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Nicht aus noch ein



Dritter Act

Im Thal.

Es war um die Mitte des Monats Februar, als sich Vendale und Obenreizer auf den Weg machten. Der Winter war hart und das Wetter schlecht, so schlecht, daß unsere beiden Reisenden die großen Hotels in Straßburg leer fanden und die wenigen Menschen, welche in Geschäften Von England und Paris gekommen waren, um in das Innere der Schweiz zu gehen, sich anschickten wieder umzukehren. Viele von den Schweizer Bahnstrecken, über welche Touristen heut zu Tage leicht hin weggleiten, waren damals theilweise noch nicht im Gebrauch. Einige waren noch nicht angefangen, andre noch nicht vollendet. Auf bereits eröffneten befanden sich noch immer lange unfertige Strecken, auf denen im Winter die Verbindung stockte, andre wiesen schadhafte Stellen auf, die nicht sicher und nur bei hartem Frost, wieder andre, die nur bei schnellem Abthauen zu passieren waren. Der Abgang der Züge auf den letzterwähnten war in der jetzigen schlechten Jahreszeit nicht zu berechnen. Er hing vom Wetter ab oder unterblieb während der Monate, die für die gefährlichsten erachtet wurden, gänzlich. In Straßburg liefen mehr Geschichten in Bezug auf die Schwierigkeiten der Wege um, als es Reisende gab, die sie erzählen konnten. Viele dieser Geschichten waren so abenteuerlich wie der gleichen Geschichten zu sein pflegen, aber die an Wundern bescheidener auftraten, erhielten einen gewaltigen Nachdruck durch den Umstand daß die Leute wirklich umkehrten. Da indessen der Weg nach Basel offen stand, so blieb Vendale’s Entschluß vorwärts zu dringen unerschüttert. Obenreizers Entschluß war natürlich der Vendale’s, in der verzweifelten Lage, in welcher er sich befand. —— Er war verloren oder mußte den Beweis, den Vendale mit sich führte, vernichten und wenn er Vendale mit vernichten sollte.«

Die Gesinnungen, welche die beiden gemeinsam Reisenden gegeneinander hegten, waren folgende: Obenreizer, durch Vendale’s schnelles Handeln von der über ihm schwebenden Entdeckung umgarnt, gewahrte, wie durch Vendale’s Energie sich das Netz, mit jeder Stunde näher und näher um ihn spann. Er haßte seinen Verfolger mit der vollen Leidenschaft eines wüthenden, listigen und niedrigen Thieres. Er hatte immer instinctive Abneigung gegen ihn gefühlt, vielleicht wegen des alten Unterschiedes vom Edelmann und Bauer, vielleicht wegen Vendale’s offener Natur, vielleicht weil Vendale hübscher war, als er, vielleicht wegen Vendale’s Erfolges bei Marguerite, vielleicht wegen aller dieser Gründe zusammen, von denen die beiden letzten nicht die unerheblichsten waren. Jetzt sah er in ihm den Jäger, der ihn niederschießen wollte. Vendale, aus der andern Seite, rang großmüthig mit dem Gefühl des unbestimmten Mißtrauäns gegen Obenreizer, und empfand jetzt doppelt die Verpflichtung, es niederzukämpfen. Er erinnerte sich unaufhörlich daran: »Er ist Marguerites Vormund. Wir stehen in vollkommen gutem Einvernehmen miteinander; er ist auf seinen eigenen Vorschlag mein Begleiter und ihn können keine selbstsüchtigen Beweggründe antreiben, die unerfreuliche Reise mitzumachen.« Dieser günstigen Stimmung für Obenreizer wurde durch einen Zwischenfall noch mehr Vorschub geleistet, als die Reisenden nach einer Fahrt, die mehr als zweimal so lange gewährt hatte, wie im Durchschnitt ihre Dauer zu sein pflegte, in Basel eintrafen.

Sie hatten ihr Diner spät eingenommen und befanden sich in dem Zimmer eines Gasthauses welches unmittelbar über dem Rhein gelegen wert, der hoch angeschwollen unter dem Fenster vorbei schäumte. Vendale hatte sich auf ein Sopha ausgestreckt; Obenreizer ging im Zimmer auf und nieder. Jetzt stand er am Fenster still und betrachtete den Wiederschein der sich im dunkeln Wasser spiegelnden Lichter, von ungefähr denkend: »Wenn ich ihn hineinstürzen könnte!« Dann fuhr er fort im Hin- und Wiedergehen, mit fest auf den Boden gehefteten Augen:

»Wo soll ich ihn berauben, wenn ich kann? Wo soll ich ihn morden, wenn ich muß?« So, als Obenreizer das Zimmer durchmaß, rauschte der Fluß. Die Last, die den Sinnenden drückte, wuchs zuletzt so gewaltig, daß er es für gerathen, erachtete, seinem Gefährten etwas von derselben aufzubürden.

»Der Rhein rauscht heute Abend,« sagte er lächelnd, »wir der alte Wasserfall in meiner Heimath. Der Wasserfall, den meine Mutter Reisenden zeigte, ich habe Ihnen früher davon erzählt. Der Ton desselben wechselte mit dem Wetter, wie der Ton aller fallenden und fließenden Wasser. Als ich bei dem Uhrrnacher in der Lehre war, erinnere ich mich, daß er mir ganze Tagelang zuraunte: »Wer bist Du, armer Elender? Zu andern Zeiten, wenn sein Ton hohl war und der Sturm vom Paß herunter wehte, sprach er: »Zu! zu! zu! Schlag ihn! schlag ihn! schlag ihn! Wie meine Mutter: in der Wuth that —— wenn sie überhaupt meine Mutter war.«

»Wenn sie es war?« sagte Vendale, nach gerade sich aus seiner liegenden Stellung zu einer sitzenden aufrichtend. »Wenn sie es war? Warum sagen Sie »wenn?«

»Was weiß ich?«« erwiderte der Andere, nachlässig seine Hände hebend, um sie niederfallen zu lassen, wie sie wollten. »Was fragen Sie? Ich bin von so niederer Herkunft, daß ich für nichts gutsagen kann. Ich war sehr jung, während die ganze übrige Familie aus erwachsenen Männern und Frauen bestand. Auch meine sogenannten Eltern waren alt. In einem Fall wie der vorliegende ist Alles möglich.«

»Hegen Sie irgend einen Zweifel ——«

»Ich habe Ihnen schon früher gesagt, daß ich daran zweifle, daß meine Eltern überhaupt verheirathet waren,« erwiderte Obenreizer mit einer wegwerfenden Handbewegung, als wolle er den Gegenstand des Gespräches ebenfalls wegwerfen. »Aber ich bin geschaffen und stamme aus keiner feinen Familie. Was thut das zur Sache.«

»Sie sind wenigstens ein Schweizer,« sagte Vendale, das Hin- und Hergehen des Andern mit den Augen verfolgend.

»Kann ich es wissen?« erwiderte Obenreizer und hielt seine Schritte ein, um über die Schulter zurück zusehen. »Ich sage auch zu Ihnen, Sie sind wenigstens ein Engländer, aber können Sie es wissen?«

»Es ist mir von Kindheit an erzählt worden.«

»Ach, das ist auch bei mir der Fall.«

»Und,« fügte Vendale hinzu, den Gedanken verfolgend, den er nicht zurückdrängen konnte, »meine frühesten Erinnerungen leiten mich darauf.«

»Die meinigen auch —— wenn das genügt«

»Genügt es Ihnen nicht?«

»Es muß. In dieser kleinen Welt giebt es kein zweites solches Ding wie das Muß. Es muß. Nur zwei kurze Worte, aber stärker, als die längsten Beweise oder Vernunftgründe.«

»Sie und der arme Wilding sind in demselben Jahre geboren. Sie waren in einem Alter,« sagte Vendale ihm wieder gedankenvoll nachsehend, als er in seinem Auf- und Niedergehen fortfuhr:

»Ja, in einem Alter.«

Konnte Obenreizer der Mann sein, den sie suchten? War in dem Zusammenwirken von Thatsachen, war in der so oft angeführten Theorie über die Kleinheit der Welt noch ein feinerer Sinn verborgen, den er nicht geahnt hatte? War jener ihm mitgetheilte Schweizer Brief nur darum so unmittelbar nach den von Mrs. Goldstraw gemachten Enthüllungen in Betreff des adoptirten Knaben eingetroffen, weil Obenreizer dieser nun zum Mann erwachsene Knabe war? Warum sollte das nicht sein, in einer Welt, die noch so viel unerforschte Tiefen aufweist? Der Zufall oder das Schicksal —— nenne man es wie man will —— hatte Obenreizer und Vendale einander immer wieder zugeführt, hatte ihre Bekanntschaft vermittelt, hatte dieselbe in vertrauten Umgang verwandelt und hatte sie am heutigen Winterabend hier zusammen gebracht. Das war kaum weniger merkwürdig. Unter dem oben gedachten Licht betrachtet, schien es, als ob sie beide gemeinsam und ununterbrochen auf ein ihnen bekanntes Ziel hinarbeiteten.

Vendale’s aufgescheuchte Gedanken verstiegen sich hoch, während seine Augen dem Auf- und Niedergehen Obenreizers sinnend folgten; der Fluß aber rauschte immer in demselben Tone: »Wo soll ich ihn berauben, wenn ich kann? Wo soll ich ihn morden, wenn ich muß? Das Geheimniß des todten Freundes war nicht in Gefahr über Vendale’s Lippen zu kommen. Sein Freund war der Wucht, desselben erlegen und als dessen Nachfolger empfand er ebenfalls, wenn auch in anderer Weise, die Schwere des in ihn gesetzten Vertrauens und die Verpflichtung blieb ihm immer gegenwärtig, jeder Spur nachzuforschen, wie verworren sie auch sein möge. Er fragte sich, ob er wünschen würde, daß dieser Mann der richtige Wilding sei. Nein. Kämpfte er sein Mißtrauen auch so gut er konnte nieder, so war es ihm unmöglich. diesen Nachfolger an die Stelle des redlichen, offenen, kindlichen Wilding zusehen. Er fragte sich, ob er das Reichwerden des Mannes wünschen würde? Nein. Er hatte schon so genug Macht über Marguerite und Reichthum könnte ihm noch mehr verleihen. Würde er es wünschen, daß Margueritas Vormund in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zu derselben stände? Nein. Aber das waren Betrachtungen, welche sich zwischen ihm und der Treue für den Verstorbenen drängten. Möge er auf seiner Hut sein, daß sie nichts anderes in seinem Sinn hinterlassen, als das Bewußtsein, daß er sie gedacht, und möge er der heiligen Pflicht, die er übernommen hat, eingedenk bleiben. Und das war er, denn er folgte dem Gefährten, der immer noch mit seinen Schritten das Zimmer durchmaß, mit freundlichen Augen. Er glaubte ihn im Nachdenken über die eigene dunkle Geburt versenkt und ahnte nicht, daß er über eines andern Menschen —— und welches Menschen —— gewaltsamen Tod nachgrübelte.

Der Weg von Basel nach Neuschatel erwies sich besser, als man ihn geschildert hatte. Das Wetter war günstig, Führer mit Pferden und Maulthieren trafen Abends nach dem Dunkelwerden ein und berichtetem daß sich ihnen keine weiteren Schwierigkeiten in den Weg gesteckt hätten als Prüfungen der Geduld. des Geschirrs der Räder, Achsen und Peitschenschnüre. Wagen und Pferde wurden sogleich gemiethet und ausbedungen, daß morgen früh vor dem Grauen des Tages aufgebrochen werden solle.

»Schließen Sie Ihre Thür in der Nacht zu?« fragte Obenreizer, der an dem Holzfeuer in Vendales Zimmer sich die Hände wärmte, ehe er sich zurückzog.

»Nein. Ich schlafe zu fest.«

»Schlafen Sie fest?« fragte Obenreizer, ihn bewundernd ansehend. »Welcher Segen!«

»Nichts weniger wie ein Segen für diejenigen im Hause,« entgegnete Vendale, »welche mich Morgens an meiner Schlafstubenthür herausklopfen sollen.«

»Ich schließe meine Thür auch nicht,« sagte Obenreizer. »Aber lassen Sie sich rathen von einem Schweizer, der Bescheid weiß: Wenn Sie in meinem Vaterlande reisen, thun Sie Ihre Papiere —— und natürlich auch Ihr Geld —— unter Ihr Kopfkissem Immer an denselben Platz.«

»Sie schmeicheln Ihren Landsleuten nicht,« lachte Vendale.

»Meine Landsleute,« sagte Obenreizer mit einer leichten Berührung der Ellenbogen seines Freundes zum Segenswunsch für die Nacht, »sind, vermuthe ich, wie die meisten Menschen und die meisten Menschen nehmen, was sie bekommen können. Adieu! Morgen früh um vier!«

Als sich Vendale allein befand, schob er die Holzscheite zusammen, schüttete die weiße Holzasche darüber, die auf dem Heerde lag und setzte sich, um seine Gedanken zu sammeln. Aber sie flutheten immer noch erregt von dem letzten Gegenstande des Gespräches hin und her und das Fluthen des Stromes trug dazu bei, sie noch mehr aufzuregen. Als er so saß und sann, floh ihn auch der letzte Rest von Müdigkeit, den er gehabt hatte. er fand es nutzlos sich niederzulegen und blieb angezogen am Feuer sitzen. Marguerite, Obenreizer, Wilding das Geschäft, was ihn herführte und tausend Hoffnungen und Zweifel, die nichts damit zu thun hatten, erfüllten seine Seele. Alles Andre schien Macht über ihn zu haben, nur der Schlummer nicht. Die entflohene Neigung zum Schlaf kehrte nicht wieder.

Er hatte lange Zeit in Gedanken vertieft am Heerde gesessen, als die Flamme des tief herabgebrannten Lichtes erlosch. Es hatte nichts zu sagen. Das Feuer leuchtete genug. Er änderte seine Stellung, stützte den Arm auf die Rücklehne des Sessels, legte sein Kinn darauf und dachte weiter.

Er saß zwischen Feuer und Bett und wie das Feuer flatterte im Spiel mit der vom schnell fließenden Strom bewegten Luft, so flatterte sein vergrößerter Schatten an der weißen Bettwand auf und nieder. Seine Stellung sah aus wie die eines Trauernden oder die eines über das Bett gebeugten Weinenden. Seine Augen verfolgten das Bild, bis ihn die unangenehme Einbildung faßte, daß es Wildings Schatten wäre und nicht der seine.

Eine kleine Veränderung in der Stellung mußte das Bild scheuchen. Er machte die Aenderung und das Trugbild seiner Phantasie verschwand. Er befand sich jetzt im Schatten eines kleinen Mauervorsprungs neben dem Feuer und hatte die Zimmerthür vor sich.

Sie war mit einer langen schweren eisernen Klinke versehen. Er bemerkte, wie die Klinke langsam und leise niedergedrückt wurde. Die Thür öffnete sich ein wenig und ging wieder zu, als ob sie nur der Wind bewegt habe, aber er sah deutlich, daß sie aufgeklinkt blieb.

Die Thür öffnete sich zum zweiten Mal ganz leise, bis sie weit genug aufstund, um Jemand einzulassen. Es hatte den Anschein, als ob sie vorsichtig von der andern Seite gehalten würde. Darauf trat die Gestalt eines Mannes herein, der sein Gesicht dem Bett zugewendet hatte und ruhig in der Thür stehen blieb, bis er halblaut, indem er einen Schritt vorwärts that »Vendale!« rief.

»Was nun?« antwortete dieser von seinem Sitz aufspringend. »Wer ist da?«

Es war Obenreizer. Es entfuhr ihm ein Schrei der Ueberraschung, als er Vendale unerwarteterweise aus einer andern Richtung auf sich zukommen sah. »Nicht zu Bett?« sagte er, ihn bei den Schultern ergreifend, als habe er die Absicht mit ihm zu ringen. »Dann ist etwas vorgefallen.«

»Was wollen Sie?« rief Vendale, sich von ihm losmachend. »Vor allen Dingen sagen Sie mir, ob Sie krank sind?«

»Krank? Nein.«

»Ich habe einen bösen Traum gehabt. Weshalb sind Sie auf und angezogen?«

»Mein guter Freund, ich könnte Sie eben so gut fragen: Weshalb sind Sie auf und ausgezogen?«

»Ich habe Ihnen schon gesagt warum? Ich habe einen bösen Traum gehabt. Ich versuchte weiter zu schlafen, aber es war mir unmöglich. Ich konnte mich nicht dabei beruhigen, liegen zu bleiben, ehe ich mich davon überzeugt hatte, daß Ihnen nichts fehle und doch konnte ich mich nicht entschließen, zu Ihnen zu gehen. Ich habe minutenlang an der Thür gezögert. Man kann leicht über einen Tratrm lachen. wenn man ihn nicht selbst geträumt hat. Wo haben Sie Ihr Licht?«

»Es ist niedergebrannt.«

»Ich habe ein ganzes in meinem Zimmer. Soll ich es holen?«

»Thun Sie es.«

Obenreizers Zimmer lag nahe dabei und er blieb nur wenige Sekunden weg. Er kam mit einem Licht in der Hand zurück, kniete nieder vor dem Kamin und zündete es an. Als er damit beschäftigt war, eine glühende Kohle zur Flamme anzublasem bemerkte Vendale, der ihm zusah daß seine Lippen weiß waren und seinem Willen nicht gehorchten.

»Ja,« sagte Obenreizer. »Es war ein böser Traum. Sehen Sie mich blos an.«

Er war baarfuß. Sein rothes Flanellhemde war am Hals zurückgeschlagen und die Aermel desselben bis über die Ellenbogen aufgestreift, das einzige Kleidungsstück, das er sonst noch trug, bestand aus eng anschließenden, bis an die Knöchel reichenden Unterbeinkleidern. Wildheit und Energie bekundete seine Haltung und seine Augen fuinkelten.

»Wenn wirklich ein Ringen mit einem Räuber hier stattgefunden hätte, wie ich träumte,« sagte Obenreizer, »so war ich dazu angethan, wie Sie sehen.«

»Und auch bewaffnet,« sagte Vendale, nach dem Gürtel seines Gefährten blickend.

»Ein Dolch, den ich immer auf der Reise trage,« entgegnete dieser nachlässig denselben mit seiner linken Hand halb aus der Scheide ziehend und wieder zurückstoßend.

»Tragen Sie keinen?«

»Nichts der Art.«

»Keine Pistolen?« fragte Obenreizer, sich nach dem Tisch umsehend und von dort nach dem unberührten Kopfkissen.

»Nichts dergleichen.«

»Was seid Ihr Engländer vertrauensvoll! Sie möchten gern schlafen?«

»Ich hätte die ganze Zeit über gern geschlafen, aber ich kann nicht.«

»Ich auch nicht, seitdem ich den Traum gehabt habe. Mein Feuer ist erloschen, wie Ihre Kerze. Soll ich bei Ihnen bleiben? Zwei Uhr! Vier wird so bald heran kommen, daß es der Mühe nicht mehr lohnt, zu Bett zu gehen.«

»Ich werde mir die Mühe gar nicht nehmen« sagte Vendale. »Es ist mir sehr willkommen, wenn Sie hier bleiben und mir Gesellschaft leisten.«

Obenreizer begab sich in sein Zimmer, um seine Kleider zu ordnen und kehrte bald in einem Mantel und Pantoffeln zurück. Die Gefährten setzten sich zu beiden Seiten des Kamines einander gegenüber. Vendale hatte das Feuer aus dem Holzkorb in seinem Zimmer wieder aufgefrischt und Obenreizer eine Korbflasche und einen Becher, die ihm zugehörten, aus den Tisch gesetzt.

»Gewöhnlicher Wirtshaus-Liqueur, es thut mir leid,« sagte er im Eingießen. »Er ist unterwegs gekauft und nicht so gut wie der in Cripple Cornet. Aber der Ihrige ist ausgetrunken. Um so schlimmer! Eine kalte Nacht, eine kalte Stunde der Nacht, ein kaltes Land und ein kaltes Haus. Es ist besser wie nichts. Versuchen Sie einmal.«

Vendale ergriff den Becher und versuchte.

»Wie schmeckt er Ihnen?«

»Er hat einen starken Nachgeschmack,« sagte Vendale, den Becher mit einem leichter Schauder zurückgebend. »Er behagt mir nicht.«

" »Sie haben Recht,« sagte Obenreizer kostend und die Lippen probierend. »Er hat einen starken Nachgeschmack. Ich mag ihn auch nicht. Puh! wie er brennt!« Er schleuderte den Rest in das Feuer.

Jeder der Männer stützte den Ellenbogen auf den Tisch, lehnte den Kopf in die Hand und sah in die lodern den Flammen. Obenreizer blieb still und wach, Vendale aber, nach eigenthümlichem nervösen Zucken und Aufschrecken und nachdem er einmal sogar aufgesprungen und wild um sich gesehen hatte, verfiel in seltsam verworrene Träumereien. Er trug seine Papiere in einem ledernen Etui in der Brusttasche seines zugeknüpften Reiserockes. Was er auch in der Lethargie, die ihn beherrschte träumen mochte, es rief ihn immer etwas, was mit den Papieren in Beziehung stehen mußte, aus der Traumwelt zurück, obgleich er nicht zum völligen Erwachen gelangte. Er und Marguerite waren auf den russischen Steppen (eine Person, die ihm dunkel blieb, gab der Stelle den Namen) von der Nacht überrascht worden. Und doch war ihm die Berührung seiner Brust von einer Hand und das leise Befühlen des Taschenbuches während er schlafend am Feuer saß, gegenwärtig. Er hatte Schiffbruch gelitten und befand sich in einem offenen Boot auf der See; er hatte alle seine Kleider eingebüßt und nichts sich zu bedecken, als ein altes Segel und doch warnte ihn eine schleichende Hand, welche alle Taschen an den Kleidern, die er gewöhnlich trug, Vergeblich nach Papieren durchsuchte, sich loszureißen von seinen Träumen. Er befand sich in dem alten Kellergewölbe in Cripple Corner. Dasselbe Bett stand darin, welches doch leibhaftig und wirklich in dem Gastzimmer zu Basel war, und Wilding (nicht todt, wie er bis jetzt geglaubt hatte, und er wunderte sich auch nicht darüber) stieß ihn an und flüsterte: »Sieh den Mann! Merkst Du es denn nicht, daß er ausgestanden ist und das Kopfkissen umwendet? Warum sollte er das Kopfkissen umwenden, wenn nicht, um das Papier zu suchen, das Du auf Deiner Brust trägst? Wache auf!« Und doch schlief er weiter und irrte in andere Träume hinüber.

Beobachtend und still mit dem Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand gestützt, sagte sein Gefährte endlich: »Vendale, wir werden gerufen. Es ist vier vorbei.«

Vendale öffnete seine Augen und sah auf das überschattete Antlitz Obenreizers, welches ihm halb zugewendet war.

»Sie sind in einen festen Schlaf verfallen,« sagte Letzterer. »Es ist die Ermüdung vom fortwährenden Reisen und von der Kälte.«

»Ich bin vollständig wach,« rief Vendale aufspringend, doch mit unsicherem Fuß. »Haben Sie gar nicht geschlafen?«

»Ich mag ein wenig geschlummert haben. aber mir ist, als ob ich geduldig das Feuer beobachtet hätte. Ob oder nicht, wir müssen uns waschen und frühstücken und aufbrechen. Vier vorbei, Vendale, vier vorbei!«

Die letzten Worte sagte er in erhobenem Ton, um den Angeredeten zu wecken, der bereits aufs Neue schlief. Auch bei seinen Vorbereitungen, die er für den Tag traf, und beim Frühstück verrichtete Vendale zeitweise Alles mechanisch, während er eigentlich träumend umherging. Erst als sich der dunkle kalte Tag zu Ende neigte, gewann er wieder bestimmtere Eindrücke von der Fahrt. Bis jetzt hatte er nur Schellengeläut, scharfes Wetter, gleitende Pferde, drohende Bergrücken, schwarze Wälder und das Anhalten bei einzelnen Häusern am Wege, um sich zu erfrischen (wo sie einmal durch den Kuhstall gehen mußten, um nach dem darüber liegenden Gastzimmer zu gelangen) dunkel an sich vorübergehen sehen. Ihm war wenig davon in’s Bewußtsein gedrungen, ausgenommen Obenreizers gedankenvolles Wesen, und daß dieser ihn den ganzen Tag über beobachtete.

Als es ihm gelang, seine Narrheit abzuschütteln, befand sich Obenreizers nicht an seiner Seite. Der Wagen hielt vor einem Haus am Wege. Die Pferde wurden gefüttert. Eine Reihe langer schmaler Karten, mit Fässern Wein beladen und von Pferden gezogen, die mit blauem Zeug an Halftern und Kopfgeschirren versehen waren, hielten zu gleichem Zweck hier an. Sie kamen aus der Gegend, nach welcher die Reisenden hinwollten, und Obenreizer, der jetzt nicht gedankenvoll, sondern freundlich und zuthunlich war, befand sich im Gespräch mit dem ersten Karrenführer.

Vendale streckte seine Glieder, das Blut cirkulirte wieder im Körper, und die Lethargie wich von ihm beim schnellen Auf- und Niedergehen in der scharfen Luft. Die Reihe Karten setzte sich in Bewegung: die Karrenführer grüßten Obenreizer alle, als sie an ihm vorüberkamen.

»Wer sind dies« fragte Vendale.

»Unser Kärrner, Leute aus dem Defresnier’schen Geschäft,« erwiderte Obenreizer. »Das waren unsre Weinfässer.« Er sang dabei vor sich hin und zündete sich eine Cigarre an.

»Ich bin heut eine trübselige Gesellschaft gewesen,« sagte Vendale. »Ich weiß selbst nicht, was mir fehlt.«

»Sie haben in der vorigen Nacht nicht geschlafen, da stellen sich öfter Wallungen nach dem Kopf ein, vorzüglich bei solcher Kälte sagte Obenreizer. »Ich habe das vielfältig erlebt. »Was das Schlimmste ist, wir werden unsere Reise umsonst gemacht haben, wie es scheint.«

»Wie so?«

»Das Haus ist in Mailand. Sie wissen. wir haben ein Weingeschäft in Neuschatel und ein Seidengeschäft in Mailand? Nun gut, da Seide plötzlich mächtig vorwärts geht und mehr als Wein, so wurde Defresnier nach MaiIand berufen. Rolland, der andre Compagnom ist seit Defresniers Abreise krank, und die Aerzte haben verboten, Jemand zu ihm zu lassen. In Neuschatel liegt ein Brief für Sie bereit, der Ihnen das Alles mittheilen soll. Ich weiß es von unserem ersten Spediteur, mit dem Sie mich haben sprechen sehen. Er war überrascht, mich hier zu treffen und sagte, er habe den Auftrag, Ihnen die Bestellung zu machen, wenn er Ihnen etwa begegnete. Was werden Sie thun? Wieder umkehren?«

»Weiterreisen,« sagte Vendale.

»Weiterreisen?«

»Ja, weiterreisen. Ueber die Alpen und hinunter nach Mailand.«

Obenreizer hielt im Rauchen ein, um Vendale anzusehen und rauchte dann, langsam fort. Er blickte den Weg hinauf und blickte den Weg hinab, er blickte auch die Steine am Wege an.«

»Mein Geschäft ist ein sehr ernstes,« sagte Vendale. »Mehrere der fehlenden Formulare können bereits zu einem ebenso schlechten oder noch schlimmeren Gebrauch benutzt sein, als dasjenige, welches sich in meiner Hand befindet; ich bin verpflichtet, keine Zeit zu verlieren, da ich dem Hause behilflich sein kann, den Dieb zu entdecken. Nichts soll mich vermögen, wieder umzukehren.«

»Nein?« rief Obenreizer, seine Cigarre aus dem Munde nehmend, um zu lächeln und dem Reisegefährten die Hand entgegenstreckend. »Dann soll auch mich nichts zum Umkehren vermögen. Hoho! Kutscher! Fördert Euch! Schnell! Wir wollen vorwärts!«

Sie fuhren die Nacht hindurch. Es war Schnee gefallen und theilweise hatte es gethaut. Man mußte hauptsächlich einen Fußweg benutzen und oft anhalten, damit die durchnäßten, sich sträubenden Pferde zu Athem kommen konnten. Eine Stunde nach Anbruch des Tages fuhren die Reisenden in das Thor des Gasthauses zu Neuschatel ein, nachdem sie achtundzwanzig Stunden gebraucht hatten, um etwa achtzig englische Meilen zurückzulegen.

Als sie sich eiligst erfrischt und ihre Kleider gewechselt hatten, gingen sie zusammen nach dem Geschäftslokal von Defresnier u. Co. Dort fanden sie den Brief vor, den ihnen der Weinspediteur angekündigt hatte, mit einer Einlage, welche die für die Entdeckung des Fälschers nöthigen Proben zum vergleichen der Handschrift enthielt. Vendales Entschluß vorwärts zu eilen ohne Aufenthalt stand bereits fest, es handelte sich einzig noch darum welchen Paß man wählen sollte, um die Alpen zu überschreiten? Was die beiden Pässe, den St. Goithard und den Simplon anbetraf, so gingen die Aussagen der Führer und Maulthiertreiber weit auseinander, beide Pässe aber waren noch viel zu entfernt, als daß den Reisenden frische Nachrichten darüber zukommen konnten. Ueberdies wußten sie wohl, daß ein Schneefall in kurzer Zeit die genaueste Beschreibung des Weges zu Schanden machen mußte. Aber da im Ganzen die Straße über den Simplon die gangbarste zu sein schien, so beschloß. Vendale dieselbe einzuschlagen. Obenreizer nahm keinen oder wenig Antheil an der Erörterung und gab kaum ein Wort dazu.

Nach Genf. Nach Lausanne. An dem ebnen Uferrand des Sees entlang nach Vevay. Durch das sich zwischen den Fuß der Berge hindurchwindende Thal in das Rhonethal hinein. Die Wagenräder rasselten den Tag hindurch die Nacht hindurch, wie die Räder einer großen Uhr, die die Stunden bezeichnet.

Es trat während der Fahrt kein Wechsel der Witterung ein. Alles war starr gefroren. Die Kette der Alpen hob sich Von einem dunkeln gelblichen Himmel ab. Die Reisenden sahen so viel Schnee auf nahen und fernen Berghöhen, daß ihnen die Reinheit des Sees, des Stromes und Wasserfalls und alle Dörfer farblos und schmutzig erschienen. Aber es fiel weder Schnee noch trat gar Schneetreiben auf ihrem Wege ein. Der dichtere oder leichtere weiße Nebel, der das Thal erfüllte und an Haare und Kleider Eiszapfen hängte, war die einzige wechselnde Erscheinung zwischen ihnen und dem dunklen Himmel. Und bei Tag und bei Nacht rasselten die Räder und rasselten einem von ihnen einen Refrain ins Ohr, der wesentlich verschieden von dem klang, den der Rhein gerauscht hatte: »Die Zeit ist vorbei ihn lebend zu berauben und ich muß ihn morden.«

Endlich gelangten sie in der kleinen armen Stadt Brieg am Fuße des Simplon an. Sie trafen in der Dunkelheit ein und konnten doch noch unterscheiden, wie zwerghaft der Mensch und sein Werk sich ausnehmen gegen die riesigen Berge, die darüber ragen. Hier mußten sie für die Nacht liegen bleiben. Hier gab es Wärme, Feuer, eine Lampe, ein Diner, Wein und viel Hin- und Herreden mit Führern und Maulthiertreibern. Seit vier Tagen war kein menschliches Wesen über den Paß gekommen. Der Schnee über der Schneelinie wurde zu weich für Wagen und nicht hart genug für einen Schlitten erklärt. Es waren außerdem Schneewolken am Himmel. Seit langen Tagen drohten sie dort und es blieb ein Wunder, daß der Schnee noch nicht gefallen war und eine Gewißheit, daß er fallen mußte. Kein Fuhrwerk konnte hinüber. Es war nur möglich die Reise auf Maulthieren oder zu Fuß zu versuchen. Aber die besten Führer mußten genommen und ihnen Preise gezahlt werden, wie sie für gefahrvolle Bergfahrten üblich waren; ob es gelang, die beiden Reisenden hinüberzubringen´oder ob die Nothwendigkeit sie umzukehren zwang, die Preise mußten entrichtet werden. An diesen Verhandlungen nahm Obenreizer durchaus keinen Antheil. Er saß still am Feuer und rauchte bis das Zimmer leer war und Vendale sich an ihn wendete.

»Pah! Die armen Teufel langweilen mich mit ihrem Feilschen,« sagte er statt aller Antwort. »Ueberall dieselbe Geschichte. So treiben sie es jetzt und so trieben sie es, als ich noch ein Bettelknabe war. Wir brauchen sie nicht. Wir brauchen jeder ein Ränzel und jeder einen Alpenstock. Wir brauchen keinen Führer. Wir würden ihn führen, er aber nicht uns. Wir lassen unsere Mantelsäcke hier und gehen zusammen hinüber. Wir sind schon früher auf den Bergen zusammen gewandert und ich bin auf den Bergen geboren. Ich kenne diesen Paß, diese Landstraße auswendig. Verlassen wir die armen Teufel, bemitleiden wir sie und mögen sie mit andern feilschen. Sie dürfen uns nicht mit ihren Versuchen Geld zu ernten aufhalten. Weiter wollen sie doch nichts.«

Vendale, zufrieden alle Streitigkeiten erledigt und den Knoten durchhauen zu sehen, that kräftig, waghalsig, genöthigt vorwärts zu kommen und sehr empfänglich für den letzten Wink, der ihm geworden, willigte sogleich ein. In zwei Stunden hatten sie erstanden, was sit für die Wanderung gebrauchten, hatten ihre Ränzel gepackt und legten sich wiederum zu schlafen.

Bei Tagesanbruch versammelte sich die halbe Stadt in der schmalen Gasse um sie fortwandern zu sehen. Die Leute standen in Gruppen umher und sprachen mit einander. Die Führer und Maulthiertreiber flüsterten für sich und sahen nach dem Himmel; Niemand wünschte ihnen eine glückliche Reise.

Als sie anfingen zu steigen brach ein Sonnenstrahl durch den übrigens unverändert trüben Himmel und verwandelte für einen Augenblick die blanken Spitzen der Kirchthürme des Städtchens zu Silber.

»Eine gute Vorbedeutung!« sagte Vendale (obgleich der Strahl noch während er sprach erlosch). »Vielleicht öffnet unser Beispiel den Paß von dieser Seite.«

»Nein. Es wird uns Niemand folgen,« erwiderte Obenreizer, hinauf zum Himmel und zurück in das Thal sehend. »Wir werden allein da oben sein.«


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