirath hat es nicht die allergeringste Schwierigkeit. Dieser ganze Theil meines Plans ist so leicht, daß ich Unglück zu fürchten beginne. Der Vorschlag, die Sache streng geheim zu halten, ein Vorschlag, den zu machen mich in Verlegenheit hätte setzen dürfen, kommt von ihm. Da er mich unter seinem wahren Namen heirathet, dem Namen, den er vor aller Welt außer mir und Mr. Brook geheim gehalten, ist es in seinem Interesse daß keine Seele bei der Ceremonie zugegen ist, am allerwenigsten aber sein Freund Armadale. Bereits ist er seit einer Woche in London. Nach Ablauf einer zweiten gedenkt er sich den Heirathsdispens zu verschaffen und sich in der Kirche des Sprengels, dem sein Hotel angehört, mit mir trauen zu lassen. Dies die einzigen nothwendigen Formalitäten. Ich hätte nur ja zu sagen, sprach er zu mir, und mich um die Zukunft weiter nicht zu sorgen. Ich sagte das Ja mit einer so verzehrenden Angst um die Zukunft, daß ich fürchtete, er werde es bemerken. Welche selige Minuten aber waren dann die wenigen nächsten, während er mir entzückende Worte ins Ohr flüsterte, als mein Gesicht auf seiner Brust ruhte.

Ich faßte mich zuerst wieder und brachte ihn auf Armadala da ich meine Gründe hatte zu erfahren, was sie gestern mit einander gesprochen, nachdem ich sie verlassen hatte.

Die Art und Weise, in der Midwinter mir antwortete, verrieth mir, daß er unter dem Zwange einer vertrauten Mittheilung von seinem Freunde spreche. Lange, bevor er geendet, entdeckte ich, worin das Geheimniß bestand. Ganz, wie ich erwartet, hatte ihn Armadale wegen seiner Entführungsheirath zu Rathe gezogen. Obwohl er ihm Vorstellungen dagegen gemacht zu haben scheint, das Mädchen heimlich aus ihrem Hause fortzunehmen, hat Midwinter dem Anscheine nach doch einiges Widerstreben gefühlt, sich zu entschieden über die Sache auszusprechen, sich erinnernd, daß er selbst eine heimliche Heirath im Sinne habe. Jedenfalls entnahm ich aus dem, was er sagte, so viel, daß seine Vorstellungen sehr geringen Eindruck gemacht und daß Armadale seine lächerliche Absicht, den ersten Schreiber in der Expedition seines Londoner Advocaten zu Rathe zu ziehen, bereits verwirklicht hat.

Bei diesem Punkte angelangt, that Midwinter dann die Frage, vor? der ich wußte, daß sie früher oder später kommen müsse. Er fragte, ob ich etwas dawider habe, daß unsere Verlobung unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit seinem Freunde anvertraut werde.

»Ich selber stehe dafür«, sagt »daß Allan das ihm anzuvertrauende Geheimniß bewahren wird, und will, wenn die Zeit kommt, meinen Einfluß über ihn so benutzen, um seine Anwesenheit bei unserer Vermählung und die Entdeckung zu verhindern, daß mein Name derselbe ist, den auch er trägt. Kann ich ihm die Offenheit, mit der er sich über seine eigenen Angelegenheiten gegen mich ausgesprochen, meinerseits mit ähnlicher Offenheit vergelten, so wird mir das helfen, mich etwas kräftiger über die Angelegenheit zu äußern, die ihn nach London geführt hat.«

Es blieb mir nichts Anderes übrig, als die nöthige Erlaubniß zu geben, und ich that dies deshalb. Von der äußersten Wichtigkeit ist mirs, zu erfahren, welche Schritte Major Milroy nach dem Empfange meines anonymen Briefes hinsichtlich seiner Tochter und Armadale’s zu thun gedenkt, und gewinne ich nicht irgendwie Armadale’s Vertrauen, so darf ich fast sicher sein, daß ich darüber im Dunkeln bleiben werde. Ist’s ihm einmal anvertraut, daß ich Midwinter’s Gattin zu werden im Begriff stehe, so wird er Alles, was er seinem Freunde über seine Liebesangelegenheiten mittheilt, auch mir erzählen.

Darüber einig geworden, daß Armadale ins Vertrauen gezogen werde solle, begannen wir wieder von uns selbst zu Plaudern. Wie die Zeit entfloh! Welch süße Seligkeit es war, in seinen Armen Alles zu vergessen! Wie er mich liebt! Ah, der arme Junge, wie er mich liebt!

Ich habe versprochen, ihn morgen Vormittag in Regentspark zu treffen. Je weniger er hier gesehen wird, desto besser. Die Leute in diesem Hause sind mir allerdings fremd, aber es mag doch gerathen sein, noch immer, wie in Thorpe-Ambrose, den Schein zu bewahren und selbst diese Leute nicht ahnen zu lassen, daß ich mit Midwinter verlobt bin. Würden später, nachdem ich mein großes Wagniß ausgeführt, Nachforschungen angestellt, so dürfte das Zeugniß meiner Londoner Hauswirthin von Werth sein.

Jener scheußliche alte Bashwood! Das Wort Thorpe-Ambrose erinnert mich an ihn. Was wird er nur sagen, wenn die Stadtklatschereien ihn benachrichtigen, daß Armadale allein in einem Waggon mit mir nach London gefahren ist! Es ist wirklich zu lächerlich, wenn ein Mensch von Bashwood’s Alter und Aussehen verliebt sein will!

Den 30. Juli.Endlich eine Neuigkeit! Armadale hat von Miß Milroy gehört. Mein anonymer Brief hat gewirkt. Das Mädchen ist bereits aus Thorpe-Ambrose hinweggeschafft und der ganze Entführungsplan auf immer zu Wasser geworden. Dies war das Wesentlichste, was mir Midwinter zu erzählen hatte, als ich ihn im Parke traf. Ich stellte mich im höchsten Grade überrascht und erheuchelte die erforderliche weibliche Neugier wegen aller Einzelheiten. »Nicht etwa, daß ich meine Neugier befriedigt zu sehen hoffe«, fügte ich hinzu, »denn Mr. Armadale und ich sind im Ganzen doch nur oberflächliche Bekannte.«

»Du bist für Allan weit mehr als eine oberflächliche Bekanntschaft«, sagte Midwinter »Weil ich Deine Erlaubniß dazu hatte, habe ich ihm bereits gesagt, wie nahe Du mir stehst und wie theuer Du mir bist.«

Da ich dies hörte, schien es mir rathsam, ehe ich mich in Fragen über Miß Milroy einließe, meine Aufmerksamkeit zuvor meinen eigenen Angelegenheiten zu widmen und zu erfahren, welchen Eindruck die Ankündigung meiner bevorstehenden Verheirathung auf Armadale gemacht habe. Es war doch möglich, daß er noch immer Argwohn gegen mich hegte und ihm die Nachforschungen, die er auf Mrs. Milroy’s Eingebung in London über mich anstellte, noch im Sinne lagen.

»Schien Mr. Armadale überrascht zu sein«, fragte ich, »als Du ihm unsere Verlobung meldetest und als Du ihm sagtest, sie müsse geheim gehalten werden?«

»Er schien sehr überrascht, als er hörte, daß wir uns verheirathen würden«, erwiderte Midwinter. »Doch als ich ihm sagte, die Sache müsse geheim gehalten werden, erwiderte er blos, daß vermuthlich von Deiner Seite Familienrücksichten hierfür vorhanden seien.

»Was hast Du auf diese Bemerkung entgegnet?« fragte ich.

»Auf meiner Seite, sagte ich, seien die Familienrücksichten«, erwiderte Midwinter. Und ich hielt es, da ich mich erinnerte, wie Allan sich durch das dumme Mißtrauen in Thorpe-Ambrose gegen Dich hatte irre leiten lassen, nur für recht, hinzuzufügen, daß Du mir Deine ganze traurige Lebensgeschichte mitgetheilt und Dein Widerstreben, unter gewöhnlichen Verhältnissen von Deinen Familienangelegenheiten zu sprechen, völlig gerechtfertigt hättest?«

Ich athmete auf. Er hatte genau gesagt, was gesagt werden mußte, und ganz in der rechten Weise. »Ich danke Dir«, sagte ich, »daß Du mich Deinem Freunde im rechten Lichte dargestellt hast. Wünscht er mich zu sehen?« fragte ich, um wieder zu dem andern Gegenstande, zu Miß Milroy und der Entführung zurückzukommen.

»Er sehnt sich, Dich zu sehen«, sagte Midwinter.

Der arme Junge ist in großer Bekümmerniß; ich habe mein Möglichstes gethan, ihn zu trösten, glaube aber, daß die Theilnahme eines weiblichen Wesens dies weit wirksamer thun kann als die meinige.«

»Wo ist er jetzt?« fragte ich.

Er war im Gasthofe, und ich schlug deshalb augenblicklich vor, uns dorthin zu verfügen. Es ist dies ein stark besuchtes, geschäftiges Haus, und wenn ich meinen Schleier niederlasse, laufe ich dort weniger Gefahr, mich zu compromittiren, als in meiner stillen Wohnung. Außerdem ist es von der größten Wichtigkeit für mich, zu erfahren, was Armadale nach dieser gänzlichen Veränderung der Umstände zunächst vornimmt, denn ich muß sein Thun so weit in meine Gewalt bekommen, daß ich ihn womöglich aus England fortschaffe. Wir nahmen einen Fiaker. Meine Sehnsucht, dem untröstlichen Liebenden meine Theilnahme zu bezeugen, war so groß, daß wir einen Fiaker nahmen!

Etwas so Lächerliches wie Armadale’s Benehmen bei der zwiefachen Erschwerung, welche ihm die Doppelwunde verursacht, daß die junge Dame ihm entrückt und daß ich mich mit Midwinter verheirathen werde, ist mir im ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Wollte ich ihn ein Kind nennen, so wäre dies eine Verleumdung aller Kinder, die nicht blödsinnig zur Welt gekommen sind. Er beglückwünschte mich wegen meiner bevorstehenden Vermählung und verwünschte das unbekannte Scheusal, das den anonymen Brief geschrieben, wobei er sich wenig träumen ließ, daß er in einem Athem von einer und derselben Person sprach. Einmal gab er unterwürfig zu, daß Major Milroy seine Rechte als Vater habe, und dann tobte er wieder über den Major, weil dieser für nichts Anderes fühlen könne, als für seine Uhr. In der einen Minute sprang er mit Thränen in den Augen auf und erklärte seine Herzens-Neelie für einen Engel, und in der nächsten saß er verdrossen da und meinte, daß ein Mädchen von ihrem Muthe wohl auf der Stelle hätte fliehen und ihn in London treffen können. Nachdem diese lächerliche Komödie eine halbe Stunde gewährt hatte, gelang es mir, ihn zu beruhigen, und dann erlangte ich vermittelst einiger theilnehmender Fragen das, was ich ausdrücklich sehen wollte, nämlich Miß Milroy’s Brief.

Derselbe war unerhört lang und unzusammenhängend, kurz der Brief einer Närrin. Ich mußte durch einen Haufen gemeiner Empfindsamkeit und Lamentation waten und Zeit wie Geduld über weinerlichen Zärtlichkeitsergüssen und widerlichen Küssen, die in Tintenkreise eingeschlossen waren, verlieren, bis ich endlich zu der Auskunft gelangte, die ich suchte und die in Folgendem besteht:

Es scheint, daß der Major unmittelbar nach Empfang meiner anonymen Warnung seine Tochter zu sich bescheiden ließ und ihr den Brief gezeigt hat. »Du weißt, Neelie, welch ein trauriges Leben ich mit Deiner Mutter führe, mache es nicht dadurch noch trauriger, daß Du mich hintergehst.« Mehr sagte der arme alte Herr nicht. Ich habe den Major stets gern gehabt und weiß, daß er mich ebenso gern hatte, obwohl er sich fürchtete, dies merken zu lassen. Seine Worte, falls man ihr glauben darf, schnitten seiner Tochter ins Herz. Sie brach in Thränen aus (man kann sich darauf verlassen, daß sie nie eine Gelegenheit zum Weinen vorübergehen läßt) und bekannte Alles.

Nachdem er ihr Zeit gelassen, sich wieder zu fassen —— es wäre zweckdienlicher gewesen, hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben! —— scheint es, daß der Major ihr gewisse Fragen vorgelegt und gleich mir die Ueberzeugung gewonnen hat, daß seine Tochter wirklich in Armadale verliebt ist. Diese Entdeckung hat ihn offenbar ebenso sehr überrascht als betrübt. Scheinbar hat er gezögert und seine ungünstige Meinung über Miß Neelie’s Liebhaber eine geraume Weile beibehalten. Doch die Thränen und Bitten seiner Tochter haben ihn endlich Wanken gemacht (das sieht dem lieben schwachen alten Herrn so ähnlich!). Obgleich er sich entschieden weigerte, vor der Hand in eine Verlobung einzuwilligen, ließ er sich doch bewegen, die heimlichen Zusammenkünfte im Park zu verzeihen, und Armadale’s Tauglichkeit, sein Schwiegersohn zu werden, durch gewisse Bedingungen auf die Probe zu stellen.

Diese Bedingungen bestehen darin, daß aller Verkehr, der persönliche sowohl als der schriftliche, zwischen seiner Tochter und Armadale für die nächsten sechs Monate abgebrochen bleibt. Die Zwischenzeit soll der junge Herr nach Gefallen und die junge Dame zur Vollendung ihrer Erziehung verwenden. Sind sie nach Ablauf der sechs Monate noch beide desselben Sinnes, und ist Armadale’s Verhalten währenddessen der Art gewesen, um den Major zu einer bessern Meinung von ihm zu berechtigen, so darf er dann um Miß Neelie werben, und wenn während noch fernerer sechs Monate Alles gut geht, soll dann die Heirath stattfinden.

Ich möchte den lieben alten Major küssen, wenn ich ihn nur hier hätte! Selbst wenn ich ihm zur Seite gestanden und ihm selbst die Bedingungen dictirt hätte, hätte ich mir nichts Besseres wünschen können. Sechs Monate völliger Trennung zwischen Armadale und Miß Milroy! Ich müßte wahrhaftig Unglück haben, wenn ich nicht in der Hälfte dieser Zeit, während aller Verkehr zwischen ihnen abgebrochen ist, in den erforderlichen Trauerkleidern einhergehe und öffentlich als Armadale’s Wittwe anerkannt bin.

Aber ich vergesse ihren Brief. Sie gibt die Gründe ihres Vaters in dessen eigenen Worten an. Der Major scheint so vernünftig und so gefühlvoll gesprochen zu haben, daß er seiner Tochter wie Armadale keine andere schickliche Alternative gelassen, als sich zu ergeben. So gut ich mich erinnern kann, hat er sich ungefähr folgendermaßen gegen Miß Neelie ausgesprochen:

»Denke nicht, daß ich grausam gegen Dich bin, mein liebes Kind, ich verlange nur von Dir, daß Du Mr. Armadale aus die Probe stellst. Es ist nicht nur recht, sondern sogar durchaus nothwendig, daß Du auf einige Zeit keinen Verkehr mit ihm hast, und ich will Dir sagen, warum. Erstens würden die Regulative einer Schule, die um anderer Mädchen willen unerläßlich sind, Dir nicht gestatten, Mr. Armadale zu sehen oder Briefe von ihm zu erhalten; und bist Du wirklich dazu bestimmt, Herrin von Thorpe-Ambrose zu werden, so mußt Du noch in eine Pension kommen, denn Du würdest Dich schämen und ich gleichfalls, Dich in einer solchen Stellung zu sehen, ohne die zu derselben gehörige Bildung zu besitzen. Zweitens wünsche ich zu sehen, ob Mr. Armadale’s Zuneigung zu Dir ohne die Ermunterung persönlichen oder schriftlichen Verkehrs mit Dir unverändert dieselbe bleibt; habe ich Unrecht, wenn ich ihn für flüchtig und unzuverlässig halte, und stellt sich Deine Meinung von ihm als die richtige heraus, so ist dies keine unbillige Prüfung für den jungen Mann, denn eine wahre Liebe überlebt weit längere Trennungen als eine Trennung von sechs Monaten. Und wenn diese Zeit überstanden und glücklich überstanden ist, und wenn ich ihn dann noch sechs Monate unter meiner eigenen Beobachtung gehabt und eine ebenso gute Meinung von ihm gewonnen habe wie Du, selbst dann, mein liebes Kind, nach all diesem fürchterlichen Warten, wirst Du noch vor Deinem achtzehnten Jahre eine verheirathete Frau sein. Bedenke dies, Neelie, und beweise mir Deine Liebe und Dein Vertrauen dadurch, daß Du aus meinen Vorschlag eingehst. Ich selbst will keinerlei Verkehr mit Mr. Armadale unterhalten. Ich will es Dir überlassen, an ihn zu schreiben und ihn von dem Beschlossenen zu unterrichten. Er mag einmal, doch nur ein einziges Mal, zur Erwiderung an Dich schreiben, um Dich von seinem Entschlusse in Kenntniß zu setzen. Dann aber darf um Deines Rufes willen nichts weiter gesagt und nichts weiter unternommen werden, und die ganze Sache muß streng geheim gehalten werden, bis die sechs Monate verstrichen sind.«

So sprach der Major. Miß Milroys Brief aber ist außerordentlich dumm und langweilig. Nachdem sie feierlichst verkündet, daß sie sich den Wünschen ihres geliebten Vaters opfern will —— die Dreistigkeit, mit der sie sich nach dem Geschehenen als eine Märtyrin darzustellen sucht, übersteigt Alles, was ich je gehört oder gelesen habe! —— erwähnt Miß Neelie, daß der Major auf die wenigen Tage, die noch vergehen müssen, ehe sie nach der Pension reist, der Luftveränderung wegen mit ihr nach einem Seebade zu gehen gedenke. Armadale solle seine Antwort mit umgehender Post, an ihren Vater adressiert, nach Lowestoft senden. Hiermit und mit einem letzten Ausbruche zärtlicher Betheuerungen, die krumm und schief in eine Ecke der Seite hineingedrängt waren, endete der Brief. (NB. Der Zweck des Majors bei dieser Seereise ist klar genug. Er hegt noch immer ein heimliches Mißtrauen gegen Armadale und ist weislich entschlossen, ferneren verstohlenen Zusammenkünften im Park vorzubeugen.)

Als ich mit dem Briefe zu Ende war —— ich hatte um Erlaubniß gebeten, gewisse Stellen, die ich besonders schön fand, zum zweiten und dritten Male zu lesen! —— berathschlagten wir alle auf das freundschaftlichste, was Armadale thun solle.

Anfangs war er thöricht genug, gegen Major Milroy’s Bedingungen zu protestieren. Mit seinem unausstehlichen rothen Gesicht, das eine thierische Gesundheit verräth, erklärte er, daß er eine sechsmonatliche Trennung von seiner geliebten Neelie nimmermehr überleben werde. Wie leicht begreiflich, schien sich Midwinter seiner ein wenig zu schämen und vereinigte sich mit mir, um ihn zur Vernunft zu bringen. Wir machten ihm begreiflich, was Jedem, der nicht eben ein blödsinniger Tölpel, klar genug gewesen wäre, daß ihm keine andere ehrenvolle oder selbst nur schickliche Alternative übrig bleibe, als das Beispiel von Unterwürfigkeit nachzuahmen, welches ihm die junge Dame gegeben habe. »Warten Sie, und Sie werden sie zur Gattin bekommen«, sagte ich. »Warte, und Du wirst den Major zwingen, seine ungerechte Meinung von Dir zu ändern«, setzte Midwinter hinzu. Da zwei geschickte Leute dergestalt Vernunft in seinen Kopf hineinhämmerten, brauche ich kaum zu sagen, daß sein Kopf endlich nachgab und er sich darein fand.

Nachdem wir ihn bewogen hatten, die Bedingungen des Majors anzunehmen —— ich trug Sorge, ihn, ehe er an Miß Milroy schrieb, daran zu erinnern, wie meine Verlobung mit Midwinter ihr wie jedem Andern ein Geheimnis; bleiben müsse —— mußten wir zunächst eine Entscheidung hinsichtlich seiner Pläne für die Zukunft treffen. Ich hatte die nothwendigen Argumente in Bereitschaft, um ihn davon abzuhalten, nach Thorpe-Ambrose zurückzukehren, wenn er dies zu thun im Sinne gehabt hätte. Doch sagte er nichts hiervon, sondern erklärte im Gegentheil, nichts in der Welt könne ihn bewegen, dorthin zurückzukehren. An Ort und Menschen knüpften sich ihm die unangenehmsten Gedanken. Dort sei jetzt keine Miß Milroy, die er im Parke treffen. und kein Midwinter, der ihm im Herrnhause Gesellschaft leisten könne. »Lieber will ich Steine auf der Chaussee klopfen«, war seine verständige und heitere Bemerkung, »als jetzt nach Thorpe-Ambrose heimkehren.«

Hierauf kam der erste Vorschlag von Midwinter. Der listige alte Pfarrer, der mir und Mrs. Oldershaw so viel Noth machte, ist krank gewesen, wie es scheint, soll sich aber seit kurzem in der Genesung befinden, wie berichtet worden ist. »Warum nicht nach Sommersetshire reisen«, sagte Midwinter, »und unsern beiderseitigen guten Freund Mr. Brock besuchen?«

Bereitwillig genug ging Armadale auf diesen Vorschlag ein. Er sehnte sich erstens, »den lieben alten Brock« und zweitens seine Yacht zu sehen. Nachdem er noch ein paar Tage mit Midwinter in London zugebracht habe, wolle er mit Freuden nach Sommersetshire reisen. Doch was dann?

Hier ersah ich mir meine Gelegenheit. »Sie haben eine Pacht, Mr. Armadale«, sagte ich, »und wissen, daß Midwinter nach Italien reist. Warum nicht, wenn Sie Sommersetshires überdrüssig sind, eine Fahrt nach dem Mittelländischen Meere machen, um Ihren Freund und dessen Frau in Neapel zu besuchen?«

Ich machte die Anspielung auf die Frau des Freundes mit der aller kleidsamsten Bescheidenheit und Verwirrung. Armadale war entzückt. Ich hatte den besten Plan von der Welt erdacht, ihm über die lange Zeit hinwegzuhelfen. Er sprang aus und drückte mir in einer wahren Ekstase von Dankbarkeit die Hände. Wie verhaßt mir die Leute sind, welche ihre Gefühle nur dadurch auszudrücken vermögen, daß sie andern Leuten die Hände bis zum Wehthun drücken!

Midwinter war über meinen Vorschlag ebenso erfreut wie Armadale, doch sah er Schwierigkeiten für die Ausführung desselben voraus. Er hielt die Yacht für zu klein zu einer Fahrt nach dem Mittelländischen Meere und meinte, es werde besser sein, wenn Allan ein größeres Fahrzeug miethe. Sein Freund war anderer Ansicht. Bei diesem Streite ließ ich sie allein. Es genügte mir vollkommen, vor der Hand so viel erreicht zu haben, daß Armadale nicht nach Thorpe-Ambrose zurückkehrt und bewogen worden ist, eine Reise nach Italien zu machen. Meinestheils würde ich die kleine Yacht vorziehen, denn es scheint einige Aussicht vorhanden zu sein, daß sie mir den unschätzbaren Dienst leisten dürfte, ihn zu ertränken.

Fünf Uhr. Das Bewußtsein, daß ich Armadale’s künftiges Thun völlig in meiner Gewalt habe, machte mich so unruhig, daß ich, nach meiner Wohnung zurückgekehrt, wieder ausgehen und etwas unternehmen mußte. Da es mir an einem neuen Interesse für meine Gedanken fehlte, begab ich mich nach Pimlico, um mit der Mutter Oldershaw eine Lanze zu brechen.

Ich ging zu Fuße und kam unterwegs zu dem Entschlusse, mich mit ihr zu zanken. Da der eine meiner Wechsel bereits bezahlt ist und Midwinter die andern beiden einlösen will, sobald dieselben verfallen, so stehe ich gegenwärtig dem alten Geschöpfe so unabhängig gegenüber, wie ich mir nur wünschen kann. Kommt es zwischen uns zum Streite, so behalte ich stets die Oberhand und finde sie, sowie ich sie habe fühlen lassen, daß mein Wille der stärkere ist, außerordentlich höflich und gefällig In meiner derzeitigen Lage dürfte es mir in verschiedener Hinsicht von Nutzen sein, wenn ich mich ihres Beistandes versichern könnte, ohne ihr Geheimnisse anzuvertrauen, die ich jetzt mehr denn je für mich behalten will. Das waren meine Gedanken, während ich nach Pimlico wanderte. Der Mutter Oldershaw erst die Nerven zu erschüttern und sie dann um meinen kleinen Finger zu wickeln, erschien mir als eine interessante Beschäftigung für den Rest des Nachmittags.

Als ich in Pimlico anlangte, harrte meiner eine Ueberraschung. Das Haus war verschlossen, und zwar nicht nur auf Mrs. Oldershaw’s Seite, sondern auch auf der des Doctor Downward. Die Ladenthür war mit einem Vorlegeschloß versehen, und ein Mann ging auf der Lauer umher, der allerdings ein gewöhnlicher Bummler sein konnte, mir aber sehr das Ansehen eines verkleideten Polizeiers hatte.

Da ich weiß, welchen Gefahren sich der Doctor in seinem besonderen Zweige der Praxis aussetzt, vermuthete ich augenblicklich, daß etwas Ernstliches vorgefallen sei und daß selbst die pfiffige alte Mutter Oldershaw sich diesmal compromittirt habe. Darum rief ich, ohne stehen zu bleiben oder irgendwie mich zu erkundigen, den ersten Fiaker an, der an mir vorüberkam, und fuhr nach dem Postbureau, nach dem ich mir Briefe nachbestellt, wenn nach meiner Abreise von Thorpe-Ambrose noch solche in meiner dortigen Wohnung für mich einliefen.

Auf meine Anfrage ward mir ein Brief an Miß Gwilt eingehändigt. Er war in Mrsk Oldershaw’s Handschrift und theilte mir, ganz wie ich erwartet hatte, mit, daß der Doktor in ernstliche Ungelegenheiten gerathen, daß sie leider selbst mit in die Sache verwickelt sei und daß sie sich beide vor der Hand versteckt hielten. Der Brief schloß mit einigen ziemlich giftigen Redensarten über mein Verhalten in Thorpe-Ambrose und der Drohung, daß Mrs. Oldershaw noch nicht mit mir fertig sei. Dieser Ton ihres Briefes gewährte mir einige Erleichterung, denn hätte sie eine Ahnung von meinen wahren Plänen gehabt, so würde sie höflich und kriechend gewesen sein. Sobald man mir Licht heraufgebracht, verbrannte ich den Brief. Und damit haben die Beziehungen zwischen Mutter Jesabel und mir für jetzt ein Ende. Alle meine schmutzige Arbeit muß ich nun selbst verrichten und werde vielleicht um so sicherer sein, als ich mich nur auf meine eigenen Hände verlasse.

Den 31. Juli. Ich habe weitere nützliche Auskunft erhalten. Unter dem Vorwande, daß mein Ruf leiden könne, wenn er zu oft in meiner Wohnung gesehen würde, traf ich mit Midwinter wieder im Park zusammen und hörte die letzten Neuigkeiten von Armadale, die sich ereignet, seit ich gestern das Hotel verlassen.

Nachdem Armadale an Miß Milroy geschrieben hatte, ergriff Midwinter die Gelegenheit, von seinen häuslichen Angelegenheiten während seiner Abwesenheit vom Herrnhause mit ihm zu sprechen. Man beschloß, daß die Dienerschaft Kostgeld empfangen und Mr. Bashwood die Oberaufsicht erhalten solle. Dieses Wiederauftauchen von Mr. Bashwood in Verbindung mit meinen jetzigen Interessen gefällt mir eigentlich nicht, allein es läßt sich nicht ändern. Die nächste Frage, hinsichtlich des Geldes, ward sofort von Armadale selbst beseitigt. All sein baares Geld, das sich auf eine beträchtliche Summe belief, sollte von Mr. Bashwood in Armadale’s Namen in Coutts’ Bank deponiert werden. Dies, sagte er, werde ihm die Plackerei ferneren Briefwechsels mit seinem Verwalter ersparen und ihn in Stand setzen, sich, wenn er ins Ausland reise, ohne Verzug mit den erforderlichen Summen zu versehen. Da dieser Vorschlag unbedingt der einfachste und sicherste war, so ward er mit Midwinter’s vollster Zustimmung angenommen, und somit würde die geschäftliche Besprechung ein Ende gehabt haben, wenn nicht der ewige Mr. Bashwood wieder zum Vorschein gekommen wäre und die Unterhaltung verlängert hätte.

Bei weiterer Ueberlegung scheint es Midwinter eingefallen zu sein, daß man doch nicht die ganze Verantwortlichkeit für die Angelegenheiten von Thorpe-Ambrose auf Mr. Bashwood legen sollte. Ohne das geringste Mißtrauen gegen ihn zu hegen, fühlte Midwinter dennoch, daß er für den Nothfall Jemand haben müsse, bei dem er sich Raths erholen könne. Armadale hatte hiergegen nichts einzuwenden; er fragte blos, wer dieser Jemand sein solle.

Das war nicht leicht zu beantworten. Der eine oder der andere der beiden Rechtsanwälte von Thorpe-Ambrose hätte sich dazu geeignet, wenn Armadale nicht mit beiden auf gespanntem Fuße gestanden hätte. Eine Aussöhnung mit einem so bitteren Feinde, wie der ältere Advocat, Mr. Darch, war außer Frage, und eine Wiedereinsetzung Mr. Pedgift’s in seine vorige Stellung würde von Armadales Seite das Ansehen einer stillschweigenden Billigung des abscheulichen Benehmens des Alten gegen mich gehabt haben, die kaum mit der Achtung und Freundschaft in Einklang zu bringen gewesen wäre, die er für die Dame fühlte, welche so bald die Gattin seines Freundes werden sollte. Nach einiger fernerer Erwägung des Punktes kam Midwinter auf eine neue Idee, welche die Schwierigkeit zu beseitigen schien. Er schlug vor, Armadale möchte an einen achtbaren Rechtsanwalt in Norwich schreiben, ihm in allgemeinen Ausdrücken seine Lage schildern und ihn ersuchen, bei sich bietender Gelegenheit als Mr. Bashwoodss Rathgeber und Vorgesetzter zu fungieren. Da Norwich per Eisenbahn nur eine kurze Strecke von Thorpe-Ambrose entfernt ist, so hatte Armadale gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden und versprach an den Advocaten zu schreiben. In der Besorgniß, Armadale möchte, wenn er ohne Beistand schriebe, irgend ein Versehen machen, hatte Midwinter den nothwendigen Brief zur Abschrift für ihn aufgesetzt, und Armadale war eben beschäftigt, den Brief abzuschreiben und außerdem Mr. Bashwood seine Instructionen über die in Coutts’ Bank zu deponierende Summe zu ertheilen.

Diese Details sind an sich so trocken und uninteressant, daß ich anfangs nicht recht wußte, ob ich sie in mein Tagebuch eintragen solle. Allein ein wenig Nachsinnen hat mich überzeugt, daß sie doch zu wichtig sind, als daß ich sie übergehen dürfte. Von meinem Gesichtspunkte aus bedeuten dieselben, daß Armadale sich durch sein eigenes Thun von allem Verkehr mit Thorpe-Ambrose abschneidet, selbst vom schriftlichen. Für alle, die er dort zurückläßt, ist er bereits so gut wie todt. Die Ursachen, die zu einem solchen Resultate geführt haben, haben doch sicherlich aus den besten Platz Anspruch, den ich ihnen in diesen Memoiren geben kann.

Den l. August. Nichts zu berichten, außer daß ich einen langen, ruhigen, glücklichen Tag mit Midwinter zugebracht habe. Er miethete einen Wagen und wir fuhren nach Richmond und speisten dort zu Mittag. Nach meinem heutigen Zusammensein mit ihm kann ich mich nicht länger über mich selbst täuschen. Komme, was da wolle, ich liebe ihn.

Ich bin förmlich traurig, seit er mich verlassen hat. Es hat sich mir die Ueberzeugung aufgedrängt, daß der glückliche, glatte Verlauf meiner Angelegenheiten, seit ich in London bin, eben zu glatt und zu glücklich ist, als daß er fortdauern könnte. Etwas drückt mich heute Abend, das etwas Anderes ist als die dicke Londoner Luft.

Den 2. August, drei Uhr. Oft genug haben mich meine Vorgefühle getäuscht, wie Andere auch, aber ich fürchte fast, daß mein Vorgefühl von gestern Abend diesmal wirklich ein prophetisches war.

Nach dem Frühstück ging ich zu einer Schneiderin in der Nähe, um mir einige wohlfeile Sommerkleider zu bestellen, und dann nach Midwinter’s Hotel, um wieder einen Ausflug aufs Land mit ihm zu verabreden. Für den Weg zu der Schneiderin und nach dem Gasthofe, sowie für einen Theil des Rückwegs hatte ich einen Fiaker genommen, da mir aber der abscheuliche Geruch im Wagen zu sehr zuwider wurde —— wahrscheinlich hatte Jemand darin geraucht —— so stieg ich aus, um mich vollends zu Fuße nach Hause zu begeben. Ehe ich noch zwei Minuten auf dem Trottoir gegangen, ward ich gewahr, daß mir ein fremder Mann folgte.

Das hat vielleicht nichts weiter zu bedeuten, als daß irgend einem müßigen Menschen meine Gestalt und mein Aussehen überhaupt auffielen. Mein Gesicht konnte keinen Eindruck auf ihn gemacht haben, denn wie gewöhnlich war es hinter meinem Schleier verborgen. Ob er mir, natürlich in einem Fiaker, von der Schneiderin oder vom Gasthofe gefolgt war, kann ich« nicht sagen. Auch weiß ich nicht gewiß, ob er mir bis zu dieser Thür nachging. Ich weiß nur, daß ich ihn aus den Augen verlor, ehe ich hier anlangte. Da ist nun nichts zu machen, als zu warten, bis mich die weiteren Ereignisse aufklären. Steckt etwas Ernstliches dahinter, so werde ich es bald entdecken.

Fünf Uhr. In der That ist’s ernstlich. Vor zehn Minuten befand ich mich in meinem Schlafzimmer, das mit meiner Wohnstube in Verbindung steht. Eben wollte ich es verlassen, als ich draußen auf dem Treppenabsatze eine fremde Stimme hörte, eine Frauenstimme. Im nächsten Augenblick ward plötzlich meine Wohnstubenthür geöffnet, die Frauenstimme sagte: »Sind dies die Zimmer, die Sie zu vermiethen haben?« und obgleich die hinter ihr kommende Hauswirthin erwiderte: »Nein, Madame, eine Treppe höher«, kam die Person doch geraden Wegs nach meinem Schlafzimmer, als hätte sie jene nicht gehört. Ich hatte gerade noch Zeit, ihr die Thür vor der Nase zuzuwerfen, ehe sie mich erblickte. Darauf erfolgten die nothwendigen Erklärungen und Entschuldigungen zwischen der Wirthin und der Fremden im Wohnzimmer, und dann war ich wieder allein.

Ich habe keine Zeit, noch weiter zu schreiben. Es ist klar, daß es sich Jemand angelegen sein läßt, mich zu identificiren, und daß, wäre ich nicht zu schnell für sie gewesen, die Fremde diesen Zweck durch Ueberrumpelung erreicht hätte. Ich vermuthe, daß sie und der Mann, der mir auf der Straße folgte, mit einander im Bündnisse stehen, und ohne Zweifel steht Jemand im Hintergrunde, dessen Interesse sie dienen. Greift Mutter Oldershaw mich etwa im finsteren an? Oder wer kann es sonst sein? Einerlei, wer es ist, meine gegenwärtige Lage ist zu kritisch, als daß ich dergleichen leichtfertig ansehen dürfte. Heute Abend noch muß ich dies Haus verlassen und darf keine Spur zurücklassen, nach der man mir anderswohin folgen kann.

Den 3. August. Gary-Street, Tottenham-Court-Road. Noch gestern Abend, nachdem ich Midwinter um Entschuldigung gebeten, in der meine kranke Mutter als volIgültige Ursache meines Verschwindens figurierte, machte ich mich aus dem Staube und fand hier eine Zuflucht. Das hat einiges Geld gekostet, allein mein Zweck ist erreicht! Unmöglich kann mir Jemand von All-Saints-Terrace bis hierher gefolgt sein.

Nachdem ich meiner Wirthin die erforderliche Entschädigung gezahlt, weil ich sie ohne vorherige Kündigung verließ, verabredete ich mit ihrem Sohne, daß er meine Koffer in einem Fiaker nach dem Gepäckzimmer des nächsten Bahnhofs schaffen und den Empfangsschein über dasselbe in einem Briefe nach einem Postbureau schicken solle, wo ich mir denselben abholen werde. Während er mit dem Gepäck in der einen Richtung in einem Fiaker fortfuhr, schlug ich in einem zweiten Fiaker eine andere Richtung ein, nur einige Kleinigkeiten in einer Handtasche mit mir nehmend. Ich fuhr geraden Wegs nach dem Hause der Schneiderin wo ich gestern bemerkt hatte, daß der Laden einen Ausgang aus der Hinterseite habe, durch den die Arbeiterinnen aus und ein gingen. Alsbald ging ich hinein und ließ den Fiaker. Vor der Thür auf mich warten. »Ein Mann verfolgt mich«, sagte ich, »und ich möchte ihn loswerden. Hier ist der Fiakerlohn; warten Sie zehn Minuten, ehe Sie den Kutscher bezahlen, und lassen Sie mich sogleich zur Hinterthür hinaus.« In der nächsten Minute befand ich mich in der kleinen Stallgasse hinter dem Hause, in einer zweiten in der nächsten Straße, in einer dritten rief ich einen vorüberfahrenden Omnibus an und war wieder frei!

Nachdem ich jetzt allen Verkehr zwischen mir und meiner vorigen Wohnung abgeschnitten hatte, war, für den Fall, daß Midwinter und Armadale beobachtet würden, zunächst die Vorsichtsmaßregel zu treffen, daß ich, wenigstens auf einige Tage, auch allen Verkehr zwischen mir und dem Gasthofe abbrach. Ich habe an Midwinter geschrieben und, meine kranke Mutter abermals vorschützend, ihn benachrichtigt, daß ich durch meine Pflichten als Krankenwärterin gefesselt sei und wir vor der Hand nur brieflich mit einander verkehren könnten. Obgleich mir noch immer nicht klar, wer mein verborgener Feind ist, kann ich zu meiner Vertheidigung doch nichts weiter unternehmen, als was ich bereits gethan habe.

Den 4. August. Die Freunde im Hotel haben beide an mich geschrieben Midwinter spricht in den zärtlichsten Ausdrücken sein Bedauern über unsere Trennung aus. Armadale fleht mich in einer sehr fatalen Angelegenheit um Beistand an. Vom Herrnhause ist ihm ein Brief des Majors nachgesandt worden und er legt denselben seinem Schreiben an mich bei.

Aus jenem Briefe geht hervor, daß der Major, nachdem er das Seebad verlassen und seine Tochter in der ursprünglich für sie bestimmten Pension, in der Nähe von Ely, in Sicherheit gebracht hat, am Ende der Woche nach Thorpe-Ambrose zurückgekehrt ist und dort zuerst die Gerüchte über mich und Armadale gehört und augenblicklich an ihn geschrieben hat, ihn hiervon in Kenntniß zu setzen.

Der Brief ist streng und kurz. Major Milroy weist das Gerücht als völlig unglaubwürdig von sich, weil es ihm unmöglich ist, an eine so »kaltblütige Falschheit« zu glauben, wie dieses Gerücht documentiren würde, wenn es wahr wäre. Er schreibt nur, um Armadale anzukündigen daß, wenn er in Zukunft nicht vorsichtiger in seinen Handlungen sei, er alle Ansprüche auf Miß Milroy’s Hand aufzugeben habe.

»Ich erwarte auf diesen Brief keine Antwort; schließt das Schreiben, »denn ich verlange keine leeren Betheuerungen in bloßen Worten. Ihr Verhalten allein im Verlaufe der Zeit soll mir als Richtschnur dienen. Laffen Sie mich außerdem hinzufügen, daß ich Ihnen bestimmt verbiete, sich dieses Briefes als eines Vorwandes zu bedienen, um die von uns festgestellten Bedingungen zu brechen und an meine Tochter zu schreiben. Es ist nicht nöthig, daß Sie sich in ihren Augen rechtfertigen, denn zum Glücke hatte ich sie bereits mit mir aus Thorpe-Ambrose hinweggenommen, ehe dieses abscheuliche Gerücht bis zu ihr dringen konnte, und ich werde Sorge tragen, daß sie da, wo sie jetzt, ist, nicht durch dasselbe beunruhigt oder betrübt wird.

Armadale’s Bitte an mich unter diesen Umständen geht nun, da ich ja die unschuldige Ursache an diesem neuen Angriffe auf seinen Ruf sei, dahin, an den Major zu schreiben, um ihn von aller Indiscretion in der Sache freizusprechen und zu sagen, wie die gewöhnlichste Höflichkeit ihn gezwungen habe, mich nach London zu begleiten. In Anbetracht der Nachrichten, die er mir hiermit sendete, verzeihe ich ihm die Unverschämtheit einer solchen Bitte. Sicherlich gereicht mir der Umstand zum Vortheil, daß die Klatschereien von Thorpe-Ambrose nicht Miß Milroy zu Ohren kommen sollen. Bei ihrem Temperamente dürfte sie, wenn sie davon hörte, irgend etwas Verzweifeltes unternehmen, um sich ihres Geliebten zu versichern, und mich somit ernstlich compromittiren. Was mein Verfahren Armdale gegenüber anlangt, so ist dies klar genug. Ich werde ihn durch das Versprechen, an Major Milroy zu schreiben beruhigen, und in meinem eigenen persönlichen Interesse mir die Freiheit nehmen, nicht Wort zu halten.

Sonst hat sich heute nichts ereignet, das nur irgendwie verdächtig aussähe. Wer meine Feinde auch sind, sie haben meine Spur verloren und sollen mich bis zur Zeit, wo ich England verlasse, nicht mehr wiederfinden. Ich war auf dem Postbureau und habe dort den Gepäckschein in Empfang genommen, der, wie ich befohlen, in einen Brief von All-Saints-Terrace an mich eingeschlossen war. Das Gepäck selbst werde ich für jetzt noch im Gepäckzimmer verbleiben lassen, bis ich meinen Weg etwas klarer vor mir sehe, als dies bis jetzt der Fall ist.

Den 5. August. Wieder zwei Briefe vom Hotel. Midwinter schreibt, mich in der liebenswürdigsten Weise von der Welt daran zu erinnern, daß er morgen lange genug in dem Kirchsprengel gewohnt haben wird, um sich den bewußten Erlaubnißschein auswirken zu können, und daß er sich denselben in der üblichen Weise in Doctors’ Commons zu verschaffen gedenkt. Soll ich es je sagen, so ist jetzt der Augenblick, nein zu sagen. Ich kann nicht nein sagen. Das ist die reine Wahrheit, und damit ist die Sache abgemacht.

Armadale’s Schreiben ist ein Abschiedsbrief. Er dankt mir für meine Bereitwilligkeit, an den Major zu schreiben, und wünscht mir Lebewohl, bis wir einander in Neapel wiedersehen. Er sagt, er habe von seinem Freunde erfahren, daß gewisse Gründe ihm das Vergnügen versagen, bei unserer Heirath gegenwärtig zu sein. Unter diesen Umständen halte ihn nichts in London zurück. Alle seine Geschäftsangelegenheiten seien abgemacht, er reise heute mit dem Nachtzuge nach Sommersetshire und werde nach einem Besuche bei Mr. Brock trotz Midwinter’s Gegenvorstellungen in seiner eigenen Yacht vom Kanal von Bristol nach dem Mittelländischen Meere absegeln.

Den Brief begleitete ein Juwelenkästchen mit einem Ringe —— Armadales Hochzeitsgeschenk für mich. Es ist ein Rubin, doch nur ein kleiner und die Fassung im allerschlechtesten Geschmack. Miß Milroy würde er einen Ring von zehnmal so großem Werthe gegeben haben, hätte er ihr ein Hochzeitsgeschenk gemacht. Meiner Ansicht nach gibt es kein widerlicheres Geschöpf als einen geizigen jungen Mann. Ob er in seiner wackligen kleinen Yacht wohl ersaufen wird?

Ich bin so unruhig und aufgeregt, daß ich kaum weiß, was ich schreibe. Nicht etwa, daß ich vor dem Bevorstehenden zurück bebe, mir ist nur, als ob ich schneller vorwärts getrieben würde, als mir lieb ist. Geschieht nichts, es zu verhindern, so wird mich Midwinter, wie die Sachen jetzt stehen, am Ende dieser Woche bereits geheirathet haben. Und dann!

Den 6. August. Könnte mich jetzt irgend etwas erschrecken, so würde «es die Nachricht gethan haben, die ich heute erhalten.

Als Midwinter diesen Morgen, nachdem er sich den Heirathserlaubschein verschafft hatte, nach dem Gasthofe zurückkehrte, fand er dort eine telegraphische Depesche vor. Dieselbe enthielt die wichtige Nachricht von Armadale, daß Mr. Brock einen Rückfall gehabt und die Aerzte alle Hoffnung auf seine Genesung aufgegeben hätten. Auf den Wunsch des Sterbenden ist Midwinter zu ihm beschieden worden, um Abschied von ihm zu nehmen, und Armadale bittet aufs dringendste, keinen Augenblick zu verlieren, sondern mit dem nächsten Zuge abzureisen.

Das hastig geschriebene Billet, das mich hiervon in Kenntniß setzt, meldet mir zugleich, daß Midwinter in dem Augenblicke, wo dasselbe in meine Hände gelangt, sich bereits auf dem Wege nach Sommersetshire befindet. Sobald er Mr. Brock gesehen, will er mit der Abendpost ausführlicher an mich schreiben.

Diese Nachricht hat ein Interesse für mich, das Midwinter sich wenig träumen läßt. Außer mir lebt nur noch ein einziges menschliches Wesen, dem das Geheimniß seiner Geburt und seines Namens bekannt ist, und dies ist der alte Mann, der ihn jetzt aus dem Sterbelager erwartet. Was werden sie die letzten Augenblicke mit einander sprechen? Wird ein zufälliges Wort sie vielleicht in die Zeit zurückführen, wo ich auf Madeira in Mrs. Armadales Diensten war? Werden sie wohl von mir sprechen?

Den 7. August. Der versprochene Brief ist so eben angelangt. Sie haben keine Scheideworte mit einander ausgetauscht. Alles war bereits vorüber, ehe Midwinter noch in Sommersetshire ankam. Armadale kam ihm am Thore der Pfarrei mit der Nachricht entgegen, daß Mr. Brock todt sei.

Ich versuche dagegen zu kämpfen, aber nach der seltsamen Verwickelung von Umständen, die mich seit einigen Wochen immer enger umsponnen haben, liegt in diesem letzten Ereignisse etwas, was meine Nerven erschüttert. Gestern, als ich mein Tagebuch aufmachte, stand mir nur noch eine letzte Gefahr der Entdeckung im Wege. Wie ich das Buch heute öffne, ist diese Gefahr durch Mr. Brock’s Tod hinweggeräumt. Das hat etwas zu bedeuten, ich möchte wissen was.

Die Beerdigung soll Sonnabend Vormittag stattfinden. Midwinter wird mit Armadale derselben beiwohnen. Aber zuvor gedenkt er nach London zurückzukehren und sagt, daß er heute Abend, in der Hoffnung mich zu sehen, auf dem Wege vom Bahnhofe nach dem Gasthofe bei mir ein sprechen wird. Wie die Sachen jetzt stehen, würde ich ihn empfangen, selbst wenn Gefahr damit verbunden wäre. Doch ist keine Gefahr dabei, wenn er von der Eisenbahn hierher kommt, und nicht vom Hotel.

Fünf Uhr. Ich habe mich nicht in der Annahme getäuscht, daß meine Nerven heftig erschüttert seien. Kleinigkeiten, auf die ich zu andern Zeiten kaum achten würde, lasten mir jetzt schwer auf dem Herzen.

Vor zwei Stunden, als ich in Verzweiflung darüber war, wie ich den Tag hinbringen solle, erinnerte ich mich der Schneiderin, die mir meine Sommerkleider fertigt. Schon gestern hatte ich zu ihr gehen und Anprobe halten wollen, aber in der Aufregung über die Nachricht hinsichtlich Mr. Brocks war mir die Sache ganz entfallen. Deshalb ging ich, begierig, etwas zu thun, um mich selbst loszuwerden, heute Nachmittag zu ihr. Ich bin aber unruhiger und beklommener zurückgekehrt, als ich beim Ausgehen war, denn ich habe die Befürchtung mit mir heimgebracht, ich werde noch Ursache haben, zu bereuen, daß ich nicht mein unfertiges Kleid in den Händen der Schneiderin gelassen.

Auf der Straße begegnete mir diesmal nichts. Erst im Ankleidezimmer ward mein Argwohn rege, und dort kam es mir allerdings in den Sinn, daß der Versuch, mich aufzuspüren, den ich in All-Saints-Terrace vereitelt, noch nicht aufgegeben ist, und daß die Ladenjungfern, ja vielleicht ihre Herrin selbst, bestochen worden sind.

Kann ich mir für diesen Eindruck irgendeinen Grund angeben? Wollen einmal überlegen.

Allerdings bemerkte ich zweierlei, was unter den obwaltenden Umständen außerhalb der gewöhnlichen Praxis lag. Erstens waren zweimal so viel Ladenjungfern im Ankleidezimmer zugegen, als man brauchte. Das sah verdächtig aus, und dennoch hätte ich es mir in mehr als einer Weise erklären können. Ist nicht gegenwärtig eine stille Zeit? Und weiß ich nicht aus Erfahrung, daß ich zu der Art von Frauen gehöre, in Betreff deren andere Weiber stets eine boshafte Neugier hegen? Zweitens schien es mir, als ob eine der Ladenjungfern in sehr eigenthümlicher Art darauf bestände, mich in eine gewisse Richtung zu drehen, nämlich mit dem Gesichte der Glasthür zu, die nach dem Arbeitszimmer führt und auf der andern Seite mit einem Vorhange versehen ist. Bei alledem gab sie mir aber auf meine desfallsige Frage einen Grund dafür an. Sie sagte, es falle so das Licht besser auf mich, und als ich mich umsah, bemerkte ich allerdings das Fenster hinter mir, welches bewies, daß sie Recht hatte. Dennoch machten diese Kleinigkeiten einen solchen Eindruck auf mich, daß ich durchaus etwas an dem Kleide auszusetzen fand, um damit eine Entschuldigung eine abermalige Anprobe zu haben, ehe ich ihnen meine Adresse angab und es mir zuschicken ließ. Reine Einbildung vermuthlich, vielleicht selbst in diesem Augenblicke reine Einbildung. Einerlei, ich werde meinem Instinkte folgen und das Kleid aufgeben. Um mich noch deutlicher auszudrücken, ich werde nicht wieder in den Laden gehen.

Um Mitternacht. Midwinter kam seinem Versprechen gemäß zu mir. Eine Stunde ist vorüber, seit wir uns gute Nacht wünschten, und da sitze ich noch immer mit der Feder in der Hand und denke an ihn. Ich finde keine Worte, um zu schildern, was zwischen uns geschehen ist. Alles, was ich schreiben kann, ist, daß er meinen Entschluß erschüttert hat. Zum ersten Male, seit mir in Thorpe-Ambrose der Weg zu Armadale’s Tode so leicht erschien, ist mirs, als ob der Mann, den ich im Geiste verurtheilt, Aussicht habe, mir zu entrinnen.

Hat meine Liebe zu Midwinter mich etwa so verändert? Oder hat seine Liebe zu mir sich nicht nur alles dessen bemächtigt, was ich ihm geben, sondern auch dessen, was ich ihm vorenthalten möchte? Mir ist, als hätte ich mich selbst verloren, mich selbst in ihm verloren den ganzen Abend hindurch. Er war tief bewegt über die Vorgänge in Sonimersetshire und bewirkte, daß ich mich ebenso niedergeschlagen und unglücklich darüber fühlte wie er selbst. Obgleich er sich mit keiner Silbe darüber ausgesprochen, weiß ich doch, daß Mr. Brocks Tod ihn als eine böse Vorbedeutung für unsere Vermählung erschreckt hat; ich weiß dies, denn auch ich habe das Gefühl, als ob Mr. Brocks Tod ein böses Omen für uns sei. Der Aberglaube, sein Aberglaube erfaßte mich mit einer solchen Gewalt, daß, als wir ruhiger wurden und von der Zukunft sprachen, als er mir sagte, daß er entweder seine neue Anstellung aufgeben oder schuldigermaßen am nächsten Montag nach dem Continent müsse, ich vor dem Gedanken an unsere Heirath so unmittelbar nach Mr. Brocks Beerdigung förmlich zurückschauderte; im Drange des Augenblicks sagte ich zu ihm: »Geh und beginne Dein neues Leben allein! Geh und lasse mich hier auf glücklichere Zeiten warten.«

Er nahm mich in seine Arme, seufzte und küßte mich mit entzückender Zärtlichkeit. Er sagte —— o, so sanft und so traurig: »Getrennt von Dir habe ich jetzt kein Leben mehr.« Wie er diese Worte sprach, war es, als ob ein Gedanke in meinem Herzen gleich einem Echo erwiderte: »Warum sollte ich nicht die mir noch übrige Lebenszeit in einer solchen Liebe harmlos und glücklich verbringen?« Kann mir es nicht erklären, mir nicht Vergegenwärtigen. Das war der Gedanke, der in jenem Augenblicke in mir aufstieg, und dieser Gedanke lebt noch jetzt in mir. Während ich dies schreibe, sehe ich meine Hand an und frage mich: ist dies wirklich die Hand Lydia Gwilt’s?

Armadale ——

Nein! Ich will nie mehr von Armadale schreiben, nie mehr an Armadale denken.

Doch ja, noch einmal will ich an ihn denken, noch einmal von ihm schreiben, denn es beruhigt mich, zu wissen, daß er abreist, daß das Meer zwischen uns liegen wird, ehe ich mich verheirathe. Seine alte Heimat ist ihm nicht länger eine! Heimat, jetzt, da dem Verlust seiner Mutter der Verlust seines ersten und besten Freundes gefolgt ist. Er hat beschlossen, sobald die Beerdigung vorüber, noch am selben Tage nach dem fremden Meere abzusegeln. Vielleicht sehen wir uns in Neapel wieder, vielleicht nicht. Werde ich dann ein anderes Weib sein? Das möchte ich wissen! Das möchte ich wissen!

Den 8. August. Eine Zeile von Midwinter. Er ist nach Sommersetshire zurückgekehrt, um morgen zu rechter Zeit zum Begräbnisse dort zu sein, und wird, nachdem er von Armadale Abschied genommen hat, morgen Abend wieder hier sein.

Die letzten Förmlichkeiten, die unserer Heirath vorangehen müssen, sind alle überstanden. Nächsten Montag soll ich seine Gattin werden. Die Ceremonie darf nicht später als halb elf Uhr stattfinden; dies wird uns gerade Zeit geben, um von der Kirche nach der Eisenbahn zu fahren und noch an dem nämlichen Tage unsere Reise nach Neapel anzutreten.

Heute —— Sonnabend —— Sonntag! Ich fürchte mich nicht vor der Zeit, sie wird verstreichen. Ich fürchte mich nicht vor mir selbst, wenn ich nur alle Gedanken außer einem einzigen von mir fern halten kann. Ich liebe ihn! Tag und Nacht, bis der Montag da ist, will ich an nichts Anderes denken. Ich liebe ihn!

Vier Uhr. Wider meinen Willen drängen sich mir andere Gedanken auf. Mein gestriger Argwohn war keine bloße Einbildung; die Schneiderin ist in der That bestochen. Meine Thorheit, sie wieder aufzusuchen, hat zur Folge gehabt, daß man meiner Spur hierher gefolgt ist. Ich weiß ganz gewiß, daß ich der Frau meine Adresse nicht gegeben habe, und dennoch hat sie mir mein neues Kleid heute um zwei Uhr zugesandt.

Ein Mann überbrachte es mir mit der Rechnung und der höflichen Bestellung, daß man, da ich mich zur angesetzten Stunde nicht zum Wiederanprobiren eingestellt, das Kleid fertig gemacht habe und es mir hiermit zuschicke. Er traf mich im Gange, sodaß mir nichts Anderes übrig blieb, als ihm die Rechnung zu bezahlen und ihn fortzuschicken. Jedes andere Verfahren wäre bei der Wendung, welche die Dinge jetzt genommen, reine Thorheit gewesen. Der Bote, welcher nicht der Mann ist, der mir auf der Straße nachgegangen, sondern ohne allen Zweifel ein anderer Spion, den man ausgesandt hat, mich in Augenschein zu nehmen, würde, hätte ich etwas davon gesagt, erklärt haben, er wisse nichts von der Sache. Die Schneiderin aber würde mir gerade ins Gesicht sagen, ich hätte ihr meine Adresse gegeben. Das Einzige, was ich jetzt thun darf, ist, daß ich im Interesse meiner Sicherheit all meinen Verstand zusammennehme und, wenn mir dies möglich, aus der falschen Stellung heraustrete, in die mich meine eigene Unbesonnenheit gestürzt hat.

Sieben Uhr. Ich habe mich wieder von meinem Schrecken erholt. Ich glaube, ich bin bereits auf gutem Wege, mich aus der Klemme zu ziehen.

So eben bin ich von einer langen Fiakerfahrt heimgekehrt. Zuerst fuhr ich nach dem Gepäckzimmer der großen Westbahn, um mir das Gepäck abzuholen, das ich von All-Saints-Terrace dorthin gesandt hatte, dann nach dem Gepäckzimmer der Südostbahn, um dasselbe Gepäck mit Midwinter’s Namen versehen, dort abzugeben, bis ich Montag früh mit dem Zuge nach Folkestone abreise, darauf nach dem Hauptpostamt, um einen Brief an Midwinter auf die Post zu geben, den er morgen Vormittag erhalten wird, endlich nach diesem Hause zurück, das ich vor Montag nicht mehr verlassen werde.

Mein Brief an Midwinter wird ohne Zweifel die Vorsichtsmaßregeln unterstützen, die ich für meine Sicherheit treffe. Die kurze Zeit, die uns am Montag zur Verfügung steht, wird ihn nöthigen, im Gasthofe seine Rechnung zu bezahlen und sein Gepäck fortzuschaffen, ehe die Vermählung stattfindet. Alles, was ich ihn außerdem noch zu thun bitte, ist, daß er selbst sein Gepäck nach der Südostbahn bringt, um in dieser Weise etwaige Nachfragen die bei der Hoteldienerschaft angestellt werden dürften, zu vereiteln, und dann an, der Kirchenthür mit mir zusammentrifft, anstatt mich hier abzuholen. Das Andere geht nur mich allein an. Wahrhaftig, es muß unglücklich gehen, wenn es mir jetzt wo ich von allen Hindernissen befreit bin, nicht glückt, den Leuten, die mir auflauern, am Montag früh zum zweiten Male zu entwischen.

Es scheint überflüssig, daß ich heute an Midwinter geschrieben habe, da er ja schon morgen Abend zu mir, zurückkehrt. Aber es war unmöglich, ihn um das, was ich von ihm verlangte, zu bitten, ohne nochmals meine vorgeblichen Familienverhältnisse vorzuschützen, und die Wahrheit zu gestehen, schrieb ich deshalb, weil ich nach dem, was ich das letzte Mal dabei gelitten, ihm nie wieder gerade ins Gesicht lügen kann.

Den 9. August, zwei Uhr. Ich stand heute Morgen zeitig, doch in gedrückterer Stimmung als gewöhnlich auf. Der Wiederbeginn des Lebens hat sowie der Wiederbeginn jedes neuen Tages seit vielen Jahren stets etwas Trübes und Hoffnungsloses für mich gehabt. Dazu träumte ich die ganze Nacht, nicht etwa von Midwinter und meinem ehelichen Leben, wie ich gehofft hatte, sondern von dem abscheulichen Anschlage, mich zu entdecken, durch den ich, gleich einem gehetzten Thiere, von einem Orte zum andern gejagt werde. Indeß ist mir in meinem Schlafe keinerlei Offenbarung oder Aufklärung geworden. Das Einzige, was ich in meinem Traume errathen konnte, war, daß Mutter Oldershaw die Feindin ist, welche mich im finsteren angreift. Wer außer dem alten Bashwood, an den in einer so ernsten Sache wie diese zu denken geradezu lächerlich wäre, wer anders als Mutter Oldershaw könnte ein Interesse haben, sich jetzt in meine Angelegenheiten zu mischen?

Meine unruhige Nacht hat indessen einen erfreulichen. Erfolg gehabt. Sie hat mir die Theilnahme des Dienstmädchens hier verschafft, das mir allen Beistand, der in seiner Macht liegt, leisten. wird, wenn der Augenblick meines Entrinnens da ist.

Das Mädchen bemerkte heute Morgen, daß ich blaß und sorgenvoll aussehe. Ich zog sie ins Vertrauen, insofern als ich ihr sagte, daß ich im Begriffe stehe, mich heimlich zu verheirathen, und Feinde habe, die mich von meinem Verlobten zu trennen suchten. Das erweckte augenblicklich ihre Theilnahme, und ein Geschenk von einem halben Sovereign für ihre Aufmerksamkeit gegen mich that das Weitere. Den ganzen Morgen ist sie bei mir aus und ein gegangen, und ich habe unter Anderem die Entdeckung gemacht, daß ihr Schatz ein Soldat in der Garde ist und daß sie ihn morgen zu sehen hofft. Wie wenig es auch ist, doch habe ich noch Geld genug übrig, um jedem Soldaten in der britischen Armee den Kopf zu verdrehen, und ist die mit meiner Bewachung beauftragte Person morgen ein Mann, so scheint es mir eben möglich, daß er im Verlauf des Abends seine Aufmerksamkeit in ziemlich unangenehmer Weise von Miß Gwilt abgezogen sehen wird.

Als Midwinter das letzte Mal von der Eisenbahn hierher kam, war es um halb neun Uhr. Wie soll ich von jetzt an bis zum Abend über die langen, langen Stunden hinwegkommen? Ich will mein Schlafzimmer dunkel machen und mir durch meine Tropfen selige Vergessenheit verschaffen.

Elf Uhr. Zum letzten Male sind wir vor dem Tage von einander geschieden, der uns zu Mann und Frau machen soll.

Er hat mich Verlassen, indem er, wie schon zuvor, alles andere Interesse in mir in den Hintergrund gedrängt hat. Sowie er ins Zimmer trat, bemerkte ich eine Veränderung an ihm. Als er mir von der Beerdigung und von seinem Abschied von Armadale am Bord der Yacht erzählte, sprach er, obgleich mit tiefbewegtem Gefühle, doch mit einer Selbstbeherrschung, wie ich sie bisher noch nicht an ihm wahrgenommen. Ebenso war es, als unsere Unterhaltung dann auf unsere eigenen Hoffnungen und Aussichten fiel. Sichtlich war er unangenehm berührt, als er hörte, wie meine Familienangelegenheiten es verhinderten, daß wir einander morgen sähen, und sichtlich unruhig über den Gedanken, mich am Montag ganz allein nach der Kirche gehen zu lassen. Aber durch alles dies ging ein gewisses hoffnungsvolles und ruhiges Wesen, welches einen so großen Eindruck auf mich machte, daß ich nicht umhin konnte, es zu erwähnen. »Du weißt, welch merkwürdige Einfälle ich zuweilen habe«, sagte ich. »Soll ich Dir sagen, welche Idee sich jetzt meiner bemächtigt hat? Ich kann nicht anders als glauben, daß, seit wir einander zuletzt sahen, etwas vorgefallen ist, was Du mir noch nicht mitgetheilt hast.«

In der That hat sich etwas ereignet«, erwiderte er, »und zwar etwas, was Du wissen solltest.«

Mit diesen Worten nahm er sein Notizbuch aus der Tasche und aus diesem zwei beschriebene Papiere heraus. Das eine betrachtete er und legte es dann wieder zurück. Das andere legte er vor mich auf den Tisch. Einen Augenblick es mit seiner Hand bedeckend, nahm er von neuem das Wort.

»Ehe ich Dir sage, was das hier ist und wie es in meinen Besitz gelangte«, sagte er, muß ich etwas bekennen, was ich Dir verhehlt habe. Es ist kein geringeres Bekenntniß als das meiner Schwäche.«

Er gestand mir dann, daß seine erneute Freundschaft mit Armadale während der ganzen Zeit ihres Zusammenseins in London durch seine eigenen abergläubischen Befürchtungen getrübt gewesen sei. jedes mal, wo sie mit einander allein, waren ihm die fürchterlichen Worte seines sterbenden Vaters und die ebenso fürchterliche Bestätigung derselben durch den warnenden Traum gegenwärtig. Die Ueberzeugung, daß die Erneuerung ihrer Freundschaft und mein Antheil an der Wiederherstellung derselben unglückliche Folgen für Armadale herbeiführen würde, hatte mit jedem Tage einen größeren Einfluß auf ihn ausgeübt. Er war dem Rufe, der ihn an das Sterbelager des Pfarrers beschied, in der festen Absicht gefolgt, Mr. Brock seine Ahnungen von drohendem Unheile anzuvertrauen, und hatte sich in seinem Aberglauben doppelt bestärkt gefühlt, als er sah, wie der Tod vor ihm in das Haus eingezogen und sie in dieser Welt auf immer von einander geschieden waren. Mit einem heimlichen Gefühle der Erleichterung über die Aussicht, von Armadale zu scheiden, war er zur Beerdigung zurückgereist und hatte im Stillen den Entschluß gefaßt, daß das verabredete spätere Zusammentreffen in Neapel niemals stattfinden solle. Mit diesem Entschlusse im Herzen war er allein in das für ihn in der Pfarrei hergerichtete Zimmer hinaufgegangen und hatte dort einen Brief auf dem Tische gefunden. Der Brief war erst an demselben Tage unter dem Bette gefunden worden, auf dem Mr. Brock gestorben war, und wahrscheinlich von diesem heruntergefallen und fortgestoßen worden. Von Anfang bis zu Ende war er in der Handschrift des Pfarrers und an Midwinter adressiert.

Nachdem er mir dies in fast denselben Worten mitgetheilt, deren ich mich hier bedient habe, nahm er die Hand von dem beschriebenen Papiere weg, welches zwischen uns lag.

»Lies den Brief«, sagte er; »es wird dann unnöthig sein, Dir zu wiederholen, daß mein Gemüth wieder ruhig ist und daß ich Allan’s Hand beim Scheiden mit einer Herzlichkeit drücken konnte, die Allan’s Liebe würdiger war.«

Ich las den Brief. Kein Aberglaube lebte in meinem Gemüthe keine alte Dankbarkeit gegen Allan in meinem Herzen, und dennoch ward der Eindruck, den der Brief auf Midwinter gemacht, wie ich fest glaube, durch den, welchen er auf mich hervorbrachte, noch übertroffen.

Meine Bitte, mir ihn dazulassen, damit ich ihn, sobald ich allein wäre, noch einmal lesen könne, war eine vergebliche. Er ist entschlossen, den Brief nicht aus den Händen zu geben, sondern ihn neben jenem andern Blatte, das die Erzählung von Armadale’s Traum enthält, an sich zu behalten. Das Einzige was ich erlangte, war die übrigens bereitwillig gegebene Erlaubniß, den Brief abschreiben zu dürfen. Ich that dies in seiner Gegenwart und legte den Brief hier in mein Tagebuch ein, um einen denkwürdigen Tag meines Lebens zu bezeichnen.

»Pfarrei zu Boscombe.
Den 2. August.

Mein lieber Midwinter! Gestern fühlte ich mich zum ersten Male seit meiner Krankheit kräftig genug, um die für mich eingelaufenen Briefe zu lesen. Unter ihnen ist einer von Allan, der seit zehn Tagen uneröffnet auf meinem Tische gelegen hat. Er schreibt mir in großer Bekümmerniß daß Differenzen zwischen Ihnen beiden eingetreten sind und daß Sie ihn verlassen haben. »Wenn Sie noch eine Erinnerung an das bewahren, was sich zwischen uns begab, als Sie mir zum ersten Male auf der Insel Man Ihr Herz öffneten, so werden Sie leicht begreifen, wie ich diese traurige Nachricht in sehr ernste Erwägung gezogen habe, und nicht erstaunt sein, daß ich mich heute Morgen aufgerafft habe, um an Sie zu schreiben. Obgleich weit entfernt, zu verzweifeln, darf ich mich doch in meinem Alter keiner zu großen Hoffnung auf Genesung hingeben. Deshalb muß ich die Zeit, die ich noch mein nennen darf, in Ihrem und Allan’s Interesse benutzen.

Ich verlange keine Erklärung der Umstände, die Sie von Ihrem Freunde getrennt haben. Ist meine Meinung von Ihrem Charakter nicht grundfalsch, so ist der einzige Einfluß, der Ihre Trennung von Allan herbeigeführt haben kann, der jenes bösen Geistes des Aberglaubens, welchen ich bereits einmal aus Ihrem Herzen gerissen habe und den ich, so Gott will, noch einmal überwinden will, wenn ich die Kraft besitze, Ihnen in diesem Briefe meine Ansicht darzulegen.

Ich will Ihren Glauben, daß die Sterblichen auf ihrer Pilgerfahrt durch diese Welt oft Gegenstand übernatürlichen Einschreitens seien, nicht bekämpfen, ich kann nicht beweisen, daß Sie Unrecht haben. Und vom biblischen Standpunkte aus muß ich sogar noch weiter gehen und zugeben, daß Sie für Ihren Glauben eine noch höhere als blos menschliche Bürgschaft besitzen, Das Einzige, was ich gar gern erreichen möchte, ist, Sie zu bewegen, daß Sie sich von dem lähmenden Fatalismus des Heiden oder Wilden frei zu machen suchen und die Geheimnisse, die Sie verwirren, sowie die Gefahren, die Sie erschrecken, vom rein christlichen Standpunkte auffassen. Gelingt mir dies, so werde ich Ihr Gemüth von den schauerlichen Zweifeln befreien, die es jetzt bedrücken, und, Sie wieder mit Ihrem Freunde vereinen, um sich nie mehr von ihm zu trennen.

Ich habe keine Gelegenheit, Sie zu sehen und zu befragen, und kann diesen Brief nur an Allan einlegen, damit er ihn Ihnen zusendet, sobald er Ihren gegenwärtigen Aufenthalt erfährt. In der Stellung, in der ich mich Ihnen gegenüber befinde, ist es meine Pflicht, die Sache in dem für Sie günstigsten Lichte zu sehen. Ich will es für ausgemacht annehmen, daß entweder Ihnen oder Allan etwas geschehen ist, was Sie nicht nur in der fatalistischen Ueberzeugung bestärkt, in der Ihr Vater starb, sondern der Warnung, die er Ihnen in seinem Sterbebriefe gesandt, noch eine neue und fürchterlichere Bedeutung beigelegt hat.

Auf diesem gemeinschaftlichen Boden begegne ich Ihnen, indem ich an Ihre höhere Natur und Ihr besseres Urtheil appelliere.

Behalten Sie Ihre gegenwärtige Ueberzeugung, daß die statt gehabten Ereignisse, welcher Art sie auch sein mögen, nicht mit den gewöhnlichen Naturgesetzen zu vereinbaren sind, und fassen Sie Ihre eigene Lage bei dem besten und klarsten Lichte ins Auge, das Ihr Aberglaube darauf werfen kann. Was sind Sie? Ein hilfloses Werkzeug in den Händen des Schicksals. Ohne eine Möglichkeit des Widerstandes sind Sie dazu verdammt, mit verbundenen Augen Elend und Verderben auf einen Mann herabzurufen, mit dem Sie sich in harmloser und dankbarer Weise durch Bande brüderlicher Liebe verbunden haben. Alle moralische Festigkeit Ihres Willens und alle moralische Reinheit Ihrer Bestrebungen vermögen nichts wider den erblichen Drang zum Bösen in Ihnen, welcher durch ein Verbrechen entstanden ist, das Ihr Vater beging, ehe Sie geboren waren. Worin endet dieser Glaube? In der Finsternis, in der Sie jetzt verloren sind, in den Widersprüchen, die Sie jetzt verwirren, in der starrsinnigen Verzweiflung, durch die der Mensch seine Seele entweiht und zu den Thieren herabsinkt, die da sterben müssen.

Aufgeblickt, mein armer duldender Bruder, aufgeblickt, mein schwer geprüfter, viel geliebter Freund, erheben Sie die Blicke höher! Begegnen Sie den Zweifeln, die Sie jetzt bestürmen, auf dem gesegneten Felde christlichen Muthes und christlicher Hoffnung, und dann wird Ihr Herz sich wieder Allan zuwenden und Ihr Gemüth wieder Frieden finden. Was auch kommen möge, Gott ist allgütig, Gott ist allweise; natürlich oder übernatürlich Alles kommt durch ihn. Das Geheimnis; des Bösen, das unsere schwachen Geister trübt, der Kummer und Jammer, die uns in diesem armseligen Leben quälen, können die eine große Wahrheit nicht erschüttern, daß das Schicksal des Menschen in den Händen, des Schöpfers ruht, und daß Gottes lieber Sohn starb, um uns Gottes würdiger zu machen. Es gibt nichts Böses, aus dem nach seinen Gesetzen nicht Gutes entstehen kann. Bleiben Sie dem getreu, was Christus Ihnen als die Wahrheit gezeigt hat. Kräftigen Sie in Ihrem Herzen, was auch geschehen mag, die Tugenden der Liebe, der Dankbarkeit, der Geduld und Nachsicht gegen Ihre Mitmenschen und überlassen Sie alles Andere demüthig und vertrauensvoll dem Gotte, der Sie geschaffen, und dem Heilande, der Sie mehr geliebt hat als sein eigenes Leben.

Das ist der Glaube, in dem ich durch Gottes Hilfe und Gnade von meiner Jugend an gelebt habe. Ich bitte Sie inständigst, ich bitte Sie zuversichtlich, machen auch Sie sich ihn zu eigen. Er ist die Triebfeder alles Guten, was ich je gethan, alles Glücks, daß ich je gekannt habe; er erhellt meine Dunkelheit und belebt meine Hoffnung; er tröstet und beruhigt mich auf diesem Lager, auf dem ich entweder Leben oder Tod finden soll, ich weiß nicht, was von beiden. Lassen auch Sie sich durch ihn aufrichten, trösten und erleuchten; er wird Ihnen in Ihrer größten Noth beistehen, wie er mir in meiner Noth beigestanden hat, und wird Ihnen in den Ereignissen, die Sie mit Allan zusammengeführt haben, einen andern Endzweck zeigen als den, welchen Ihr schuldbeladener Vater voraussah. Ich leugne nicht, daß Ihnen schon wunderbare Dinge begegnet sind, und leicht können sich noch wunderbarere ereignen, die ich vielleicht nicht mehr erlebe. Erinnern Sie sich, wenn diese Zeit kommt, daß ich in der entschiedenen Ueberzeugung gestorben, daß Ihr Einfluß aus Allan kein anderer als ein guter ist. Das große göttliche Sühneopfer hat selbst in dieser Welt seine Nachahmer. Ist Allan je von Gefahr bedroht, so werden Sie, dessen Vater seinem Vater das Leben raubte, Sie und kein Anderer der Mann sein, den Gottes Vorsehung dazu ausersehen, ihn zu retten.

Kommen Sie zu mir, wenn ich am Leben bleibe. Kehren Sie zu dem Freunde zurück, der Sie liebt, ob ich lebe oder sterbe. Bis zum Ende aufrichtig der Ihre

Decimus Brock.«

»Sie und kein Anderer werden der Mann sein, den Gottes Vorsehung dazu ausersehen, ihn zu retten!«

Dies die Worte, die mir die innerste Seele erschüttert haben. Dies die Worte, welche mir ein Gefühl verursachen, als ob der Todte sein Grab verlassen habe und seine Hand auf jene Stelle in meinem Herzen legte, wo mein fürchterliches Geheimniß vor allen menschlichen Blicken außer den meinigen verborgen liegt. Ein Theil des Briefes ist bereits in Erfüllung gegangen. Die Gefahr, die er voraussieht, bedroht Armadale schon in diesem Augenblicke, und zwar durch mich!

Wenn die günstigen Umstände, die mich bis hierher getrieben, mich bis zum Ende forttreiben und wenn die letzte irdische Ueberzeugung des alten Mannes eine wahre Prophezeiung ist, so wird Armadale mir entwischen, was ich auch anfangen mag. Und Midwinter wird geopfert werden, damit sein Leben gerettet werde.

Es ist fürchterlich! Es ist unmöglich! Es soll nimmer geschehen! Bei dem bloßen Gedanken daran bebt mir die Hand und sinkt mir das Herz. Ich segne dies Beben, das mich schwach macht! Ich segne das Sinken des Herzens, das mich ohnmächtig macht! Ich segne die Worte in dem Briefe, welche mir jene weichen Gedanken wiedererweckt haben, die mir vor zwei Tagen kamen! Ist es schwer, jetzt, da die Ereignisse mich glatt und sicher immer näher und näher dem Ziele zuführen, die Versuchung zum Weitergehen zu überwinden? Nein! Ist nur eine Möglichkeit vorhanden, daß Midwinter Unheil droht, so reicht die Furcht vor dieser Möglichkeit hin, mich zu bestimmen, um seinetwillen der Versuchung zu widerstehen. Ich habe ihn noch nie so sehr geliebt wie jetzt.

Sonntag, den 10. August. Der Tag vor meiner Hochzeit! Ich schließe und verschließe dieses Buch, um nie wieder darein zu schreiben und es nie wieder zu öffnen.

Ich habe den großen Sieg errungen; ich habe meine eigene Schlechtigkeit zu Boden geworfen. Ich bin unschuldig, ich bin wieder glücklich. Mein Leben! Mein Engel! Wenn Du morgen mein wirst, werde ich in meinem Herzen keinen Gedanken hegen, der nicht auch der Deinige ist!«


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