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Der Mondstein



Viertes Capitel.

Ich brauche über meine eigenen Empfindungen kein Wort zu verlieren.

Ich habe den Eindruck daß meine Erschütterung meine Fähigkeit zu denken und zu fühlen, völlig aufhob. Ich wußte nichts mehr von mir, als Betteredge zu mir trat, denn wie er mich versichert hat, lachte ich, als er mich fragte, wie es stehe, und forderte ihn, indem ich ihm das Nachthemd überreichte, auf, die Lösung des Räthsels selbst zu lesen.

Von dem was wir am Strande mit einander sprachen, habe ich nicht mehr die leiseste Erinnerung. Die erste Stelle, an welcher ich mich wieder deutlich sehe, ist die Tannenanpflanzung. Betteredge und ich gehen zusammen nach dem Hause zurück und Betteredge sagt mir, daß wir beide im Stande sein werden, der Sache gerade in’s Gesicht zu sehen, wenn wir ein Glas Grog getrunken haben werden.

Die Scene verwandelt sich aus der Tannenanpflanzung in Betteredge’s kleines Wohnzimmer. Mein Entschluß, Rachel’s Haus nicht zu betreten, ist vergessen. Ich empfinde dankbar die schattige Kühle und die Ruhe des Zimmers. Ich trinke den Grog, —— einen zu dieser Tageszeit unbekannter Luxus für mich, —— den mein guter alter Freund mit eiskaltem Quellwasser mischt. Unter anderen Umständen würde das Getränk mich einfach dumm gemacht haben. Unter den obwaltenden Umständen aber stählt es meine Nerven. Ich fange an, der Sache gerade in’s Gesicht zu sehen, wie Betteredge es vorausgesagt hat, und Betteredge seinerseits kommt gleichfalls wieder zur Besinnung.

Das Bild, welches ich hier von mir selbst entwerfe, muß, wie ich fürchte, gelinde gesagt, sonderbar erscheinen. Was ist mein erster Schritt in meiner Situation, die glaube ich, als ohne Gleichen bezeichnet werden kann? Schließe ich mich von jeder menschlichen Gesellschaft ab? Richte ich meine ganze Geistesthätigkeit darauf, die schauderhafte Unmöglichkeit zu analysiren, welche mir gleichwohl als eine unabweisliche Thatsache gegenüber steht? Eile ich mit dem ersten Zuge nach London zurück, um die ersten Autoritäten zu consultiren und auf der Stelle eine Untersuchung in’s Werk zu setzen? Nein. Ich nehme den Schutz eines Hauses an, durch dessen Betretung mich nie wieder herabzuwürdigen ich fest entschlossen war; und sitze da, in Gesellschaft eines alten Dieners, Morgens um zehn Uhr Cognac und Wasser schlürfend. Ist das das Benehmen, das man von einem Manne in meiner furchtbaren Situation erwarten durfte? Ich kann nur antworten, daß der Anblick der befreundeten Züge des alten Betteredge ein unaussprechlicher Trost für mich war und daß das Trinken des Grog’s des alten Betteredge’s mir in der vollständigen körperlichen und geistigen Abspannung in die ich verfallen war, half, wie mir wahrlich nichts anderes geholfen haben würde. Ich habe keine andere Entschuldigung für mich anzuführen und ich kann die nie versagende Beobachtung der eigenen Würde und die strenge Logik des Verhaltens, welche alle männlichen und weiblichen Leser dieser Zeilen in der Lage ihres Lebens auszeichnet, nur bewundern.

»Eines ist auf jeden Fall gewiß, Herr Franklin,« sagte der alte Betteredge, indem er das Nachthemd zwischen uns auf den Tisch warf und auf dasselbe hinwies, als ob es ein lebendes Wesen sei, das ihn hören könne, »vor allen Dingen, es lügt.«

Diese tröstliche Ansicht von der Sache vermochte ich nicht zu theilen.

»Ich bin mir,« sagte ich, »so wenig wie Sie bewußt, den Diamanten genommen zu haben. Aber dieser Zeuge spricht gegen mich! Der Farbenfleck auf dem Nachthemd und der Name auf dem Nachthemd sind Thatsachen.«

Betteredge nahm mein Glas und drückte es mir mit einer Bewegung des Zuredens in die Hand.

»Thatsachen?« wiederholte er. »Trinken Sie noch einen Schluck Grog, Herr Franklin, und Sie werden die Schwachheit, an Thatsachen zu glauben, überwinden! Dahinter steckt ein schlechter Streich, Herr Franklin,« fuhr er fort, die Stimme vertraulich senkend. »So erkläre ich mir das Räthsel. Ein schlechter Streich, und Sie und ich müssen herausfinden, wer Ihnen denselben gespielt hat. Haben Sie weiter nichts in der Zinnbüchse gefunden?«

Die Frage erinnerte mich sofort an den Brief in meiner Tasche. Ich zog ihn hervor und öffnete ihn. Es war ein seitenlanger, eng geschriebener Brief. Ich blickte ungeduldig nach der Unterschrift am Schluß: »Rosanna Spearman.«

Als ich den Namen las, fuhr mir plötzlich eine Erinnerung durch den Kopf und erleuchtete mich mit einem neuen Verdacht.

»Halt!« rief ich aus, »war nicht Rosanna Spearman aus einem Besserungshause zu meiner Tante gekommen? War nicht Rosanna Spearman früher eine Diebin gewesen?«

»Ohne Frage, Herr Franklin. Aber was folgt daraus, wenn ich fragen darf?«

»Was daraus folgt? Wie können wir wissen, ob sie nicht doch am Ende den Diamanten gestohlen? Ob sie nicht mein Nachthemd absichtlich mit dem Farbenfleck beschmiert hat?«

Betteredge legte seine Hand auf meinen Arm und hielt mich zurück, ehe ich ein Wort weiter sagen konnte.

»Sie werden sich ohne Zweifel von jedem Verdachte reinigen können, aber nicht auf diese Weise, wie ich hoffe. Sehen Sie zu, was in dem Brief steht. Im Namen der Gerechtigkeit für das Andenken des Mädchens! Sehen Sie zu, was in dem Brief steht.«

Ich empfand den Ernst seiner Worte fast wie einen Vorwurf gegen mich. »Sie sollen sich selbst auf Grund dieses Briefes Ihr Urtheil bilden,« sagte ich. »Ich will ihn Ihnen vorlesen.«

Ich fing an und las wie folgt:

»Mein Herr! Ich habe Ihnen etwas zu bekennen. Ein Bekenntniß tiefen Elends kann oft in wenigen Worten abgelegt werden. Mein Bekenntniß bedarf nur dreier Worte: Ich liebe Sie.«

Der Brief entsank meinen Händen. Ich blickte auf Betteredge »Ja des Himmels Namen,« sagte ich, »was soll das heißen?«

Er schien vor einer Beantwortung der Frage zurückzuschrecken.

»Sie sind diesen Morgen mit der hinkenden Lucy allein gewesen,« sagte er. »Hat sie Ihnen nichts über Rosanna Spearman gesagt?«

»Sie hat nicht einmal den Namen Rosanna’s genannt.«

»Bitte, lesen Sie weiter, Herr Franklin Ich gestehe Ihnen offen, ich kann es nicht über’s Herz bringen, Sie zu betrüben, nach dem, was Sie bereits haben ertragen müssen. Lassen Sie das Mädchen selbst reden und trinken Sie noch einmal! Um Ihrer» selbst willen trinken Sie noch einen Schluck Grog.«

Ich fuhr fort, den Brief zu lesen:

»Es würde mir schlecht anstehen, Ihnen dieses zu gestehen, wenn ich in dem Augenblick, wo Sie es lesen werden, noch am Leben wäre; aber ich werde nicht mehr sein, wenn Sie meinen Brief finden. Das giebt mir Muth. Nicht einmal die Stätte, wo ich begraben sein werde, wird von mir zeugen. Ich kann es wagen die Wahrheit zu sagen, denn der Zittersand wird mich in seinem Schoße bergen, wenn ich diese Worte geschrieben habe.

»Außerdem werden Sie in meinem Versteck Ihr Nachthemd mit dem Farbenfleck darauf finden; und Sie werden wissen wollen, wie ich dazu gekommen bin, dasselbe zu verstecken? und warum ich Ihnen bei meinen Lebzeiten nichts davon gesagt habe? Dafür habe ich nur einen Grund. Ich that diese sonderbaren Dinge, weil ich Sie liebte.

»Ich möchte Sie nicht mit langen Mittheilungen über mich selbst oder mein Leben, bevor ich in Mylady’s Haus kam, behelligen. Lady Verinder nahm mich aus einem Besserungshause zu sich. Vor dem Besserungshause war ich im Gefängniß gewesen. In’s Gefängniß kam ich weil ich eine Diebin war. Eine Diebin war ich, weil meine Mutter auf den Gassen umherzog, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war. Meine Mutter zog auf den Gassen umher weil der Herr, der mein Vater war, sie verlassen hatte. Ich brauche eine so gewöhnliche Geschichte wie diese nicht ausführlicher zu erzählen. Sie ist oft genug in den Zeitungen zu lesen.

»Lady Verinder war sehr gut gegen mich und auch Herr Betteredge war sehr gut gegen mich. Diese Beiden und die Hausmutter im Besserungshause sind die einzigen guten Menschen denen ich in meinem ganzen Leben begegnet bin. Ich hätte es vielleicht in meiner Stelle aushalten können, ohne glücklich zu sein, aber doch aushalten können, wenn —— Sie nicht gekommen wären. Ich tadle Sie nicht, mein Herr. Es ist meine Schuld —— Alles meine Schuld!

»Erinnern Sie sich jenes Morgens, an welchem Sie über die Sandhügel, nach Herr Betteredge suchend, zu uns herunterkamen? Sie erschienen mir wie ein Prinz in einem Feenmärchen, wie ein Geliebter im Traum. Sie waren für mich das anbetungswürdigste menschliche Wesen, das ich je gesehen habe. In dem Augenblick wo ich meine Augen zu Ihnen aufschlug, leuchtete etwas in mir auf, das mich berührte wie das glückliche Leben, das ich noch nie gelebt hatte. Verlachen Sie mich nicht. O, wenn ich Ihnen nur begreiflich machen könnte, wie ernst ich es damit meine!

»Ich ging in’s Haus zurück und kritzelte Ihren und meinen Namen in meinen Arbeitskasten und malte ein flammendes Herz darunter. Dann flüsterte mir ein Teufel —— nein, ich sollte sagen, ein guter Engel —— zu: »Geh und betrachte Dich im Spiegel!« Der Spiegel sagte mir —— gleichviel was. Ich war zu thöricht, dem Spiegel zu glauben. Immer stärker wurde meine Liebe zu Ihnen, grade als ob ich Ihres Gleichen und das reizendste Geschöpf gewesen wäre, das Sie je gesehen hätten. Ich bot Alles auf, o, was versuchte ich nicht, um Sie dahin zu bringen, mich anzusehen. Wenn Sie gewußt hätten, wie ich Nächtelang vor Schmerz und Unmuth darüber, daß Sie nicht die geringste Notiz von mir nahmen, Thränen vergoß, so hätten Sie vielleicht Mitleid mit mir gehabt und mir von Zeit zu Zeit einen Blick gegönnt, an dem ich hätte zehren können.

»Freilich wäre der Blick wohl kein sehr freundlicher gewesen, wenn Sie gewußt hätten, wie ich Fräulein Rachel haßte. Ich hatte es, glaube ich, schon herausgefunden, daß Sie sie liebten, noch ehe Sie selbst es wußten. Sie pflegte Ihnen Rosen zu geben, um sie ins Knopfloch zu tragen. Ach, Herr Franklin, öfter als Sie und Fräulein Rachel es ahnten, waren diese Rosen die Meinigen.

»Meinen einzigen Trost fand ich darin, im Geheimen meine Rose an die Stelle der Ihnen von Fräulein Rachel gegebenen in Ihr Glas Wasser zu setzen und jene wegzuwerfen.

»Wenn Sie wirklich so hübsch gewesen wäre, wie Sie sie fanden, so hätte ich die Sache vielleicht besser ertragen. Nein, ich glaube, ich würde sie noch mehr gehaßt haben. Denken Sie sich Fräulein Rachel ohne ihren Putz und in Dienstmädchenkleidern! Aber wozu schreibe ich das. Sie hatte doch gewiß einen schlechten Wuchs, sie war zu mager. Aber wer kann sagen, was Männern gefällt. Und junge Damen können sich ein Betragen erlauben, das einem Dienstmädchen seine Stelle kosten würde, doch das geht mich nichts an. Ich kann nicht erwarten, daß Sie diesen Brief zu Ende lesen, wenn ich solches Zeug schreibe. Aber es verdrießt Einen, Fräulein Rachel immer hübsch nennen zu hören, wenn man weiß, daß sie dieses Lob nur ihrer Toilette und ihrem Selbstvertrauen verdankt.

»Worauf es mir aber ankommt, daß Sie es wissen, ist Folgendes:

»Ich hatte kein schweres Leben, so lange ich eine Diebin war. Erst als sie mich in der Besserungs-Anstalt gelehrt hatten, mir meiner Selbsterniederung bewußt zu werden und an meiner Besserung zu arbeiten, wurden mir die Tage lang und mühselig. Jetzt fingen sich mir Gedanken an meine Zukunft aufzudrängen an.

»Ich fühlte den schrecklichen Vorwurf, der in dem bloßen Dasein rechtschaffener Menschen, selbst der gütigsten unter ihnen für mich lag. Ein herzbrechendes Gefühl der Vereinsamung verfolgte mich überall, bei jeder Beschäftigung, in der Gesellschaft aller Menschen. Ich wußte, daß es meine Pflicht sei, mit meinen Mitdienstboten freundlich zu verkehren, aber es wollte mir nicht gelingen; sie sahen mich an oder schienen mich wenigstens anzusehen, als kannten sie meine Vergangenheit. Ich bin weit davon entfernt, zu bereuen, daß ich gebessert worden bin, aber Gott weiß es, es war ein schweres Leben. In dieses Leben traten Sie plötzlich ein wie ein Sonnenstrahl; aber auch meine Hoffnung auf Sie erwies sich als eitel. Ich war unsinnig genug, Sie zu lieben und konnte nicht einmal Ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken. Das war ein großer Jammer, wahrlich ein großer Jammer für mich.

»Jetzt komme ich aber zu dem, was ich Ihnen sagen wollte. In jenen traurigen Tagen ging ich zwei oder dreimal, wenn die Reihe auszugehen an mir war, nach meinem Lieblingsplatze, dem Strande bei dem Zittersand und sagte mir, ich hoffe hier wird es enden. Wenn ich es nicht länger aushalten kann, so wird es hier enden. Sie müssen wissen, Herr Franklin, daß der Platz schon ehe Sie herkamen eine Art von Zauber auf mich ausübte. Es war mir immer wie eine Ahnung gewesen, daß mir bei dem Zittersand etwas begegnen werde. Aber niemals war es mir in den Sinn gekommen, daß ich an dieser Stätte einmal meinen Leiden selbst ein Ende machen könnte, bis die Zeit kam, von der ich jetzt rede. Jetzt fing ich an zu denken, daß hier eine Stelle sei, die in einem Augenblick alle meine Leiden enden und mich für immer verborgen halten würde.

»Das ist Alles, was ich Ihnen für die Zeit von dem Morgen an, wo ich Sie zuerst sah, bis zu jenem Morgen, wo sich die Kunde im Hause verbreitete, daß der Diamant verloren sei, in Betreff meiner Person zu sagen habe.

»Ich war so aufgebracht über das thörichte Gerede unter den weiblichen Dienstboten, die sich Alle daraus spitzten, auf wen wohl der Verdacht zuerst fallen würde, und so zornig gegen Sie (weil ich es damals nicht besser verstand) wegen Ihrer Bemühungen, dem Diamanten nachzuspüren und die Polizei herbeizuholen, daß ich mich so viel wie möglich für mich allein hielt, bis im Laufe des Tages der Beamte von Frizinghall erschien.

»Herr Seegrave fing, wie Sie sich vielleicht erinnern, damit an, eine Wache vor die Schlafzimmer der weiblichen Dienstboten zu stellen und diese stürzten ihm Alle wüthend nach, um ihn zu fragen, was diese beleidigende Maßregel bedeuten solle. Ich ging mit den übrigen, weil, wenn ich das nicht gethan hätte, Herr Seegrave sofort gegen mich Verdacht geschöpft haben würde. Wir fanden Herrn Seegrave in Fräulein Rachel’s Zimmer. Er sagte, er wolle keine Weiber da haben und wies auf den Farbenfleck an der gemalten Thür und sagte, wir hätten das mit unsern Kleidern angerichtet und wir sollten wieder hinunter gehen.

»Nachdem ich Fräulein Rachel’s Zimmer verlassen hatte, blieb ich auf einem Treppenabsatz einen Augenblick allein stehen, um nachzusehen, ob sich der Farbenfleck zufällig an meinem Kleide befände Penelope Betteredge, die einzige unter den weiblichen Dienstboten, mit der ich auf freundlichem Fuße stand, ging gerade an mir vorüber und sah, was ich that.

»Darauf brauchst Du nicht zusehen, Rosanna,« sagte sie, »die Malerei an Fräulein Rachel’s Thür ist schon seit vielen Stunden trocken. Hätte Herr Seegrave nicht eine Wache vor unserem Schlafzimmer aufgestellt, so hätte ich ihm das auch wohl gesagt. Ich weiß nicht, wie Du darüber denkst, ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so empörende Behandlung erfahren.«

»Penelope war eine leicht aufbrausende Natur. Ich beruhigte sie und brachte das Gespräch wieder auf die Malerei an der Thür, von der Penelope eben behauptet hatte, daß sie schon so lange trocken sei.

»Woher weißt Du das?« fragte ich sie.

»Ich habe gestern Morgen dabei gestanden und die Farben gemischt, als Herr Franklin und Fräulein Rachel zuletzt bei der Thür beschäftigt waren,« antwortete Penelope. »Ich hörte, wie Fräulein Rachel fragte, ob die Malerei bis zum Abend zeitig genug trocken sein werde, um von der Geburtstags-Gesellschaft in Augenschein genommen zu werden, worauf Herr Franklin den Kopf schüttelte und sagte, die Thür werde nicht eher als in zwölf Stunden trocken sein. Es war lange nach dem zweiten Frühstück, es war drei Uhr bis sie fertig waren. Was folgerst Du daraus, Rosanna? Ich berechne, daß die Thür heute Morgen um drei Uhr trocken war.«

»Sind von den Damen welche gestern Abend hinaufgegangen, um die Malerei zu sehen?« fragte ich. »Ich meine, ich hätte gehört, wie Fräulein Rachel die Damen warnte, sich vor der Thür in Acht zu nehmen.«

»Von den Damen hat keine den Fleck gemacht,« erwiderte Penelope. »Ich verließ Fräulein Rachel um Mitternacht im Bett und sah beim Fortgehen, daß die Malerei an der Thür noch völlig unberührt war.«

»Mußtest Du das nicht Herrn Seegrave mittheilen, Penelope?«

»Nicht für Alles in der Welt würde ich diesem Menschen mit einem Wort auf die Spur helfen.«

»Dann gingen wir Beide an unsere Arbeit.

»Meine Arbeit bestand darin, Ihr Bett zu machen und Ihr Zimmer in Ordnung zu halten. Das war meine glücklichste Stunde am ganzen Tage. Ich pflegte einen Kuß auf das Kissen zu drücken, auf dem Sie die ganze Nacht geruht hatten. Wer es auch seitdem gethan haben mag, niemals hat Jemand Ihr Bett so sorgfältig gemacht wie ich. Auf keinem der vielen Dosen und Flaschen auf Ihrem Toilettentisch duldete ich auch nur das kleinste Fleckchen. Aber davon nahmen Sie so wenig Notiz, wie von mir selbst. Verzeihen Sie mir, daß ich mich so vergesse, ich will mich beeilen, zur Sache zu kommen.

»Ich ging also an jenem Morgen, meine Arbeit in Ihrem Zimmer zu thun. Da lag Ihr Nachthemd quer über dem Bett, wie Sie es beim Ausziehen hingeworfen hatten. Ich nahm es auf, um es zusammenzulegen, und fand darauf —— den Farbenfleck von der Malerei an Rachel’s Thür!

»Diese Entdeckung machte mich so bestürzt, daß ich mit dem Nachthemd in der Hand aus dem Zimmer und die Hintertreppe hinauf nach meiner Kammer lief und mich dort einschloß, um die Sache an einem Ort, wo mich Niemand überraschen oder unterbrechen konnte, näher zu untersuchen.

»Sobald ich wieder zu Athem gekommen war, erinnerte ich mich meiner Unterhaltung mit Penelope und mußte mir sagen: Hier ist der klare Beweis, daß er zwischen Mitternacht und drei Uhr Morgens in Fräulein Rachel’s Wohnzimmer gewesen ist.

»Ich werde Ihnen nicht sagen, welchen Verdacht ich im ersten Augenblick nach dieser Entdeckung hegte. Das würde Sie nur erzürnen und vielleicht veranlassen, meinen Brief zu zerreißen und nicht weiter zu lesen.

»Erlauben Sie mir nur noch das Folgende zu sagen. Nachdem ich mir die Sache so reiflich wie ich konnte überlegt hatte, kam ich zu der Ueberzeugung, daß die Sache nicht wahrscheinlich sei und zwar aus einem Grunde, den ich Ihnen sagen will. Wenn Sie mit Fräulein Rachel’s Wissen zu jener Nachtzeit aus ihrem Zimmer und thöricht genug gewesen wären, nicht an die nasse Thür zu denken, so würde sie selbst Sie gewarnt und nicht zugegeben haben, daß Sie ein solches redendes Zeugniß gegen sie mit sich fortnahmen, wie es eben vor mir lag! Aber doch muß ich bekennen, befriedigte mich dieser Gegenbeweis nicht völlig. Sie werden sich erinnern, daß ich Fräulein Rachel haßte und dieser Haß war bei allen jenen Ueberlegungen im Spiele. Sie endeten damit, daß ich beschloß, das Nachthemd zu behalten und meine Gelegenheit abzuwarten, wo und wie ich es gebrauchen könnte. Vergessen Sie, bitte, nicht, daß ich damals noch nicht den leisesten Verdacht hatte, daß Sie den Diamanten gestohlen haben konnten«

Hier unterbrach ich mich zum zweiten Male in der Lectüre des Briefes.

Ich hatte die Parthien der Bekenntnisse des unglücklichen Mädchens, die sich auf mich bezogen, mit unverstellter Ueberraschung, und wie ich ehrlich hinzufügen kann, mit aufrichtigem Bedauern gelesen. Ich hatte bereut, ernsthaft bereut, daß ich ihr Andenken gedankenlos befleckt habe, noch ehe ich eine Zeile ihres Briefes gelesen hatte. Als ich aber den Brief so weit wie vorstehend angegeben, gelesen hatte, war ich, offen gestanden, beim Lesen immer bitterer und bitterer gegen Rosanna Spearman geworden.

»Lesen Sie den Rest allein,« sagte ich, indem ich Betteredge den Brief über den Tisch hinüberreichte »Wenn Sie irgend etwas finden, was mir zu wissen nöthig ist, so können Sie es ja sagen.«

»Ich verstehe Sie, Herr Franklin,« antwortete er; »Ihre Empfindung ist höchst natürlich, und Gott steh’ mir bei,« fügte er leiser hinzu, »die Empfindung des Mädchens ist es nicht weniger.«

Ich schreibe hier den Rest des Briefes aus dem in meinem Besitz befindlichen Original ab.

»Nachdem ich so beschlossen hatte, das Nachthemd zu behalten und abzuwarten, welchen Gebrauch meine Lieb oder meine Rache künftig davon würde machen können, mußte mein nächstes Absehen darauf gerichtet sein, wie ich es behalten könnte ohne das; man mir auf die Spur käme.

»Dazu gab es nur ein sicheres Mittel, ein anderes dem Ihrigen ganz gleiches Nachthemd noch vor Sonnabend anzufertigen, wo die Waschfrau die reine Wäsche wiederbringen würde.

»Ich fand es gefährlich, die Sache bis zum nächsten Tage, Freitag, zu verschieben, denn ich besorgte, daß sich in der Zwischenzeit etwas ereignen könnte, und beschloß das neue Nachthemd noch an demselben Tage, dem Donnerstage, wo ich wenn ich die Sache richtig anfing, darauf rechnen konnte meine Zeit für mich zu haben, anzufertigen. Das Erste was ich that, nachdem ich Ihr Nachthemd in meine Commode verschlossen hatte, war, daß ich wieder in Ihr Schlafzimmer ging, nicht sowohl um es fertig zu machen, das würde Penelope wohl für mich gethan haben wenn ich sie gebeten hätte, als um nachzusehen, ob Sie mit dem Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd etwa auch Ihr Bett oder irgend ein Möbel im Zimmer befleckt hätten.

»Ich untersuchte Alles ganz genau und fand endlich ein paar schwache Farbenstreifen an der innern Seite Ihres Schlafrocks nicht des leinenen, den Sie gewöhnlich Sommer trugen, sondern eines wollenen, den Sie nich bei sich hatten. Ich vermuthe, Sie waren durch das in und Hergehen im Nachthemd kalt geworden und zogen dann das wärmste Kleidungsstück an, das Sie finden konnten. Gewiß ist, daß an der inneren Seite dieses Schlafrocks Farbenstreifen sichtbar waren. Ich konnte dieselben Farben leicht durch Reihen beseitigen. Und nun war also der einzige gegen Sie vorhandene Beweis das in meiner Commode verschlossene Nachthemd.

»Ich war eben mit Ihrem Zimmer fertig geworden, als ich gerufen wurde, um mit den übrigen Dienstboten vernommen zu werden. Dann folgte die Durchsuchung aller unserer Effecten und dann kam das für mich merkwürdigste Ereigniß dieses Tages, nachdem ich den Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd gefunden hatte. Dasselbe ergab sich bei der zweiten Vernehmung Penelope Betteredge’s durch den Oberbeamten Seegrave.

»Penelope kam, ganz außer sich vor Wuth über die Art, wie Herr Seegrave sie behandelt hatte, wieder zu uns. Er hatte in ganz unzweideutiger Weise zu verstehen gegeben, daß er sie in Verdacht habe die Diebin zu sein. Wir waren darüber Alle so erstaunt wie sie selbst und fragten. Alle, was ihn dazu bewogen habe.

»Weil der Diamant sich in Fräulein Rachel’s Wohnzimmer befunden hatte,« entgegnete Penelope, »und weil ich die Letzte war, die das Zimmer gestern Abend betreten hat.

»Kaum hatte Penelope diese Worte ausgesprochen, als ich mich erinnerte, daß später als Penelope noch eine andere Person in Fräulein Rachel’s Zimmer gewesen sei, und diese Person waren Sie. Bei diesem Gedanken drehte sich Alles mit mir herum und mein Kopf war in der schrecklichsten Verwirrung. Dabei flüsterte mir eine geheime Stimme zu, da? der Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd wohl eine ganz andere Bedeutung haben könne, als die ich ihm bis dahin beigelegt hatte.

»Wenn die letzte Person die im Zimmer war die ist, welche der Verdacht trifft, so dachte ich bei mir, so ist nicht Penelope, sondern Herr Franklin Blake der Dieb.«

»Bei jedem andern Herrn würde ich mich, glaube ich, in dem Augenblick wo der Verdacht in mir aufgestiegen wäre, auch schon geschämt haben, ihn eines Diebstahls für fähig zu halten.

»Aber der bloße Gedanke, daß Sie, Herr, mit diesem Diebstahl zu mir herabgestiegen seien und daß ich durch den Besitz Ihres Nachthemds auch das Mittel in Händen habe, Sie vor einer Entdeckung und einer ewigen Schmach zu schützen, —— dieser bloße Gedanke, sage ich, eröffnete mir eine solche Aussicht, Ihre Gunst zu gewinnen, daß ich mich so zu sagen blindlings von Verdacht zu festem Glauben hinreißen ließ. Ich hielt mich ohne Weiteres überzeugt, daß Sie sich nur deshalb am Beflissensten von allen Personen im Hause gezeigt hätten, die Polizei herbei zu holen, um uns Alle irre zu führen, und daß die Hand, welche Fräulein Rachel’s Edelstein genommen habe, keine andere sein könne, als die Ihrige.

»Die durch diese neue Entdeckung bei mir hervorgerufene Aufregung brachte mich, glaube ich, eine Zeitlang ganz außer mir. Ich fühlte ein so verzehrendes Verlangen, Sie zu sehen, Sie mit ein paar Worten in Betreff des Diamanten auf die Probe zu stellen und Sie auf diese Weise zu veranlassen, mich anzusehen und mit mir zu reden, daß ich mein Haar ordnete und mich so nett wie möglich machte und geradeswegs zu Ihnen in die Bibliothek ging, wo Sie, wie ich wußte, am Schreibtisch saßen.

»Sie hatten einen Ihrer Ringe oben im Zimmer liegen gelassen und mir damit einen so guten Vorwand für mein Erscheinen in der Bibliothek gegeben, wie ich ihn nur wünschen konnte. Aber, o Herr, wenn Sie je geliebt haben, so werden Sie verstehen, wie es kam, daß mir, als ich ins Zimmer trat und Ihnen gegenüber stand, der Muth völlig sank. Und dann sahen Sie mich so kalt an und dankten mir in einer so gleichgültigen Weise für Ihren Ring, daß mir die Kniee zu zittern anfingen und mir zu Muthe ward, als müßte ich mich Ihnen zu Füßen werfen. Als Sie mir gedankt hatten, fuhren Sie, wie Sie sich erinnern werden, fort zu schreiben. Dieses Benehmen kränkte mich so tief, daß ich mir ein Herz faßte und Sie anredete. Ich sagte: »Das ist eine sonderbare Geschichte mit dem Diamanten, Herr!« Und Sie sahen mich wieder an und antworteten: »Ja, eine sonderbare Geschichte!« Sie sprachen diese Worte, wie ich nicht anders sagen kann, in einem höflichen, aber doch in einem grausam abwehrenden Ton. In dem Glauben, daß Sie, während Sie mit mir sprachen, den verlorenen Diamanten bei sich verborgen hielten, reizte mich Ihre Kälte so sehr, daß ich in der Aufregung des Augenblicks kühn genug wurde, Ihnen einen Wink zu geben. Ich sagte: »Sie werden den Diamanten nie finden, Herr, nicht wahr? Nein, weder den Diamanten noch die Person, die ihn genommen hat, dafür möchte ich einstehen.« Ich nickte und lächelte Ihnen dabei zu, als wollte ich sagen: »Ich weiß Bescheid.« Dieses Mal sahen Sie mich mit einem Ausdruck von Interesse im Blick an, und ich fühlte, daß es nur noch weniger Worte zwischen uns bedürfen würde, um die Wahrheit herauszubringen. Aber gerade in diesem Augenblick verdarb mir Herr Betteredge das ganze Spiel, indem er sich vor der Thür hören ließ. Ich kannte seinen Tritt und wußte, daß es gegen die von ihm aufrecht erhaltene Hausordnung verstoße, daß ich um diese Tageszeit in der Bibliothek war —— gar nicht davon zu reden, daß ich dort mit Ihnen allein war. Ich hatte noch eben Zeit, aus freien Stücken hinauszugehen, bevor er herein kommen und mich fortgehen heißen konnte Ich war zornig und enttäuscht, aber bei alledem nicht ohne Hoffnung. Das Eis war, wie Sie sehen, zwischen uns gebrochen und ich nahm mir vor, das nächste Mal Acht zu geben, daß Herr Betteredge mir nicht im Wege sei.

»Als ich in das Domestikenzimmer zurückkam, wurde eben zum Mittagessen für uns geläutet. Schon Nachmittag und ich hatte noch nichts zur Anfertigung des neuen Nachthemds besorgt! Es gab nur eine Möglichkeit, mir die Zeit zu verschaffen, die nöthigen Dinge zu kaufen. Ich mußte mich bei Tische unwohl stellen, um bis zur Theestunde ungestört zu bleiben.

»Was ich that, während das Haus mich in meinem Zimmer krank zu Bette liegend glaubte, und wie ich die Nacht zubrachte nachdem ich mich beim Thee wieder unwohl gestellt hatte und auf mein Zimmer geschickt worden war, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Sergeant Cuff hat, wenn nicht mehr, doch das wenigstens vollkommen richtig herausgefunden. Und ich kann mir auch sehr wohl denken wie. Ich wurde, obgleich ich meinen Schleier herabgelassen hatte, im Laden des Leinenhändlers in Frizinghall erkannt. Hinter dem Ladentisch, wo ich das Zeug kaufte, befand sich mir gegenüber ein Spiegel, und in diesem Spiegel sah ich wie einer der Ladendiener auf meine Schulter deutete und dabei einem andern etwas zuflüsterte. Und in der Nacht, wo ich in meinem Zimmer eingeschlossen, im Geheimen bei meiner Arbeit saß, hörte ich vor meiner Thür das Athmen der Mädchen, die mich belauerten.

»Es war mir schon damals einerlei und ist mir auch jetzt einerlei. Am Freitag Morgen, viele Stunden ehe Sergeant Cuff das Haus betrat, war das neue Nachthemd, das die Stelle des von mir fortgenommenen vertreten sollte, gewaschen, getrocknet, geplättet, gezeichnet und gefaltet, wie die Waschfrau alle übrigen zu falten pflegte, sicher in Ihrem Schrank. Ich brauchte nicht zu fürchten, daß, wenn die Wäsche im Hause untersucht würde, mich die Neuheit des Zeuges verrathen konnte. Alle Ihre Wäsche war, als Sie vermuthlich unmittelbar nach Ihren Reisen in’s Ausland zu uns in’s Haus kamen, neu angeschafft gewesen.

»Das nächste Ereigniß war die Ankunft des Sergeanten Cuff, und die nächste große Ueberraschung war die Ankündigung dessen, was er als seine Ansicht über den Farbenfleck an der Thür kundgegeben hatte.

»Ich hatte Sie, wie ich eben gestanden habe, für schuldig gehalten, mehr, weil ich wünschte, daß Sie schuldig sein möchten, als aus irgend einem andern Grunde. Und nun war der Sergeant auf einem ganz andern Wege zu demselben Schlusse gelangt, wie ich! Und ich war im Besitz des Kleidungsstückes welches den einzigen Beweis gegen Sie bildete, ohne daß ein Mensch, Sie selbst mit einbegriffen, eine Ahnung davon hatte! Ich scheue mich, Ihnen zu sagen, was ich empfand, als ich mir diese Umstände vergegenwärtigte —— Sie würden meinem Andenken später für immer fluchen!«

Bei dieser Stelle blickte Betteredge von dem Briefe auf.

»Nicht der kleinste Lichtschimmer bis jetzt, Herr Franklin,« sagte der alte Mann, indem er seine schwere Schildpatt-Brille abnahm und Rosanna Spearmann’s Bekenntniß mit der Hand ein wenig wegschob. »Haben Sie sich, während ich gelesen habe, irgend eine Ansicht gebildet, Herr Franklin?«

»Lesen Sie erst zu Ende, Betteredge, vielleicht kommt noch etwas, was uns auf die rechte Spur leiten kann Nachher werde ich Ihnen ein paar Worte zu sagen haben.«

»Sehr wohl, Herr Franklin Ich will nur meinen Augen einen Augenblick Ruhe gönnen und dann fortfahren. Inzwischen, Herr Franklin —— ich möchte Sie nicht drängen ——, aber haben Sie ein Bedenken, mir mit einem Wort zu sagen, ob Sie schon einen Ausweg aus diesem schrecklichen Wirrsal sehen?«

»Ich sehe meinen Rückweg nach London,« sagte ich, »um Herrn Bruff zu consultircn. Wenn der mir nicht helfen kann ——«

»Nun, dann?«

»Und wenn der Sergeant nicht aus seiner Zurückgezogenheit aus Dorking hervortreten will ——«

»Das will er nicht, Herr Franklin.«

»Dann, Betteredge, bin ich, so weit ich bis jetzt sehe, mit meinem Latein zu Ende. Außer Herrn Bruff und dem Sergeanten weiß ich kein lebendes Wesen, daß mir bei dieser Sache von dem geringsten Nutzen sein könnte.«

Als ich eben diese Worte gesprochen hatte, klopfte Jemand von außen an die Thür des Zimmers.

»Herein!« rief Betteredge verdrießlich, »wer es auch sein mag!«

Die Thür öffnete sich und herein trat geräuschlos der wunderlichst aussehende Mensch, den ich je gesehen habe. Nach seiner Gestalt und seinen Bewegungen zu schließen, war er noch jung. Nach seinem Gesicht schien er, verglichen mit Betteredge, der ältere zu sein. Seine Hautfarbe war von zigeunerhafter Dunkelheit, seine fleischlosen Backen bildeten tiefe Löcher, welche die Backenknochen wie ein Wetterdach überragten. Seine Nase war von der typisch feinen Art, wie sie so oft bei den alten Völkern des Orients und so selten bei den neueren westlichen Racen gefunden wird; seine Stirn erhob sich hoch und gerade über die Augenbrauen; sein Gesicht war mit unzähligen Runzeln bedeckt. Aus diesem sonderbaren Gesicht blickten Einen noch sonderbarere Augen vom sanftesten Braun, träumerisch und traurig, tief aus der Augenhöhle an und fesselten gebieterisch unsere Aufmerksamkeit. Dazu nehme man dickes, gelocktes Haar, welches durch ein eigenthümliches Spiel der Natur seine Farbe in der auffallendsten Weise an einigen Stellen verloren hatte. Oben auf dem Kopf war es noch von dem tiefen Schwarz welches seine natürliche Farbe zu sein schien, an den Seiten des Kopfes aber war es, ohne den leisesten, den außerordentlichen Contrast vermittelnden Uebergang, vollkommen weiß. Zwischen beiden Farben fand sich keine bestimmte Grenzlinie; an einigen Stellen verlor sich das weiße Haar in das schwarze, an andern das schwarze in das weiße. Ich sah den Mann mit einer Neugierde an, die ich —— ich schäme mich, es zu gestehen —— zu beherrschen ganz unfähig war. Seine sanften braunen Augen erwiderten milde meinen Blick und er begegnete der unfreiwilligen Indiscretion, mit der ich ihn anstarrte, mit einem Ausdruck gütiger Nachsicht, den ich nicht verdient zu haben mir vollkommen bewußt war.

»Ich bitte um Vergebung,« sagte er, »ich wußte nicht, daß Herr Betteredge beschäftigt sei.« Er nahm einen Streifen Papier aus der Tasche und überreichte ihn Betteredge. »Die Liste für nächste Woche,« sagte er. Seine Augen ruhten wieder auf mir und er verließ das Zimmer so ruhig wieder, als er es betreten hatte.

»Wer ist das?« fragte ich.

»Herrn Candy’s Assistent,« sagte Betteredge »Beiläufig, Herr Franklin, es wird Ihnen leid sein zu hören, daß der kleine Doctor sich von der Erkältung, die er sich bei dem Geburtstagsdiner zugezogen, nie wieder erholt hat. Es geht ihm soweit ganz gut, aber er hat im Fieber sein Gedächtniß verloren und nur die dürftigsten Reste davon übrig behalten. Sein Assistent hat die ganze Praxis zu versehen; aber es giebt jetzt, außer bei den Armen, eben nicht viel zu thun Die armen Leute, wissen Sie, haben keine Wahl, sie müssen sich den Mann mit dem scheckigen Haar und der Zigeunerhaut gefallen lassen oder jeder ärztlichen Hilfe entbehren.«

»Sie scheinen den Mann nicht zu mögen, Betteredge?«

»Kein Mensch mag ihn leiden, Herr Franklin.«

»Und warum?«

»Sehen Sie, Herr Franklin, schon sein Aussehen spricht gegen ihn. Und dann erzählen die Leute, daß er einen sehr zweifelhaften Ruf hatte, als er zu Herrn Candy kam. Kein Mensch weiß, wer er ist, und er hat keinen Freund in der ganzen Gegend. Wie kann man ihn da mögen?«

»Natürlich ganz unmöglich! Darf ich fragen, was er von Ihnen wollte, als er Ihnen das Stück Papier gab?«

»Mir nur die Wochenliste der Kranken hier in der Gegend bringen, die etwas Wein brauchen. Mylady hatte immer die Gewohnheit, guten alten Portwein und Sherry unter die kranken Armen vertheilen zu lassen, und Fräulein Rachel wünscht, daß diese Gewohnheit beibehalten werde. Die Zeiten haben sich geändert. Ja, ja, die Zeiten haben sich geändert! Ich erinnere mich der Zeit, wo Herr Candy meiner Herrin selbst die Liste brachte. Jetzt bringt mir Herrn Candy’s Assistent die Liste. Und nun will ich den Brief weiter lesen, wenn? Ihnen recht ist, Herr Franklin,« sagte Betteredge indem er Rosanna Spearmann’s Bekenntnisse wieder in die Hand nahm. »Er ist wahrhaftig nicht leicht zu lesen, aber er hält mir die trüben Gedanken an die Vergangenheit vom Leibe.« Betteredge setzte seine Brille wieder auf und schüttelte traurig mit dem Kopf. »Es hat seinen Grund, daß wir uns so ungebärdig gegen unsere Mütter betragen, wenn sie uns in die Welt setzen. Alle kommen wir mehr oder weniger ungern auf die Welt und wir haben Alle Recht.«

Herrn Candy’s Assistent hatte einen zu starken Eindruck auf mich hervorgebracht, als daß ich den Gedanken an ihn sogleich wieder hätte loswerden können. Ich ließ die letzte unwiderlegliche Aeußerung der Betteredge’schen Philosophie auf sich beruhen und brachte das Gespräch noch einmal auf den Mann mit dem scheckigen Haar.

»Wie heißt der Mann?« fragte ich.

»Sein Name ist so häßlich wie möglich,« antwortete Betteredge kurz. »Ezra Jennings!«


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