Die Blinde
Erstes Kapitel - Lucilla’s Geschichte von ihr selbst erzählt.
Man wird sich aus meiner Schilderung dessen, was Lucilla bei der ihr ertheilten Unterweisung des Augenarztes im Gebrauch ihrer Augen sagte und that, erinnern daß ihr besonders daran gelegen war, sich die Erlaubniß zu dem Versuch zu erwirken, wie sie schreiben könne.
Das Motiv, das sie dabei leitete, war das, von welchem ein liebendes Herz immer geleitet wird. Ihr einziger Ehrgeiz besteht darin, sich dem Manne, den sie liebt, selbst in den geringfügigsten Dingen von der vortheilhaftesten Seite zu zeigen. Das war auch Lucilla’s einziger Ehrgeiz Oscar gegenüber.
In dem Bewußtsein, daß ihre bis dahin mühsam und mangelhaft durch ihren Tastsinn geleitete Handschrift einen traurig unvortheilhaften Contrast zu der Handschrift anderer sehender Frauen darbieten müsse, ließ sie nicht ab, Grosse zu bitten, ihr zu erlauben, daß sie »mit den Augen statt mit den Fingern« schreiben lerne, bis es ihr wirklich gelungen war, die Widerstandskraft des würdigen Arztes zu brechen.
Die überraschend schnelle Stärkung ihrer Sehkraft während ihres Aufenthalts an der See, von der ich später erfuhr, ließ es gerechtfertigt erscheinen, daß er ihr nachgegeben hatte. Mit unermüdlicher Ausdauer gelang es ihr, während sie täglich ihre Sehkraft mehr gebrauchen lernte, die große Schwierigkeit, mit den Augen« statt mit dem Gefühl schreiben zu lernen, zu überwinden. Nachdem sie sich anfänglich auf liniertem Papier in Schreibbüchern geübt hatte, kam sie bald dahin, bequem einzelne Worte nach Dictat zu schreiben. Der nächste Fortschritt war, daß sie Billete schrieb und dann, daß sie ein Tagebuch führte, das Letztere nach dem Rath ihrer Tante, welche ihre Jugend in der Zeit vor der Einführung des billigen Briefportos verlebt hatte, wo die Leute Tagebücher führten und lange Briefe schrieben, kurz, wo die Leute Zeit hatten, an sich zu denken, und was noch merkwürdiger ist, auch ihre Gedanken über sich niederzuschreiben.
Lucilla’s in Ramsgate geführtes Tagebuch liegt vor mir, während ich diese Zeilen schreibe.
Ich hatte anfänglich die Absicht, dasselbe in der Art zu benutzen, daß ich den Gang meiner Erzählung ununterbrochen fortsetzen und weiter in eigener Person schreiben wollte, wie ich es bisher gethan habe und — wie ich es wieder zu thun gedenke, wenn ich wieder handelnd auftreten werde.
Nachdem ich mir die Sache aber nochmals überlegt und das Tagebuch wieder durchgelesen habe, halte ich es doch für das Richtigere, Lucilla die Geschichte ihres Aufenthalts in Ramsgate mit ihren eigenen Worten erzählen zu lassen und nur gelegentlich, wo es mir erforderlich erscheint, Bemerkungen hinzuzufügen. Bei diesem Verfahren werde ich, glaube ich, eine größere Abwechselung, Frische und Anschaulichkeit der Darstellung erzielen. Warum sind Geschichtsbücher — mit einigen glänzenden mir wohlbekannten Ausnahmen —, im Allgemeinen eine so langweilige Lectüre? Weil sie die aus zweiter Hand geschriebene Erzählung von Ereignissen enthalten. Nun möchte ich aber alles lieber sein als langweilig. Vielleicht findet der Leser, daß ich bereits langweilig gewesen bin? Einem solchen Urtheil würde ich aber, so wahr ich eine rechtschaffene Frau bin, nicht zustimmen können. Es giebt Leute, die mit einem langweiligen Geist an ihre Lectüre gehen und dann den Schriftsteller für ihre Langeweile verantwortlich machen. Ich sage nichts weiter.
Es bleibt also dabei, daß Lucilla die während meines Aufenthaltes auf dem Continent in Ramsgate vorgefallenen Ereignisse selbst erzählen soll und daß ich mich darauf beschränken werde, hier und da eine mit P. unterzeichnete Anmerkung einzustreuen.
Lucilla’s Tagebuch.
»East-Cliff, Ramsgate, den 28. August.
Heute sind es vierzehn Tage, seit ich hier mit meiner Tante angekommen bin. Ich hatte Zillah schon von London aus nach Dimchurch zurückgeschickt. Ihr Rheumatismus wird der armen Alten in der feuchten Seeluft doppelt beschwerlich.
Mit meinem Schreiben geht es seit acht Tagen etwas besser. Ich kann die Feder leichter bewegen, meine Handschrift sieht doch der eines Kindes nicht mehr ganz so ähnlich. Wenn ich erst Oscar’s Frau bin, werde ich ebenso gut schreiben können wie andere Damen.«
(Anm — Das arme Kind ist sehr genügsam. Ihre verbesserten Schriftzüge sind noch gewaltig schief und krumm. Einige ihrer Buchstaben umarmen sich wie zärtliche Freunde und andere stehen weit auseinander wie bittere Feinde. Ich sage das nicht, um eine Bemerkung über Lucilla zu machen, sondern, um mich zu entschuldigen wenn ich bei der Abschrift ihres Tagebuchs Versehen machen sollte. Nun wollen wir sie fortfahren lassen. P)
»Oscar’s Frau. Wann werde ich Oscar’s Frau sein? Ich habe ihn noch nicht einmal gesehen. Er wird noch durch etwas, ich fürchte durch eine Differenz mit seinem Bruder, auf dem Continent zurückgehalten. Der Ton seiner Briefe hat fortwährend etwas Reserviertes, was mich beunruhigt und mir unerklärlich ist. Bin ich denn ganz so glücklich, wie ich es nach Wiedererlangung meiner Sehkraft zu sein hoffte?
Es ist nicht Oscar’s Schuld, wenn ich dann und wann trübe gestimmt bin; ist meine eigene Schuld. Ich habe meinen Vater beleidigt und fürchte bisweilen, nicht recht gegen Madame Pratolungo gehandelt zu haben. Diese Dinge quälen mich.
Es scheint mein Schicksal zu sein, immer mißverstanden zu werden. Bei meiner plötzlichen Flucht aus dem Pfarrhause wollte ich nicht unehrerbietig gegen meinen Vater handeln. Ich ging fort, weil ich mich ganz unfähig fühlte, der Frau gegenüber zu treten, die ich einst zärtlich liebte — noch liebe, wenn ich an sie denke, wie ich es jetzt wieder thue. Es ist so unerträglich, in dem Bewußtsein, daß man das Vertrauen zu einer Person verloren hat, der man einst unbegrenztes Vertrauen schenkte, dieser Person zu jeder Tagesstunde mit einem freundlichen Gesicht, als ob nichts vorgefallen wäre, begegnen zu müssen. Der Drang, einer ferneren Begegnung mit ihr zu entgehen, wurde, als ich fand, daß sie das Haus verlassen habe, um einen Spaziergang zu machen, unwiderstehlich. Wenn ich mich noch einmal in derselben Lage befände, würde ich dasselbe noch einmal thun. Ich habe das in meinem Briefe an meinen Vater angedeutet und ihm gesagt, daß etwas Unangenehmes zwischen mir und Madame Pratolungo vorgefallen und daß ich nur deshalb so rasch fortgegangen sei. Vergebens! Er hat meinen Brief nicht beantwortet. Ich habe seitdem an meine Stiefmutter geschrieben und aus ihrer Antwort habe ich erfahren, wie ungerecht er sich über meine Tante äußert. Ohne den leisesten Grund ist er noch aufgebrachter gegen meine Tante als gegen mich!
Bei dieser traurigen Entfremdung habe ich einen Trost: soweit ich dabei in Betracht komme, wird sie nicht von Dauer sein. Mit meinem Vater werde ich mich früher oder später sicherlich wieder verständigen. Wenn ich wieder in’s Pfarrhaus zurückkehre, werde ich mich mit ihm aussöhnen, wir werden wieder so gut wie je mit einander auskommen.
Aber wie wird es mit mir und Madame Pratolungo werden? Sie hat meinen Brief nicht beantwortet, ich fange an, zu wünschen, daß ich ihn nicht geschrieben hätte, wenigstens nicht den Schluß. Ich habe seit ihrer Abreise absolut nichts von ihr gehört; ich weiß nicht, wann sie, oder ob sie überhaupt je wieder zu mir nach Dimchurch zurückkehren wird. O, was würde ich darum geben, wenn mir dieses schreckliche Geheimniß aufgeklärt würde, wenn ich wüßte, ob ich vor ihr auf die Knie fallen und sie um Vergebung bitten müßte? Oder ob ich den Tag, an welchem diese Frau meine Gesellschafterin und meine Freundin wurde, zu den traurigsten Tagen meines Lebens zählen muß?
Habe ich voreilig, oder habe ich richtig gehandelt?
Das ist die Frage, die sich mir aufdrängt und mich quält, so oft ich des Nachts aufwache. Ich will doch einmal wieder, wenigstens zum fünfzigsten Male, Oscar’s Brief ansehen.« (Anmerkung: Ich schreibe den Brief hier ab. Andere Augen als die ihrigen werden ihn hier lesen. Es ist natürlich Nugent, der hier unter Oscar’s Namen, an sie schreibt. Der Leser wird sehen, daß die guten Entschlüsse, mit denen er mich verließ, bis Paris vorhielten, dann aber wieder anderen Gefühlen Platz machten, wie sie sich in Folgendem ausgesprochen finden. P.)
»Meine geliebte Lucilla. — Hier in Paris finde ich, seit ich Browndown verlassen habe, den ersten freien Moment, um Dir zu schreiben. Madame Pratolungo hat Dir ohne Zweifel mitgetheilt, daß ich in einer dringenden Veranlassung plötzlich zu meinem — Bruder habe reisen müssen. Ich habe den Ort, wo ich Ihn treffen soll, noch nicht erreicht. Bevor ich zu ihm eile, laß’ mich Dir erzählen, worin jene dringende Veranlassung, die mich von Dir getrennt hat, besteht. Madame Pratolungo erfreut sich nicht mehr meines Vertrauens. Wenn Du etwas weiter gelesen haben wirst, wird sie sich auch des Deinigen nicht mehr erfreuen.
Ach, mein geliebtes Kind, ich, der ich gern mein Leben für Dein Glück hingeben möchte, muß Dich erschrecken, aufregen und betrüben. Ich will mich so kurz wie möglich fassen. Ich habe eine schreckliche Entdeckung gemacht. Lucilla, Du hast Madame Pratolungo als einer Freundin Dein Vertrauen geschenkt Trau’ ihr nicht mehr. Sie ist Deine und meine Feindin.
Ich hatte schon seit einiger Zeit Verdacht gegen sie geschöpft. Mein schlimmster Verdacht hat sich bestätigt.
Längst hätte ich Dir mittheilen sollen, was ich Dir jetzt sage. Aber ich schreckte davor zurück, Dich zu betrüben. Dein liebes Gesicht traurig zu sehen, bricht mir das Herz. Nur entfernt von Dir, wenn sich mir die Folgen einer unterlassenen Warnung bedrohlich darstellen, finde ich den Muth, jener Frau die Maske von ihrem falschen Gesicht zu reißen und sie Dir in ihrer wahren Gestalt zu zeigen. Es ist mir unmöglich, in einem Briefe auf alle Einzelheiten einzugehen; ich behalte mir die Mittheilung aller näheren Umstände bis zu dem Zeitpunkt vor, wo wir uns wiedersehen und bis ich Dir das bieten kann, was Du zu verlangen ein Recht hast, den Beweis, daß ich die Wahrheit rede.
Inzwischen bitte ich Dich, Dich Deiner eigenen Gedanken, Deiner eigenen Worte an jenem Tage zu erinnern, wo Madame Pratolungo Dich im Pfarrhausgarten beleidigte. Bei jener Gelegenheit entfuhr die Wahrheit den Lippen der falschen Französin und sie wußte es!
Erinnerst Du Dich noch dessen, was Du sagtest, als sie Dir nach Browdown folgte? Ich meine, nachdem sie Dir erklärt hatte, daß Du Dich in meinen Bruder verliebt haben würdest, wenn Du ihm zuerst begegnet sein würdest, und nachdem Nugent, offenbar auf ihren Antrieb, Deine Blindheit dazu mißbraucht hatte, Dich glauben zu machen daß Du mit ihm sprächest. Was sagtest Du damals, als Du den Streich aufgefunden hattest und die Dir angethane Beleidigung schmerzlich empfandest?
Du sagtest wörtlich oder doch nahezu wörtlich:
»Sie hat Dich vom ersten Augenblick an gehaßt, Oscar — sie hat es seit seiner Ankunft mit Deinem Bruder gehalten. Heirathe mich nicht in Dimchurch! Laß’ uns einen Ort aufsuchen den sie nicht kennen Sie haben sich Beide gegen Dich und gegen mich verschworen. Hüte Dich, hüte Dich vor ihnen!«
Lucilla! ich wiederhole Dir Deine eigenen Worte; ich richte die Warnung — die prophetische Warnung — an Dich, die Du mir ahnungslos in vergangenen Tagen gegeben hast. »Ich fürchte, mein unglücklicher Bruder liebt Dich, und ich weiß gewiß, daß Madame Pratolungo an ihm eine Interesse nimmt, das sie niemals für mich gefühlt hat. Was Du damals zu mir sagtest, sage ich jetzt zu Dir: sie haben sich mit einander gegen uns verschworen; hüte Dich, hüte Dich vor ihnen!
Wenn wir uns wiedersehen werde ich bereit sein, die Verschwörung zu vereiteln. Bis dahin aber beschwöre ich Dich, so wahr Dir an meinem und Deinem Glück gelegen ist, Madame Pratolungo nicht ahnen zu lassen, daß sie entlarvt ist. Ich glaube sicher, daß sie es ist, welche ein Vorwurf trifft. Ich gehe, wie Du jetzt begreifen wirst, zu einem ganz andern Zweck zu meinem Bruder, als den ich Deiner falschen Freundin zu meiner Entschuldigung genannt habe. Fürchte kein Zerwürfniß zwischen Nugent und mir. Ich kenne ihn, ich werde finden daß er mißleitet worden ist und der Versuchung nicht widerstehen konnte. Ich stehe dafür, daß er jetzt, wo er keinem üblen Einflusse mehr ausgesetzt ist, wie ein rechtschaffener Mann handeln und Deine und meine Verzeihung verdienen wird. Der Grund, den ich Madame Pratolungo als Entschuldigung für mich genannt habe, wird sie abhalten sich in unsere Angelegenheit zu mischen. Das war der einzige Zweck, um dessentwillen ich ihr jenen angeblichen Grund nannte.
Halte mich über Deine und ihre Bewegungen genau au fait. Ich lege eine Adresse ein, an welche Du mit der Gewißheit schreiben kannst, daß Deine Briefe richtig befördert werden.
Ich meinerseits verspreche Dir, fortwährend zu schreiben. Noch einmal, vertraue keiner lebenden Seele das Geheimniß an, welches ich Dir in diesem Briefe enthüllt habe. Du kannst darauf rechnen, daß ich baldigst wieder bei Dir sein werde, um Dich mit der Autorität eines Ehemannes aus den Händen der Frau zu befreien welche uns so grausam betrogen hat. Dein Dich zärtlich liebender Oscar.«
(Anm. — Ich brauche hier nicht länger bei der teuflischen Schlauheit — kein andrer Ausdruck bezeichnet die Sache richtig — zu verweilen welche diesen abscheulichen Brief eingegeben hatte. Man lese im achten und neunten Kapitel des zweiten Bandes nach und man wird sehen wie geschickt er das, was ich in einem Augenblick thörichter Aufregung und was Lucilla in einem Augenblick sagte, als sie ihrer selbst nicht mächtig war, dazu benutzte, mich ihr gegenüber anzuschwärzen. Ahnungslos mußten wir unserem Feinde den Boden bieten auf welchem er sein lügenhaftes Gebäude aufrichtete. Im Uebrigen bedarf es keiner weiteren Erklärung. Nugent beharrt noch immer dabei, sich für seinen Bruder auszugeben. Er erräth leicht den Grund, den ich Lucilla als Entschuldigung für seine Abreise angegeben haben werde und er kommt über die Schwierigkeit der auffallenden Thatsache, daß er den Zweck seiner Reise einer Frau anvertraut habe, der er mißtraut, dadurch hinweg, daß er erklärt, er habe es für nothwendig gehalten mich in Betreff des wahren Zwecks seiner Reife zu täuschen. Aus dem weiteren Inhalt des Tagebuchs wird man sehen, wie geschickt er mit der Maschinerie, welche er durch seinen Brief in Bewegung gesetzt hat, zu arbeiten weiß. Alles was ich hier zur Erklärung hinzuzufügen brauche, ist, daß die Verzögerung seiner Ankunft in Ramsgate, über welche Lucilla sich beklagt, lediglich durch sein Zaudern veranlaßt war. Sein Ehrgefühl war, wie ich später erfahren habe, noch nicht ganz erstorben. Je tiefer er sank, desto verzweifelter rang seine bessere Natur darnach, ihn wieder zu erheben. Nur seine Gewissensbisse konnten ihn in Paris zurückhalten. Ich brauche wohl kaum noch zu bemerken daß er nie über Paris hinauskam und nie den Aufenthaltsort seines Bruders entdeckte, nachdem Lucilla ihn brieflich benachrichtigt hatte, daß ich verreist und sie mit ihrer Tante in Ramsgate sei. Ich bin fertig. Hören wir weiter, was Lucilla zu sagen hat. P.)
»Ich habe Oscar’s Brief noch einmal gelesen. Er ist die Ehrenhaftigkeit selbst; er ist unfähig, mich zu täuschen. Ich erinnere mich. Das. wovon er spricht. freilich nur in einem Augenblick. wo ich außer mir vor Zorn war. gesagt und auch gedacht zu haben. Und doch — sollte es nicht möglich sein, daß der Schein Oscar betrogen hat? O, Madame Pratolungo! Ich hatte eine so hohe Meinung von Ihnen; ich liebte Sie so zärtlich, — ist es möglich, daß Sie der Bewunderung und der Liebe, die Sie mir einst einflößten unwürdig sind?
Ich stimme Oscar darin durchaus bei, daß seinen Bruder kein Vorwurf trifft. Es ist traurig, ja entsetzlich, daß Nugent Dubourg es sich erlaubt hat, sich in mich zu verlieben. Aber ich kann nicht umhin ihn zu bemitleiden; der arme entstellte Mensch, ich hoffe, er wird eine gute Frau finden! Wie er gelitten haben muß!
Ich kann den Zustand der Ungewißheit, in dem ich jetzt lebe, nicht länger ertragen Oscar soll und muß mich mit seinen Worten überzeugen, daß er in Betreff Madame Pratolungo’s Recht hat. Ich werde ihm mit nächster Post schreiben und darauf bestehen daß er nach Ramsgate kommt.
Den 29. August. Ich habe ihm gestern unter der Pariser Adresse geschrieben Mein Brief wird morgen ankommen? Wo mag er sein? Wann wird er ihn bekommen?
(Anm. Dieser unschuldige Brief that seine verhängnißvolle Wirkung. Er machte dem inneren Kampfe, der Nugent bis dahin noch zurückgehalten hatte, ein Ende. An demselben Morgen wo er ihn erhielt, reiste er nach England ab. Hier, was Lucilla darüber in ihrem Tagebuch schreibt. P.)
»Den 31 August, Beim Frühstück erhielt ich ein Telegramm.
Ich bin zu glücklich, um die Hand ruhig halten zu können, ich schreibe schauderhaft. Aber was liegt daran, mir liegt an nichts etwas, außer an meinem Telegramm. (O, welch’ ein edler Geist war der Erfinder der Telegramme!) Oscar ist auf dem Wege nach Ramsgate.«
Zweites Kapitel - Fortsetzung von Lucilla’s Tagebuch.
»Den 1. September. Ich fühle mich heute ruhig genug, um wieder an meinem Tagebuch zu schreiben und mich in Gedanken ein Wenig mit alle dein zu beschäftigen, was ich gefühlt und gedacht habe, seit Oscar hier ist.
Jetzt, wo mir Madame Pratolungo verloren ist, habe ich keinen Freund, mit dem ich meine kleinen Geheimnisse durchsprechen könnte. Meine Tante ist die Güte und Freundlichkeit selbst gegen mich, aber wie kann ich bei einer Frau, die so viel älter ist als ich, die in einer von der meinigen so verschiedenen Welt gelebt hat und deren Ideenkreis von dem meinigen so weit ab zu liegen scheint, wenn ich mit ihr von meinen Thorheiten und Extravaganzen rede, auf Sympathie rechnen? Mein einziger Vertrauter und Freund ist mein Tagebuch; ich kann auf diesen Blättern nur mit mir über mich reden. Ich fühle mich bisweilen recht einsam. Ich sah am Strande zwei Mädchen, die einander alle ihre Geheimnisse erzählten und ich fürchte, ich habe sie beneidet. Nun, mein liebes Tagebuch, wie war mir denn, als Oscar, nach dem ich mich einst gesehnt hatte, endlich kam? Ich muß hier ein schreckliches Bekenntniß ablegen; aber mein Tagebuch liegt verschlossen und ihm darf ich die Wahrheit anvertrauen. Ich hätte weinen mögen, so entsetzlich enttäuscht fühlte ich mich. Nein, enttäuscht ist nicht das rechte Wort. Ich finde keinen Ausdruck. Es gab einen Augenblick — ich wage es kaum niederzuschreiben, es scheint ein so verruchter Gedanke, es gab einen Augenblick, wo ich fast wünschte, wieder blind zu sein. Er umschlang mich mit seinen Armen, er nahm meine Hand in die seinige, wie würde ich in der Zeit meiner Blindheit dabei empfunden haben, welch’ ein entzückender Strom würde mich bei seiner Berührung durchzuckt haben! Nichts der Art empfand ich jetzt. So gering war der Eindruck, den er auf mich hervorbrachte, daß ich, wenn es möglich gewesen wäre, hatte glauben können, er sei Oscar’s Bruder. Später ergriff ich seine Hand und schloß dabei die Augen, um zu versuchen, ob ich mich nicht wieder in den alten Zustand meiner Blindheit versetzen könne. Aber vergebens, die Wirkung war dieselbe. Ich empfand nichts, gar nichts! Sollte es daher rühren, daß er in seinem Benehmen etwas reserviert gegen mich ist? Das ist er nämlich unbestreitbar! Ich empfand es in dem Augenblick, wo er zuerst das Zimmer betrat und empfinde es noch heute. Nein, das ist es nicht. In der ersten Zeit unserer Bekanntschaft, wo wir erst anfingen, uns zu lieben, war er reserviert gegen mich, aber damals machte mir das nichts aus, damals war ich noch nicht das unverständige Geschöpf, das ich seitdem geworden bin. Ich kann mir die Sache nur auf eine Weise erklären, die Wiederherstellung meiner Sehkraft hat ein neues Wesen aus mir gemacht. Ich habe einen neuen Sinn bekommen, ich bin nicht mehr dasselbe Mädchen. Diese große Veränderung muß eine Wirkung auf mich geübt haben, von der ich keine Ahnung hatte, bis Oscar herkam. Sollte ich die Wiedererlangung meiner Sehkraft mit dem Verlust meines Tastsinnes haben erkaufen müssen? Das nächste Mal, wo Grosse herkommt, werde ich ihm diese Frage vorlegen.
Außerdem hatte ich noch eine zweite Enttäuschung; er ist nicht entfernt so schön, wie ich ihn mir in meiner Blindheit vorgestellt hatte. An jenem Tage, wo mir die Binde zuerst von den Augen genommen wurde, konnte ich nur sehr undeutlich sehen. Als ich damals in mein Wohnzimmer stürzte, errieth ich mehr, als daß ich es wußte, daß es Oscar sei. Die grauen Haare meines Vaters und der weibliche Anzug meiner Stiefmutter würden jedem Menschen an meiner Stelle unbedingt dazu verhelfen haben, den richtigen Mann sofort, wie ich es that, zu erkennen. Aber jetzt ist das ganz anders. Ich kann jetzt seine Züge genau sehen und die Folge davon ist, ich würde es Niemand bekennen, daß ich die Wirklichkeit von der Vorstellung, die ich mir in den Tagen meiner Blindheit von ihm gemacht hatte, o so ganz verschieden finde! Das Einzige, worin ich mich nicht enttäuscht finde, ist seine Stimme. Wenn er mich nicht sehen kann, so schließe ich meine Augen und lasse meine Ohren wieder den alten, ach so weit entschwundenen Zauber empfinden. Das also habe ich durch meine Operation und meine Gefangenschaft im dunklen Zimmer erlangt.
Was schreibe ich da? Ich sollte mich schämen! Ist es denn nichts, daß mir jetzt die ganze Schönheit von Land und See, die ganze Pracht der Wolken und des Sonnenscheins offenbar geworden ist? Ist es nichts, daß ich meine Nebenmenschen jetzt sehen, daß ich die munteren Gesichter der Kinder, wenn ich mit ihnen rede, mich anlächeln sehen kann? Aber genug von mir, ich werde unglücklich und undankbar, wenn ich an mich selbst denke.
Ich will jetzt von Oscar schreiben: Er gefällt meiner Tante. Sie findet ihn hübsch und sagt, sein Benehmen sei das eines Gentleman. Das Letztere ist ein hohes Lob aus dem Munde meiner Tante. Sie verachtet die gegenwärtige Generation der jungen Männer. »In meiner Zeit«, sagte sie neulich, »pflegte ich junge Männer zu sehen, jetzt sehe ich nur noch junge Bestien — weiter nichts.«
Oscar seinerseits scheint bei näherer Bekanntschaft auch Geschmack an meiner Tante gefunden zu haben. Als ich ihn zum ersten Mal vorstellte, fiel mir auf, daß er die Farbe wechselte und sehr unbehaglich aussah, er ist bisweilen fast beunruhigend nervös; ich denke mir, das vornehme Wesen meiner Tante machte ihn verlegen.« (Anm. Ich kann hier wirklich eine Bemerkung nicht unterdrücken. Das »vornehmes Wesen« ihrer Tante macht mich elend; es besteht, unter uns gesagt, in nichts Anderem, als einer krummen Nase und einer steifen Schnürbrust. Was Nugent Dubourg verlegen machte, als er die alte Dame zum ersten Male sah, war die Furcht vor einer Entdeckung. Er würde von seinem Bruder habe erfahren können, daß Oscar und Fräulein Batchford sich nie gesehen hatten. Der Leser wird, wenn er sich der früheren Vorgänge erinnert, finden, daß sie sich ganz unmöglich gesehen haben konnten. Aber was Nugent nicht mit derselben Sicherheit zum Voraus wissen konnte, war, daß Fräulein Batchford, von dem, was in Dimchurch vorgefallen war, nichts erfahren hatte. Er konnte sich daher nicht eher sicher fühlen, bis er erst einmal in eigener Person das Terrain sondiert hatte. Die ihm hier drohende Gefahr war sicherlich ernsthaft genug, um selbst einen Nugent Dubourg unbehaglich zu stimmen. Und Lucilla spricht noch von dem »vornehmen Wesen« ihrer Tante, das arme unschuldige Kind! Lassen wir sie weiter reden. — P.)
»Das erste Wort, daß ich, sobald meine Tante uns allein ließ, mit Oscar sprach, bezog sich natürlich auf seinen Brief in Betreff Madame Pratolungo’s. Er machte eine flehende Geberde und sah unglücklich aus. »Warum wollen wir uns die Freude von unserem ersten Zusammensein dadurch vergällen, daß wir von ihr reden?« sagte er. »Es ist so unaussprechlich peinlich für Dich und für mich. Laß uns in den nächsten Tagen darauf zurückkommen. Nur jetzt nicht, Lucilla, jetzt nicht!«
Der Nächste, an den ich dachte, war sein Bruder. Ich war durchaus nicht sicher, wie er es aufnehmen würde, wenn ich von diesem spräche. Trotzdem wagte ich eine Frage. Er machte abermals eine flehende Geberde und sah wieder unglücklich aus.
»Mein Bruder und ich verstehen einander, Lucilla. Er wird für jetzt im Auslande bleiben. Laß uns auch davon nicht weiter reden. Sprich nur von Deinen eigenen Angelegenheiten; — ich möchte wissen, wie es im Pfarrhause aussieht. Ich habe nichts von dort gehört, seit Du mir schriebst, daß Du mit Deiner Tante hier seiest, und daß Madame Pratolungo zu ihrem Vater gereist sei. Geht es Deinem Vater gut? Wird er hierher kommen, Dich zu besuchen?«
Ich mochte ihm nichts von dem Zerwürfniß mit meinem Vater sagen.
»Ich habe von meinem Vater nichts gehört, so lange ich hier bin«, antwortete ich. »Jetzt, wo Du wieder hier bist, kann ich schreiben und Deine Ankunft melden und werde dann Nachrichten ans dem Pfarrhause bekommen.«
Er sah mich mit einem etwas sonderbaren Blick an, der bei mir die Besorgniß erweckte, er möge etwas dagegen haben, daß ich an meinen Vater schreibe.
»Du möchtest wohl, daß Dein Vater herkäme?« sagte er, hielt aber dann plötzlich inne und sah mich wieder an.
»Es ist sehr wenig Aussicht, daß er herkommt«, antwortete ich.
Oscar schien sich merkwürdig für meinen Vater zu interessiren. »Sehr wenig Aussicht?« wiederholte er. »Warum?«
Jetzt war ich genöthigt, von dem Familienzwist zu reden, ich vermied es jedoch immer noch, der ungerechten Art zu gedenken, wie mein Vater sich über meine Tante ausgesprochen hatte.
»Solange ich bei Fräulein Batchford bin« sagte ich, »dürfen wir nicht hoffen, meinen Vater hier zu sehen. Sie stehen auf schlechtem Fuß und ich fürchte, es ist für jetzt keine Aussicht an ihre Versöhnung vorhanden. Hast Du etwas dagegen, daß ich Deine Ankunft hier nach Hause melde?« fragte ich.
»Ich!« rief er mit der Miene des größten Erstaunens. »Wie kommst Du auf den Gedanken? Schreibe doch ja, und lasse mir etwas Platz. Ich möchte Deinem Brief ein paar Zeilen hinzufügen.«
Ich kann nicht sagen, wie sehr ich mich durch seine Antwort erleichtert finde. war ganz klar, daß ich seine Absichten dummer Weise mißdeutet hatte. O, meine neuen Augen! Werde ich mich je auf euch verlassen können, wie ich mich einst auf mein Gefühl verlassen konnte?«
(Anm. Ich muß schon wieder eine Bemerkung machen. Ich würde bei der Abschrift des Tagebuches vor Entrüstung bersten, wenn ich mir nicht bei gewissen Stellen Luft machte. Man bemerke, ehe man weiter liest, wie geschickt es Nugent versteht, sich seiner Stellung in Ramsgate genau zu vergewissern, und man beachte, wie verhängnißvoll sich alle Chancen, daß es ihm gelingen werde, sich unentdeckt für Oscar auszugeben, zu seinen Gunsten vereinigen. Fräulein Batchford ist ihm wie der Leser bereits erfahren hat, ganz ergeben. Sie weiß nicht nur Nichts, sondern sie wirkt auch als Abschreckungsmittel für Herrn Finch, der sonst unfehlbar seine Tochter in Ramsgate besucht und sofort die Verschwörung entdeckt haben würde. Nugent hat sich allem Anschein nach, nach allen Seiten hin völlig gedeckt. Ich bin fort; Oscar ist fort. Frau Finch liegt in ihrer Kinderstube fest vor Anker. Zillah war schon von London aus nach Dimchurch zurückgeschickt. Der Dimchurcher Arzt, welcher Oscar behandelt hatte und der ein fataler Zeuge hätte werden können, ist in Indien, wie sich aus dem dritten Kapitel des zweiten Bandes dieser Erzählung ergiebt. Zu dem Londoner Arzt, den Oscar consultirt hatte, steht er schon längst in durchaus keiner Beziehung mehr. Was endlich Herrn Grosse anlangt, so würde der, wenn er nach Ramsgate kommen sollte, sicherlich aus ärztlichen Gründen seine Augen gegen Alles, was vorgeht, verschließen und die Dinge ruhig ihren Gang gehen lassen, so lange sie nur dem einzigen Interesse dienen, welches er anerkennt, dem Interesse der Gesundheit Lucilla’s. So findet Nugent auf seinem Wege thatsächlich durchaus kein Hinderniß und so giebt es keine Art von Schutz für Lucilla, außer in der innern Stimme, welche nicht müde wird, ihr, wenn auch in einer unbekannten Sprache, zuzuflüstern, daß dieser nicht der Rechte sei. Wird sie diese Stimme, ehe es zu spät ist, verstehen? Aber ich will den Leser mit meinen Expectorationen nicht länger aufhalten. Hören wir weiter, was das Tagebuch sagt. P.)
2. September. — Ein regnigter Tag. Oscar und ich haben sehr wenig mit einander gesprochen, was des Aufzeichnens werth wäre.
Meine Tante, die immer bei schlechtem Wetter in trüber Stimmung ist, hat mich lange in ihrem Wohnzimmer zurückgehalten und sich damit amüsirt, mich Proben meiner Sehkraft ablegen zu lassen. Oscar war speciell dazu eingeladen und half der alten Dame meinen neuen Sinn auf hundert verschiedene Arten auf die Probe zu stellen. Er gab sich die größte Mühe, mich zu vermögen, ihm meine Handschrift zu zeigen. Aber ich weigerte mich. Meine Handschrift bessert sich von Tag zu Tag, ist aber noch nicht gut genug.
Ich bemerke hier, wie entsetzlich schwierig es ist, in einem Fall, wie dem meinigen seine Sehkraft neu üben zu müssen.
Wir haben eine Katze und einen Hund im Hause. Würde man es mir glauben, wenn ich es statt meinem Tagebuche der Welt anvertrauen wollte, daß ich heute positiv die beiden Thiere mit einander verwechselt habe? und das, nachdem ich jetzt so gut sehe und meine Briefe in so wenigen raschen Zügen schreiben kann! Und doch ist es wahr, daß ich die beiden Thiere mit einander verwechselt habe, weil ich mich nur auf meine Augen verlassen hatte, anstatt meinem Gedächtniß, durch mein Gefühl zur Hilfe zu kommen. Ich habe einer Wiederholung dieses Irrthums vorgebeugt. Ich nahm das Kätzchen auf den Arm und schloß die Augen — o, wann werde ich mir das abgewöhnen! — und fühlte ihr sanftes, von Hundehaaren so verschiedenes Fell, öffnete dann die Augen und sicherte mir für alle Zukunft die Erinnerung an dieses Gefühl beim Anblick einer Katze.
Eine heute gemachte Erfahrung hat mich auch belehrt, daß ich langsame Fortschritte in der richtigen Beurtheilung von Entfernungen mache.
Trotz meines mangelhaften Sehens freue ich mich des Gebrauches meiner Augen am meisten bei dem Anblick einer großen weiten Aussicht, wenn ich auch nicht genau angeben kann, wie fern oder wie nah die Gegenstände von mir liegen. Nach meiner langen Blindheit fühle ich mich wie aus dunkler Kerkerhaft befreit, wenn ich den Strand, das kühne Vorgebirge und das gewaltige Meer von unserem Fenster aus betrachte. Aber sobald meine Tante anfängt, mich nach den Entfernungen zu fragen, macht sie mir mein Vergnügen zur Qual. Noch schlimmer ist es, wenn man mich nach der Größe von Schiffen und Booten in ihrem Verhältniß zu einander befragt. Wenn ich ein Boot allein sehe, halte ich es für größer, als es wirklich ist. Wenn ich aber neben dem Boot ein Schiff sehe und dann wieder das Boot in’s Auge fasse, so, verfalle ich sofort in das entgegengesetzte Extrem und halte das Boot für kleiner als es ist. Diese Unbeholfenheit meiner Augen ärgert mich fast ebenso sehr, wie mich vor einiger Zeit meine Dummheit ärgerte, als ich, aus einem oberen Fenster blickend, zum ersten Mal einen mit einem Pferde bespannten Ziehwagen sah und denselben für einen von einem Hunde gezogenen Schubkarren hielt. Zu meiner Entschuldigung erwähne ich, daß ich mir Beides, Hund und Schubkarren, während meiner Blindheit fünfmal so groß vorgestellt hatte, als sie es in Wirklichkeit sind, und das läßt, denke ich, mein Versehen doch am Ende nicht gar so schlimm erscheinen.
So amüsirte ich meine Tante. Und welchen Eindruck brachte ich auf Oscar hervor?
Wenn ich meinen Augen trauen dürfte, so würde ich sagen, die Wirkung auf ihn war eine gerade entgegengesetzte, ich machte ihn melancholisch. Aber ich darf meinen Augen nicht trauen. Sie müssen mich täuschen, wenn sie mir sagen, daß er in meiner Gesellschaft zerstreut, befangen und unglücklich aussah.
Oder sollte er an mir etwas verändert finden? Ich könnte vor Aerger und Wuth über mich selbst weinen. Er ist mein Oscar und ist doch nicht der Oscar, den ich kannte, als ich blind war. Eo sonderbar es klingen mag, damals, als ich es nicht sehen konnte, glaubte ich zu wissen, wie er mich ansehe, jetzt, wo ich sehen kann, frage ich mich, ob es wirklich Liebe, oder ob es etwas anderes ist, was mich aus seinen Augen anblickt? Wie soll ich es wissen? Ich wußte es, als ich mich ganz auf meine Phantasie verlassen mußte; aber jetzt kann ich, ich mag es versuchen wie ich will, die alte Phantasie und die neue Sehkraft nicht in Einklang bringen. Ich fürchte, er sieht, daß ich ihn nicht verstehe. O, du lieber Gott, warum habe ich nicht meinen alten guten Grosse gefunden und bin durch ihn ein neues Geschöpf geworden, ehe ich Oscar’s Bekanntschaft machte, dann würde ich nicht mit den Erinnerungen und Vorurtheilen aus der Zeit meiner Blindheit zu kämpfen haben. Aber ich hoffe und glaube, daß ich mich mit der Zeit an mein neues Selbst und damit auch an meine neuen Eindrücke von Oscar gewöhnen werde, und so wird Alles noch gut werden. Für jetzt ist Alles noch nichts weniger als gut. Als wir heute Nachmittag meiner Tante in’s Eßzimmer hinunterfolgten, umschlang er mich mit seinem Arm und drückte mich zärtlich, aber ich empfand nichts dabei. Noch vor einigen Wochen würde es mich wonnig durchzuckt haben.
Da fällt eine Thräne aufs Papier. Was bin ich doch für eine Närrin! Warum kann ich nicht von etwas Anderem schreiben? Heute habe ich zum zweiten Mal an meinen Vater geschrieben und habe ihm, ohne Notiz davon zu nehmen, daß er meinen ersten Brief unbeantwortet gelassen hatte, Oscar’s Ankunft gemeldet. Die einzige — Art, mit meinem Vater fertig zu werden, ist, keine Notiz von seinem Mißmuth zu nehmen und ihn von selbst wieder gut werden zu lassen. Ich gab Oscar den Brief, auf dem ich für ihn einen Platz frei gelassen hatte. Während er sein Postskriptum schrieb, bat er mich, ihm etwas von oben aus seinem Zimmer zu holen. »Als ich zurückkam, hatte er den Brief versiegelt, ohne mir sein Postskriptum gezeigt zu haben. Er hatte es vergessen. Es war nicht der Mühe werth, den Brief deshalb wieder zu öffnen, er sagte mir, was er geschrieben hatte, und das genügte vollkommen.«
(Anm. Ich muß den Leser mit einer Abschrift dessen behelligen, was Nugent wirklich geschrieben hatte. Man wird, daraus ersehen; warum er Lucilla zum Zimmer hinausschickte und den Brief versiegelte, bevor sie wieder da sein konnte. Das Postskriptum ist auch deshalb bemerkenswerth, weil es im Verlauf meiner Erzählung noch eine Rolle spielen wird.
Nugent schreibt also als Oscar an den Pfarrer in Dimchurch. Die Nachahmung der Handschrift seines Bruders konnte ihm dabei keine Schwierigkeiten machen. Eine täuschende Aehnlichkeit der Handschriften gehörte, wie ich glaube schon erwähnt zu haben, zu den vielen überraschenden Aehnlichkeiten der Zwillingsbrüder.
»Geehrter Herr Finch! Sie werden aus Lucilla’s Brief ersehen haben, daß ich wieder vernünftig geworden bin und ihr wieder als ihr Verlobter meine Huldigungen darbringe. Der Hauptzweck dieser meiner Zeilen ist Ihnen vorzuschlagen, daß wir das Vergangene vergangen sein lassen und thun, als wenn nichts vorgefallen wäre.
Nugent hat sich nobel benommen. Er entbindet mich der gegen ihn übernommenen Verpflichtungen, die ich bei unserer letzten Zusammenkunft in Browndown so voreilig übernommen hatte. In der großmüthigsten Weise hat er sein Madame Pratolungo gegebenes Versprechen erfüllt, meinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen und mich Lucilla wieder in die Arme zu führen. Für jetzt bleibt er noch im Auslande.
Wenn Sie mich mit einer Antwort auf diese Zeilen beehren, so muß ich Sie zur Vorsicht in Betreff dessen, was Sie schreiben, ermahnen; denn Lucilla wird ohne Zweifel Ihren Brief sehen wollen. Vergessen Sie nicht, daß sie nicht anders weiß, als daß ich nach einer kurzen durch die Nothwendigkeit, meinen Bruder auf dem Continente zu treffen, veranlaßten Abwesenheit zu ihr zurückgekehrt bin. Es wird ferner wünschenswerth sein, daß Sie meiner unglücklichen Hautfarbe keine Erwähnung thun. Ich habe mich darüber mit Lucilla verständigt und sie fängt an, sich an mich zu gewöhnen. Aber es bleibt doch immer eine traurige Sache; und je weniger davon gesprochen wird, desto besser.
Ihr ganz ergebener
Oscar.«
Wenn ich hier nicht ein Wort der Erklärung hinzufügte, würde der Leser sich kaum eine richtige Vorstellung von der außerordentlichen Geschicklichkeit machen, mit welcher die Täuschung durch dieses Postskriptum aufrecht gehalten wird. Während es sich wie von Oscar geschrieben darstellt und Nugent berichtet, daß er Alles das gethan habe, was er mir zu thun versprochen hatte, vermeidet er absichtlich die bei Oscar sonst gewöhnliche Höflichkeit der Ausdrucksweise. Das geschieht zu dem Zweck, um Herrn Finch zu beleidigen; in welcher Absicht, wird man gleich sehen. Niemand auf der Welt konnte weniger als der Pfarrer geneigt sein, dem Verlobten seiner Tochter, der dieselbe, wenn auch unter Umständen die eine mildere Beurtheilung zulassen, verlassen hatte, die nöthigen Entschuldigungen und Ausdrücke des Bedauerns zu erlassen. Das kurze hochmütige, »Oscar« unterschriebene Postskriptum war ganz dazu gemacht, die Herrn Finch bereits versetzte Kränkung noch zu verschärfen und es wenigstens wahrscheinlicher zu machen, daß er in Betreff der von ihm kundgegebenen Absicht, die Trauung selbst vorzunehmen, anderen Sinnes werden werde. Was aber würde eintreten, wenn er sich dessen weigern sollte? Ein Fremder, mit Oscar und Nugent gleich unbekannter Geistlicher würde an Herrn Finch’s Stelle die Trauung vollziehen. Jetzt wird der Leser das Postskriptum verstehen; aber selbst die schlauesten Leute vermögen doch nicht immer für alle möglichen Vorkommnisse Vorsorge zu treffen. Die feinst ersonnenen Complotte haben meistens doch eine schwache Seite. Das Postskriptum war, wie der Leser gesehen hat, ein kleines Meisterstück. Gleichwohl setzte es den Schreiber, wie das Tagebuch zeigen wird, einer Gefahr aus, die er ihrem vollen Umfange nach erst erkannte, als es zu spät war. Um keinen Verdacht zu erregen, war er genöthigt gewesen, Lucilla zu erlauben, ihrem Vater seine Ankunft in Ramsgate zu melden; in Folge dessen sah er sich nun der Gefahr ausgesetzt, daß diese wichtige häusliche Nachricht von Herrn Finch oder seiner Frau keiner geringeren Person als mir mitgetheilt werde. Man wird sich erinnern, daß die brave Frau Finch mich beim Abschiede im Pfarrhause gebeten hatte, ihr während meiner Abwesenheit zu schreiben und man wird nach dem von mir gegebenen Wink finden, daß der schlaue Nugent sich bereits auf ein schlüpfriges Terrain begeben hat. Weiter habe ich nichts zu bemerken und lasse nun wieder Lucilla reden. P.)
3. September. Oscar scheint mir in seinem Postskriptum zu meinem Brief etwas vergessen zu haben. Etwa zwei Stunden, nachdem ich denselben aus die Post gesandt hatte, fragte er mich, ob der Brief fort sei. Als ich die Frage bejahte, schien ihm die Sache im ersten Augenblick unangenehm zu sein; aber es war bald wieder vorüber. Es machte nichts aus, sagte er, er könne ja leicht wieder schreiben. »Da wir einmal von Briefen reden«, fügte er hinzu, »glaubst Du, daß Madame Pratolungo Dir schreiben wird?« Diesmal war er es, der zuerst von ihr sprach. Ich sagte ihm, daß nach dem, was zwischen uns vorgefallen, nicht viel Aussicht dazu vorhanden sei, daß sie mir schreiben werde, und versuchte es dann, eine der Fragen in Betreff ihrer an ihn zu richten, die er mich früher einmal gebeten hatte, noch nicht zu berühren. Abermals bat er mich dringend, diesen unangenehmen Gegenstand noch ruhen zu lassen, und doch that er mir sonderbarer, ganz unconsequenter Weise im nächsten Augenblick selbst eine Frage in Betreff desselben Gegenstandes. »Hälst Du es für wahrscheinlich, daß sie während ihrer Abwesenheit von England mit Deinem Vater oder mit Deiner Stiefmutter correspondirt?« fragte er. »Ich glaube schwerlich, daß sie meinem Vater schreiben wird«, erwiderte ich, »aber vielleicht, daß sie mit meiner Stiefmutter correspondirt. « Er dachte einen Augenblick nach und lenkte dann das Gespräch auf unseren Aufenthalt in Ramsgate. »Wie lange wirst Du hier bleiben?« fragte er. »Das hängt von Herrn Grosse ab«, antwortete ich. »Ich will ihn das nächste Mal, wenn er herkommt, fragen.« Plötzlich trat er ans Fenster, als wenn er ein wenig außer Fassung gebracht wäre. »Hast Du Ramsgate schon satt?« fragte ich. Er trat wieder auf mich zu und ergriff meine Hand, meine kalte, gefühllose Hand, die bei seiner Berührung nicht empfinden will, wie sie sollte. »Laß mich erst Dein Gatte sein, Lucilla«, sagte er, »und ich will, wenn Du es wünschest, um Deinetwillen in Ramsgate leben.« So sehr diese Worte geeignet waren, mich angenehm zu berühren, so lag doch, als er sie sprach, in seinem Blick und Wesen ein nicht zu beschreibendes gewisses Etwas, das mich erschreckte. Ich schwieg und er fuhr fort: »Was hindert uns, gleich zu heirathen«, fragte er, »wir sind Beide mündig, wir haben auf Niemand Rücksicht zu nehmen, als auf uns selbst.«
(Anm. Man verändere seine Worte, wie folgt: »Warum wollen wir nicht heirathen, bevor Madame Pratolungo etwas von meiner Heirath in Ramsgate erfahren kann?« und man wird seinen Beweggründen den richtigen Ausdruck gegeben haben. Die Situation nähert sich jetzt mit raschen Schritten ihrem verhängnißvollsten Moment. Nugent’s einzige Chance besteht darin, daß es ihm gelingt, Lucilla zu überreden, ihn zu heirathen, ehe mir etwas von seiner Anwesenheit zu Ohren kommen kann und ehe Grosse sie für hinlänglich wieder hergestellt erklärt, um Ramsgate zu verlassen. P.)
»Du vergissest«, erwiderte ich höchst überrascht, »daß wir auf meinen Vater Rücksicht zu nehmen haben. Es war ja von Anfang an abgemacht, daß er uns in Dimchurch trauen solle.« Oscar lächelte, aber es war durchaus nicht jenes reizende Lächeln, wie ich es mir vorzustellen pflegte, als ich blind war. »Wir werden, fürchte ich, noch lange warten müssen, wenn wir warten wollen, bis Dein Vater uns traute«, sagte er. »Was willst Du damit sagen«, fragte ich »Das will ich Dir sagen«, erwiderte er, »wenn wir das peinliche Capitel in Betreff Madame Pratolungo’s verhandeln.
Glaubst Du inzwischen, daß Dein Vater Deinen Brief beantworten wird?« »Ich hoffe es.« »Und glaubst Du, daß er mein Postskriptum beantworten wird?« »Ganz gewiß wird er das.« Wieder umspielte seine Lippen dasselbe unangenehme Lächeln. Plötzlich brach er die Unterhaltung mit mir ab und setzte sich zu meiner Tante, eine Partie Piquet mit ihr zu spielen. Das Alles trug sich gestern Abend zu Traurig und unbefriedigt ging ich zu Bett. War ich unbefriedigt von Oscar, oder von mir, oder von Beiden? Ich glaube das Letztere.
Heute gingen wir mit einander an der felsigen Küste spazieren. Wie entzückend war es, in der frischen salzhaltigen Luft lustwandeln und sich der köstlichen Aussichten nach allen Richtungen hin zu erfreuen. Auch Oscar schien zu genießen. Im Beginn unsres Spazierganges war er höchst liebenswürdig und ich war verliebter in ihn, als je. Aber auf dem Rückwege trug sich ein kleiner Vorfall zu, der ihn verstimmte und auch meine Laune trübte. Die Sache war folgende: Ich schlug ihm vor, längs des Strandes zurückzukehren, Ramsgate ist noch voll von Gästen und das belebte Treiben an der Küste in den Nachmittagsstunden hat nach meiner langen Blindheit einen Reiz für mich, den es vermuthlich für Leute, die sich immer des Gebrauchs ihrer Augen erfreut haben, nicht hat. Oscar, der einen nervösen Abscheu vor Gedränge hat, und dem jede Berührung mit Leuten, die weniger fein sind als er selbst, zuwider ist, war von meinem Wunsch, mich unter den von ihm so genannten Pöbel am Strande zu mischen, überrascht. Indessen sagte er, er sei bereit, mit mir hinzugehen, wenn ich es besonders wünschte. Ich wünschte es besonders und wir gingen. Am Ufer standen Stühle, wir mietheten zwei solcher Stühle und setzten uns, um uns umzusehen. Ein buntes Leben umgab uns. Affen, Drehorgelspieler, Mädchen auf Stelzen, ein Taschenspieler und ein Trupp singender Neger waren alle beschäftigt, das Publicum zu amüsiren. Mir schien das bunte Farbenspiel und die lärmende Lustigkeit der Menge mit dem schönen blauen Meer vor uns und dem prachtvollen Sonnenschein über uns ein köstliches Schauspiel; ich hatte das Gefühl, als ob zwei Augen längst nicht genug seien, das Alles in sich aufzunehmen. Eine freundliche alte Dame, die neben mir saß, ließ sich in ein Gespräch mit mir ein und bot mir von ihrem Biscuit und Sherry, die sie in ihrer Handtasche bei sich führte, an. Oscar sah zu meinem größten Leidwesen ganz degoutirt aus.
Er fand meine freundliche alte Dame ordinär und nannte die ganze Gesellschaft an der Küste eine Heerde Spießbürger. Während er noch über den Pöbel um uns her brummte, warf er plötzlich einen Seitenblick auf eine Person oder Sache, ich wußte im Augenblick nicht was es war, stand auf und stellte sich so, daß er mir die Aussicht auf die unmittelbar vor mir liegende Promenade abschnitt. Ich hatte zufällig in demselben Augenblick bemerkt, daß sich uns eine Dame in einem Kleide von sonderbarer Farbe näherte und ich stieß Oscar an, sie anzusehen, während sie vor mir vorüberging. » »Warum stellst Du Dich vor mich hin», fragte ich. Noch ehe er antworten konnte, ging die Dame vorüber; sie war in Begleitung von zwei lieblichen Kindern und einem hochgewachsenen Mann. Mein Blick, der zuerst auf die Dame und die Kinder gerichtet war, fiel demnächst auf den Herrn, und ich sah in seinem Gesicht dieselbe schwarzblaue Farbe, welche mich auf dem Gesicht von Oscar’s Bruder erschreckt hatte, als ich damals im Pfarrhause zum ersten Male meine Augen öffnete. Im Augenblick erschrak ich wieder, mehr, glaube ich, über das unerwartete Wiedererscheinen der blauen Hautfarbe auf dem Gesichte eines Fremden, als über die Häßlichkeit dieser Hautfarbe selbst. Ich behielt aber doch Fassung genug, um das Kleid der Dame und die Schönheit des Kindes zu bewundern, bevor ich sie aus dem Gesichte verlor. Oscar sprach mit mir, während ich sie betrachtete, in einem Ton des Vorwurfs, für welchen es, wie mir schien, keine Veranlassung und keine Entschuldigung gab. »Ich wollte Dir den Anblick ersparen«, sagte er, »Du hast es Dir selbst zuzuschreiben, wenn Dich der Mann mit seinem Gesichte erschreckt hat.« »Er hat mich nicht erschreckt«, antwortete ich in ziemlich scharfem Tone. Oscar sah mich sehr aufmerksam an und setzte sich wieder hin, ohne ein Wort weiter zu reden.
Die gutmüthige alte Dame neben mir, die Alles, was vorgegangen war, gesehen und gehört hatte, fing an, mich von dem Herrn mit dem entstellten Gesicht und von der Dame und den Kindern, die ihn begleitet hatten, zu unterhalten. Er sei, sagte sie, ein pensionirter indischer Officier, die Dame sei seine Frau und die beiden schönen Kinder seine Kinder. »Es ist schade, daß ein so hübscher Mann so entstellt ist«, bemerkte meine neue Bekannte, »aber am Ende ist doch nicht viel daran gelegen. Wie Sie sehen, hat er eine hübsche Frau und zwei allerliebste Kinder. Ich kenne die Wirthin des Hauses, wo sie wohnen, und die versichert, daß es in ganz England keine glücklichere Familie giebt. Ein blaues Gesicht scheint also kein so schreckliches Unglück zu sein, nicht wahr, liebes Fräulein?«
Ich stimmte der alten Dame vollkommen bei. Unsere Unterhaltung schien Oscar unbegreiflicher Weise zu verstimmen. Ungeduldig stand er wieder auf und sah nach seiner Uhr.
»Deine Tante wird sich wundern, wo wir bleiben«, sagte er. »Ich denke, Du wirst jetzt von dem Pöbel am Strande genug gehabt haben.«
Ich hatte keineswegs genug gehabt und ich würde gern noch ein bischen länger mit zu dem Pöbel gehört haben. Aber ich sah, daß es Oscar ernstlich verstimmen würde, wenn ich darauf beharrte, noch länger sitzen zu bleiben. So nahm ich den Abschied von meiner lieben alten Dame und verließ ziemlich ungern den Strand.
Er sagte nichts weiter, bis wir uns durch das Gedränge durchgearbeitet hatten. Dann aber kam er, ohne irgend erkennbare Veranlassung, auf den indischen Officier und die Erinnerung an das Gesicht seines Bruders zurück, welche das Gesicht des Fremden in mir erweckt haben müsse.
»Ich begreife nicht, wie Du sagen konntest, der Anblick dieses Mannes habe Dich nicht erschreckt«, sagte er. »Der erste Anblick meines Bruders erschreckte Dich doch furchtbar.«
»Meine Einbildungskraft hatte ihn mir furchtbar vorgemalt, ehe ich ihn gesehen hatte«, antwortete ich. »Nachdem ich ihn einmal gesehen, überwand ich auch bald meinen Widerwillen.«
»So sagst Du!« erwiderte er.
Es hat etwas äußerst Verletzendes wenigstens für mich, sich in’s Gesicht sagen zulassen, daß man etwas behauptet hat, was dem Andern unglaubwürdig erscheint. Es war nicht sehr schicklich, daß ich nach dem, was er mir in seinem Briefe über die Verliebtheit seines Bruders mitgetheilt hatte, dieses Bruders Erwähnung that. Das hätte ich nicht thun sollen, es war aber doch nun einmal geschehen.
»Ich sage, was ich meine«, erwiderte ich. »Bevor ich das von Deinem Bruder wußte, was Du mir mitgetheilt hast, hatte ich mir vorgenommen, Dir um seinet- und Deinetwillen vorzuschlagen, ihn nach unserer Verheirathung mit uns leben zu lassen.«
Oscar stand plötzlich still. Er hatte mir seinen Arm gereicht, um mich durch die Menge zu führen, jetzt zog er denselben zurück.
»Das sagst Du, weil Du böse auf mich bist!« sagte er.
Ich leugnete, daß ich böse auf ihn sei und erklärte wiederholt, daß ich nur die Wahrheit rede.
»Meinst Du wirklich«, fuhr er fort, »daß Du Dich hättest wohl fühlen können, wenn Du das blaue Gesicht meines Bruders zu jeder Tagesstunde hättest vor Augen haben müssen?«
»Ganz wohl, wenn er mir auch ein Bruder hätte sein wollen.«
Oscar deutete auf das, wenige Schritte von uns entfernte Haus, in welchem meine Tante und ich wohnten.
»Hier bist Du dicht bei Eurem Hause«, sagte er, mit zu Boden gesenkten Blicken in einem sonderbar murmelnden Ton. »Ich möchte noch einen längeren Spaziergang machen. Wir treffen uns bei Tische. Damit ging er, ohne ein Wort weiter zu sagen und ohne aufzuschauen.
Also eifersüchtig aus seinen Bruder! Es liegt etwas Unnatürliches und Entwürdigendes in einer solchen Eifersucht. Ich schäme mich, daß ich so etwas von ihm denke. Und doch, wie soll man sein Benehmen anders erklären?
(Anm. Es ist an mir, diese Frage zu beantworten. Lassen wir dem Unglücklichen Gerechtigkeit widerfahren. Die Erklärung seines Benehmen’s hieß in klarem Wort: »Gewissensbisse«. Die einzige Entschuldigung mit der er sein Gewissen über die niederträchtige Rolle, die er spielte, noch beschwichtigen konnte, bestand darin, daß die Entstellung seines Bruders ein verhängnißvolles Hinderniß seiner Verheirathung sei. Und jetzt hatten ihn Lucilla’s eigene Worte und Handlungen belehrt, daß Oscar’s Gesicht für sie kein Hinderniß sein würde, ihn täglich im intimsten Verkehr des häuslichen Lebens um sich zu sehen. Die Qual der Selbstanklagen, die ihm diese Entdeckung bereitete, ließ ihn ihre Nähe meiden. Sein eigener Mund würde ihn verrathen haben, wenn er in jenem Augenblick noch ein Wort weiter mit ihr gesprochen hätte. Was ich hier ausspreche, beruht nicht etwa auf bloßer Vermuthung. Ich weiß, daß es die Wahrheit ist. P.)
»Es ist wieder Abend. Ich bin in meinem Schlafzimmer, aber zu nervös und zu aufgeregt, um zu Bett zu gehen. Ich will die Zeit benutzen, um diesen Bericht über die Ereignisse des Tages zu vollenden.
Oscar kam kurz vor Tisch. Verstört und bleich und so abwesend, daß er kaum zu wissen schien, was er sprach. Keinerlei Erörterung fand zwischen uns statt. Er bat mich um Verzeihung wegen der harten Dinge, die er mir gesagt, und wegen der üblen Laune, zu der er sich mir gegenüber heute Vormittag hatte hinreißen lassen. Ich nahm seine Entschuldigungen bereitwillig an und that mein Bestes, den unbehaglichen Eindruck zu verbergen, den sein abwesend präoccupirtes Wesen auf mich machte. Die ganze Zeit über, während er mit mir sprach, dachte er offenbar an etwas Anderes. Er war dem Oscar, wie er mir aus der Zeit meiner Blindheit vorschwebte, unähnlicher als je. Es war die alte Stimme, die aber in einer mir ganz neuen Weise sprach; ich weiß es nicht anders zu bezeichnen.
Sein Wesen pflegte zwar, wie ich weiß, früher meist ruhig und zurückhaltend zu sein; aber war er so verzweifelt, erschöpft und niedergeschlagen, wie ich es heute gesehen habe? Vergebens frage ich mich darnach. In früheren Tagen konnte ich es nicht sehen und jetzt entsteht mein Urtheil auf so gänzlich anderem Wege, daß es unnütz wäre, meine jetzigen Eindrücke mit den früheren zu vergleichen. O, wie ich Madame Pratolungo entbehre! Welche Erleichterung, welcher Trost würde es für mich gewesen sein, ihr das Alles sagen zu können und zu hören, was sie darauf erwidert haben würde!
Indessen habe ich doch Aussicht, unter allen Umständen in einigen Punkten aufgeklärt zu werden; nur muß ich bis morgen warten. Oscar scheint sich endlich entschlossen zu haben, auf die Erörterungen einzugehen, welchen er bisher immer ausgewichen ist. Er hat mich gebeten, morgen früh allein mit mir sprechen zu dürfen. Die Umstände, die ihn zu dieser Bitte veranlaßten, haben meine höchste Neugierde erregt. Offenbar geht etwas im Geheimen vor, wobei es sich um meine und möglicherweise auch um Oscar’s Interessen handelt.
Bei meiner Rückkehr nach Hause nämlich, nachdem Oscar mich verlassen hatte, fand ich einen mit der Nachmittagspost angekommenen Brief von Grosse vor. Mein lieber euer Doktor kündigte mir seinen Besuch an und fügte in einem Postskriptum hinzu, daß er am nächsten Tage zum zweiten Frühstück eintreffen werde. Ich wußte aus früherer Erfahrung, daß diese Meldung einer Aufforderung an meine Tante gleichkomme, zu leisten, was Küche und Keller zu bieten vermöchten. Ach, du lieber Gott! ich dachte an Madame Pratolungo und ihre Mayonnaise. Wird denn die schöne Zeit nie wiederkehren? Bei Tische meldete ich Grosse’s Besuch und fügte bedeutungsvoll hinzu: »Zum Frühstück.«
Meine Tante sah etwas betroffen von ihrem Teller auf und zwar aus Interesse nicht, wie ich es vermuthet hatte, an der wichtigen Frühstücksfrage, sondern an den Ausspruch, welchen mein ärztlicher Rathgeber über meinen Gesundheitszustand thun werde.
»Ich bin begierig, was Herr Grosse morgen über Dich sagen wird«, fing die alte Dame an. »Ich werde diesmal darauf bestehen, daß er mir einen viel vollständigeren Bericht über Dich erstattet, als er es das vorige Mal gethan hat. Mir scheinst Du völlig wieder hergestellt, liebes Kind.«
»Wünschest Du, daß ich geheilt sei, damit Du fort kannst, liebe Tante?« fragte ich. »Bist Du Ramsgate überdrüssig?«
Die hellen alten Augen meiner Tante funkelten zornig.
»Ich bin es überdrüssig, einen Brief für Dich aufzubewahren«, platzte sie mit dem Ausdruck des Widerwillens heraus.
»Einen Brief für mich?« rief ich aus.
»Ja, einen Brief, den ich Dir erst abgeben soll, wenn Herr Grosse Dich für vollständig wieder hergestellt erklärt hat.«
Oscar der bis dahin nicht das geringste Interesse an der Unterhaltung genommen zu haben schien, hielt plötzlich, im Begriff seine Gabel zum Munde zu führen, inne; wechselte die Farbe und heftete den Blick auf meine Tante.
»Was für einen Brief?« fragte ich.
»Wer hat Dir den gegeben? Warum soll ich ihn nicht sehen, bevor ich ganz wieder hergestellt bin?«
Meine Tante beantwortete diese drei Fragen mit einem dreimaligen halsstarrigen Kopfschütteln.
»Ich hasse Geheimnisse und mysteriöse Geschichten, wie diese«, sagte sie ungeduldig. »Ich sehne mich darnach, es los zu werden. Das ist das Ganze. Ich habe schon zu viel gesagt und werde nun nichts mehr sagen.«
All’ mein Bitten war vergeblich. Meine Tante hatte sich offenbar durch ihre Heftigkeit zu einer Unvorsichtigkeit verleiten lassen. Nachdem ihr aber das einmal widerfahren, war sie jetzt hartnäckig entschlossen, den begangenen Fehler nicht noch schlimmer zu machen. Ich mochte sagen was ich wollte, sie war nicht zu bewegen, irgend etwas Näheres über den geheimnißvollen Brief zu sagen. »Warte, bis Herr Grosse morgen kommt«, das war die einzige Antwort, die ich von ihr erlangen konnte.
Auf Oscar schien dieser kleine Zwischenfall eine Wirkung zu haben, welche die von meiner Tante bei mir erregte Neugierde nur noch steigerte.
Mit athemloser Spannung horchte er auf, während ich meine Tante zu bewegen suchte, meine Fragen zu beantworten. Als ich es aufgeben mußte, schob er seinen Teller bei Seite und aß nichts mehr. Dagegen trank er, der sonst der mäßigste Mensch war, bei Tisch und nachher sehr viel Wein. Abends machte er so viele Versehen beim Kartenspiel mit meiner Tante, daß sie das Spiel sehr ungnädig aufgab. Den Rest des Abends saß er in einer Ecke, angeblich um mir zuzuhören, während ich Klavier spielte, in Wahrheit aber, um sich fernab von meiner Musik und mir tief in seine unbehaglichen Grübeleien zu versenken.
Als er sich verabschiedete, drückte er mir ängstlich die Hand und flüsterte mir die Worte ins Ohr:
»Ich muß Dich morgen allein sprechen, ehe Grosse kommt, kannst Du es einrichten?«
»Ja.«
»Wann?«
»Um elf Uhr bei der Treppe an der Klippe.«
Damit verließ er mich. Aber eine Frage hat mich seitdem unaufhörlich verfolgt. Kennt Oscar den Schreiber des geheimnißvollen Briefes? Ich glaube es sicher. Morgen wird es sich zeigen, ob ich Recht oder Unrecht habe. Wie sehne ich mich nach morgen!«
Drittes Kapitel - Fortsetzung von Lucilla’s Tagebuch
»Den 4. September. »Ich muß den heutigen Tag als einen der traurigsten meines Lebens bezeichnen. Oscar hat. mich Madame Pratolungo in ihrer wahren Gestalt kennen gelehrt. Er hat mir die jammervolles Geschichte so klar gemacht, daß ich mich der Wahrheit seiner Mittheilungen nicht verschließen konnte. Ich habe meine Liebe und mein Vertrauen zu diesem falschen Weibe abgethan; in ihr lebt kein Ehrgefühl, keine Dankbarkeit und keine Delicatesse. Und ich hielt sie einst für — es macht mich elend, daran zu denken! Ich will sie nie wieder sehen.«
(Anm. Wem es nie begegnet sein sollte, sich zum Copiren einer solchen Meinungsäußerung über seinen Charakter genöthigt zu sehen, dem kann ich die Versicherung geben, daß man dabei ganz eigenthümlich empfindet und daß die Versuchung, selbst ein Paar Zeilen hinzuzufügen, fast unwiderstehlich ist. P.)
»Oscar und ich trafen uns verabredetermaßen an der Treppe. Er führte mich nach dem westlichen Hafendamm. Zu dieser Morgenstunde war dort, bis auf einige Matrosen, die uns nicht beachteten, Niemand zu sehen. Es war einer der schönsten Tage des Jahres. Wenn wir vom Auf- und Abgehen müde geworden waren, konnten wir im milden Sonnenschein niedersitzen und die balsamische Seeluft einathmen. Zu diesem reinen Licht und all dem lieblichen Farbenspiel um uns her bildete für mein Gefühl das Gespräch, das uns ganz absorbirte, einen widerwärtigen und abscheulichen Contrast, indem es stundenlang nur Complotte, Lügen und grausamen Betrug aufdeckte.
Ich wußte gleich meine erste Frage so zu stellen, daß er auf die Sache selbst eingehen mußte, ohne Zeit mit solchen Phrasen zu vergeuden, die mich erst auf die Sache hätten vorbereiten sollen.
»Als meine Tante gestern bei Tische eines Briefes gedachte«, sagte ich, »dachte ich mir, daß Du schon etwas davon wissest. Habe ich darin Recht gehabt?«
»Beinahe recht«, antwortete er. »Ich kann nicht sagen, daß ich etwas davon wußte; aber ich schöpfte sofort Verdacht, daß es die Machination unserer Feindin sei.«
»Doch nicht Madame Pratolungo?i«
»Allerdings, Madame Pratolungo.«
Ich war sofort anderer Meinung. Madame Pratolungo und meine Tante hatten sich über Politik gezankt; eine Correspondenz zwischen ihnen und noch dazu eine vertrauliche Correspondenz schien mir daher als etwas äußerst Unwahrscheinliches. Ich fragte Oscar, ob er errathen könne, was der Brief enthalte und warum mir derselbe erst übergeben werden sollte, wenn Grosse mich für ganz wieder hergestellt erklärt haben würde.
»Den Inhalt kann ich nicht errathen«, sagte er, »wohl aber den Zweck des Briefes«
»Und der wäre?«
»Derselbe Zweck, den sie von Anfang an verfolgt hat: meiner Verheirathung mit Dir jedes mögliche Hinderniß in den Weg zu stellen.«
»Welches Interesse kann sie daran haben?«
»Das Interesse meines Bruders.«
»Verzeihe mir, Oscar; aber das kann ich von der Frau nicht glauben.«
Diese Unterhaltung führten wir gehend; bei meinen letzten Worten stand er still, sah mich mit einem durchdringenden Blick an und sagte:
»Du glaubtest es doch von ihr, als Du meinen Brief beantwortetest.«
Das mußte ich zugeben.
»Ich glaubte Deinem Brief«, erwiderte ich, »und theilte Deine Ansicht über sie, solange sie in demselben Hause mit mir war. Ihre Gegenwart gab meinem Zorn und meinem Abscheu gegen sie in einer Weise Nahrung, die ich mir nicht zu erklären weiß. Jetzt, nachdem sie mich verlassen hat, jetzt, wo ich Zeit nachzudenken habe, spricht etwas in mir für sie und martert mich mit Zweifeln, ob ich recht gethan habe. Ich kann es nicht begreifen und nicht erklären, ich weiß nur; daß es so ist.«
Er sah mich noch immer mit steigend gespannter Aufmerksamkeit an.
»Deine gute Meinung von ihr muß sehr fest gewurzelt sein, daß Du mit solcher Zähigkeit daran haftest«, sagte er. »Was hat sie denn gethan, das zu verdienen?«
Wenn ich mir alle meine alten Erinnerungen an sie hätte zurückrufen wollen, hätte ich weinen müssen. Und doch fühlte ich, daß ich so lange wie möglich für sie eintreten müsse. Ich half mir auf folgende Weise.
»Ich will Dir sagen, was sie gethan hat, nachdem ich Deinen Brief empfangen hatte«, entgegnete ich. »Zu meinem Glück befand sie sich an jenem Morgen nicht ganz wohl und frühstückte im Bett. Ich hatte daher reichlich Zeit, mich zu beruhigen und Zillah, die mir Deinen Brief vorgelesen hatte, zum Schweigen zu ermahnen, bevor wir uns an jenem Tage zum ersten Male sahen. Tags zuvor hatte sie mich durch die Art verletzt, wie sie Deine Abwesenheit von Browndown erklärte. Mir schien, daß sie mir nicht mit demselben Vertrauen entgegenkomme, das ich ihr bewiesen haben würde, wenn unser Verhältniß zu einander das umgekehrte gewesen wäre. Als ich sie dann wieder sah, entschuldigte ich mich, Deiner Mahnung uneingedenk, bei ihr und sagte, was sie, wie ich mir dachte, unter den obwaltenden Umständen von mir erwarten würde. Vermuthlich that ich in meiner Aufregung und Verzweiflung des Guten etwas zu viel. Gewiß ist, daß ich bei ihr den Verdacht erweckte, es sei etwas nicht in Ordnung. Sie fragte mich nicht nur, ob etwas vorgefallen sei, sondern ging so weit, mir ausdrücklich zu sagen, ich komme ihr verändert vor. Ich machte der Sache ein Ende, indem ich erklärte, daß ich sie nicht verstehe. Sie muß gesehen haben, daß ich nicht die Wahrheit sagte; sie muß so gut wie ich selbst gewußt haben, daß sich ihr etwas verheimliche. Trotz alledem kam kein Wort weiter über ihre Lippen. Ein stolzes Zartgefühl, das ich so deutlich in ihrem Gesichte sah, wie ich Dich jetzt vor mir sehe, ließ sie schweigen. Sie sah verletzt und gekränkt aus. Ich habe an dieses Aussehen denken müssen, so lange ich hier bin. Ich habe mich gefragt, was mir damals nicht einfiel, ob ein falsches Weib, das sich seiner Schuld bewußt wäre, sich so benommen haben würde? Ein falsches Weib würde doch sicherlich mich zu überlisten und dahin zu bringen versucht haben, meine wirklich gemachten Entdeckungen zu verrathen. Oscar, jenes delicate Schweigen, jener gekränkte Blick sprechen bei mir für sie, wenn ich in ihrer Abwesenheit an sie denke. Ich bin nicht mehr so überzeugt, wie ich es einst war, daß sie das abscheuliche Geschöpf sei, für das Du sie erklärst. Ich weiß, daß Du unfähig bist, mich zu betrügen, daß Du glaubst was Du sagst. Aber sollte es nicht möglich sein, daß der Schein Dich getäuscht hat? Bist Du ganz sicher, daß Dir nicht ein verhängnißvoller Irrthum begegnet ist?«
Ohne mir zu antworten, stand er plötzlich vor einem Sitz unter der steinernen Brustwehr des Hafendammes still und hieß mich mit einer Handbewegung neben ihn hinsetzen. Ich gehorchte ihm; aber anstatt mich anzusehen, wandte er sein Gesicht von mir ab und blickte nach der See hinaus. Ich begriff ihn nicht. Sein Benehmen war mir unerklärlich, ja, fast beunruhigend.
»Habe ich Dich beleidig?« fragte ich.
Jetzt wandte er sich wieder ebenso plötzlich zu mir, wie er sich vorhin von mir abgewandt hatte. Seine Augen hattest einen unstäten Ausdruck; sein Gesicht war bleich.
»Du bist ein gutes, großmüthiges Wesen,« sagte er in einem verwirrt hastigen Ton. »Laß uns von etwas Anderem reden.«
»Nein«, antwortete ich, »ich bin zu lebhaft dabei interessirt, die Wahrheit zu erfahren, um von etwas Anderem reden zu können.«
Bei diesen Worten wechselte er abermals die Farbe; eine tiefe Röthe überflog sein Gesicht; er seufzte schwer, wie man es wohl thut, wenn man eine große Anstrengung macht.
»Bestehst Du darauf?« fragte er.
»Ich bestehe darauf.«
Er stand wieder auf. — Je näher ihm die Nothwendigkeit rückte, mir alles das zu sagen, was er mir bis jetzt verheimlicht hatte, desto schwerer schien es ihm zu werden, das erste Wort zu sprechen.
»Hast Du etwas dagegen, daß wir wieder gehen?« fragte er.
Ich stand schweigend auf und legte meinen Arm in den seinigen. Langsam gingen wir bis an das Ende des Hafendammes. Hier angelangt, stand er still und sprach, den Blick auf die weite blaue Wasserfläche statt auf mich gerichtet, diese ersten, harten Worte:
»Ich verlange nicht von Dir, daß Du mir irgend etwas auf meine bloße Versicherung hin glaubst. Die eigenen Worte und die eigenen Handlungen des Weibes sollen Dir ihre Schuld beweisen. Wie ich zuerst dazu kam, Verdacht gegen sie zu schöpfen, wie ich meinen Verdacht später bestätigt fand, das will ich Dir nicht mittheilen, weil ich entschlossen bin, meinen Einfluß auf Dich nicht dazu zu mißbrauchen, Dich zu meinen Ansichten zu bekehren. Erinnere Dich jenes bereits in meinem Brief erwähnten Moments, wo sie sich Dir gegenüber im Pfarrhausgarten verrieth. Ist es wahr, daß sie damals zu Dir sagte, Du würdest Dich in meinen Bruder verliebt haben, wenn Du ihm und nicht mir zuerst begegnet wärest?«
»Das ist wahr«, antwortete ich; »aber fügte ich sofort hinzu, »in einem Moment, wo sie ihrer selbst nicht ganz mächtig war und wo auch ich meine Fassung verloren hatte.«
»Erinnere Dich eines etwas späteren Zeitpunktes«, fuhr er fort, »des Zeitpunktes, wo sie Dir nach Browndown gefolgt war. War sie auch da ihrer selbst noch nicht mächtig, als sie sich bei Dir entschuldigte?«
»Nein.«
»Legte sie sich ins Mittel als Nugent Deine Blindheit dazu mißbrauchte, Dich glauben zu machen, daß Du mit mir sprächest?«
»Nein.«
»War sie in jenem Augenblick ihrer selbst noch nicht mächtig?«
Ich versuchte es noch immer, sie zu vertheidigen.
»Sie durfte wohl auf mich böse sein«, sagte ich. »Sie hatte sich bei mir aufs Freundlichste entschuldigt und ich hatte diese Entschuldigung in einer unverzeihlich unartigen Weise zurückgewiesen.«
Meine Fürsprache machte bei ihm keinen Eindruck. Er faßte vielmehr seine Anklage ganz kühl in die Worte: »Sie verglich mich zu meinem Ungunsten mit meinem Bruder und sie ließ es zu, daß mein Bruder als er mit Dir sprach, Dich glauben machte, er sei ich, ohne der Sache Einhalt zu thun. In diesen beiden Fällen kann ihre Gereiztheit zur Erklärung und zur Entschuldigung ihres Benehmens dienen. Gut. Es kommt nichts darauf an, ob wir in dieser Beziehung einer Meinung sind oder nicht. Aber laß uns, ehe wir weiter gehen, uns wo möglich über eine unbestreitbare Thatsache einigen. Welcher von uns beiden Brüdern war vom ersten Augenblicke an ihr Liebling?«
Darüber konnte man allerdings nicht zweifelhaft sein. Ich gab ohne Weiteres zu, daß Nugent ihr Liebling sei. Und noch mehr, ich erinnerte mich, daß ich sie beschuldigt habe, vom ersten Augenblicke an nie gerecht gegen Oscar gewesen zu sein.«
(Anmerk.: Man sehe das sechzehnte Kapitel des ersten Bandes und daselbst Madame Pratolungo’s Bemerkung, daß der Leser noch einmal wieder von diesem Umstand hören werde. P.)
Oscar fuhr fort:
»Behalte das im Gedächtniß und laß uns nun weiter bis zu dem Zeitpunkte vorgehen, wo wir in Deinem Wohnzimmer versammelt waren, um über die Operation Deiner Augen zu debattiren. Die uns vorliegende Frage war, so viel ich mich erinnere, ob Du Dich schon vor der Operation mit mir verheirathen solltest? Oder ob wir warten sollten, bis die Operation vollzogen und Du vollständig geheilt wärest? Wofür entschied sich Madame Pratolungo bei dieser Gelegenheit? Sie entschied sich gegen mein Interesse; sie redete Dir zu, unsere Heirath aufzuschieben.«
Ich verharrte dabei, sie zu vertheidigen.
»Das that sie aus Sympathie für mich«, sagte ich.
Zu meiner Ueberraschung ließ er auch diese meine Auffassung gelten, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie zu bestreiten.
»Gut«, fuhr er fort, »nehmen wir an, sie habe es aus Sympathie für Dich gethan. Was aber auch ihre Motive gewesen sein mögen, das Resultat war dasselbe. Unsere Heirath wurde auf unbestimmte Zeit verschoben und Madame Pratolungo hatte für diesen Aufschub gestimmt.«
»Und Dein Bruder«, fügte ich hinzu, »war anderer Ansicht und versuchte mich zu überreden, Dich vor der Operation zu heirathen. Wie kannst Du das mit dem, was Du mir gesagt hast, in Einklang bringen?«
Er unterbrach mich, bevor ich fortfahren konnte. »Laß meinen Bruder aus dem Spiel«, sagte er. »Mein Bruder konnte um jene Zeit noch wie ein Ehrenmann handeln und seine Wünsche seiner Pflicht gegen mich zum Opfer bringen. Laß uns für jetzt wenigstens uns strenge auf das beschränken, was Madame Pratolungo gesagt und gethan hat. Und laß uns zu einem wenige Minuten späteren Zeitpunkt vorgehen, wo unsere kleine häusliche Debatte zu Ende war. Mein Bruder ging zuerst fort; dann begabst Du Dich auf Dein Zimmer und ließest Madame Pratolungo und mich allein zurück. Erinnerst Du Dich dessen?«
»Ganz genau! Du hattest mich bitter enttäuscht«, sagte ich. »Du hattest keine Sympathie für mein sehnliches Verlangen gezeigt, meine Sehkraft wieder hergestellt zu sehen. Du machtest Einwendungen und erhobst Schwierigkeiten. Ich erinnere mich, mich mit einiger Bitterkeit gegen Dich geäußert zu haben. Ich tadelte Dich dafür, daß Du meinen Glauben an meine Zukunft und meine Hoffnungen nicht theilen wolltest und verließ Dich dann und schloß mich in mein Zimmer ein.«
Durch diese Worte überzeugte ich ihn, daß meine Erinnerung an die Ereignisse jenes Tages so klar sei, wie seine eigene. Er hörte mir zu, ohne irgend eine Bemerkung zu machen und fuhr dann, als ich fertig war, wieder fort:
»Madame Pratolungo theilte bei jener Gelegenheit Dein hartes Urtheil über mich und sprach es in unendlich viel stärkeren Ausdrücken aus. Sie verrieth sich Dir gegenüber im Pfarrhausgarten. «Gegen mich aber verrieth sie sich, nachdem Du uns im Wohnzimmer allein gelassen hattest. Daran war ohne Zweifel wieder ihre Heftigkeit Schuld, darin bin ich ganz mit Dir einverstanden. Was sie mir in Deiner Abwesenheit sagte, würde sie gewiß nicht gesagt haben, wenn sie ihrer selbst mächtig gewesen wäre.«
Ich fing an, etwas betroffen zu werden. »Wie kommt es, daß Du mir jetzt zum ersten Male davon erzählst?« sagte ich. »Fürchtetest Du, mich zu betrüben?«
»Ich fürchtete, Dich zu verlieren«, antwortete er.
Bis dahin hatte ich meinen Arm in den seinigen gelegt. Jetzt zog ich denselben zurück. Seine Worte konnten keinen andern Sinn haben, als den, daß er mich einmal fähig gehalten habe, ihm die Treue zu brechen. Er sah, daß ich verletzt war.
»Erinnere Dich, daß ich Dich an jenem Tage unglücklicherweise beleidigt hatte und daß Du noch nicht gehört hast, was Madame Pratolungo mir unter diesen Umständen zu sagen wagte.«
»Und was hat sie Dir gesagt?«
»Folgendes: Lucilla würde einer glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn sie Ihren Bruder statt Ihrer geheirathet hätte. Das waren buchstäblich ihre Worte.«
Ich konnte das so wenig von ihr glauben, wie ich es von mir selbst geglaubt hätte.
»Bist Du Deiner Sache wirklich ganz gewiß?« fragte ich. »Ist es möglich, daß sie eine so grausame Aeußerung gegen Dich gethan hat?«
Statt jeder Antwort zog er seine Brieftasche aus der Brusttasche seines Rocks, suchte in derselben nach etwas und zog ein gefaltetes und zerknittertes Stück Papier hervor, öffnete dasselbe und zeigte mir einige darauf geschriebene Zeilen.
»Ist dass meine Handschrift?« fragte er.
Es war seine Handschrift. Ich hatte, seit ich wieder sehen konnte, Briefe genug von ihm in Händen gehabt, nur dessen gewiß zu sein.
»Lies es«; sagte er, »und urtheile selbst.«
(Anm. Der Leser hat diesen Brief schon in dem dreizehnten Kapitel des zweiten Bandes kennen gelernt. Ich hatte, wie man es in meinem dortigen Bericht finden wird, jene thörichten Worte in einer begreiflichen Entrüstung, wie sie jede andere Frau mit einem Funken von Geist auch empfunden haben würde, zu Oscar gesagt. Statt auf der Stelle dagegen zu remonstriren, war Oscar wie gewöhnlich nach Hause gegangen und hatte mir einen Brief voll von Vorwürfen geschrieben. Unmittelbar nach Empfang des Briefes war ich, nachdem ich inzwischen Zeit gehabt hatte, mich abzukühlen, und da ich es absurd fand, daß wir Briefe mit einander wechselten, während wir in einigen Minuten zu einander gelangen konnten, direct nach Browndown gegangen, hatte aber zuvor den Brief zerknittert und wie ich meinte, ins Feuer geworfen. Nachdem ich mich mit Oscar ausgesprochen hatte, war ich in’s Pfarrhaus zurückgekehrt und hatte hier erfahren, daß Nugent in meiner Abwesenheit gekommen sei, mich zu besuchen, daß er im Wohnzimmer ein wenig auf mich gewartet habe und dann wieder fortgegangen sei. Wenn ich sage, daß der Brief, den Nugent jetzt Lucilla zeigte, derselbe Brief Oscar’s war, den ich vernichtet zu haben glaubte, so wird man begreifen, daß ich den Brief anstatt in’s Feuer in den Fender geworfen hatte und daß ich ihn bei meiner Rückkehr nicht mehr im Fender fand, einfach, weil Nugent ihn früher als ich gefunden und zu sich genommen hatte. Diese Einzelheiten sind ausführlicher in dem erwähnten Kapitel erzählt und der Brief selbst ist dort wörtlich mitgetheilt. Ich will aber dem Leser die Mühe des Nachschlagens ersparen und wörtlich abschreiben, was im Tagebuch steht. Der Brief selbst ist in das Tagebuch eingeklebt; ich will ihn zum zweiten Mal mittheilen. P.)
»Ich nahm ihm den Brief ab und las ihn; auf meine Bitte hat er mir erlaubt, ihn zu behalten. Der Brief dient mir zur Rechtfertigung für meine jetzige Meinung von Madame Pratolungo. Ich will ihn hier einfügen, bevor ich ein Wort weiter in mein Tagebuch schreibe.
»Madame Pratolungo. Sie haben mich tiefer betrübt, als ich es sagen kann. Ich weiß, daß mich sehr ernste Vorwürfe treffen und bitte Sie von Herzen um Verzeihung, wenn ich Sie durch meine Worte oder Handlungen beleidigt habe; aber ich kann Ihr hartes Urtheil über mich nicht als gerecht anerkennen. Wenn Sie wüßten, wie ich Lucilla anbete, würden Sie Nachsicht mit mir haben, würden Sie mich besser verstehen. Ihre letzten grausamen Worte klingen mir noch immer fort in den Ohren. Ich kann Sie nicht wiedersehen, ehe Sie sich über diese Worte näher gegen mich erklärt haben. Sie haben mich in’s tiefste Herz getroffen, als Sie diesen Abend sagten, Lucilla würde einer glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn sie meinen Bruder anstatt meiner heirathete. Ich hoffe, daß das nicht Ihr Ernst war, und bitte Sie, mir in einer Zeile zu sagen, ob ich zu dieser Annahme berechtigt bin oder nicht. Oscar.«
Das Erste, was ich that, nachdem ich diese Zeilen gelesen hatte, war natürlich, daß ich meinen Arm wieder in den seinigen legte und ihn so dicht wie möglich an mich heranzog. Demnächst fragte ich natürlich nach Madame Pratolungo’s Antwort auf diesen so zärtlichen und rührenden Brief.«
»Ich kann Dir keine Antwort zeigen«, sagte er.
»Hast Du sie verloren?« fragte ich.
»Ich habe nie eine gehabt.«
»Was willst Du damit sagen?«
»Madame Pratolungo hat mir auf meinen Brief nie eine Antwort gegeben.«
Er mußte mir das zwei Mal wiederholen. War es nicht unglaublich, daß eine nicht ganz verderbte Frau von einem solchen Appell nicht die geringste Notiz genommen haben sollte? Zweimal wiederholte er dieselbe Antwort, zweimal versicherte er mir auf sein Ehrenwort, daß ihm keine Zeile der Erwiderung zu Theil geworden sei. War sie dann also wirklich ganz verderbt? Nein, es gab noch eine letzte Entschuldigung, welche Gerechtigkeit und Freundschaft für sie anführen konnten. Ich sprach dieselbe aus.
»Es giebt nur eine Erklärung für ihr Benehmen«, sagte ich. »Sie hat den Brief nie bekommen. Wohin hast Du ihn geschickt?«
»Nach dem Pfarrhause.«
»Wer brachte ihn hin?«
»Mein Diener.«
»Vielleicht hat er ihn unterwegs verloren und hat sich gefürchtet, Dir das zu sagen. Oder vielleicht hat die Magd im Pfarrhause vergessen den Brief abzugeben.«
Oscar schüttelte den Kopf. »Ganz unmöglich. Ich weiß, daß Madame Pratolungo den Brief bekommen hat.«
»Wie das?«
»Ich fand denselben in Deinem Wohnzimmer im Pfarrhause zerknittert, in einer Ecke des Kaminfenders.«
»War er offen?«
»Allerdings. Sie hat ihn erhalten, hat ihn gelesen und hätte ihn in’s Feuer geworfen, wenn sie nicht zufällig ihr Ziel verfehlt hätte. Jetzt frage ich Dich, Lucilla, ist Madame Pratolungo Unrecht geschehen und habe ich sie verleumdet?«
Wenige Schritte von uns stand wieder eine Bank.Ich konnte nicht länger stehen, ich ging allein nach der Bank und setzte mich nieder. Ich war wie betäubt, ich konnte weder reden noch weinen. Schweigend saß ich da und rang die Hände auf meinem Schooß; ich fühlte wie die letzten Bande, die mich noch an die innig geliebte Freundin geknüpft hatten, sich lösten. Er folgte mir und stellte sich vor mich hin, in ruhigen strengen Worten zählte er ihre Vergehen auf und überzeugte mich so völlig, daß ich mich schämte, mich je nach ihr zurückgesehnt zu haben.
»Vergegenwärtige Dir zum letzten Male, Lucilla, was dieses Weib gesagt und gethan hat. Du wirst finden, daß die Idee einer Verheirathung Nugent’s mit Dir sie immer in einer oder der anderen Gestalt beschäftigt — gleichviel ob sie sich vergißt und sich unvorsichtig äußert, oder ob sie mit Ueberlegung und zu einem bestimmten Zwecke handelt. Einmal sagt sie zu Dir, Du würdest Dich in meinen Bruder verliebt haben, wenn Du ihn zuerst gesehen hättest; ein anderes Mal steht sie dabei, während mein Bruder sich Dir gegenüber für mich ausgiebt und legt sich nicht in’s Mittel. Ein drittes Mal sieht sie, daß Du Dich von mir beleidigt fühlst und empfindet bei diesem Anblick eine so grausamer Freude, daß sie mir in’s Gesicht sagt, Du würdest einer viel glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn Du Dich mit meinem Bruder statt mit mit yerlobt hättest. Ich bitte sie schriftlich in einer höflichen und freundlichen Form, mir zu erklären, was sie mit diesen schrecklichen Worten habe sagen wollen. Sie hat Zeit gehabt, sich die Worte zu überlegen, seit sie sie ausgesprochen hat und was thut sie? Antwortet sie mir? Nein! Sie schleudert meinen Brief verächtlich in’s Feuer. Nimm zu diesen klaren Thatsachen hinzu, was Du selbst beobachtet hast. Nugent ist der Gegenstand ihrer Bewunderung, Nugent ist ihr Liebling, mich aber hat sie vom ersten Augenblick an nicht leiden können, mir hat sie immer Unrecht gethan. Nimm ferner hinzu, daß Nugent, wie ich gewiß weiß, ihr im Vertrauen gestanden hat, daß er Dich liebe, vergegenwärtige Dir alle diese Umstände und — frage Dich, was sich unwiderleglich daraus ergiebt. Ich frage Dich noch einmal, ist Madame Pratolungo eine verleumdete Frau? Oder habe ich Recht, Dich vor ihr zu warnen?«
Was konnte ich anders thun, als zugeben, daß er Recht habe. Ich war es ihm und mir selbst schuldig, von diesem Augenblick an mein Herz gegen sie zu verschließen. Oscar setzte sich zu mir und ergriff meine Hand.
»Kann es Dich«, fuhr er sanft fort, »nach diesen meinen Erfahrungen mit ihr überraschen, daß ich mich vor dem, was sie etwa noch thun möchte, fürchte? Wäre es etwa das erste Mal, daß treu Liebende durch Verrätherei, die ihr Vertrauen zu einander untergrub, voneinander getrennt worden sind? Ist Madame Pratolungo nicht klug und gewissenlos genug, um auch unser gegenseitiges Vertrauen zu untergraben und den Einfluss, den sie im Pfarrhause bereits besitzt, zu den schlechtesten Zwecken gegen uns zu mißbrauchen? Wie können wir wissen, ob sie nicht in diesem Augenblick mit meinem Bruder in Verbindung steht?«
Ich unterbrach ihn; ich konnte es nicht ertragen. »Du hast ja Deinen Bruder gesprochen«, sagte ich. »Du hast mir gesagt, daß Ihr Euch verständigt habt. Was hast Du nun noch zu fürchten?«
»Ich habe Madame Pratolungo’s Einfluß und meines Bruders thörichte Liebe für Dich zu fürchten«, antwortete er. »Ich kann mich auf seine ehrlichen Versprechungen nicht mehr verlassen, sobald ich den Rücken gekehrt habe und ich fürchten muß, daß Madame Pratolungo in meiner Abwesenheit bei ihm ist. Schon jetzt geht im Geheimen etwas vor! Der geheimnißvolle Brief, der Dir unter gewissen Bedingungen gezeigt werden soll, gefällt mir so wenig wie das Schweigen Deines Vaters. Er hätte Zeit genug gehabt, Deinen Brief zu beantworten. Hat er es etwa gethan? Er hätte Zeit genug gehabt, auch mein Postskriptum zu beantworten. Hat er das etwa gethan?«
Das waren unbequeme Fragen. Allerdings hatte mein Vater bis jetzt meine beiden Briefe unbeanwortet gelassen. Aber die nächste Post konnte ja noch seine Antwort bringen. Ich beharrte dabei, die Sache so anzusehen und sagte das Oscar. Er aber beharrte eben so eigensinnig bei seiner Ansicht.
»Laß uns das Ende der Woche abwarten«, sagte er, »ob bis dahin ein Brief Deines Vaters für Dich oder für mich eintrifft; wenn aber keiner kommt, wirst Du dann zugeben, daß sein Schweigen verdächtig ist?«
»Ich will in diesem Fall zugeben, daß sein Schweigen einen traurigen Mangel an Rücksicht für Dich beweist«, erwiderte ich.
»Und dabei willst Du es bewenden lassen? Du willst nicht sehen, wie ich es sehe, daß der Einfluß Madame Pratolungo’s sich im Pfarrhause geltend macht und die Gesinnungen Deines Vaters in Bezug auf unsere Verheirathung vergiftet?«
Auf diese Weise trieb er mich sehr in die Enge. Ich bot gleichwohl Alles auf, ihm ehrlich zu sagen, was in meinem Innern vorging.
»Ich sehe» sagte ich« »daß Madame Pratolungo’s Benehmen gegen Dich sehr grausam gewesen ist. Und ich glaube nach dem, was Du mir mitgetheilt hast, daß sie sich freuen würde, wenn ich mein Dir gegebenes Wort bräche und Dritten Bruder heirathete. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie wahnsinnig genug sein sollte, jetzt zu complottiren, um mich zu einem solchen Wortbruch zu treiben. Niemand weiß besser als sie, wie treu ich Dich liebe und wie hoffnungslos der Versuch sein würde, mich dahin zu bringen, einen anderen Mann zu heirathen. Würde man wohl der dümmsten Frau auf der Welt, die Euch Brüder beide gesehen hätte, und wüßte, was sie weiß, die Dummheit zutrauen, das zu thun, was zu thun Du Madame Pratolungo im Verdacht hast?«
Ich hielt das für unwiderleglich. Er aber war um eine Antwort nicht verlegen.
»Wenn Du mehr von der Welt gesehen hättest, Lucilla«, sagte er, »so würdest Du wissen, daß eine echte Liebe, wie die Deinige, für eine Frau wie Madame Pratolungo ein Geheimniß ist. Sie glaubt nicht an eine solche Liebe — und sie versteht sie nicht. Sie weiß, daß sie selbst fähig wäre, jede eingegangene Verpflichtung zu brechen, wenn die Umstände darnach angethan wären, und sie bemißt Deine Treue nach ihrer eigenen Natur. Weder in dem, was sie von Dir weiß, noch in der Entstellung meines Bruders liegt für eine solche Frau irgend etwas, was sie davon abschrecken könnte, an unserer Veruneinigung zu arbeiten. Sie hat erlebt, daß Du, wie Du mir bereits gesagt hast, Deinen ersten Widerwillen gegen ihn überwunden hast. Sie weiß, daß so reizende Mädchen wie Du, schon oft persönlich viel, abstoßendere Männer als meinen Bruder geheirathet haben. Lucilla, ein Gefühl, das sich nicht wegstreiten und nicht widerlegen läßt, sagt mir, daß ihre Rückkehr nach England uns verhängnißvoll werden wird, wenn uns bei dieser Rückkehr noch kein engeres Band, als das jetzt zwischen uns bestehende, verknüpft. Ist diese nervöse Angst eines Mannes würdig? Würdig, oder nicht, Du solltest Nachsicht damit haben, Geliebte. Es ist meine Liebe zu Dir, die mir diese Angst einflößt!«
Gewiß hatte er unter den obwaltenden Umständen den größten Anspruch auf meine Nachsicht, und das sagte ich ihm. Er trat näher an mich heran und umschlang mich mit seinem Arm.
»Haben wir uns nicht das Wort gegeben« Mann und Weib zu werden?« flüsterte er.
»Ja!«
»Sind wir nicht Beide mündig, Beide frei, zu thun, was wir wollen?«
»Ja.«
»Würdest Du mich, wenn Du könntest, von der Angst, unter der ich leide, befreien?«
»Das weißt Du ja!«
»Du kannst mich davon befreien«
»Wie das?«
»Indem Du Dich bereit erklärst, Lucilla, mich in vierzehn Tagen in London zu heirathen und mir dadurch die Ansprüche eines Ehegatten einräumst.«
Ich fuhr zurück und sah ihn in stummen Erstaunen an. Im ersten Augenblick war ich unfähig, ihm irgend eine Antwort zu geben.
»Ich verlange nichts Deiner Unwürdiges von Dir«, sagte er. »Ich habe schon mit einer in der Nähe von London lebenden Verwandten von mir gesprochen, einer verheiratheten Dame, deren Haus Dir während der Zeit bis zu unserem Hochzeitstage offen steht. Vierzehn Tage, nachdem ich die Erlaubniß zu unserer Heirath erwirkt haben werde, können wir Hochzeit machen. Schreibe auf alle Fälle nach Hause, um sie über Dich zu beruhigen. Sage ihnen, Du seiest wohl und glücklich und unter einer respektablen Obhut, aber sage nichts weiter. So lange es für Madame Pratolungo möglich ist, Unheil anzustiften, mußt Du Deinen Aufenthaltsort verheimlichen. Sobald wir verheirathet sind, kannst Du Alles mittheilen. Dann laß alle Deine Verwandten, laß die ganze Welt wissen, daß wir Mann und Weib sind!«
Sein Arm, der mich umschlungen hielt, zitterte; sein Gesicht überflog ein tiefes Roth, seine Blicke verschlangen mich. Einige Frauen an meiner Stelle würden sich vielleicht verletzt, andere würden sich geschmeichelt gefühlt haben. Ich, diesen Blättern kann ich es anvertrauen, ich war erschrocken.
»Du schlägst mir also vor, mit Dir davon zu laufen?« fragte ich.
»Davonzulaufen?« wiederholte er.
Wie kann bei zwei Verlobten, die nur auf sich Rücksicht zu nehmen haben, von Davonlaufen die Rede sein?«
»Ich muß aus meinen Vater und auf meine Tante Rücksicht nehmen«, sagte ich, »Du schlägst mir vor, davonzulaufen und mich vor ihnen zu verbergen.«
»Ich bitte Dich«, antwortete er, »eine verheirathete Dame auf vierzehn Tage zu besuchen und diesen Besuch vor Deiner schlimmsten Feindin so lange geheim zu halten, bis Du meine Frau geworden bist. Was ist denn so schreckliches an dieser Bitte, daß Du erbleichst und mich so entsetzt ansiehst? Habe ich nicht mit Bewilligung Deines Vaters um Deine Hand geworben? Bin ich nicht Dein Verlobter? Können wir nicht selbstständig unsere Entschlüsse fassen? Ich sehe absolut keinen Grund, warum wir uns nicht, wenn es möglich wäre, morgen verheirathen sollten. Und Du zauderst noch? Lucilla! Lucilla! Du zwingst mich, einen Zweifel auszusprechen, der mich, seit ich hier bin, verfolgt hat. Bist Du wirklich in Deinen Gesinnungen für mich so verändert, wie es den Anschein hat? Liebst Du mich wirklich nicht mehr so, wie Du mich einst in vergangenen Tagen liebtest?«
Er stand auf,« trat an die Brustwehr und lehnte sich, den Kopf in die Hände gestützt, über dieselbe hin.
Ich blieb allein sitzen und wußte nicht, was ich sagen oder thun sollte. Wie sehr ich mich auch bemühen mochte, das unbehagliche Gefühl, daß er Recht habe, sich über mein kaltes Benehmen zu beklagen, los zu werden, es wollte mir nicht gelingen. Er hatte kein Recht, zu erwarten, daß ich den mir von ihm zugemutheten Schritt thun werde; jedes Mädchen an meiner Stelle würde dieselben Bedenken dagegen erhoben haben. So sehr ich aber auch davon durchdrungen war, redete doch ein bestimmtes Etwas in mir ihm das Wort. Es war gewiß nicht die Stimme meines Gewissens, die mir zuflüsterte: Es gab eine Zeit, wo seine Bitten Alles über dich vermocht haben würden, wo du nicht wie jetzt gezaudert haben würdest!
Was es aber auch sein mochte, was sich in mir regte, es trieb mich, aufzustehen und an die Brustwehr zu Oscar heranzutreten.
»Du kannst nicht von mir verlangen«, sagte ich, »daß ich auf der Stelle einen so wichtigen Entschluß fasse. Willst Du mir eine kleine Bedenkzeit geben?«
»Du bist Dein eigener Herr!« erwiderte er bitter. »Wozu brauchst Du Dir von mir Bedenkzeit zu erbitten? Du kannst Dir so viel Zeit nehmen, wie Du willst, Du kannst thun, was Du Lust hast.«
»Gieb mir Zeit bis Ende der Woche» fuhr ich fort. »Laß mich Gewißheit darüber erlangen, daß mein Vater dabei beharrt, weder Deinen noch meinen Brief zu beantworten. Wenn ich auch mein eigener Herr bin, so kann doch nur sein Schweigen es rechtfertigen, daß ich im Geheimen fortgehe und mich von einem Fremden trauen lasse. Dränge mich nicht, Oscar, es ist nicht mehr lange hin bis zum Ende der Woche.«
Etwas schien ihn zu erschrecken. Vielleicht etwas in meiner Stimme, was ihm zeigte, daß ich mich wirklich unglücklich fühlte. Er warf mir einen raschen Blick zu und sah Thränen in meinen Augen.
»Um Gotteswillen, weine nicht; es soll ja geschehen, was Du wünschtest«, sagte er. »Nimm Dir Zeit. Laß uns vor Ende der Woche nicht weiter darüber reden.«
Er küßte mich in einer hastig aufgeregten Weise und gab mir den Arm, mich wieder nach Hause zu führen.
»Grosse kommt heute«, fuhr er fort, »er darf Dich nicht in Deinem jetzigen Zustande sehen. Du mußt ruhen und wieder Fassung gewinnen. Komm nach Hause!«
Ich ging mit ihm nach Hause und fühlte mich noch so traurig und unglücklich. Meine letzte schwache Hoffnung auf eine Wiederherstellung meines schönen Freundschaftsverhältnisses zu Madame Pratolungo war dahin. Ich kannte sie jetzt in ihrem wahren Wesen als eine Frau, die ich nie hätte kennen lernen sollen und mit der ich nie wieder ein freundliches Wort würde wechseln können. Ich hatte die Freundin verloren, mit der ich einst so glücklich gewesen war und hatte Oscar betrübt und enttäuscht. Noch nie war mir mein Leben so elend und unwürdig erschienen, wie es mir heute auf dem Hafendamm in Ramsgate erschien.
Er verließ mich vor der Thür des Hauses mit einem sanften ermuthigenden Händedruck.
»Ich werde später wieder vorsprechen, sagte er, »und hören, was Grosse von Dir sagt, bevor er nach London zurückkehrt. Jetzt ruhe Dich aus Lucilla, ruhe Dich aus und fasse Dich.«
Plötzlich ertönten hinter uns schwere Fußtritte. Wir kehrten uns Beide um. Die Zeit war rascher verflossen, als wir gedacht hatten. Da stand Herr Grosse, der eben zu Fuß von der Eisenbahnstation kam.
Sein erster Blick auf mich schien ihn zu erschrecken. Seine Augen starrten mich durch seine Brillengläser mit einem Ausdruck der Ueberraschung und der Angst an, den ich früher nie an ihnen bemerkt hatte. Dann wandte er sich mit einem plötzlich verändertem Ausdruck, nach Oscar um, einen Ausdruck, der wie es mir vorkam« Zorn oder Mißtrauen bedeutete. Er sprach kein Wort. Oscar mußte das unheimliche Schweigen brechen und sagte zu Herrn Grosse:
»Ich will Sie und Ihre Patientin jetzt nicht länger stören. Ich werde in einer Stunde wiederkommen.«
»Nein, kommen Sie gefälligst mit mir hinein« junger Herr. Ich habe Ihnen vielleicht etwas zu sagen.« Dabei zog er die Augenbrauen zusammen und deutete mit einer sehr peremtorischen Geberde auf die Hausthür.
Oscar klingelte In demselben Augenblick erschien meine Tante, die unsere Stimmen vor dem Hause gehört hatte, auf dem Balkon über der Thür.
»Guten Morgen« Herr Grosse» sagte sie, »ich hoffe, Sie sind mit Lucilla’s Aussehen zufrieden. Gerade gestern habe ich mich noch dahin ausgesprochen, daß sie ganz wieder hergestellt sei.«
Verdrossen zog Grosse den Hut vor meiner Tante, und sah mich dann wieder so lange und so scharf an, daß es anfing, mich verwirrt zu machen.
»Ich bin nicht der Ansicht Ihrer Tante!« brummte er, aber so, daß ich es deutlich hören konnte, vor sich hin. »Ihre Augen gefallen mir nicht mein Fräulein. Gehen Sie hinein.«
Der Diener stand, unserer wartend, in der geöffneten Thür. Ich ging hinein, ohne ein Wort zu antworten. Grosse wartete, bis auch Oscar vor ihm ins Haus getreten war. Oscar’s Gesicht hatte sich verfinstert. Er sah halb zornig, halb verwirrt aus. Grosse schob ihn mit einer derben Bewegung vor sich her und gab mir den Arm. Ich ging mit ihm hinauf, ohne recht zu wissen, was ich aus dem Allen machen solle.
Viertes Kapitel - Schluß von Lucilla’s Tagebuch.
4. September (Fortsetzung). — Sobald wir im Wohnzimmer waren, setzte mich Grosse auf einen am Fenster stehenden Stuhl. Er beugte sich über mich hin und betrachtete meine Augen in der Nähe, trat dann etwas zurück und sah mich aus einiger Entfernung an, zog darauf seine Vergrößerungslinse aus der Tasche und betrachtete meine Augen lange durch dieselbe, fühlte mir dann den Puls und ließ mein Handgelenk mit einer unwilligen Geberde wieder los, stellte sich endlich an’s Fenster und blickte in finsterem Schweigen hinaus, ohne von irgend Jemand im Zimmer die mindeste Notiz zu nehmen.
Meine Tante war die erste, die es wagte, das unheimliche Schweigen zu brechen. »Herr Grosse« sagte sie im scharfen Ton, »haben Sie mir heute nichts von Ihrer Patientin zu sagen? Finden Sie Lucilla —«
Plötzlich wandte er sich um und unterbrach meine Tante ohne alle Umstände, indem er vor sich hin brummte: »Ich finde, daß sie Rückschritte gemacht hat, Rückschritte, Rilckschritte«, und bei jedem Worte erhob er die Stimme mehr und mehr. »Als ich sie hierher schickte, habe ich zu Ihnen gesagt, halten Sie sie in Einer gleichmäßig behaglichen Stimmung«, das haben Sie nicht gethan. Ihr steckt etwas im Kopf, was sie ganz aus dem Häuschen gebracht hat. Was ist das? Wer ist das?«
Er ließ seine zornigen Blicke rück- und vorwärts zwischen Oscar und meiner Tante hin- und herschweifen,« wandte sich dann zu mir, legte seine schweren Hände auf meine Schultern, sah mit einem komischen Ausdruck ergrimmten Mitleids aufs mich herab und sagte: »Mein armes Kind ist melancholisch, mein armes Kind ist krankt Wo ist unsere liebe gute Pratolungo? Was haben Sie von ihr gesagt, als ich zuletzt sah? Sie sagten mir, sie sei fortgereist, um ihren Papa zu besuchen. Schicken Sie ihr ein Teilegsrum und sagen Sie ihr, ich brauche meine Pratolungo hier.«
Bei der wiederholten Nennung von Mad. Pratolungo’s Namen erhob sich meine Tante in ihrer ganzen Majestät.
»Habe ich Ihre Aeußerung dahin zu verstehen, Herr Grosse«, fragte die alte Dame, »daß Sie mit Ihrer auffallenden Art, sich auszudrücken, einen Tadel über mein Benehmen gegen meine Nichte aussprechen wollen?«
»Was Sie zu verstehen haben, Madame, ist, daß Ihr Fräulein Nichte in dieser schönen Seeluft vor Aufregung sich verzehrt. Ich habe sie hierhergeschickt, damit sie sich ein rosiges Gesicht und festes Fleisch anschaffen solle. Und wie finde ich sie? Sie hat sich nichts von alledem angeschafft. Ihr Gesicht ist blaß und ihr Fleisch ist weich. Das kann bei dieser schönen Luft aber nur einen Grund haben. Sie verzehrt sich vor Aufregung, ich weiß nicht über was. Glauben Sie aber, das dieses Sich verzehren gut für ihre Augen ist? Zum Teufel, es ist das Allerschlimmste, was ihren Augen begegnen kann. Wenn Sie es nicht besser machen können, so bringen Sie sie lieber wieder fort. Sie verschwenden nur Ihr Geld hier.«
Jetzt wandte sich meine Tante an mich in ihrer vornehmsten Weise.
»Du wirft begreifen, Lucilla, daß ich unmöglich von einer solchen Sprache eine andere Notiz nehmen kann, als indem ich das Zimmer verlasse. Wenn Du Herrn Grosse zur Besinnung bringen kannst, theile ihm mit, daß ich bereit bin, seine Erklärungen und Entschuldigungen schriftlich entgegen zu nehmen.«
Bei diesen mit der schärfsten Betonung ausgesprochenen stolzen Worten richtete sich meine Tante wo möglich noch höher auf und rauschte dann majästätisch zum Zimmer hinaus.
Grosse nahm von dem beleidigten Stolz meiner Tante keine Notiz, er steckte nur seine Hände in die Taschen und blickte wieder zum Fenster hinaus. Sobald meine Tante zum Zimmer hinausgegangen war, verließ Oscar die Ecke, in die er sich, als wir das Zimmer betraten, nicht eben mit besonders guter Grazie gesetzt hatte.
»Bin ich hier nöthig? fragte er.
Grosse war im Begriff, die Frage noch unliebenswürdiger zu beantworten als sie gestellt war, als ich ihn durch einen Blick zurück hielt. »Ich muß Sie sprechen«, flüsterte ich ihm in’s Ohr. Er winkte mir zu, wandte sich dann rasch nach Oscar um und fragte ihn:
»Wohnen Sie hier im Hause?
»Ich wohne im Hotel drüben an der Ecke.«
»Gehen Sie nach Ihrem Hotel und erwarten Sie mich dort.«
Zu meiner großen Ueberraschung ließ Oscar sich dieses peremtorische Geheiß ruhig gefallen. Er verabschiedete sich schweigend von mir und verließ das Zimmer. Grosse rückte einen Stuhl nahe an den meinigen heran und setzte sich in zutraulich väterlicher Weise zu mir.
»Nun, mein liebes Kind, erzählen Sie mir einmal, worüber haben Sie sich abgehärmt, seit ich zuletzt hier war. Seien Sie, bitte, ganz offen gegen Papa Grosse. Kommen Sie, fangen Sie an, fangen Sie an!
Ich glaube, er hatte seine schlechte Laune an meiner Tante und Oscar ausgelassen. Er sagte jene Worte in einem mehr als freundlichen in einem fast zärtlichen Ton. Seine wildblickenden Augen schienen hinter ihren Brillengläsern einen sanften Ausdruck anzunehmen. Er ergriff meine Hand und streichelte sie, um mich zu ermuthigen.
Manches, was in diesem Tagebuche steht, konnte ich ihm natürlich nicht anvertrauen. Mit diesen nothwendigen Ausnahmen und ohne auf die peinliche Angelegenheit meines veränderten Verhältnisses zu Madame Pratolungo näher einzugehen, bekannte ich ihm ganz offen, wie traurig ich meine Empfindungen Oscar gegenüber verändert finde und wie viel weniger glücklich ich mich in Folge dessen mit ihm fühle. »Ich bin nicht krank, wie sie glauben«, erklärte ich ihm. »Ich bin nur unzufrieden mir mir selbst und ein wenig kleinmüthig, wenn ich an die Zukunft denke.« Nachdem ich mich so offen gegen ihn ausgesprochen hatte, hielt ich den Augenblick für gekommen, die Frage zu stellen, die ich an ihn zu richten beschlossen hatte, sobald ich ihn wiedersehen würde.
»Die Wiederherstellung meiner Sehkraft«, sagte ich, »hat ein neues Wesen aus mir gemacht. Habe ich denn nun aber durch den Gewinn des Gesichtssinn den Gefühlssinn, den ich während meiner Blindheit hatte, ganz verloren? Ich möchte wissen, ob ich diesen Sinn wieder erlangen werde, wenn ich mich erst an die Neuheit meiner Lage gewöhnt haben werde. Ich möchte wissen, ob ich mich jemals wieder Oscar’s Gesellschaft erfreuen werde, wie ich mich ihrer in früheren Tagen zu erfreuen pflegte, bevor Sie mich geheilt hatten, in jenen glücklichen Tagen, Papa Grosse, wo ich ein Gegenstand des Mitleids war, und wo alle Leute mich das »arme Fräulein Finch« nannten?«
Ich hatte noch mehr zu sagen, aber bei diesen Worten that mir Grosse, sicher unabsichtlich, plötzlich Einhalt. Zu meinem größten Erstaunen ließ er meine Hand los und wandte sich plötzlich ab, wie wenn es ihm peinlich wäre, daß ich ihn ansähe. Er ließ seinen schweren Kopf auf die Brust sinken, erhob seine großen behaarten Hände, schüttelte sie traurig und ließ sie auf seine Knie fallen. Dieses sonderbare Benehmen und das noch sonderbarere Schweigen, von welchem dasselbe begleitet war, machten mich so unbehaglich, daß ich in ihn drang, sich zu erklären.
»Was haben Sie?« fragte ich. »Warum antworten Sie mir nicht?«
Er raffte sich plötzlich auf und schlang seinen Arm so sanft um mich, wie man es bei einem zu andern Zeiten so rauhen Mann kaum hätte möglich halten sollen.
»Es ist nichts, mein liebes Kind sagte er, »ich bin nur ein wenig verstimmt. In Eurem englischen Klima bekommen auch Fremde bisweilen Euren englischen Spleen und an diesem Spleen leide ich jetzt, ich will ihn mir aber vergehen lassen und dann munter und vergnügt wieder zu Ihnen zurückkommen.«
Nach dieser sonderbaren Erklärung stand er auf und versuchte es, mir eine Art von Antwort, eine sehr sonderbare Antwort auf meine Frage zu geben: »Was das Andere betrifft, jawohl Sie haben den Nagel aus den Kopf getroffen. Es ists wie Sie sagen, Ihr Gesichtssinn, der an die Stelle Ihres Gefühlssinns getreten ist. Wenn sich Ihr Gesichts- und Gefühlssinn erst an einander gewöhnt haben werden, so wird Ihr Gesichtssinn seinen Platz behaupten und Ihr Gefühlssinn wird wieder seinen früheren Platz einnehmen; der eine wird dem anderen das Gleichgewicht halten, Sie werden wieder fühlen, wie Sie es früher es gethan haben und Sie werden sehen, wie Sie es früher nicht gethan haben, beides zu gleicher Zeit und beides in schönerem Einklang als früher. Da haben Sie meine Ansicht. Jetzt lassen Sie mich mir meinen Spleen vergheen. Ich schwöre Ihnen, als ein anderer Mensch wiederzukommen, bis dahin leben Sie wohl, mein liebes Kind.«
Nachdem er das Alles in leidenschaftlicher Hast herausgepoltert hatte, wie wenn er so rasch wie möglich fort wolle, küßte er mich auf die Stirn, griff nach seinem schäbigen Hut und eilte zum Zimmer hinaus
Was hatte das zu bedeuten?
Hält er mich noch immer für ernsthaft krank? Ich bin zu angegriffen, um mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was mein lieber alter Doktor gemeint hat. Es ist ein Uhr Morgens und ich habe noch Alles das niedergeschrieben, was sich im Laufe des Tages zutrug. Meine Augen fangen an, mir weh zu thun und, sonderbar genug, ich habe die letzten zwei oder drei Zeilen, die ich geschrieben habe, kaum sehen können. Sie sehen aus, als wenn die Tinte ganz blaß geworden wäre. Wenn Grosse wüßte, was ich jetzt thue! Die letzten Worte, die er zu mir sagte, bevor er wieder zu seinen Patienten nach London abreiste, waren:
»Sie dürfen nicht mehr lesen und nicht mehr schreiben, bevor ich wiederkomme.«
Das ist leicht gesagt. Ich habe mich so an mein Tagebuch gewöhnt, daß ich gar nicht mehr ohne dasselbe fertig werden kann. Aber doch muß ich jetzt aufhören und zwar aus dem allertriftigsten Grunde. Obgleich ich drei brennende Kerzen vor mir auf dem Tisch habe, kann ich doch nicht mehr genug sehen, um zu schreiben. Zu Bett! zu Bett!«
(Anmerk: Ich habe mich absichtlich jeder Unterbrechung von Lucilla’s Bericht bis zu dieser Stelle enthalten. Hier, wo die Schreiberin inne hält, muß ich gewisser Dinge Erwähnung thun, von welchen sie selbst zur Zeit nichts wußte.
Der Leser hat gesehen, wie ihr treuer Instinkt, daran arbeitete, dem geliebten Kinde den grausamen Betrug zu enthüllen, der an ihr verübt wird und wie er vergebens arbeitet. Ein Gefühl, das sie nicht niederzukämpfen vermag, läßt, sie vor dem Manne zurückscheuen, der sie verleiten möchte, mit ihr fortzugehen, obgleich er ihr als ihr vermeintlicher Verlobter entgegentritt. Eine innere Stimme zeigte ihr die schwachen Stellen an den von Nugent gegen mich erhabenen Anklagen den Mangel genügender Motive für das Benehmen, dessen er mich beschuldigt und die außerordentliche Unwahrscheinlichkeit meines Complottirens und Intriguirens ohne jeden Vortheil für mich, nur zu dem Zwecke, sie dahin zu bringen, den Mann zu heirathen, den sie nicht liebte. Sie fühlt diese Schwankungen und Schwierigkeiten, was denselben aber wirklich zu Grunde liegt, das zu errathen ist ihr unmöglich.
Unzweifelhaft hat der Leser bisher eine klare Vorstellung von ihrer sonderbaren und rührenden Lage erhalten. Kann ich aber sicher darauf rechnen, daß der Leser ganz begreift, wie sehr sie von der Angst der Enttäuschung und der Ungewißheit leidet, welche sich vereinigt haben, sie in dieser kritischen Periode ihres Lebens zu peinigen?
Ich bezweifle es und zwar aus dem triftigen Grunde, daß der Leser sich nur aus ihrem Tagebuche hat unterrichten können, aus welchem deutlich hervorgeht, daß sie selbst es nicht ganz begreift. Wie die Dinge stehen, scheint mir der Augenblick gekommen, selbst die Bühne wieder zu betreten, dem Leser klar zu machen, was ihr Arzt wirklich von ihrem Zustande dachte, indem ich erzähle, was zwischen Grosse und Nugent vorging, als der Erstere im Hotel erschien.
Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich jetzt, wo ich dieses schreibe, im Besitz von Mittheilungen bin, welche mir die betreffenden Personen selbst später gemacht haben. In Einzelheiten weichen die Berichte wohl von einander ab. Die Resultate stimmen aber völlig mit einander überein.
Nugent’s Anwesenheit in Ramsgate war für Grosse natürlich eine Ueberraschung.
Bei seiner Kenntniß von dem früheren Zustande der Dinge in Dimchurch konnte er jedoch nicht einen Augenblick zweifelhaft darüber sein, in welcher Eigenschaft Nugent sich Lucilla präsentirt habe und es konnte ihm, nach dem, was er gesehen und was sie selbst ihm mitgetheilt hatte, nicht einen Augenblick entgehen, daß der Betrug unter den obwaltenden Umständen den denkbar schlechtesten Einfluß auf ihren Gemüthszustand übe. Er war nicht der Mann, einer solchen Erkenntniß gegenüber vor der Erfüllung seiner ihm klar vorgezeichneten Pflicht zurückzuschrecken. Als er das Zimmer im Hotel betrat, in welchem Nugent ihn erwartete, gab er den Zweck seines Besuchs ohne weiteres bündig durch die Worte zu erkennen: »Sie müssen auf der Stelle fort von hier.« Nugent bot ihm ganz ruhig einen Stuhl an und fragte ihn, was er damit sagen wolle.
Grosse dankte für den Stuhls erfüllte aber die Bitte um eine Erklärung in Ausdrücken, die von beiden Theilen verschieden berichtet werden. Aus einer Combination beider Angaben ergiebt sich für mich, daß Grosse sich etwa folgendermaßen ausgesprochen haben muß:
»In meiner Eigenschaft als Arzt, Herr Nugent, mische ich mich nie in die häuslichen Angelegenheiten meiner Patienten, die mich nichts angehen. In dem Fall von Fräulein Finch habe ich mit ihren Familienangelegenheiten nichts zu thun. Meines Amtes aber ist es, Alles was in meiner Macht steht für die Wiederherstellung der Sehkraft der jungen Dame zu thun. Wenn ich ihren Zustand gebessert finde, so frage ich nicht weiter wie und warum. Gleichviel was für Täuschungen Sie sich gegen sie erlauben mögen, ich kümmere mich darum nicht, noch mehr, ich mache mir dieselben zu Nutze, so lange dieselben einen wohlthuenden Einfluß auf ihre physische und geistige Verfassung üben. In dem Augenblick aber, wo ich finde, daß Ihr Betrug, Ihr Auftreten als Ihr Bruder, welches früher beruhigend und tröstend auf sie wirkte, aus ihre körperliche Gesundheit und ihren Seelenfrieden einen störenden Einfluß übt, stelle ich mich Ihnen in meiner Eigenschaft als ihr Arzt entgegen und thue Ihnen aus ärztlichen Gründen Einhalt. Sie rufen bei meiner Patientin einen Conflict von Gefühlen hervor, welcher bei ihrem nervösen Temperament nicht ohne schwere Beeinträchtigung ihrer Gesundheit andauern kann. Und eine schwere Beeinträchtigung ihrer Gesundheit ist gleichbedeutend mit einer schweren Beeinträchtigung ihrer Sehkraft. Das will ich nicht dulden, ich erkläre Ihnen kurz, packen Sie ein und gehen Sie fort, alles Andere geht mich nichts an. Nach dem, was Sie selbst gesehen haben, überlasse ich es Ihnen, ob Sie Fräulein Finch Ihren Bruder wieder zuführen wollen oder nicht. Ich sage nur, gehen Sie! Brauchen Sie irgend einen beliebigen Vorwand, aber gehen Sie, bevor Sie größeres Unheil angerichtet haben. Sie schütteln den Kopf. Heißt das, daß Sie sich weigern? Ich lasse Ihnen einen Tag Bedenkzeit, um sich zu entschließen. Ich habe Patienten in London, zu denen ich zurück muß. Aber übermorgen komme ich wieder her. Wenn ich Sie dann noch hier finde, so werde ich Fräulein Finch sagen, daß Sie so wenig Oscar Dubourg sind, wie ich es bin. In ihrem gegenwärtigen Zustande sehe ich eine geringere Gefahr darin, ihr selbst diese erschütternde Enthüllung zu machen, als sie der langsamen Seelenqual zu überlassen, welche Sie ihr durch Ihre fortgesetzte Anwesenheit bereiten. Das ist mein letztes Wort. In einer Stunde reife ich nach London zurück. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Nugent. Wenn Sie klug sind, so folgen Sie mir an die Eisenbahnstation.«
Von hier an gehen die Berichte aus einander. Nugent behauptet, daß er Grosse bis an das Haus von Fräulein Batchford zurückbegleitet, die Sache unterwegs mit ihm erörtert und ihn erst vor der Hausthüre verlassen habe. Grosse’s Bericht dagegen enthält davon nichts. Indessen kommt auf diese Abweichung hier nichts an. Beide stimmen in Betreff des Resultates ihrer Zusammenkunft überein. Als Grosse mit dem Zug nach London abfuhr, war Nugent nicht auf der Station. Die nächste Aufzeichnung des Tagebuches ergiebt, daß er wenigstens noch diesen ganzen Tag und die folgende Nacht in Ramsgate blieb. Der Leser weiß jetzt aus meinem Bericht über das Verfahren des Arztes, wie ernst er den Fall seiner Patientin ansah und wie gewissenhaft er seine Pflicht als Ehrenmann erfüllte. Nach diesen unerläßlichen Mittheilungen ziehe ich mich wieder zurück und überlasse es Lucilla, den nächsten Ring in der Kette der Ereignisse zu melden. P.)
»Den 5. September. Sechs Uhr Morgens Ich habe nur wenige Stunden eines unruhigen, fortwährend durch schreckliche Träume gestörten Schlafes genossen — unablässig schreckten mich nervöse Zuckungen, die meinen ganzen Körper aufs Tiefste zu erschüttern schienen. Ich kann es nicht länger ertragen. Die Sonne geht auf. Ich bin aufgestanden und hier sitze ich an meinem Schreibtisch und versuche es, den noch unvollständigen Bericht der gestrigen Ereignisse in meinem Tagebuch zu ergänzen.
Ich habe eben zum Fenster hinausgesehen — und da hat mich etwas merkwürdig frappirt. Ich habe hier noch nicht einen so dicken Nebel gesehen wie diesen Morgen. Von der See ist fast nichts zu sehen. Alles ist so trübe und dunkel. Selbst die Gegenstände hier in meinem Zimmer sehe ich nicht entfernt so deutlich wie gewöhnlich. Offenbar dringt der Nebel durch das geöffnete Fenster ins Zimmer. Er drängt sich zwischen mir und mein Papier und zwingt mich, mich dicht über die Blätter hinzubeugen, um zu sehen, was ich schreibe. Wenn die Sonne erst höher am Himmel steht, werden, die Gegenstände schon wieder klarer werden. Inzwischen muß ich es so gut machen wie ich kann.
Grosse kam nach seinem Spaziergang wieder; war aber in seinem Wesen noch ganz ebenso geheimnißvoll wie vorher. Er befahl mir ganz peremtorisch, meine Augen nicht zu sehr anzustrengen, und verbot mir, wie ich bereits erwähnt habe, alles Lesen und Schreiben. Als ich ihn aber nach seinen Gründen fragte, wußte er mir zum ersten Male, seit ich ihn kenne, keine Gründe anzugeben. Ich mache mir deshalb auch kein Gewissen daraus, ihm nicht zu gehorchen. Aber doch macht es mich, offen gestanden, etwas unbehaglich, wenn ich an sein gestriges sonderbares Benehmen denke. Er sah mich mit einem höchst sonderbaren Blick an, wie wenn er etwas in meinem Gesichte finde, was er früher noch nie gesehen habe. Zweimal verabschiedete er sich von mir und zweimal kam er wieder, und schwankte, ob er nicht lieber in Ramsgate bleiben und seine Patienten in London für sich selber sorgen lassen wolle. Seiner merkwürdigen Unentschlossenheit machte schließlich ein von London an ihn abgeschicktes Telegramm ein Ende, vermuthlich die dringende Aufforderung eines seiner Patienten, zurückzukommen. In schlechtester Laune ging er eiligst davon und sagte mir nur noch, daß ich ihn am sechsten dieses Monats wieder erwarten solle.
Als dann später Oscar kam, harrte meiner noch eine Ueberraschung.
Wie Grosse war auch Oscar wie umgewandelt und benahm sich auch ganz sonderbar. Zuerst war er so kalt und schweigsam, daß ich glaubte, er sei beleidigt; dann aber verfiel er plötzlich in das entgegengesetzte Extrem, sprach so viel und so laut und wurde so ausgelassen heiter, daß meine Tante mich leise fragte, ob ich nicht, wie sie, glaube, daß er zu viel getrunken habe. Schließlich sang er zu meiner Begleitung am Clavier und brach dann plötzlich ab. Ohne ein Wort der Erklärung oder Entschuldigung ging er plötzlich in die andere Ecke des Zimmers. Als ich einige Augenblicke später dahin folgte, sah er mich mit einem Blick an, der mich unbeschreiblich unglücklich machte, einem Blick, wie wenn er geweint hätte. Spät am Abend schlief meine Tante über ihrem Buch ein, so daß wir nun in einem kleinen Nebenzimmer miteinander sprechen konnten. Ich war es, die die Gelegenheit ergriff, nicht er. Er war so unbegreiflich wenig bereit, mit mir in’s Nebenzimmer zu gehen, daß ich etwas sehr unweibliches thun, ich meine, seinen Arm ergreifen, ihn selbst hineinführen und ihn flüsternd bitten mußte, mir zu sagen, was er habe.
»Nichts als mein altes Leiden«, antwortete er.
Ich nöthigte ihn, sich aus ein altmodisches Kanapee, auf welchem gerade zwei Personen Platz hatten, zu mir zu setzen.
»Was verstehst Du unter Deinem alten Leidens? fragte ich.
»O, Du weißt ja!«
»Ich weiß nichts«
»Du würdest es wissen, wenn Du mich wirklich liebtest.«
»Oscar, Du solltest Dich schämen, das zu sagen, Dich schämen, an meiner Liebe zu zweifeln.«
»Wirklich? So lange ich hier bin, zweier ich, ob Du mich liebst. Es fängt nachgerade an, bei mir ein altes Leiden zu werden. Nimm keine Notiz davon, ich leide bisweilen noch ein wenig.«
Er war so grausam und so ungerecht, daß ich aufstand, um fortzugehen, ohne ein Wort weiter zu sagen. Aber ach, er sah so verlassen und so ergeben aus, wie er mit gesenktem Kopf und die Hände nachlässig über die Kniee gekreuzt dasaß, daß ich es nicht über mich gewinnen konnte, hart gegen ihn zu sein. Hatte ich Unrecht? ich weiß es nicht. Ich verstehe mich nicht darauf, Männer zu behandeln, und habe jetzt keine Madame Pratolungo, um mich in dieser Kunst zu unterweisen, Recht oder Unrecht, das Ende war, daß ich mich wieder zu ihm setzte.
»Du müßtest mich um Verzeihung dafür bitten«, sagte ich, »daß Du so von mir denkst und so von mir sprichst, wie Du es thust.«
»Ich bitte Dich um Verzeihung«, antwortete er demüthig. »Es thut mir leid, wenn ich Dich gekränkt habe.«
Wie konnte ich da widerstehen? Ich legte meine Hand aus seine Schulter und versuchte es, ihn zu bewegen, den Kopf zu erheben und mich anzusehen.
»Willst Du in Zukunft immer an mich glauben? Versprich mir das.«
»Ich kann nur versprechen, es zu versuchen, Lucilla; mehr kann ich wie die Dinge jetzt liegen, nicht versprechen.«
»Wie die Dinge jetzt liegen? Du sprichst ja heute Abend in Räthseln; erkläre Dich näher.«
»Ich habe mich schon heute Morgen auf dem Hafendamm erklärt.«
Das war hart, nachdem er mir Bedenkzeit bis zum Ende der Woche gegeben, mir seinen Vorschlag zu überlegen. Ich zog meine Hand von seiner Schulter herab. Er, der so lange ich blind war, nie etwas gethan hatte, was mich unangenehm berühren oder mich betrüben konnte, hatte mich jetzt in wenigen Minuten zum zweiten Mal unangenehm berührt und betrübt.
»Willst Du mich zwingen?« fragte ich, »nachdem Du mir heute Morgen Bedenkzeit gegeben hast?«
Jetzt stand er seinerseits auf, matt und mechanisch, wie ein Mensch, der nicht weiß, was er thut.
,Dich zwingen?« wiederholte er. »Habe ich das gesagt? Ich weiß selbst nicht, was ich sage und was ich thue. Du hast Recht und ich habe Unrecht. Ich bin ein elender Mensch, Lucilla; ich bin Deiner gänzlich unwürdig. Es wäre besser für Dich, Du sähest mich nie wieder.« Er hielt inne, ergriff meine beiden Hände und sah mich mit einem tieftraurigen Blick an. Dann ließ er plötzlich meine Hände los, sagte: »Gute Nacht, liebes Kind!« und schickte sich an, fortzugehen.
Ich hielt ihn zurück. »Willst Du schon fort?« fragte ich. »Es ist noch nicht spät.«
»Es ist besser für mich, wenn ich gehe.«
»Warum denn das?
»Ich bin in einer trüben Stimmung, es ist besser für mich, wenn ich allein bin.
»Sage das nicht, das klingt wie ein Vorwurf gegen mich.«
»Im Gegentheil; es ist nur meine Schuld. Gute Nacht.«
Ich wollte ihm nicht Gute Nacht sagen; ich wollte ihn nicht fortlassen. Die bloße Thatsache, daß er fortgehen wollte, enthielt einen Vorwurf für mich. Das hatte er noch nie gethan. Ich bat ihn, sich wieder zu setzen.
Er schüttelte den Kopf.
»Bleibe noch zehn Minuten.«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Bleibe fünf Minuten.«
Statt mir zu antworten, nahm er sanft eine lange Locke meines Haars in die Hand, die mir auf den Hals herabhing. Ich hatte mir diesen Abend zufällig meiner Tante zu Gefallen von ihrer Kammerjungfer mein Haar altmodisch frisiren lassen.
»Wenn ich noch fünf Minuten länger bleibe«, sagte er, »so muß ich Dich um etwas bitten.«
»Um was denn?«
»Du hast so schönes Haar, Lucilla«
»Du willst doch nicht etwa eine Locke von meinem Haar haben?«
»Warum denn nicht?«
»Ich habe Dir ja schon vor Jahren ein solches Andenken gegeben, hast Du das vergessen?«
(Anmerk. Das Andenken hatte natürlich der wahre Oscar bekommen und befand sich damals wie noch jetzt in seinem Besitz. Man beachte, wie rasch der falsche Oscar, sobald er zur Besinnung kommt, das begreift und wie geschickt er seine Entschuldigung daran gründet. P.)
»Er erröthete tief und senkte die Augen zu Boden. Ich sah deutlich, daß er sich schämte, und mußte schließen, daß er das Andenken wirklich vergessen habe. Eine Locke von seinem Haar befand sich in jenem Augenblick in einem Medaillon, daß ich um den Hals trug. Ich hatte, glaube ich, mehr Grund an ihm zu zweifeln, als er an mir. Ich fühlte mich so gekränkt, daß ich bei Seite trat und für ihn Platz machte, fortzugehen.«
»Du willst fortgehen«, sagte ich, »ich will Dich nicht länger aufhalten.«
Jetzt war die Reihe an ihm, mich zu bitten.
»Und wenn mir nun Dein Andenken geraubt wäre?« sagte er.
»Wie, wenn Jemand, den ich lieber nicht nennen möchte, es mir so genommen hätte?«
Ich verstand ihn auf der Stelle.
Sein unglücklicher Bruder hatte es ihm weggenommen. Mein Arbeitskorb stand dicht neben mir. Ich schnitt mir eine Haarlocke ab und band die beiden Enden derselben mit einem Stückchen blauen Bandes zusammen.
»Wollen wir wieder gute Freunde sein, Oscar?« war Alles, was ich sagte, als ich ihm die Haarlocke in die Hand druckte.
Wie von Wahnsinn ergriffen schlang er seine Arme um mich, drückte mich so heftig an sich, daß er mir wehe that, und küßte mich so leidenschaftlich, daß er mich erschreckte. Noch ehe ich wieder so weit zu Athem gekommen war, um mit ihm reden zu können, hatte er mich losgelassen und war in so jäher Eile davongegangen, daß er im Hinausgehen einen kleinen Tisch, auf welchem Bücher lagen, umstieß und meine Tante aufweckte.
Die alte Dame rief nach mir mit ihrer gewaltigsten Donnerstimme und präsentirte sich mir in der allersauersten Laune. Grosse war nach London abgereist, ohne sich im Mindesten bei ihr zu entschuldigen und Oscar hatte ihren Tisch mit Büchern umgeworfen. Die durch diese beiden groben Insulten erweckte Entrüstung verlangte laut ein Opfer und ersah, da im Augenblick niemand Anderes in der Nähe war, mich zu demselben. Meine Tante fand zum ersten Mal, daß sie zu viel unternommen habe, als sie sich die alleinige Obhut ihrer Nichte in Ramsgate aufgebürdet.
»Ich kann unmöglich die ganze Verantwortlichkeit tragen«, sagte sie, »es ist in meinem Alter zu viel für mich. Ich werde Deinem Vater schreiben, Lucilla. Du weißt, ich habe ihn immer gehaßt und werde ihn immer hassen. Seine politischen und religiösen Ansichten sind bei einem Geistlichen geradezu verabscheuungswürdig. Aber er ist doch einmal Dein Vater und es ist nach dem, was der grobe Deutsche über Deine Gesundheit gesagt hat, meine Pflicht, ihm anzubieten, Dich wieder zu ihm zu bringen oder wenigstens seine ausdrückliche Genehmigung dazu einzuholen, daß Du noch länger unter meiner Obhut hierbleibst. Beides würde mich, wie Du siehst, meiner Verantwortlichkeit entheben. Meiner Stellung vergebe ich dadurch nichts. Meine Stellung ist mir ganz klar. Ich würde die Einladung Deines Vaters zu Deiner Hochzeit in aller Form angenommen haben, wenn die Hochzeit stattgefunden hätte. Daraus ergiebt es sich als selbstverständlich, daß ich Deinem Vater in aller Form berichten kann, wie der ärztliche Ausspruch über Deinen Gesundheitszustand lautet. Wie brutal derselbe auch geäußert worden sein mag, es war doch immer ein ärztlicher Ausspruch, den ich verpflichtet bin, Deinem Vater mitzutheilen.«
Da ich nur zu gut wußte, wie lebhaft mein Vater die Abneigung meiner Tante gegen ihn erwiderte, bot ich Alles auf, den Entschluß meiner Tante zu bekämpfen, ohne die Sache noch schlimmer zu machen, daß ich ihr meine wahren Motive mittheilte. Nicht ohne Schwierigkeit gelang es mir endlich, sie zu bewegen, mit dem beabsichtigten Bericht über mich noch ein paar Tage zu warten und wir schieden von einander, nachdem der Anfall von schlechter Laune bei meiner Tante wie gewöhnlich rasch vorüber gegangen war, wieder als gute Freunde.
Diese kleine Episode in der Geschichte des Abends lenkte meine Gedanken im Augenblick von Oscar’s sonderbarem Benehmen ab. Aber von dem Augenblick an, wo ich hier in meinem Zimmer allein war, habe ich bis jetzt fast unaufhörlich daran denken müssen und davon geträumt, so schreckliche Träume, daß meine Feder sich sträubt, sie niederzuschreiben. Wenn wir uns heute wiedersehen, wie wird er aussehen? was wird er sagen?
Er hatte gestern Recht. Ich bin wirklich kalt gegen ihn; mit meinen Gefühlen für ihn ist eine Veränderung vorgegangen, die ich selbst nicht verstehe. Mein Gewissen klagt mich jetzt, wo ich allein bin, an, und doch ist es, Gott weiß es, nicht meine Schuld. Wie beklage ich Oscar, wie beklage ich mich selbst.
Noch nie, so lange wir hier vereint sind, habe ich mich so nach ihm gesehnt, wie in diesem Augenblick. Er kommt bisweilen zum ersten Frühstück; wird er es heute thun?
O, wie mich meine Augen schmerzen, und wie der Nebel nicht aus dem Zimmer weichen will. Wle wäre es, wenn ich das Fenster schlösse und mich noch eine Weile wieder in’s Bett legte?
Neun Uhr Morgens. Vor einer halben Stunde, kam die Jungfer in’s Zimmer und weckte mich. Sie wollte wie gewöhnlich das Fenster öffnen. Ich hielt sie zurück.
»Ist der Nebel fort?« fragte ich.
Das Mädchen sah mich erstaunt an. »Was für ein Nebel, Fräulein?«
»Haben Sie ihn nicht gesehen?«
»Nein, Fräulein.«
»Wann sind Sie denn aufgestanden?«
»Um sieben Uhr, Fräulein.« .
Um sieben Uhr schrieb ich noch an meinen Tagebuch und der Nebel lag noch auf allen Gegenständen im Zimmer. Personen niedrigen Standes achten meistens merkwürdig wenig auf die sie umgebende Natur. In den Tagen meiner Blindheit konnte ich von Dienstboten und Arbeitern nie eine befriedigende Auskunft über die Aussichten um Dimchurch erhalten. Sie schienen für nichts, was außerhalb ihrer Küche oder ihres sonstigen Arbeitsfeldes lag, ein Auge zu haben. Ich stand auf, führte das Mädchen selbe an’s Fenster und öffnete dasselbe.
»Da sehen Sie«, sagte ich. »Der Nebel ist nicht ganz so dick mehr wie vor einigen Stunden. Aber er liegt doch immer noch deutlich da.«
Das Mädchen blickte ganz erstaunt hin und her zwischen mir und der Aussicht vor uns.
»Nebel?« wiederholte sie. »Bitte um Vergebung, Fräulein, aber so viel ich sehen kann, ist es ein schöner klarer Morgen.
»Klar?« wiederholte ich meinerseits.
»Ja, Fräulein.«
»Wollen Sie damit sagen, die Aussicht auf die See sei klar?«
»Die See ist schön blau, Fräulein und die Aussicht ganz frei; man kann ja die Schiffe sehen.«
»Wo sind Deine Schiffe?
Sie deutete zum Fenster hinaus auf einen bestimmten Fleck.
»Da sind zwei, Fräulein. Ein großes Schiff mit drei Marien und dicht dahinter ein kleines Schiff mit einem Mast.«
Ich sah ihrem Finger nach und strengte meine Augen an. Alles was ich an der von dem Mädchen als den Platz der Schiffe bezeichneten Stelle entdecken konnte, war ein trüber grauer Nebel, mit etwas wie einem kleinen blauen Fleck darauf.
Zum ersten Mal fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß die Trübung, die ich dem Nebel zugeschrieben, wohl in Wahrheit in meinen Augen liegen möge. Im ersten Augenblick war ich ein wenig erschrocken. Ich trat vom Fenster zurück und erklärte dem Mädchen meinen Irrthum so gut ich konnte. Ich schickte sie dann, sobald ich konnte, fort, wusch meine Augen mit einem von Grosse verordneten Augenwasser und versuchte es wieder, an meinem Tagebuch weiter zu arbeiten. Zu meinem Trost geht es jetzt besser als vorhin. Aber doch will ich mir diese Erfahrung zur Warnung dienen lassen, Grosse’s Vorschriften etwas strenger zu beobachten, als ich es bisher gethan habe.Sollte er an meinen Augen etwas bemerkt haben, was er mir zu sagen Anstand genommen hätte? Unsinn! Grosse ist nicht der Mann, sich vor einem offenen Ausspruch zu scheuen. Ich habe meine Augen nur ein wenig zu sehr angestrengt, das ist das Ganze. Ich will mein Tagebuch schließen und zum Frühstück hinuntergehen.
Zehn Uhr Vormittags. Ich muß mein Tagebuch noch einen Augenblick wieder öffnen.
Es hat sich etwas ereignet, was ich nothwendig in diese Erzählung der Geschichte meines Lebens eintragen muß. Ich bin so verdrießlich und so aufgebracht. Die Jungfer, diese dumme Schwatzliese, hat meiner Tante erzählt, was heute morgen zwischen ihr und mir an meinem Fenster Vorgegangen ist. Meine Tante hat das sofort beunruhigt und sie bestand darauf, nicht nur an Grosse, sondern auch an meinen Vater zu schreiben. Bei seiner gereizten Stimmung gegen meine Tante wird mein Vater ihren Brief entweder unbeantwortet lassen oder sie durch eine unartige Antwort beleidigen. In beiden Fällen werde ich der leidende Theil sein; meine Tante wird sich für die Beleidigung meines Vaters, den sie nicht erreichen kann, an mir rächen. Nervös und verstimmt, wie ich es bereits bin, macht mich die Aussicht, mich in einen neuen Familienstreit verwickelt zu sehen, ganz elend. Wenn ich daran denke, ergreift mich die Lust, meiner Tante undankbarer Weise zu entlaufen.
Noch immer keine Spur und keine Nachrichten von Oscar.
Mittags zwölf Uhr. — Es bedurfte nur noch einer Prüfung, um mein Leben hier ganz unerträglich zu machen, und diese Prüfung ist jetzt gekommen.
Eben übergab mir ein Bote aus dem Hotel einen Brief von Oscar. Er theilt mir darin mit, daß er beschlossen habe, Ramsgate mit dem nächsten Zuge zu verlassen. Der nächste Zug geht in vierzehn Minuten ab. Guter Gott! Was soll ich thun!
Meine Augen brennen. — Ich weiß, es schadet ihnen, wenn ich weine. Aber wie kann ich umhin, zu weinen? Wenn ich Oscar fortgehen lasse, so ist es zwischen uns vorbei, das sagt mir sein Brief deutlich genug.« Warum bin ich so kalt gegen ihn gewesen? Es wäre nicht zu viel, wenn ich ihm meine ängstlichen Rücksichten zum Opfer brächte, um das wieder gut zu machen. Und doch schreckt etwas in mir beharrlich davor zurück. Was soll ich thun? Was soll ich thun?
Ich muß die Feder hinlegen und versuchen, ob ich denken kann. Meine Augen versagen mir völlig ihren Dienst. Ich kann nicht mehr schreiben.«
(Anmerk. Ich will hier eine Abschrift des Briefes hersetzen, von welchem Lucilla spricht.
Nugent selbst behauptet, er habe denselben in einem Augenblick der Reue geschrieben, um ihr eine Gelegenheit zu geben, das Wort zu brechen, durch welches sie sich unschuldiger weise gegen ihn verpflichtet glaubte. Er erklärt, er habe, als er den Brief schrieb, aufrichtig geglaubt, sie werde sich durch denselben beleidigt fühlen. Eine andere Erklärung des Briefes ist die, daß Nugent, als er sich genöthigt sah, Ramsgate zu verlassen, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, von Grosse bei dessen Rückkehr am nächsten Tage als Betrüger bloßgestellt zu werden, die Gelegenheit ergriff und seine Abwesenheit als Mittel benutzte, um Lucilla zu bewegen, ihn nach London zu begleiten. Man frage mich nicht, welche von diesen beiden Auffassungen ich mir zu eigen mache. Aus Gründen, die der Leser verstehen wird, wenn er meine Erzählung zu Ende gelesen haben wird, möchte ich meine Ansicht hier lieber noch nicht aussprechen.
Man lese den Brief und entscheide selbst:
»Meine theuerste Lucilla. Nach einer schlaflosen Nacht habe ich beschlossen, Ramsgate mit dem nächsten Zuge zu verlassen, der unmittelbar, nachdem Du diesen Brief erhalten haben wirft, abgeht. Der gestrige Abend hat mich überzeugt, daß meine Gegenwart hier Dich, nach dem, was ich Dir aus dem Hafendamme gesagt habe, unglücklich macht. Irgend ein geheimer Einfluß, der zu mächtig ist, als daß Du ihm widerstehen könntest, hat mir Dein Herz abwendig gemacht. Wenn die Zeit gekommen sein wird, wo Du Dich zu entscheiden haben wirst, ob Du unter den von mir proponirten Bedingungen mein Weib werden willst, so wirst Du, das sehe ich nur zu deutlich voraus, »Nein« sagen. Laß mich Dir die Sache weniger schwer machen, mein geliebtes Kind, indem ich es Dir überlasse, das entscheidende Wort zu schreiben, anstatt es gegen mich auszusprechen. Wenn Du Deine Freiheit wieder zu erhalten wünschest, so will ich Dich, es koste mich, was es wolle, von Deinem Worte entbinden. Ich liebe Dich zu innig, um Dich deshalb zu tadeln. Meine Adresse in London steht auf der Rückseite. Lebe wohl!
Oscar.«
Die auf der nächsten Seite stehende Adresse ist die eines Hotels.
In dem Tagebuch folgen auf die letzten eben mitgetheilten Zeilen noch einige weitere. Aber bis auf einige vereinzelte Worte ist es unmöglich, die Schrift zu entziffern. Die nachtheilige Wirkung auf ihre Augen, welche ihr unvorsichtiger Gebrauch derselben, ihr krampfhaftes Weinen, ihre unruhigen Nächte und die fortwährende durch Aufregung und Ungewißheit hervorgerufene Spannung geübt haben, hat offenbar die schlimmste jener unausgesprochenen Befürchtungen, welche Grosse bei ihrem Anblick hegte, gerechtfertigt. Die Handschrift, in welcher ihre letzten Zeilen geschrieben, ist positiv schlechter, als ihr schlechtestes Schreiben in den Tagen ihrer Blindheit.
Indessen ist der Entschluß, den sie nach Empfang, des vorstehenden Briefes faßte, hinreichend ersichtlich aus einem Billet von Nugent’s Hand, welches ein Gepäckträger der Eisenbahn in Fräulein Batchsord’s Wohnung abgab. Spätere Ereignisse machen es nothwendig, dem Leser auch dieses Billet mitzutheilen. Es lautet wie folgt:
»Gnädige Frau! Ich schreibe Ihnen auf Lucilla’s Wunsch, um Sie zu bitten, sich nicht zu ängstigen, Wenn Sie finden, daß Ihre Nichte Ramsgate verlassen hat. Sie begleitet mich auf meine ausdrückliche Bitte nach dem Hause einer Verwandten von mir, einer verheiratheten Frau, unter deren Obhut sie bis zu unserer Verheirathung bleiben wird. Die Gründe, welche sie zu diesem Schritt veranlaßt haben und welche sie nöthigen, ihren neuen Aufenthaltsort für jetzt geheim zu halten, werden wir Ihnen und ihrem Vater am Tage unserer Hochzeit offen mittheilen. Inzwischen bittet Lucilla Sie, ihre plötzliche Abreise zu entschuldigen und diesen Brief an ihren Vater zu befördern. Sie beide werden sich hoffentlich erinnern, daß sie mündig ist und daß sie nur ihre Heirath mit einem Manne beschleunigt, mit dem sie mit Genehmigung ihrer Familie schon lange verlobt ist.
Ihr ganz ergebener
Oscar Dubourg«
Dieser Brief wurde Fräulein Batchford beim zweiten Frühstück fast in demselben Augenblick übergeben, wo die Magd ihrer Herrin gemeldet hat, daß das Fräulein nirgends zu finden sei und daß ihr Reisesack aus ihrem Zimmer verschwunden sei. Der Zug nach London war bereits um diese Zeit fort. Fräulein Batchford, die kein Recht hatte, einzuschreiten, beschloß nach einer Berathung mit einem Freunde sofort nach Dimchurch zu reisen und die Sache in Herrn Finch’s Hände zu legen.
Fünftes Kapitel - Das italiensche Dampfboot.
Lucilla’s Tagebuch hat dem Leser alles das mitgetheilt, was Lucilla mitzutheilen im Stande war. Der Leser gestatte mir nun, meine Erzählung selbst wieder aufzunehmen. Soll ich, wie der beliebte englische Clown, der alljährlich in Eurer barbarischen englischen Pantomine wieder erscheint, sagen: »Da bin ich wieder! Wie geht es Euch?« Nein, das will ich lieber bleiben lassen. Euer Clown ist einer Eurer nationalen Institutionen und mit dieser geheimnißvollen Quelle englischer Belustigung soll kein Fremder sich einfallen lassen zu spaßen.
Ich kam in Marseille, wenn ich nicht irre, am 15. August an.
»Ich darf nicht auf die Sympathie des Lesers für meinen guten Papa rechnen. Ich will über Alles, was dieses ehrwürdige Opfer der liebenswürdigen Täuschungen des Herzens betrifft, so rasch hinweggehen, wie mein kindlicher Respect und meine Liebe es irgend gestatten. Das Duell, dessen der Leser sich hoffentlich noch erinnert, war ein Pistolenduell gewesen, und die Kugel, die meinen Vater getroffen hatte, war noch nicht herausgezogen, als ich an seinem Krankenbette eintraf. Er lag im Fieber und erkannte mich nicht. Zwei Tage später zog der behandelnde Arzt die Kugel heraus. Eine Weile befand sich mein Vater in Folge dessen besser, — dann trat ein Rückfall ein. Am 1. September durften wir wieder hoffen, ihn noch am Leben erhalten zu sehen. Erst an diesem Tage war ich endlich ruhig genug, um wieder an Lucilla zu denken und mich der freundlichen Bitte Frau Finch’s zu erinnern, ihr von Marseille aus zu schreiben.
Ich schrieb kurz und erzählte der feuchten Pfarrersfrau, nur etwas ausführlichen was ich hier eben mitgetheilt habe. Mein Hauptzweck dabei war, wie ich bekenne, durch Frau Finch Nachrichten von Lucilla zu erhalten. Nachdem ich den Brief auf die Post gebracht, ging ich an die Erfüllung einer anderen Pflicht, welche ich vernachlässigt hatte, so lange mein Vater in Lebensgefahr schwebte. Ich ging zu dem Mann, an welchen mein Advocat mich empfohlen hatte, um die Nachforschungen nach Oscar ins Werk zu setzen, welche ich anstellen zu lassen beschlossen hatte, als ich London verließ. Der Mann stand in Verbindung mit der Polizei in der Eigenschaft eines nicht officiell anerkannten, aber gleichwohl mit wichtigen Aufträgen betrauten geheimen Agenten.
Als er von mir hörte, wie viel Zeit verflossen sei, ohne daß die leiseste Spur des Entflohenen aufgefunden sei, machte er ein sehr bedenkliches Gesicht und erklärte mir geradeheraus, er zweifle, ob er mein in ihn gesetztes Vertrauen rechtfertigen und mir von dem geringsten Nutzen werde sein können. Als er aber sah, daß ich ernstlich entschlossen sei, keine Anstrengung zu scheuen richtete er eine letzte Frage in folgenden Ausdrücken an mich:
»Sie haben mir den Herrn noch nicht beschrieben. Will es vielleicht ein glücklicher Zufall, daß seine persönliche Erscheinung etwas Auffallendes hat?«
»Etwas sehr Auffallendes antwortete ich.
»Beschreiben Sie es mir gefälligst genau, Madame.«
Ich beschrieb Oscars Hautfarbe. Mein vortrefflicher geheimer Agent legte, während er mir zuhörte, ein ermuthigendes Interesse an den Tag. Er trug die ausgesuchteste Toilette und hatte die Manieren eines Prinzen. Es war eine besondere Gunst, wenn man zu einer persönlichen Besprechung zu ihm zugelassen wurde.
»Wenn der Vermißte mit einem so auffallenden Gesicht durch Frankreich gereist ist«, sagte er, »so haben wir alle Aussicht, seine Spur aufzufinden. Ich will vorläufige Nachforschungen an der Eisenbahnstation auf dem Bureau des Dampfschiffes und am Hafen anstellen lassen. Sie sollen morgen das Ergebniß hören.«
Ich kehrte vorläufig befriedigt an das Krankenbett meines guten Vaters zurück.
An dem nächsten Tage beehrte mich mein geheimer Agent mit einem Besuch.
»Bringen Sie mir Nachrichten?« fragte ich.
»Allerdings, Madame. Der Commis auf dem Bureau des Dampfboots erinnert sich sehr gut, ein Billet an einen Fremden mit einem schrecklichen blauen Gesicht verkauft zu haben. Unglücklicherweise erinnert er sich anderer Umstände nicht mehr. Er kann sich weder auf den genauen Namen des Fremden noch auf den Ort, wohin sich derselbe einschiffte, besinnen. Wir können nur soviel sagen, daß er sich nach einem italienischen oder nach einem orientalischen Hafen eingeschifft haben muß. Weiter wissen wir bis jetzt nichts.«
»Und was gedenken Sie demnächst zu thun?« fragte ich.
»Ich möchte, wenn Sie damit einverstanden sind, zunächst Telegramme mit einer personellen Beschreibung des Herrn nach den verschiedenen italienischen Hafenorten abschicken. Wenn uns das zu keiner Auskunft verhilft, müssen wir es demnächst mit den orientalischen Hafenorten versuchen. Das sind die Vorschläge, die ich Ihrer Erwägung zu unterbreiten die Ehre habe. Sind Sie damit einverstanden?«
Ich stimmte von ganzem Herzen zu, und wartete das Ergebniß mit aller mir zu Gebote stehenden Geduld ab.
Der nächste Tag ging vorüber, ohne daß sich irgend etwas ereignete. Mit meinem armen Vater ging es sehr langsam vorwärts. Das elende Weib, die das Unglück herbeigeführt hatte, und die mit seinem Gegner davon gelaufen war, beschäftigte seine Gedanken fortwährend, regte ihn auf und verzögerte seine Genesung. Warum darf ein nichtswürdiges Wesen dieser Art, ein erbarmungsloses, verrätherisches, gieriges Ungeheuer in weiblicher Gestalt frei in der Welt umher laufen. Man sperrt eine arme Tigerin die uns nur frißt, wenn sie hungrig ist und keine Nahrung für ihre Jungen hat, in einen Käfig und man läßt jene anderen viel gefährlicheren Bestien unter dem Schutz des Gesetzes frei umherlaufen. Das kommt auch davon, daß Männer die Gesetze machen. Aber einerlei, die Frauen brechen sich Bahn. Wartet nur ein wenig; die zweitbeinigen Tigerinnen werden schlimme Tage bekommen wenn wir erst im Parlament sitzen.
Am 4. September schrieb mir der geheime Agent. Er konnte schon weitere Nachrichten über Oscar mittheilen. Der Mann mit dem blauen Gesicht war in Genua gelandet, wo man seine Spur bis nach dem Bahnhof der Turiner Eisenbahn verfolgt hatte. In Folge dessen waren in Turin weitere Nachforschungen auf telegraphischem Wege angestellt worden. Inzwischen sollten für den möglichen Fall, daß der Vermißte über Marseille nach England zurückkehren würde, erfahrene mit seiner Personalbeschreibung desselben versehene Männer an verschiedenen öffentlichen Plätzen postirt und beauftragt werden alle zu Lande oder zu Wasser ankommenden Reisenden genau anzusehen und mir, falls der Betreffende ihnen vorkäme, sofort Bericht erstatten. Abermals unterbreitete mein geheimer Agent mit den vornehmen Manieren dieses Verfahren meiner Erwägung und Genehmigung, und erhielt dieselbe, und meine Bewunderung noch in den Kauf.
Die Tage vergingen und der Zustand unseres guten Papa war noch immer schwankend, bald besser, bald schlimmer.
Meine armen Schwestern vermochten die Angst und Sorge nicht zu ertragen. Die ganze Last fiel wie gewöhnlich mir zu. Tag für Tag schien meine Aussicht, nach England zurückzukehren, weiter in die Ferne gerückt zu werden. Keine Zeile Antwort erhielt ich von Frau Finch. Das machte mich schon an und für sich nervös und aufgeregt. Lucilla kam mir jetzt fast nie aus den Gedanken. Wieder und wieder fühlte ich mich durch meine Besorgniß gedrängt, es darauf zu wagen und ihr zu schreiben. Aber immer stellte sich mir dabei dasselbe Hinderniß in den Weg. Nach dem, was zwischen ans vorgefallen, war es unmöglich für mich, ihr direct zu schreiben, ohne mir vorher ihre Achtung wieder verschafft zu haben. Das aber konnte ich nur, wenn ich auf Einzelheiten einging, deren Enthüllung ich noch immer für grausam und gefährlich halten mußte.
An Fräulein Batchford mochte ich nicht wieder schreiben, nachdem ich schon vor meiner Abreise von England die Geduld der alten Dante durch einen Brief auf die Probe gestellt hatte. Wenn ich das jetzt noch einmal that, ohne bessere Entschuldigungen, als die mir meine Besorgnisse an die Hand gaben, so mußte ich fürchten, daß diese Royalistin vom reinsten Wasser meinen Brief in’s Feuer werfen, und die republikanische Briefstellerin durch verächtliches Schweigen für ihre Gesinnung strafen würde. Grosse war die dritte und letzte Person, von der ich hoffen durfte, Nachrichten zu erhalten. Aber — soll ich es bekennen? — ich konnte nicht wissen, was Lucilla ihm über unsere Entfremdung mitgetheilt haben mochte und mein Stolz — man vergesse nicht, daß ich eine blutarme Fremde bin — sträubte sich dagegen, mich einer möglichen Zurückweisung auszusetzen.
Gegen den zwölften September fing ich an, meine Ungewißheit so peinlich zu empfinden und von Zweifeln über dass was Nugent in meiner Abwesenheit unternehmen möchte, so entsetzlich gequält zu werden, daß ich beschloß, auf alle Gefahr hin an Grosse zu schreiben. Es war doch möglich und das Tagebuch zeigt, daß ich doch richtig vermuthete, daß Lucilla ihm nur von meiner traurigen Reise nach Marseille und nichts weiter erzählt hatte.
Ich hatte eben meinen Schreibtisch geöffnet, als der Arzt meines Vaters in’s Zimmer trat und mir die frohe Botschaft brachte, daß er jetzt endlich für die Herstellung unseres guten Papa einstehen könne.
»Kann ich nach England zurückreisen?« fragte ich eifrig.
»Noch nicht, Sie sind seine Lieblingswärterin; Sie müssen ihn allmählig an den Gedanken Ihres Fortgehens gewöhnen. Ihre plötzliche Abreise könnte einen Rückfall bewirken.«
»Ich werde nicht plötzlich abreisen. Nur sagen Sie mir, bitte, sobald ich beruhigt, vollkommen beruhigt fortgehen kann.«
»Nun, ich denke in acht Tagen.«
»Am achtzehnten?«
»Gewiß.«
Ich schloß meinen Schreibtisch. Ich durfte jetzt hoffen, in wenigen Tagen, so rasch wie ich Grosse’s Antwort in Marseille hätte erhalten können, wieder in England zu sein. Unter diesen Umständen erschien es mir richtiger, zu warten, bis ich meine Nachforschungen sicher und persönlich würde anstellen können. Eine Vergleichung der Daten zeigt, daß es, auch wenn ich an den deutschen Arzt geschrieben hätte, zu spät gewesen wäre. Wir schrieben den elften und Lucilla hatte Ramsgate mit Nugent am fünften verlassen.
Während dieser ganzen Zeit wurden unsere Nachforschungen nach Oscar nur durch eine sehr dürftige Nachricht belohnt und selbst diese dürftige Nachricht schien mir unglaubwürdig.
Es wurde behauptet, daß er in einem Milltärhospital, dem Alexanderhospital in Piemont gesehen worden sei, und zwar, hieß es glaube ich, als Krankenpfleger bei den in dem italienisch-französischen Feldzuge gegen Oesterreich Verwundeten. (Meine Erzählung spielt, wie man sich erinnern wird, im Jahre 1859. Die Beschäftigung als Krankenwärter in einem Hospital schien mir so durchaus nicht zu Oscar’s Wesen und Neigungen zu stimmen, daß ich diese Nachricht für entschieden falsch hielt.)
Am siebenzehnten September hatte ich meinen Paß in Ordnung bringen lassen, und hatte bereits den größten Theil meiner Sachen für die Reise nach England, die ich am nächsten Tage antreten wollte, gepackt.
Trotz meiner sorgfältigsten Bemühungen, meinen armen Vater an die Idee meiner Abreise zu gewöhnen, wollte er doch so durchaus nichts davon hören, mich von sich zu lassen, daß ich mich genöthigt sah, in eine Art Compromiß zu willigen. Ich versprach ihm, wenn mein Geschäft in England erledigt sein würde, wieder nach Marseille zu kommen und ihn dann, sobald er im Stande sein würde, die Reise zu unternehmen, nach Paris zurückzubringen. Unter dieser Bedingung erwirkte ich mir von ihm Erlaubniß abzureisen. Arm wie ich war, wollte ich mir doch unendlich viel lieber die Kosten der doppelten Reise machen, als noch länger ohne Nachrichten von dem sein, was je nach Umständen in Ramsgate oder in Dimchurch vorgehe. Ich weiß nicht, was mich jetzt, nachdem ich der Sorge für meinen Vater überhoben war, mehr quälte, mein Verlangen, mich mit meiner schwesterlichen Freundin wieder zu versöhnen, oder meine unbestimmte Furcht vor dem Unheil, das Nugent in meiner Abwesenheit angerichtet haben würde. Wieder und wieder fragte ich mich, ob Fräulein Batchford wohl meinen Brief Lucilla gezeigt habe. Wieder und wieder beschäftigte mich der Gedanke, ob es mir vergönnt gewesen sein werde, Nugent in seiner wahren Gestalt zu zeigen und Oscar doch schließlich für Lucilla zu erhalten.
Am siebenzehnten Nachmittags ging ich allein aus, um ein wenig frische Luft zu schöpfen und mir · die Läden in der Stadt anzusehen. Für eine Frau, gleichviel wer oder was sie ist, hoch oder niedrig, schön oder häßlich, jung oder alt, ist es immer eine Herzerquickung, in die Schaufenster der Läden zu sehen.
Ich war noch nicht fünf Minuten auf der Straße, als ich meinem vornehmen geheimen Agenten begegnete.
»Haben Sie etwas Neues für mich?« fragte ich.
»Noch nicht.«
»Noch nicht?« wiederholte ich. »Erwarten Sie denn Nachrichten?«
»Wir erwarten diesen Nachmittag die Ankunft eines italienischen Dampfers«, erwiderte der geheime Agent. »Wer weiß, was passirt.«
Er verneigte sich gegen mich und ging fort. Die durch seine Mittheilung eröffnete Aussicht gewährte mir nicht viel Trost. So viele Dampfer waren in Marseille eingetroffen, ohne irgend eine Nachricht von dem Vermißten zu überbringen, daß ich auf die Ankunft des italienischen Schiffes nicht sehr viel Werth legte. Indessen hatte ich nichts zu thun, wollte nur spazieren gehen und dachte, ich könne ebenso gut nach dem Hafen hinunterschlendern und das Schiff ankommen sehen. Das Schiff lief eben in den Hafen ein, als ich am Landungsplatz anlangte.
Ich fand den von mir angestellten Mann auf seinem Posten und damit beschäftigt, die ankommenden Reisenden genau in Augenschein zu nehmen. Seinem Einflusse gelang es, mir, allen Vorschriften des peinlichen französischen Reglements, welches alle Freiheit der Bewegung untersagt, zum Trotz einen Platz in dem Raum im Zollhause zu verschaffen, durch welches die mit dem Dampfboot ankommenden Reisenden passiren mußten. Ich nahm sein höfliches Anerbieten dankbar an, nur weil ich froh war, nach meinem Spaziergang sitzen und mich an einem ruhigen Platz ausruhen zu können, ohne es auch nur im Mindesten für möglich zu halten, daß mein Gang nach dem Hafen zu irgend etwas führen könne.
Nach einer langen Pause fingen die Passagiere an in den Raum zu strömen. Nachdem ich mir das erste halbe Dutzend Fremde, die kamen, gleichgültig angesehen hatte, fühlte ich mich plötzlich hinten an der Schulter berührt. Da stand unser Mann in einem Zustande unbeschreiblicher Aufregung und bat mich, mich zu beruhigen.
Da ich schon vollkommen beruhigt war, so sah ich ihn erstaunt an und fragte:
»Warum?«
»Er ist da, rief der Mann, »sehen Sie nur!’
Er deutete auf die noch massenweise in’s Zimmer eindringenden Fremden. Ich sah hin, verlor aber alsbald den Kopf und fuhr mit einem Schrei auf, der die Augen aller Anwesenden auf mich lenkte. Ja! da war das liebe, arme, entstellte Gesicht, da war Qscar selbst, auch seinerseits bei meinem Anblick wie vom Blitz getroffen.
Ich riß ihm die Schlüssel seines Koffers aus der Hand und gab dieselben unserm Mann, der es übernahm, den Koffer auf dem Zoll revidiren zu lassen und ihn nachher nach meiner Wohnung zu bringen. Ich ergriff Oscar’s Arm, bahnte mir mit ihm einen Weg durch die Menge, trat hinaus und rief einen am Hafengitter haltenden Fiaker an. Die Leute, die meine Aufregung bemerkten, flüsterten einander mitleidig zu: »Das ist die Mutter des blauen Mannes!’ Das dumme Volk! Sie hätten doch wohl sehen können, daß ich nach meinem Alter nur seine Schwester sein könne.
Als wir endlich im Wagen saßen, konnte ich wieder Athem schöpfen und Oscar für alle die Angst, die er mir bereitet hatte, durch einen Kuß belohnen. Ich hätte ihm tausend Küsse geben können. Von Staunen überwältigt, war er ein willenloses Geschöpf in meinen Händen. Er wiederholte nur mit schwacher Stimme immer wieder: »Was hat das zu bedeuten? Was hat das zu bedeuten?«
»Es hat zu bedeuten, Sie böser Mensch, daß Sie Freunde haben, die thöricht genug sind, Sie zu lieb zu haben, um Sie aufzugeben«, sagte ich. »Sie werden morgen mit mir nach England reisen, und selbst sehen, ob Lucilla nicht eine Andere geworden ist.«
Die Erwähnung Lucilla’s brachte ihn wieder zur Besinnung. Er fing an, die Fragen zu thun, die sich ihm unter den obwaltenden Umständen naturgemäß aufdrängen mußten. Da ich auch meinerseits eine Menge von Fragen an ihn zu richten hatte, erzählte ich ihm ganz kurz, was mich nach Marseille geführt und was ich während meines Aufenthalte in dieser Stadt gethan habe, um seinen Zufluchtsort zu ermitteln.
Als er mich dann nach einem Moment inneren Kampfes fragte. was ich ihm über Nugent und Lucilla mittheilen könne, zauderte ich, wie ich bekennen muß, mit der Antwort. Ein Moment der Erwägung genügte jedoch, mich für eine offene Erklärung zu entscheiden, aus dem einfachen Grunde, daß die kurze Erwägung mir die Sorgen und Unannehmlichkeiten vor die Seele führte, welche wir bereits dem Verheimlichen der Wahrheit zu verdanken hatten. Ich erzählte Oscar rückhaltslos Alles, was ich hier berichtet habe, von meiner abendlichen Zusammenkunft mit Nugent in Browndown bis zu den Vorsichtsmaßregelm die ich zum Schutz Lucilla’s für die Zeit, die sie unter der Obhut ihrer Tante leben würde, ergriffen hatte.
Es interessirte mich lebhaft, den Eindruck zu beobachten, den diese Euthüllungen auf Oscar hervorbrachten. Ich kam zu zwei Schlüssen: Erstens, daß Zeit und Abwesenheit an der Liebe des armen Jungen zu Lucilla nicht das mindeste geändert hatten, und zweitens, daß nur die bündigsten Beweise ihn von der Richtigkeit meines ungünstigen Urtheils über den Charakter seines Bruders überzeugen würden. Vergebens erklärte ich ihm, daß Nugent England mit dem feierlichen Versprechen verlassen habe, ihn aufzusuchen, und daß er es; wie der Verlauf der Dinge bewiesen, mir überlassen habe, ihn zu finden. Er gestand zu, daß er nichts von Nugent weder gesehen noch gehört habe. Nichtsdestoweniger ließ er sich in seinem Vertrauen zu seinem Bruder nicht erschüttern. »Nugent ist die Ehrenhaftigkeit selber«, wiederholte er immer wieder und warf mir dabei einen Blick zu, der mir zeigte, daß ich ihn durch meine offen ausgesprochene Ansicht über seinen Bruder verletzt und beleidigt habe.
Aber kaum hatte ich das bemerkt, als wir auch schon vor meiner Wohnung angelangt waren. Er schien keine Lust zu haben, mir in’s Haus zu folgen.
»Vermuthlich können Sie das von Nugent behauptete beweisen«, nahm er auf dem Hof vor dem Hotel stillschweigend wieder auf. »Haben Sie, seit Sie hier sind, nach England geschrieben und haben Sie eine Antwort erhalten?«
»Ich habe an Frau Finch geschrieben«, erwiderte ich, »und habe kein Wort Antwort erhalten.« »Haben Sie sonst an Niemanden geschrieben?«
Ich erklärte ihm mein Verhältniß zu Fräulein Batchford und warum ich gezögert hatte, an Grosse zu schreiben.
Der Unwille gegen mich, der von dem Augenblick an, wo ich von seinem Bruder und Lucilla gesprochen, in ihm gekommen hatte, loderte endlich auf.
»Ich bin durchaus nicht Ihrer Meinung«, brach er zornig aus. »Sie thun Lucilla und Nugent gleich Unrecht. Lucilla ist unfähig, etwas gegen Sie zu Grosse zu sagen, und Nugent ist ebenso unfähig, Lucilla in der Weise, wie Sie es annehmen, zu mißleiten. Welche entsetzliche Undankbarkeit geben Sie ihr Schuld und welcher niedrigen Gesinnung halten Sie ihn für fähig! Ich habe Ihnen so geduldig wie möglich zugehört und ich fühle mich Ihnen für das Interesse, das Sie mir bewiesen haben, zu aufrichtigem Danke verpflichtet; aber ich kann nicht länger in Ihrer Gesellschaft verweilen. Madame Pratolungo, Ihr Verdacht ist unmenschlich! Sie haben auch nicht den Schatten eines Beweises zur Begründung Ihres Verdachtes beigebracht. Ich werde, wenn Sie es erlauben, mein Gepäck von Ihnen abholen lassen, und will mit dem nächsten Zuge nach England abreisen. Nach dem, was Sie mir gesagt haben, läßt es mir keine Ruhe, bis ich selbst die Wahrheit herausgefunden habe.«
Das war mein Lohn für alle Mühe, die ich mir gegeben hatte, um Oscar wieder aufzufinden! Ich rede nicht von dem Gelde, das ich dafür ausgegeben hatte, ich bin nicht reich genug, um mir aus Geld etwas zu machen, ich rede nur von den damit verbundenen Beschwerlichkeiten. Ich glaube wahrhaftig, wenn ich ein Mann gewesen wäre, ich hätte ihn zu Boden geschlagen. Da ich nur eine Frau war, machte ich ihm nur einen leichten Knix und ließ ihn meine scharfe Zunge fühlen.
»Wie es Ihnen gefällig ist, Herr Dubourg«, sagte ich. »Ich habe mein Bestes gethan, um Ihnen zu dienen, und zum Dank dafür machen Sie mir Vorwürfe und verlassen mich. Gehen Sie, Sie sind nicht der erste Narr, der sich mit seinem besten Freunde überworfen hätte.
Entweder die Worte oder der Knix oder beides zusammen brachten ihn wieder zur Besinnung. Er entschuldigte sich bei mir und ich nahm seine Entschuldigung an. Dabei machte er eine sehr lächerliche Miene und brachte mich dadurch wieder in die beste Laune.
»Sie alberner Junge«, sagte ich, indem ich seinen Arm ergriff und ihn nach der Treppe führte. »Haben Sie bei unserer ersten Begegnung in Dimchurch in mir eine dumme oder eine unmenschliche Frau gefunden? Antworten Sie mir darauf!«
Seine Antwort lautete offen genug.
»Ich fand damals in Ihnen die beste und liebenswürdigste Frau. Und doch werden Sie es ganz natürlich finden, wenn ich wünsche, einige Bestätigung — —«.
Plötzlich hielt er inne und fing wieder von meinem Brief an Frau Finch an. Das Schweigen der Frau Pfarrerin beunruhigte ihn offenbar.
»Wie lange ist es her; daß Sie geschrieben haben?«
»Es war am ersten dieses Monats«, antwortete ich.
Er wurde nachdenklich. Schweigend gingen wir die nächste Treppe des Hotels zusammen hinauf. Auf dem Vorplatz hielt er mich zurück und fing wieder an. Mein unbeantworteter Brief lag ihm noch immer zumeist im Kopf.
»Frau Finch verliert, wie Sie wissen, fortwährend Alles«, sagte er. »Ist es nicht bei dieser ihrer Gewohnheit sehr wahrscheinlich, daß, nachdem sie ihre Antwort geschrieben hatte und sich nun nach Ihrem Brief umfah, um Ihre Adresse daraus zu ersehen, Ihr Brief und ihr Schnupftuch oder ihr Roman oder sonst etwas nicht zu finden war?«
Das war bei Frau Finch’s Art und Weise unleugbar sehr möglich, das mußte ich zugeben; aber ich war zu präoccupirt, um den sich daraus ergebenden Schluß zu ziehen. Erst bei Oscar’s folgenden Worten ging mir ein neues Licht auf.
»Haben Sie sich aus der Post erkundigt, ob nicht vielleicht ein Brief poste restante für Sie da ist?« fragte er.
Wie konnte mir das nicht eingefallen sein? Natürlich hatte sie meinen Brief verloren, war das ganze Haus in Bewegung gesetzt worden, um denselben zu suchen und hatte der Pfarrer dadurch den Aufruhr beschwichtigt, daß er seine Frau anwies, poste restante zu schreiben. Wie sonderbar hatten wir die Rollen vertauscht! Anstatt daß ich wie sonst mit meinem klaren Kopf für Oscar dachte, hatte dieses Mal Oscar’s Kopf für mich gedacht. Wenn aber dem Leser meine Dummheit ganz unglaublich scheinen sollte, so möge er doch geneigtest bedenken, welche Last von Sorgen und Angst ich zu tragen gehabt hatte, seit ich in Marseille war! Kann man an Alles denken, wenn man so traurig in Anspruch genommen ist, wie ich es war? Wenn nach Horaz selbst Homer bisweilen schläft, warum nicht auch Madame Pratolungo?
»Dann habe ich nie gedacht«, sagte ich zu Oscar.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir wieder umkehren und uns gleich erkundigen?«
Er war ganz bereit. Wir gingen die Treppe wieder hinunter und auf die Straße. Auf unserem Wege nach der Post benutzte ich die erste sich darbieteude Gelegenheit, mir von Oscar einen Bericht über seine Erlebnisse geben zu lassen.
»Ich habe Ihre Neugierde so gut ich konnte befriedigt«, sagte ich, als wir Arm in Arm über die Straße gingen. »Wie wäre es, wenn Sie jetzt mir ein wenig erzählten. Die Nachricht, daß man Sie in einem italienischen Militärhospital gesehen habe, ist die einzige, die mir hier über Sie zu Ohren gekommen ist. Natürlich ist das nicht wahr?«
»Gewiß ist es wahr.«
»Sie als Krankenwärter verwundeter Soldaten in einem Hospital?«
»Allerdings.«
Mir fehlten die Worte für mein Erstaunen. Ich konnte nur stillstehen und ihn ansehen.
»War das die Beschäftigung, an die Sie dachten, als sie England verließen?« fragte ich.
»Ich hatte, als ich England verließ, keinen anderen Zweck im Auge, als den ich gegen Sie in meinem Briefe erwähnt habe. Nach dem was vorgefallen, war ich es Nugent und Lucilla schuldig, fortzugehen. Ich verließ England ohne irgend ein bestimmtes Ziel. Der Zug nach Lyon war zufällig der erste, der nach meiner Ankunft in Paris abging. In Lyon fiel mir zufällig eine französische Zeitung mit einem Bericht über die Leiden einiger der in der Schlacht bei Solferino schwerverwundeten, noch unverpflegten Soldaten in die Hände. Mein eigenes Elend trieb mich, diesen anderen Duldern in ihrem Elende zu Hilfe zu eilen. In jeder anderen Hinsicht war mein Leben ein verlorenes. Der einzig würdige Gebrauch, den ich noch davon machen konnte, war, Gutes zu thun. Und hier bot sich mir die Gelegenheit dazu. Ich verschaffte mir die nöthigen Empfehlungsbriefe für Turin. Mit diesen ausgerüstet konnte ich mich unter der Leitung der ordentlichen Aerzte und Heilgehilfen durch die Pflege der armen Verstümmelten nützlich machen, und bin später behilflich gewesen, denselben durch Geldspenden eine behagliche Existenz zu verschaffen.«
In diesen männlichen und einfachen Worten erzählte er mir seine Erlebnisse. Wieder sah ich, was ich schon früher erkannt hatte, daß der Charakter dieses jungen Menschen Kräfte barg, welche meiner oberflächlichen Beobachtung seines Wesens früher völlig entgangen waren. Bei der Wahl seiner Beschäftigung war er unzweifelhaft nur dem in solchen Fällen in unseren Tagen Gebräuchlichem gefolgt. Die Verzweiflung hat ihre Moden so gut wie die Toilette. Ehemals pflegten Verzweifelte, namentlich von der Art Oscar’s, Soldaten zu werden, oder in ein Kloster zu gehen. In unseren Tagen werden Verzweifelte Krankenwärter, verbinden Wunden, geben Medizin und werden je nach Umständen auf diesem häßlichen, aber nützlichen Wege von ihrer Verzweiflung geheilt oder nicht. Oscar hatte, wie gesagt, durchaus keinen neuen Weg betreten, sondern war nur der Mode gefolgt. Und dies bewies meines Erachtens die Art, wie er die Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg gestellt haben mußten, überwunden und wie er auf dem einmal betretenen Wege ausgeharrt hatte, Muth und Entschlossenheit. Nachdem ich damit angefangen hatte, mich mit ihm zu zanken, war ich jetzt auf dem besten Wege, Hochachtung für ihn zu empfinden. Wahrhaftig, dieser Mensch verdiente es, für Lucilla erhalten zu werden.
»Darf ich fragen, wohin Sie gehen wollten, als wir uns am Hafen begegneten«, fuhr ich fort. »Haben Sie Italien verlassen, weil es dort keine Verwundete mehr zu pflegen gab?
»In dem Hospitah dem ich attachirt war, gab es nichts mehr für mich zu thun«, sagte er. »Und einer Wirksamkeit bei der armen Bevölkerung außerhalb des Hospitals stellten sich für mich als Fremden und Protestanten gewisse Schwierigkeiten in den Weg. Ich hätte zwar diese Schwierigkeiten einer so von Grund aus gutmüthigen und liebenswürdigen Bevölkerung gegenüber, wie es die italienische ist, wenn ich gewollt hätte, gewiß ohne Mühe überwinden können. Aber es fiel mir ein, daß es doch meine Pflicht sei, mich vor allem meinen eigenen Landsleuten zu widmen. Das Elend in London ist größer, als in irgend einer Stadt Italiens. Als Sie mir begegneten, war ich im Begriff, nach London zu gehen, um dort meine geringen Dienste irgend einem Geistlichen in einer armen Gegend der Stadt anzubieten.« Er hielt einen Augenblick inne, zögerte und fügte dann im leiserem Ton hinzu: »Das war einer der Zwecke, die ich bei meiner Rückkehr nach England im Auge hatte. Wenn ich aufrichtig sein will, muß ich Ihnen bekennen, daß mich noch ein anderes Motiv leitete.«
»Ein Motiv, daß sich auf Lucilla und Ihren Bruder bezieht?« fragte ich.
»Ja! Aber mißverstehen Sie mich nicht! Ich kehre nicht nach England zurück; um mein Nugent gegebenes Wort zurückzunehmen. Ich überlasse es ihm auch jetzt noch, seine Sache persönlich bei Lucilla zu vertreten. Ich bin noch immer entschlossen, mich und sie nicht durch meine Rückkehr nach Dimchurch unglücklich zu machen. Aber ein unwiderstehliches Verlangen treibt mich, zu erfahren, wie die Sache mit den Beiden geendet hat. Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen noch mehr sagen soll! Trotz der langen Zeit, die nun schon verflossen ist, bricht es mir noch immer das Herz, von Lucilla zu reden. Ich hatte auf eine Begegnung mit Ihnen in London gerechnet, und gehofft, das, was ich mich zu erfahren sehne, aus Ihrem Munde zu vernehmen. Jetzt urtheilen Sie selbst, welche Hoffnungen mich belebten, als ich zuerst Ihrer ansichtig wurde und verzeihen Sie mir, wenn ich mich bitter enttäuscht fühlte, als ich fand, daß Sie mir in der That nichts Neues mitzutheilen hätten, und als Sie sich über Nugent äußerten, wie Sie es gethan haben.« Er stand still und drückte meinen Arm an sich und fügte dann hinzu: »Wie, wenn ich mit Frau Finch’s Briefe Recht hätte? Wie, wenn derselbe wirklich für Sie auf der Post läge?«
»Nun?«
»Der Brief kann möglicherweise die Nachricht enthalten, nach der ich das größte Verlangen trage.«
Ich unterbrach ihn. »Ich verstehe Sie nicht recht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, nach welcher Nachricht Sie das größte Verlangen tragen.«
Ich sagte das absichtlich. Was konnte das für eine Nachricht sein, nach der es ihn verlangte? Trotz allem, was er gesagt hatte, antwortete mein weiblicher Instinkt: Die Nachricht, daß Lucilla noch unverheirathet ist. Der Zweck meiner Aeußerung war, ihn zu einer Antwort zu reizen, die mich in meiner Ansicht bestärken möchte. Er aber umging die Antwort. Bedurfte es einer weiteren Bestätigung? Ich glaube nicht.
»Wollen Sie mir sagen, was in dem Briefe steht?« fragte er, ohne von meiner Bemerkung weiter Notiz zu nehmen.
»Wenn Sie es wünschen, ja«, antwortete ich, nicht allzu angenehm von seinem Mangel an Vertrauen zu mir berührt.
»Was auch immer in dem Briefe stehen möge?« fragte er weiter und traute mir offenbar nicht recht.
Ich sagte noch einmal »Ja«, fügte aber diesem einen Wort nichts weiter hinzu.
»Es wäre wohl zu viel verlangt«, beharrte er, »wenn ich Sie bäte, mich den Brief selbst lesen zu lassen?« .
Mein Temperament ist, wie dem Leser jetzt wohl bekannt sein wird, nicht gerade das einer Heiligen.
Ich zog meinen Arm heftig aus dem seinigen und maß ihn mit einem Blick, den mein armer Pratolungo »meinen römischen Blick« zu nennen pflegte.
»Herr Oscar Dubourg, sagen Sie es doch gerade heraus, daß Sie mir mißtrauen.«
Er protestirte natürlich nachdrücklichst dagegen, ohne mir jedoch damit den mindesten Eindruck zu machen. Man vergegenwärtige sich nur einen Augenblick die Insulten, Beschwerden und Aengste, welche ich als Lohn für mein freundschaftliches Interesse an dem Wohlergehen dieses Mannes mir hatte gefallen lassen müssen. Oder wenn das dem Leser zu viel zumuthen heißt, so wolle er sich nur erinnern, daß auf den von Lucilla in Dimchurch für mich zurückgelassenen Abschiedsbrief jetzt der ebenso unfreundliche Ausdruck von Oscar’s Mißtrauen folgte, und das zu einer Zeit, wo ich selbst schwere Prüfungen am Krankenbett meines Vater zu bestehen hatte. Ich denke, man wird zugeben, daß unter solchen Umständen selbst ein sanfteres Temperament als das meinige wohl leicht etwas aus der Fassung hätte gebracht werden können.
Ich antwortete kein Wort auf Oscar’s Protest; ich suchte nur in leidenschaftlicher Ungeduld nach etwas in der Tasche meines Kleides.
»Hier«, sagte ich, indem ich mein Kartenetui öffnete, »ist meine Adresse in der Stadt, und hier«, fuhr ich fort, indem ich das Papier hervorzog, »ist mein Paß, wenn man ihn verlangen sollte.«
Ich zwang ihm Karte und Paß auf und er ließ sich Beides in sprachlosem Erstaunen aufdrängen.
»Was soll ich damit?« fragte er.
»Gehen Sie damit auf die Post. Wenn da ein Brief mit dem Dimchurcher Poststempel für mich ist, so autorisire ich Sie, denselben für mich zu öffnen. Lesen Sie ihn, bevor er in meine Hände gelangt, dann werden Sie sich vielleicht beruhigt fühlen.«
Er lehnte das entschieden ab und versuchte es, mir Karte und Paß wieder aufzudrängen.
»Thun Sie, was Sie wollen«, sagte ich. »Ich bin mit Ihnen und Ihren Angelegenheiten fertig. Frau Finch’s Brief ist mir völlig gleichgültig. Ich werde nicht einmal nachfragen, ob er etwa auf der Post für mich liegt. Was gehen mich Nachrichten über Lucilla an? Was liegt mir daran, ob sie verheirathet ist oder nicht? Ich kehre zu meinem Vater und meinen Schwestern zurück. Es steht also ganz bei Ihnen, ob Sie Frau Finch’s Briefe haben wollen oder nicht.«
Das gab den Ausschlag. Er ging mit meinen Papieren nach der Post und ich kehrte nach meiner Wohnung zurück. Auf meinem Zimmer angelangt, hielt ich noch an dem Entschluß fest, den ich gegen Oscar auf der Straße ausgesprochen hatte. Warum sollte ich meinen alten Vater verlassen, um nach England zurückzukehren und mich in Lucilla’s Angelegenheiten zu mischen? Hatte ich nach der Art, wie sie von mir Abschied genommen hatte, irgendwelche Aussicht, höflich empfangen zu werden? Oscar war im Begriff, nach England zurückzukehren, mochte er doch selbst für seine Angelegenheiten sorgen. Mochten sie alle Drei, Oscar, Nugent und Lucilla, die Sache mit einander abmachen. Was gingen mich, Pratolungo’s Wittwe, diese elenden Familiengeschichten an? Nichts. Es war für die Jahreszeit ein warmer Tag. Pratolungo’s Wittwe beschloß als eine kluge Frau, es sich bequem zu machen. Sie schloß ihren Koffer auf, sie zog ihren Schlafrock an und ging im Zimmer auf und ab, und ich hätte Niemanden rathen mögen, ihr in jenem Augenblick in die Quere zu kommen.
Aber was wird man von meiner Inconsequenz denken? Wie oft habe ich jetzt schon meine Meinung in Betreff Lucillais und Oscar’s geändert; von dem Moment an gerechnet, wo ich Dimchurch verließ, welches Bild von Widersprüchen bietet mein Verfahren dar! und wie unwahrscheinlich erscheint es, daß ich so unlogisch gehandelt habe. Ach, geneigter Leser, Du wechselst gewiß niemals in Deinen Meinungen und Beschlüssen. Nein, Du bist ein sogenannter consequenter Charakter. Und ich, o, ich bin nur ein Mensch, und ich bin mir schmerzlich bewußt, daß ich keinen Platz in meinem Buche verdiene.
Nach Verlauf etwa einer halben Stunde erschien die Magd mit einem kleinen in Papier gewickelten Paquet für mich. Dasselbe war von einem Fremden mit einem englischen Accent und einem schrecklichen Gesicht für mich abgegeben worden. Er hatte gesagt, er werde nachher selbst zu mir kommen. Die Magd, eine von Fett triefende Person, richtete ihre Botschoft zitternd aus und fragte mich, ob ich mit dem Mann mit dem schrecklichen Gesicht etwas vorgehabt habe.
Ich öffnete das Packet; es enthielt meinen Paß und — weiß Gott« Frau Finch’s Brief.
Hatte er denselben geöffnet? Ja, er hatte der Versuchung, ihn zu lesen, nicht widerstehen können. Noch mehr; er hatte folgende Zeilen mit Bleistift darauf geschrieben: »Sobald ich mich fähig fühle, Sie zu sehen, werde ich Sie um Verzeihung bitten. Ich darf es jetzt noch nicht wagen, Ihnen vor die Augen zu treten. Lesen Sie den Brief und Sie werden begreifen warum.«
Ich öffnete den Brief.
Er trug das Datum des fünften September.
Ich überflog sorglos die ersten Sätze. Dank für meinen Brief, Glückwünsche zu der beginnenden Genesung meines Vaters, Mittheilungen über Babys Zähne und die letzte Predigt des Pfarrers, fernere Mittheilungen über Jemand, die mich, wie Frau Finch schrieb, sicherlich im höchsten Grade interessiren und erfreuen würden Was!!! »Herr Oscar Dubourg ist wieder da und ist jetzt bei Lucilla in Ramsgate.«
Ich knitterte den Brief in meiner Hand zusammen, Nugent hatte meine schlimmsten Befürchtungen von dem, was er in meiner Abwesenheit thun würde, gerechtfertigt. Was dachte der wahre Oscar Dubourg jetzt, nachdem er diese Zeilen in Marseille gelesen hatte? Wir sind Alle sterblich und Alle boshaften Regungen unterworfen. Es ist furchtbar, aber es ist wahr, ich triumphirte einen Augenblick.
Als aber dieser Moment der Schadenfreude vorüber war, war ich wieder gut, das heißt, ich schämte mich meiner.
Ich glättete den Brief wieder und suchte eifrig nach Nachrichten über Lucilla’s Gesundheit. Wenn diese Nachrichten günstig lauteten, so mußte Fräulein Batchford meinen ihr anvertrauten Brief in diesem Augenblick schon Lucilla gezeigt haben, mußte dadurch Nugentts abscheulicher Versuch, sich für seinen Bruder auszugeben, enthüllt und mußte Lucilla Oscar erhalten sein. In diesem Fall würde, Dank meinen Bemühungen, wie meine liebe Lucilla selbst eingestehen müsse, Alles wieder gut sein.
Nach der Mittheilung dieser Nachricht aus Ramsgate kam Frau Finch in’s Schwatzen Sie hatte, gerade wie Oscar es vermuthete, eben entdeckt, daß sie meinen Brief verloren habe. Sie wolle in der Hoffnung, ihn noch wieder zu finden, ihren Brief bis zum nächsten Tage zurückhalten. Wenn es ihr nicht gelingen sollte, würde sie es versuchen, den Brief poste restante zu adressiren, nach dem Rath, nicht des Herrn Finch, darin hatte ich mich geirrt, sondern Zillahs, welche Verwandte im Auslande habe und auch wiederholt poste restante geschrieben habe. So rieselte Frau Finch in ihrer großen zerfahrenen Handschrift sachte bis an das Ende der dritten Seite fort. Ich drehete die Seite um. Die Handschrift wurde plötzlich noch immer zerfahrener; zwei große Tintenflecken verunzieren das Papier; der Styl wurde etwas hysterisch Guter Gott! was mußte ich da lesen, als ich die Schriftzüge endlich entzifferte Der Leser urtheile selbst: »Es ist einige Stunden her, seit ich die letzten Worte schrieb, es ist eben Theezeit, liebe Freundin; ich kann kaum die Feder halten, so zittere ich. Werden Sie es glauben?! Fräulein Batchford ist hier im Pfarrhause eingetroffen, sie bringt uns die schreckliche Nachricht, daß Lucilla mit Oscar davongelaufen ist. Wir wissen nicht warum, wir wissen nicht wohin; wir wissen nur, daß sie sich im Geheimen zusammen entfernt haben, so viel, aber nicht mehr, ergiebt sieh ans einem Briefe Oscar’s an Fräulein Batchford. O, bitte, kommen Sie so bald wie möglich zurück; mein Mann wäscht seine Hände in Unschuld und Fräulein Batchford hat das Haus in einem heftigen Wortwechsel mit ihm wieder verlassen. Ich bin in einer furchtbaren Aufregung und ich habe dieselbe, wie mein Mann sagt, Baby mitgetheilt, das sich schon ganz blau geschrieen hat.
Ihre treu ergebene
Amelie Finch.«
Alle Zornaufwallungen, die mich je in meinem Leben befallen hatten, waren nichts im Vergleich mit der rasenden Wuth, die mich ergriff, als ich diese vierte Seite von Frau Finch’s Brief gelesen hatte. Nugent war es gelungen, mich trotz meiner Vorsichtsmaßregeln zu überlisten! Nugent hatte völlig straflos in der schmählichsten Weise Lucilla seinem Bruder geraubt! Ich warf alle weiblichen Rücksichten weit von mir. Ich warf mich mit den Geberden eines Mannes in einen Stuhl, drängte die Hände tief in die Taschen meines Schlafrocks und weinte nicht etwa — nein, ganz unter uns sei es gesagt, ich fluchte!
Wie lange dieser Anfall dauerte, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich durch ein Klopfen an meine Thür aufgeschreckt wurde.
Wüthend stieß ich die Thür auf und stand Oscar gegenüber.
In seinem Blick lag etwas, das mich auf der Stelle beruhigte. Und der Ton seiner Stimme entlockte mir plötzlich Thränen.
»Ich muß in zwei Stunden nach England abreisen«, sagte er. »Wollen Sie mir verzeihen und mich begleiten?«
Das war Alles, was er sagte, und wenn Ihr ihn dabei gesehen und gehört hättet, Ihr würdet wie ich bereit gewesen sein, mit ihm bis an’s Ende der Welt zu gehen und würdet es ihm, wie ich es that, gesagt haben.
Zwei Stunden später saßen wir auf der Eisenbahn, auf dem Wege nach England.
Sechstes Kapitel - Auf dem Wege zum Ende
Der Leser wird von mir vielleicht eine Mittheilung darüber erwarten, wie Oscar die Entdeckung von dem Benehmen seines Bruders ertrug. Aber es wird mir durchaus nicht leicht, dieser Erwartung zu entsprechen. Oscar sprach anfänglich gar nicht über die Sache. Die erste Aeußerung von einigem Belang, die er that, geschah auf unserm Wege nach der Eisenbahn. Aus dem Nachdenken, in das er versunken schien, raffte er sich plötzlich auf und sagte in sehr dringendem Ton:
»Ich möchte wissen, welchen Schluß Sie aus Frau Finch’s Brief gezogen haben?«
Unter den obwaltenden Umständen war es gewiß sehr natürlich, daß ich einer Beantwortung seiner Frage aus dem Wege zu gehen suchte. Aber so ließ er sich nicht abspeisen.
»Sie thun mir einen Gefallen,« fuhr er fort, »wenn Sie meine Frage beantworten. Der Brief hat einen so furchtbaren Argwohn gegen meinen lieben guten Bruder, der mich noch nie in seinem Leben betrogen hat, erweckt, daß ich lieber glauben möchte, ich sei von Sinnen, als meine Auffassung sei richtig. Folgern Sie aus dem, was Frau Finch schreibt, daß sich Nugent Lucilla gegenüber für mich ausgegeben hat? Glauben Sie, daß er sich unter der Vorspiegelung, sie habe meinen Bitten nachgegeben und sich meiner Obhut anvertraut, überredet hat, ihre Familie zu verlassen?«
Da war kein Ausweichen möglich. Ich antwortete kurz und bündig: »Das hat Ihr Bruder gethan.«
»Das hat mein Bruder gethan,« wiederholte er, »nach Allem, was ich ihm geopfert, was ich seiner Ehre anvertraut habe, als ich England verließ!« Er hielt inne und dachte einen Augenblick nach. »Was verdient ein solcher Mensch?« fuhr er, mit sich selbst redend, in einem leisen drohenden Ton, der mich erschreckte, fort.
»Er verdient,« sagte ich, »was ihn, wenn wir nach England kommen, treffen wird. Sie brauchen sich nur zu zeigen, um ihn seine Nichtswürdigkeit bis an’s Ende seines Lebens bitter bereuen zu machen. Ist es nicht Strafe genug für einen Menschen wie Nugent, sich so bloßgestellt zu sehen und eine solche — Niederlage zu erleiden?« Ich hielt inne und wartete auf seine Antwort.
Er wandte sein Gesicht von mir ab und sagte nichts weiter, bis wir aus der Station ankamen. Hier nahm er mich einen Augenblick bei Seite, so daß Niemand uns hören konnte, und fragte mich plötzlich: »Warum soll ich Sie eigentlich Ihrem Vater entziehen. Mein Benehmen ist sehr egoistisch, das wird mir erst in diesem Augenblicke klar.«
»Beruhigen Sie sich,« sagte ich. »Wenn ich Sie heute nicht gefunden hätte, würde ich doch morgen um Lucilla’s willen nach England gegangen sein«
»Aber jetzt haben Sie mich ja gefunden«, fuhr er fort, »warum sollte ich Ihnen die Reise nicht ersparen? Ich könnte Ihnen Alles schriftlich mittheilen. ohne daß Sie sich die Anstrengung und die Kosten einer solchen Reise zu machen brauchten.«
»Wenn Sie noch ein Wort sagen,« antwortete ich, »so werde ich glauben, daß Sie aus besonderen Gründen wünschen, allein nach England zu gehen.«
Er warf mir einen raschen argwöhnischen Blick zu und kehrte dann mit mir nach dem Billetbüreau zurück, ohne ein Wort weiter zu sagen. Ich war durchaus nicht zufrieden mit ihm; ich fand sein Benehmen sehr sonderbar.
Schweigend nahmen wir unsere Billete und schweigend stiegen wir in den Waggon. Ich versuchte etwas Ermuthigendes zu sagen, als wir abfuhren.
»Nehmen Sie keine Notiz von mir,« war Alles was er erwiderte. »Sie werden mich zu Dank verpflichten, wenn Sie mich mein Schicksal allein tragen lassen wollen.«
Früher hatte er sich immer bei jeder ihm widerfahrenen Unannehmlichkeit rückhaltlos ausgesprochen, hatte immer ungestüm den Ausdruck meiner Sympathie für ihn verlangt. Jetzt, bei dem größten ihm in seinem Leben widerfahrenen Ungemach war er wie umgewandelt. Ich erkannte ihn kaum wieder. Waren die verborgenen Kräfte seines Wesens durch einen erneuerten Appel an sie abermals aufgeregt und machten sie sich wieder geltend, wie sie sich schon einmal an jenem verhängnißvollen Tage geltend gemacht hatten, wo Lucilla zum ersten Mal ihre Sehkraft erprobt hatte? In dieser Weise hatte ich mir damals die rein äußerliche Veränderung seines Wesens erklärt. Was jetzt unter der Oberfläche in ihm vorging, war selbst meinem Scharfsinne zu errathen unmöglich. Ich kann die unbestimmte Furcht, die er durch sein Benehmen auf der Station in mir erweckte, wohl nicht besser bezeichnen, als wenn ich sage, daß ich ihn um Alles nicht allein England hätte reisen lassen mögen.
So meinen eigenen Gedanken überlassen, beschäftigte ich mich während der ersten Stunden unserer Reise damit, nur zu überlegen, was das Sicherste und Beste sei, das wir nach unserer Ankunft in England zu thun haben würden.
Ich entschied mich anfänglich dafür, daß wir direct nach Dimchurch gehen müßten. Wenn überhaupt Nachrichten vorhanden seien, so würde man sie sicherlich im Pfarrhause erfahren haben. Wir müßten unsern Weg daher von Paris aus über Dieppe nehmen; von hier über den Canal nach Newhaven, in der Nähe von Brighton, und so nach Dimchurch gehen.
Dann aber überlegte ich mir, daß wir doch möglicherweise Lucilla im Pfarrhause treffen könnten und daß es für diesen Fall sehr gewagt sein würde, ihr den wahren Oscar in leibhaftiger Gestalt plötzlich vor die Augen zu führen. Um uns dieser Verantwortlichkeit zu entheben, schien es mir räthlich, Grosse von unserer bevorstehenden Ankunft zu benachrichtigen und ihn so in den Stand zu setzen, wenn er es im Interesse von Lucilla’s Gesundheit für nothwendig halten sollte, anwesend zu sein. Ich legte diese meine Ansicht, sowie meinen Plan, über Dieppe zu reisen, Oscar vor. Er erklärte sich kurz mit Allem einverstanden, und überließ mir in wenig verbindlicher Weise, alles zu bestimmen, was mir gut scheine.
Demgemäß telegraphirte ich in Lyon, wo wir etwas längern Aufenthalt hatten, an Herrn Finch im Pfarrhause und an Grosse in London, daß wir, Oscar und ich, nach meiner Berechnung, wenn wir keinen Zug und kein Dampfschiff verfehltem zeitig am nächsten Abend, des d.h. am Abend des Achtzehnten, in Dimchurch eintreffen würden. Auf alle Fälle sollten sie uns so früh, wie wir möglicherweise ankommen könnten, erwarten.
Nachdem ich das besorgt und einen kleinen Vorrath von Erfrischungen für die Nacht in meine Reisetasche gesteckt hatte, bestiegen wir wieder den Wagen, um die lange Fahrt nach Paris anzutreten. Unter den neuen Passagieren, die in Lyon eingestiegen waren, befand sich ein Herr, der nach seiner Physiognomie ein Engländer und nach seiner Tracht ein Geistlicher sein mußte. Zum ersten Male in meinem Leben begrüßte, ich die Erscheinung eines Geistlichen mit einem freudigen Gefühl und zwar aus folgendem Grunde. Von dem Augenblicke an, wo ich Frau Finch’s Brief gelesen hatte, lastete mit seiner ganzen Schwere auf meinem, und ich glaube sicher, auch auf Oscar’s Gemüth ein furchtbarer Zweifel, den zu lösen der Geistliche gerade der rechte Mann war. War die Zeit, seit Lucilla Ramsgate verlassen hatte, lang genug gewesen« um es gesetzlich möglich zu machen, daß Nugent sie geheirathet habe?
Als der Zug sich in Bewegung setzte, fing ich, die Feindin der Pfaffen, an, mich, diesem Pfaffen angenehm zu machen. Er war jung und schüchtern« aber ich wußte ihn zu gewinnen. Gerade in dem Augenblick, wo die andern Reisenden, mit Ausnahme Oscar’s, anfingen, es sich für die Nacht bequem zu machen, legte ich dem Geistlichen meinen Fall vor:
»A und B, ein Herr und eine Dame, Beide mündig, haben am fünften dieses Monats eine englische Stadt verlassen und sich nach einer anderen begeben; dürfte ich Sie bitten, mir zu sagen, wie bald nach diesem Tage das Paar rechtmäßig getraut werden kann?«
»Sie reden doch von einer kirchlichen Trauung?« bemerkte der junge Geistliche.
»Gewiß!« erwiderte ich, überzeugt, daß ich in dieser Beziehung für Lucilla einstehen könne.
»Sie können, vorausgesetzt, daß Einer von Beiden seinen dauernden Aufenthalt in der Stadt hat, nach welcher sie sich am fünften begeben haben, am einundzwanzigsten oder möglicherweise schon am zwanzigsten d. M. getraut werden.
»Nicht früher?«
»Ganz gewiß nicht früher.«
Es war eben der Abend des siebzehnten. Ich stieß Oscar im Dunklen an. Das war doch ein Hoffnungsstrahl, der uns während der Reise aufrecht erhalten konnte. Bevor die Trauung möglicherweise stattfinden konnte, würden wir in England sein. »Wir haben Zeit«, flüsterte ich Oscar zu. »Wir werden Lucilla noch retten.«
»Werden wir Lucilla finden?« war, was er mir leise erwiderte.
Diesen bedenklichen Umstand hatte ich ganz vergessen. Unmöglich konnte ich vor unserer Ankunft im Pfarrhause Oscar’s Frage beantworten. Bis dahin blieb nichts übrig, als geduldig abzuwarten und zu hoffen. Ich lasse hier alle die kleinen, bald glücklichen, bald unglücklichen Streitigkeiten weiche unsere Reise? abwechselnd beschleunigten oder verzögerten, unerwähnt. Ich erzähle nur, daß Oscar und ich am achtzehnten vor Mitternacht vor dem Pfarrhause anlangten.
Herr Finch selbst kam uns mit einer Lampe in der Hand entgegen. Mit dem Ausdruck frommer Ergebung erhob er seine Blicke und seine Lampe zum Himmel, als er Oscar’s ansichtig wurde. Seine beiden ersten Worte lauteten:
»Unerforschliche Vorsehung.«
»Haben Sie Lucilla gefunden?« fragte ich.
Herr Finch drückte mir, während er Oscar mit gespanntester Aufmerksamkeit beobachtete, die Hand, sagte, ich sei ein »gutes Geschöpf« etwa in einem Ton, wie er einen in Oscar’s Gesellschaft angetroffenen Hund geliebkost haben würde. Ich hätte in jenem Augenblick fast gewünscht, ein solcher Hund zu sein, dann hätte ich doch das Recht gehabt, Herrn Finch zu beißen. Oscar wiederholte ungeduldig meine Frage, während der Pfarrer ihm sehr beflissen behilflich war, aus dem Wagen zu steigen und es mir überließ, allein herauszukommen so gut ich konnte.
»Haben Sie Madame Pratolungo’s Frage nicht gehört?« fragte Oscar. »Ist Lucilla gefunden?«
»Lieber Oscar, jetzt wo Sie wieder da sind, hoffen wir sie zu finden.«
Diese Antwort erklärte mir Herrn Finch’s außerordentliche Höflichkeit gegen seinen jungen Freund. Oscar’s Ankunft in England vor Lucilla’s Trauung bot, wie die Dinge lagen, die einzige noch mögliche Aussicht, ihre Verheirathung mit einem Manne zu verhindern, der sein Vermögen bis auf den letzten Heller durchgebracht hatte. Oscar’s Vermögen war jetzt in buchstäblicherem Sinn als je zuvor das Maß für die Werthschätzung Oscars von Seiten des Herrn Finch.
Während wir in’s Haus gingen, fragte ich nach Nachrichten von Grosse. Der Pfarrer gab seinem maßlosen Erstaunen über meine Kühnheit, ihn anzureden, durch einige hohe Töne seiner riesigen Stimme Ausdruck.
»O, du lieber Himmel l« rief Herr Finch, indem er mir ungeduldig während eines kostbaren Augenblickes seine Aufmerksamkeit zuwandte. »Quälen Sie mich nicht mit Grosse, Grosse liegt krank in London. Da ist ein Billet für Sie von Grosse. Nehmen Sie sich in Acht mit den Stufen vor der Thür, lieber Oscar«, fuhr er in seinen tiefsten und feierlichsten Baßtönen fort. »Meine Frau freut sich so sehr darauf, Sie wiederzusehen. Wir haben Beide Ihre Ankunft mit so sehnsüchtiger Hoffnung, wenn ich so sagen darf, mit zärtlicher Ungeduld entgegengesehen. Geben Sie mir doch Ihren Hut. O, wie Sie gelitten haben müssen. Theilen Sie meine Zuversicht auf eine allweise Vorsehung und nehmen Sie diese Prüfung, wie ich es thue, mit heiterer Ergebung auf. Es ist noch nicht Alles verloren. Seien Sie guten Muths!« mit diesen Worten riß er die Thür des Wohnzimmers auf. »Liebe Frau, beruhige Dich. Hier ist unser lieber Adoptivsohn, unser armer Oscar!«
Brauche ich zu sagen, womit Frau Finch beschäftigt war und wie sie aussah?
Da waren noch immer die drei unerschütterlich festen Institutionen: Der Roman, das Baby und das verlorene Schnupftuch. Noch immer trug sie die bunte Jacke über dem langen schleppenden Schlafrock und war selbst feucht wie immer. Nachdem sie Oscar mit herabgezogenen Mundwinkeln und melancholischem Kopfschütteln empfangen hatte, veränderte sich ihr Gesicht plötzlich ganz wunderbar, als sie sich nach mir umwandte. Zu meiner Ueberraschung funkelten ihre sonst so matten Augen, und an die Stelle des trübseligen Ausdrucks, mit welchem sie Oscar begrüßt hatte, trat jetzt mir gegenüber ein heiteres Lächeln vollster Zufriedenheit. Triumphirend hielt sie das Baby in die Höhe und flüsterte mir ins Ohr:
»Was glauben Sie wohl« was er gethan hat, seit Sie fort sind?«
»Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete ich.
»Er hat zwei Zähne bekommen, fühlen Sie ihm doch selbst einmal mit dem Finger in den Mund.«
Mochten doch Andere das Familienunglück beweinen. Frau Finch’s Seele erfüllte das Familienglück so ganz, daß darin für andere irdische Erwägungen kein Raum mehr übrig blieb. Ich steckte den Finger in den Mund, wie mir geheißen war, und wurde auch sofort von dem wüthenden Baby gebissen. Hätte nicht ein neuer Ausbruch des Pfarrers sie daran verhindert, Frau Finch würde, — oder ich müßte mich schlecht auf Physiognomien verstehen —, ihrem Entzücken durch einen Schrei Ausdruck gegeben haben. Jetzt öffnete sie nur den Mund und zog sich, da sie, wie bereits gemeldet, ihr Schnupftuch verloren hatte, in eine Ecke zurück und machte sich mit dem Baby zu schaffen.
Inzwischen hatte Herr Finch aus einem in der Nähe des Kamins stehenden Schrank zwei Briefe genommen, den einen warf er ungeduldig auf den Tisch. »O, du lieber Gott! wozu brauchen Einem noch die Briefe andrer Leute in die Quere zu kommen;« den anderen aber handhabte er mit äußerster Sorgfalt und reichte denselben Oscar mit einem tiefen Seufzer und indem er die Blicke wie ein Märtyrer zur Decke aufschlug. »Raffen Sie sich auf und lesen Sie«, sagte Herr Finch in seinem pathetischen Kanzelton.
»Ich würde Ihnen das gerne erspart haben, Oscar, wenn ich es gekannt hätte. Alle unsere Hoffnungen hängen von dem ab, was Sie, mein theurer Sohn, nachdem Sie diese Zeilen gelesen haben, zu unserer Führung werden sagen können.«
Oscar nahm den Brief aus dem Couvert, überflog die ersten Zeiten, warf einen Blick auf die Unterschrift und warf den, Brief mit einem Blick, in welchem sich Wuth und Schrecken spiegelten, zu Boden.
»Verlangen Sie nicht von mir, daß ich den Brief lesen soll!« rief er, zum ersten Mal leidenschaftlich ausbrechend. »Wenn ich den Brief lese, so muß ich ihn umbringen, sobald wir uns begegnen.« Er sank in seinen Stuhl und verbarg sein Gesicht in seinen beiden Händen. »O, Nugent! Nugent! Nugent!« murmelte er in einem wehklagenden Ton, der schrecklich anzuhören war.
Es war keine Zeit, Umstände zu machen. Ich nahm den Brief vom Boden auf und sah hinein, ohne um Erlaubniß zu bitten. Es war der bereits am Schluß von Lucilla’s Tagebuch mitgetheilte, »Oscar« unterzeichnete Brief Nugent’s, in welchem er Fräulein Batchford die Flucht ihrer Nichte aus Ramsgate anzeigt. Die einzigen Worte, die hier zu wiederholen nöthig, sind folgende:
»Sie begleitet mich auf meine ausdrückliche Bitte nach dem Hause einer Verwandten von mir, einer verheiratheten Frau, unter deren Obhut sie bis zu unserer Verheirathung bleiben wird.«
Diese Zeilen befreiten mich auf der Stelle von der schweren Sorge, die mich während der Reise gequält hatte. Nugent’s verheirathete Verwandte war ja auch Oscar’s Verwandte. Oscar brauchte uns nur zu sagen, wo diese Dame wohne und wir würden Lucilla finden!
Ich fiel Herrn Finch, der eben im Begriff war, Oscar durch seinen geistlichen Trost zur Verzweiflung zu bringen, in die Rede.
»Ueberlassen Sie es mir sagte ich, indem ich ihm den Brief zeigte, »ich weiß was Sie wollen.«
Der Pfarrer starrte mich entrüstet an. Ich aber fuhr, zu Frau Finch gewandt, fort:
»Wir haben eine sehr anstrengende Reise gehabt. Oscar ist nicht so an Reisen gewöhnt, wie ich. Wo ist sein Zimmer?«
Frau Finch stand auf, um uns nach Oscar’s Zimmer zu führen. Jhr·Gatte öffnete die Lippen, um sich in’s Mittel zu legen. Aber ich wiederholte: »Ueberlassen Sie es mir; ich kenne ihn besser, als Sie.«
Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben sah sich der Papst von Dimchurch zum Schweigen verdammt. Sein Erstaunen über meine Kühnheit machte selbst ihn sprachlos. Ich ergriff Oscar’s Arm und sagte: »Sie sind erschöpft. Gehen Sie auf Ihr Zimmer. Ich will Ihnen etwas Warmes bereiten und es Ihnen selbst in einigen Minuten hinaufbringen.«
Er antwortete mir nicht und sah mich auch nicht an, aber er that schweigend, wozu ich ihn aufforderte und folgte Frau Finch. Ich nahm von dem Buffet, auf welchem das Abendessen bereit stand, was ich brauchte, machte kochendes Wasser, bereitete meinen belebenden Trank und ging damit nach der Thür, vom ersten bis zum letzten Augenblick bei jeder meiner Bewegungen von den starren entrüsteten Blicken des Pfarrers verfolgt. Erst in dem Augenblick, wo ich die Thür öffnete, gewann er seine Fassung wieder.
»Erlauben Sie mir die Frage, Madame Pratolungo«, sagte er mit seinem gewaltigsten Pathos; »in welcher Eigenschaft sind Sie hier?«
»In der Eigenschaft von Oscars Freundin«, antwortete ich, »Sie werden uns Beide morgen los werden.«
Ich schlug die Thür hinter mir zu und ging die Treppe hinauf. Ich glaube, wenn ich seine Frau gewesen wåre, es wäre mir am Ende gelungen, einen ganz angenehmen Mann ans dem Ehrwürdigen Finch zu machen.
Frau Finch kam mir ans dem Vorplatz des ersten Stockes entgegen und zeigte mir Oscar’s Zimmer. Ich fand ihn ruhelos auf- und abgehen. Gleich seine ersten Worte bezogen sich auf den Brief seines Bruders. Ich hatte mir vorgenommen, dieses peinlichen und aufregenden Gegenstandes vor dem nächsten Morgen keine Erwähnung zu thun und ich versuchte es auch jetzt noch, einen andern Gegenstand aufs Tapet zu bringen. Umsonst. Ihn erfüllte eine Angst, die sich nicht beliebig abschütteln ließ. Er bestand daraus, daß ich ihn auf der Stelle von dieser Angst befreie.
»Ich will den Brief gar nicht sehen«, sagte er. »Aber ich will Alles wissen, was er über Lucilla sagt.«
»Alles, was er enthält, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Lucilla ist vollkommen gut aufgehoben.«
Er ergriff meinen Arm und sah mich mit einem forschenden Blick an.
»Wo?« fragte er. »Bei ihm?«
»Bei einer verheiratheten Dame, die mit ihm verwandt ist.«
Er ließ meinen Arm wieder los und dachte einen Augenblick nach.
»Meine Cousine in Sydenham!«
»Kennen Sie das Haus?«
»Ja wohl.«
»Wir wollen uns morgen dahin begeben. Lassen Sie sich für heute genügen und jetzt begeben Sie sich zur Ruhe.«
Ich reichte ihm meine Hand, die er in Gedanken vertieft mechanisch ergriff; dann fragte er ganz plötzlich, indem er mich mit einem sonderbar argwöhnischen Blick ansah:
»Habe ich nicht vorhin unten eine sehr thörichte Aenßerung gethan?«
»Sie waren ja ganz erschöpft«, sagte ich in einem beschwichtigenden Ton, »Niemand hat davon Notiz genommen«
»Sind Sie dessen gewiß?«
»Vollkommen gewiß. Gute Nacht.«
Als ich das Zimmer verließ, war mir ähnlich zu Muthe, wie auf dem Bahnhof in Marseille. Ich war nicht zufrieden mit ihm. Ich fand sein Benehmen sehr sonderbar.
Als ich in’s Wohnzimmer zurückkehrte, fand ich dort Niemand als Frau Finch. Dem Pfarrer war in seiner verletzten Würde nichts übrig geblieben, als sich auf sein Zimmer zurückzuziehen. In ungestörter Ruhe verzehrte ich mein Abendbrot und Frau Finch schwatzte, während sie mit dem Fuß die Wiege schaukelte, nach Herzenslust über Alles, was sich während meiner Abwesenheit zugetragen hatte.
Unter dem Vielerlei fand sich hier und da etwas, das erwähnt zu werden verdient. Die Veranlassung des neuen Zerwürfnisses zwischen Herrn Finch und Fräulein Batchford, welches die alte Dame, nachdem sie kaum das Pfarrhaus betreten, alsbald wieder aus demselben vertrieben hatte, war die empörende Ruhe gewesen, mit welcher Herr Finch die Nachricht von der Flucht seiner Tochter aufgenommen hatte. Er glaubte natürlich, Lucilla habe Ramsgate mit Oscar verlassen, dessen Verschreibung einer beträchtlichen Summe für seine künftige Frau Herr Finch sicher in Händen hatte. Erst nachdem Fräulein Batchford sich mit Grosse in Verbindung gesetzt hatte und nachdem es herausgekommen war, daß der blutarme Nugent mit Lucilla davongelaufen sei, war die väterliche Sorge des Ehrwürdigen Finch, der hier keinerlei Aussicht auf Geld erblickte, rege geworden und hatte ihn zum Handeln getrieben. Er, Fräulein Batchford und Grosse hatten ein Jeder auf seine Weise Alles aufgeboten, den Flüchtigen auf die Spur zu kommen und waren alle mit ihren Bemühungen an der Unmöglichkeit, die Wohnung der in Nugent’s Brief erwähnten Dame aufzufinden, gescheitert.
Mein Telegramm, in welchem ich meine Rückkehr mach England in Begleitung von Oscar meldete, hatte ihnen die erste Hoffnung gegeben, daß es doch noch möglich sein könnte, einzuschreiten, bevor es zu spät sein möchte, Einhalt zu thun.
Das Vorkommen von Grosse’s Namen in Frau Finchs abgerissenen Mittheilungen erinnerte mich an das, was mir der Pfarrer an der Gartenpforte gesagt hatte. Ich hatte mir den Brief noch nicht geben lassen, den Grosse für mich nach Dimchurch geschickt hatte. Nach kurzem Suchen fanden wir denselben, wo der »Ehrwürdige« Finch ihn verächtlich hingeworfen hatte, auf dem Tisch des Wohnzimmers.
Der ganze Brief bestand aus wenigen Zeilen, Grosse benachrichtigte mich, daß sein Gram über Lucilla ihm einen Gichtanfall zugezogen habe. Er könne die Füße nicht bewegen, ohne sofort wahrhaft höllische Schmerzen zu bekommen.
»Wenn Sie, meine Liebe, es unternehmen sollten, sie aufzusuchen«, schloß er, »so sprechen Sie doch vorher bei mir in London vor. Ich habe Ihnen etwas, höchst Trauriges in Betreff der Augen unserer kleinen Finch mitzutheilen.«
Keine Worte vermögen auszudrücken, wie mich diese letzte Aeußerung erschreckte und betrübte. Frau Finch vermehrte nur noch meine Angst und Sorge durch die Wiederholung dessen, was sie Fräulein Batchford während ihres kurzen Aufenthalts im Pfarrhause über Lucillais Augen sagen gehört hatte. Grosse war, als er Lucilla am vierten dieses Monats besuchte, mit dem Zustande ihrer Augen sehr unzufrieden und am Morgen des nächsten Tages hatte das Kammermädchen berichtet, daß Lucilla kaum im Stande sei, die vom Fenster ihres Zimmers aus sichtbaren Gegenstände zu unterscheiden. Im Laufe desselben Tages hatte sie Ramsgate verlassen und Grosse’s Brief bewies, daß sie seitdem nicht bei ihrem Augenarzt gewesen sei.
Trotz meiner Erschöpfung von der Reise hielt mich diese traurige Nachricht noch lange, nachdem ich mich zur Ruhe begeben hatte, wach. Am nächsten Morgen stand ich zugleich mit den Dienstboten auf, um mit dem nächsten Zuge nach London zu gehen.
Siebentes Kapitel - Auf dem Wege zum Ende - Zweites Stadium.
So früh ich auch ausgestanden war, war mir Oscar doch noch zuvorgekommen. Er war ausgegangen und hatte Herrn Gootheridge in seinem Morgenschlaf gestört, um sieh den Schlüssel von Browndown von ihm zu erbitten.«
Bei seiner Rückkehr in’s Pfarrhaus sagte er nur, daß er nach dem leeren Hause gegangen sei, um nach verschiedenen feiner dort noch befindlichen Sachen zu sehen. Sein Aussehen und sein Wesen bei dieser Erklärung mißfielen mir mehr, als je. Ich sagte nichts und knöpfte ihm seinen leichten Reiserock, der über der Brust schief zugeknöpft war, wieder zurecht. Bei dieser Gelegenheit berührte meine Hand seine Brusttasche. Er fuhr plötzlich zusammen als ob er etwas in der Tasche habe, wovon er nicht wünschte, daß ich es merke. War es etwas, das er von Browndown mitgebracht hatte.
Wir reisten nachdem sich uns der »Ehrwürdige« Finch, der darauf bestand, Oscar zu begleiten angeschlossen hatte, mit dem ersten Schnellzuge direkt nach London. Ein Blick auf den Fahrplan bei unserer Ankunft zeigte mir, daß ich bis zur Wiederabfahrt des Zuges nach Sydenham Zeit genug haben werde, Grosse einen kurzen Besuch zu machen. Da ich Oscar von den schlimmen Nachrichten über Lucilla’s Augen nichts sagen wollte, bis ich Grosse gesprochen haben würde, fuhr ich unter einem möglichst plausiblen Vorwand davon und ließ die beiden Herren im Wartezimmer des Bahnhofsgebäudes.
Ich fand Grosse auf seinem Lehnstuhl, seinen gichtischen Fuß in kalte Kohlblätter gewickelt. Seine Schmerzen und seine Sorge um Lucilla machten seine Augen nur noch wilder und seine eigenthümliche Redeweise nur noch komischer als gewöhnlich. Als ich mich an seiner Schwelle blicken ließ und ihm guten Morgen sagte, ballte er in seiner wahnsinnigen Ungeduld die Faust gegen mich.
»Zum Teufel noch Mal, guten Morgen«, brüllte er mir entgegen. »Wo, wo, wo ist die kleine Finch?«
Ich theilte ihm mit, wo wir glaubten daß Lucilla sich aufhalte. Jetzt drehte er den Kopf nach einer auf dem Kaminsims stehenden Flasche um, und ballte die Faust gegen diese.
»Nehmen Sie die Flasche da vom Kamin und das daneben stehende Augenbad. Halten Sie sich mit Ihrem müßigen Geschwätz hier nicht auf. Gehen Sie, retten Sie ihre Augen. Sehen Sie her, was Sie zu thun haben. Sie legen ihr den Kopf hintenüber, so!« Er machte mir die Stellung mit seinem eigenen Kopf so deutlich vor, daß sein gichtischer Fuß aus seiner Ruhe gebracht wurde und er vor Schmerz aufschrie. Aber er ließ sich dadurch nicht irre machen. Durch seine Brillengläser hindurch glotzte er mich furchtbar an, knirschte wüthend mit dem Schnurrbart zwischen seinen Zähnen: »Legen Sie ihr den Kopf hintenüber. Füllen Sie das Augenbad;gießen Sie dasselbe ganz über ihre Augen aus. Ertränken Sie sie förmlich in meinem Wasser. Ertränken Sie sie, sag’ ich, und wenn sie kreischt, kehren Sie sich nicht daran. Dann bringen Sie sie zu mir. Und wenn Sie ihr Hände und Füße binden müßten bringen Sie sie zu mir. Nun was stehen Sie noch da? Gehen Sie, fort mit Ihnen!«
»Ich möchte Sie gern noch etwas in Betreff Oscar’s fragen«, sagte ich.
Er ergriff das Kissen das er unter dem Kopfe hatte, offenbar in der Absicht, damit nach mir zu werfen und mein Fortgehen dadurch zu beschleunigen. Ich zog den Fahrplan als die beste mir zu Gebote stehende Waffe hervor.
»Sehen Sie selbst«, sagte ich, »und überzeugen Sie sich, daß ich auf dem Bahnhofe warten muß, wenn ich hier nicht warten darf.«
Nicht ohne Schwierigkeit überzeugte ich ihn daß es unmöglich sei, vor einer bestimmten Stunde nach Sydenham zu fahren und daß ich wenigstens noch zehn Minuten Zeit habe, die ich ebensogut damit zubringen könne, ihn zu consultiren. Ganz erschöpft durch seinen leidenschaftlichen Ausbruch, schloß er seine Glotzaugen und lehnte seinen Kopf zurück. »Das weiß man ja schon, die Frauen müssen schwatzen mag geschehen was da wolle. Meinetwegen schwatzen Sie.«
»Ich befinde mich in einer sehr schwierigen Lage«, fing ich an. »Oscar begiebt sich mit mir zu Lucilla. Ich werde natürlich zunächst dafür sorgen, daß er und Nugent nicht anders als in meiner Gegenwart zusammentreffen. Nicht ganz so sicher aber fühle ich mich in Betreff dessen, was ich Lucilla gegenüber zuthun habe? Soll ich sie getrennt halten bis ich Lucilla erst auf das Wiedersehen mit Oscar vorbereitet habe?«
»Lassen Sie sie meinetwegen den Teufel sehe«, brummte Grosse, »wenn Sie sie nur unmittelbar darauf zu mir herbringen Sie thun ganz genug, wenn Sie Oscar vorbereiten. Sie bedarf keiner Vorbereitungen Sie ist schon hinreichend über ihn enttäuscht.«
»Uber ihn enttäuscht?« wiederholte ich. »Ich verstehe Sie nicht.«
Matt rückte er sich in seinem Lehnstuhl zurecht und berichtete mir in einem sanften traurigen Ton über die Unterhaltung, die er mit Lucilla in Ramsgate gehabt und von der bereits im Tagebuch die Rede gewesen ist. Zum ersten Mal erfuhr ich hier etwas von jenen Veränderungen in ihren Empfindungen und Anschauungen durch welche sie sich so viele Sorgen gemacht hatte; zum ersten Mal hörte ich, wie schmerzlich sie ihr früheres Entzücken bei der Berührung ihrer Hand durch Nugent vermißt habe, wie bitter enttäuscht sie sich gefühlt habe, bei genauer Betrachtung seiner Züge und seiner ganzen Erscheinung im Vergleiche mit dem reizenden Ideal ihres Geliebten wie es ihr in den Tagen ihrer Blindheit, jenen glücklicheren Tagen wie sie sie nannte, wo sie noch das »arme Fräulein Finch« hieß, vorgeschwebt hatte.
»Glauben Sie nicht auch«, fragte ich, »daß sich alle ihre alten Empfindungen wieder bei ihr einstellen werden wenn sie Oscar wiedersieht?«
»Nein diese Gefühle werden sich nie wieder bei ihr einstellen und wenn sie fünfzig Oscars zu sehen bekäme.«
Er fing an, mich, ich weiß nicht, soll ich sagen zu erschrecken oder zu reizen. Ich weiß nur, daß ich meine Ansicht hartnäckig gegen ihn vertrat. »Meinen Sie«, fing ich an, »sie werde beim Anblicke des rechten Mannes dieselbe Enttäuschung empfinden?«
Ich konnte nicht weiter reden, er unterbrach mich ohne Umstände mit den Worten: »Sie Närrin sie wird eine noch viel größere Enttäuschung empfinden. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, wie ungeheuer ihre Enttäuschung bei dem Anblicke des hübschen Bruders mit dem schönen Teint war. Und nun fragen Sie sich selbst, was sie bei dem Anblicke des häßlichen Bruders mit dem blauen Gesicht empfinden wird. Ich sage Ihnen im Voraus, sie wird den rechten Mann für den schlimmeren Betrüger halten.«
Dem widersprach ich mit Entrüstung »Sein Gesicht wird ihr vielleicht eine Enttäuschung bereiten«, sagte ich, »das gebe ich zu. Aber das wird auch Alles sein. An dem Drucke seiner Hand wird sie erkennen daß kein Betrüger vor ihr steht.«
»An seinem Händedruck wird sie nichts erkennen. Ich konnte es nicht über das Herz bringen es ihr selbst zu sagen als sie mich fragte; aber Ihnen kann ich es sagen. Schweigen Sie und hören Sie zu. Alle die entzückenden Empfindungen die sie einst bei seiner Berührung durchrieselten gehören einer anderen Zeit an, jener vergangenen Zeit, wo sie mit den Fingern und nicht mit den Augen sah. Diese feinen, überfeinen Empfindungen der Zeit ihrer Blindheit sind der Preis, mit dem sie das große neue Recht, die Welt mit ihren Augen zu betrachten erkaufen mußte. Und das ist kein verächtlicher Preis! Verstehen Sie mich? Es handelt sich hier um eine Art von Tauschhandel zwischen der Natur und unserem armen Kinde. Die Natur sagt: Ich nehme Dir Deine Augen und gebe Dir dafür Deinen feinen Tastsinn. Das ist doch klar, nicht wahr?«
Ich fühlte mich zu unglücklich, um ihm zu antworten. Bei allen unseren Widerwärtigkeiten hatte ich dem Wiedererscheinen Oscars als der einzigen für die Wiederherstellung von Lucilla’s Glück nöthigen Bedingung so vertrauensvoll entgegengesehen. Wie stand es aber jetzt um diese meine Hoffnung? Schweigend saß ich da und starrte in dumpfer Niedergeschlagenheit das Teppichmuster an. Grosse zog seine Uhr aus der Tasche.
»Zehn Minuten sind verflossen«, sagte er.
Ich hörte nicht auf ihn und rührte mich nicht. Seine wilden Augen fingen wieder an, hinter den ungeheuren Brillengläfern zu funkeln.
»Fort mit Ihnen!« schrie er mir entgegen als ob ich taub wäre, »ihre Augen, ihre Augen! Während Sie hier Ihre Zeit verschwatzen sind ihre Augen in Gefahr. Mit ihrem Grämen und ihrem Weinen und ihrer verfluchten dummen Liebe war ihre Sehkraft — das schwöre ich Ihnen — schon vor vierzehn Tagen, als ich sie zuletzt sah, in Gefahr. Soll ich Ihnen mein großes Kissen da an den Kopf werfen? Nein? So machen Sie, daß Sie fortkommen sonst fliegt es Ihnen eins, zwei, drei an den Kopf! Fort mit Ihnen und bringen Sie sie mir noch vor Abend her!«
Ich ging wieder nach der Eisenbahn. Schwerlich hatte wohl von all’ den Frauen die mir auf den gedrängt vollen Straßen begegneten eine einzige an jenem Morgen ein schwereres Herz als ich.
Um die Sache noch schlimmer zu machen nahmen meine beiden Reisegefährten von denen der eine sich in der Restauration aufhielt, und der andere auf dem Perron auf- und abging, meinen Bericht über meine Zusammenkunft mit Grosse in einer Weise auf, die mich ernsthaft desappointirte und entmuthigte. Herr Finch in seiner unglaublichen Eitelkeit betrachtete meinen traurigen Bericht über den Zustand der Augen seiner Tochter nur als eine Art von schmeichelhafter, Anerkennung seiner Voraussicht.
»Sie erinnern sich, Madame Pratolungo, daß ich von Anfang an diese ganze Angelegenheit aus einem höheren Gesichtspunkte betrachtete. Ich protestirte gegen das Verfahren dieses Grosse, als eine rein weltiche Einmischung in die Wege einer unerforschlichen Vorsehung. Aber was erreichte ich damit? Meinem väterlichen Bedenken wurde kein Einfluß gestattet; mein moralisches Gewicht wurde, so zu sagen, bei Seite geschoben. Und jetzt sehen Sie die Folgen. Lassen Sie sich gesagt sein, lassen Sie es sich eine Warnung sein, liebe Freundin.« Er seufzte mit gewichtiger Selbstgefälligkeit und wandte sich von mir zu der Schenkmamsell hinter dem Buffet. »Geben Sie mir noch eine Tasse Three.«
Auch die Art, wie Oscar aus dem Perron meine Mittheilung über Lucilla’s kritischen Zustand aufnahm, war mehr als entmuthigend. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß sein Benehmen geradezu beunruhigend war.
»Ein neuer Posten in Nugent’s »Schuldregister«, sagte er. Dieser Ausdruck der Rachsucht war Alles, was er sagte: Kein Wort der Sympathie oder des Kummers kam über seine Lippen.
Wir fuhren nach Sydenham.
Von Zeit zu Zeit sah ich Oscar, der mir gegenüber saß, darauf an, ob wohl, während wir dem Orte, wo Lucilla wohnte, immer näher kamen, eine Veränderung an ihm bemerklich werde. Nein! Noch immer beobachtete er dasselbe bedeutungsvolle Schweigen, verharrte er in derselben unnatürlichen, gezwungenen Ruhe. Mit einziger Ausnahme des kurzen Ausbruchs am vorigen Abend, als Herr Finch ihm Nugent’s Brief überreicht hatte, war ihm, seit wir Marseille verlassen hatten, nicht das leisestes Zeichen dessen, was wirklich, in seinem Innern vorging, entfahren. Er, der sonst über jede ihm widerfahrene Unbill weinen konnte wie ein Weib, hatte seit jenem verhängnißvollen Tage, wo er entdeckt hatte, daß sein Bruder, dieser Bruder, der sein angebeteter Gott, der geheiligte Gegenstand seiner Dankbarkeit und seiner Liebe gewesen war, ihn betrogen habe, keine Thräne vergessen. Wenn ein Mann von Oscar’s Temperament sich Tage lang nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und sich in ein unheimliches Schweigen hüllt, wenn er keine Theilnahme verlangt und kein Wort der Klage äußert, so ist das ein bedenkliches Symptom. Geheime Gewalten, die er in sich verschlossen hält, müssen dann unwiderstehlich, sei es zum Guten, sei es zum Bösen losbrechen. Wie ich Oscar so hinter meinem Schleier beobachtete, gewann ich die feste Ueberzeugung, daß er in dem schrecklichen Drama, das unserer harrte, eine entscheidende Rolle spielen würde.
Wir langten in Sydenham an und gingen in das nächste Hotel. Auf der Eisenbahn mit anderen Reisenden im Waggon war es unmöglich gewesen, über die sicherste Art, zu Lucilla zu gelangen, Rath zu pflegen Diese ernste Frage drängte jetzt zu sofortiger Entscheidung. Wir schritten in dem Zimmer, das wir uns im Hotel hatten geben lassen, sofort darüber zu einer Berathung.
Achtes Kapitel - Auf dem Wege zum Ende - Drittes Stadium.
Sonst war es immer Oscar’s Gewohnheit gewesen, in zweifelhaften und schwierigen Fällen den Ansichten Anderer zu folgen. Bei dieser Gelegenheit aber war er es, der zuerst sprach und eine eigene Ansicht entwickelte.
»Es scheint mir unnöthig daß wir hier unsere Zeit mit der Erörterung unserer verschiedenen Ansichten verlieren«, sagte er. »Hier kann nur eines geschehen. Ich bin der bei dieser Gelegenheit am meisten Interessierte. Warten Sie hier auf mich, während ich nach dem Hause gehe.«
Er sprach ohne jede Spur der ihm sonst eigenen Schüchternheit, und nahm seinen,Hut, ohne weder Herrn Finch noch mich anzusehen. Ich überzeugte mich immer mehr, daß Nugent’s nichtswürdiger Vertrauensbruch Oscar zu einem gefährlichen Menschen gemacht habe. Entschlossen, sein Fortgehen zu verhindern, bestand ich darauf, daß er seinen Platz wieder einnehme und mich anhöre.
In demselben Augenblick stand Herr Finch auf und stellte sich zwischen Oscar und die Thür. Als ich das sah, schien es mir gerathen, mir meine Einmischung vorzubehalten und den Pfarrer erst reden zu lassen.
Warten Sie einen Augenblick, Oscar«, sagte der Pfarrer feierlich, »Sie vergessen mich.«
Oscar wartete, den Hut in der Hand, mit verdrossener Miene.
Herr Finch hielt inne, offenbar in Ueberlegung, wie er das, was er jetzt sagen wollte, ausdrücken solle. Seine Hochachtung vor Oscar’s Vermögen war groß; aber seine Selbstachtung war, besonders im gegenwärtigen kritischen Augenblick womöglich noch größer. Die erstere Rücksicht ließ ihn so höflich und die zweite so positiv wie möglich die Worte, in welche er seine Vorstellungen faßte, wählen.
»Erlauben Sie mir, lieber Oscar, Sie daran zu erinnern, daß mein Recht, als Lucilla’s Vater einzuschreiten, mindestens so gut begründet ist, wie Ihr Recht!«, hob der Pfarrer an. »Wenn meine Tochter in Noth ist, so ist es meine Pflicht, ihr zu Hilfe zu eilen. Wenn Sie nach dem Hause Ihrer Cousine gehen, so erfordert meine Stellung gebieterisch, daß ich mit gehe.«
Die Art, wie Oscar diesen Vorschlag aufnahm, bestärkte mich nur in den schweren Besorgnissen, die sein Wesen bei mir erweckt hatte. Er lehnte es rund heraus ab, sich von Herrn Finch begleiten zu lassen.
»Entschuldigen Sie mich«, antwortete er kurz, »ich möchte allein hingehen.«
»Darf ich nach Ihren Gründen fragen?« sagte der Pfarrer noch in versöhnlichem Ton.
»Ich möchte meinen Bruder allein sprechen«, erwiderte Oscar, die Blicke zu Boden geheftet.
Herr Finch, der noch immer an sich hielt, aber nicht von seinem Platz an der Thür wich, sah mich an. Ich beeilte mich, mich in’s Mittel zu legen, bevor es zu einer Seene zwischen den beiden Männern käme.
»Ich wage zu behaupten«, sagte ich, »daß Sie beide Unrecht haben. Ob einer von Ihnen geht oder ob Sie beide gehen, wird ziemlich aus dasselbe hinauslaufen. Ich möchte Hundert gegen Eins wetten, daß Sie gar nicht in’s Haus gelassen werden.«
Beide zugleich wandten sich gegen mich und fragten, was ich damit sagen wolle.
»Sie können doch nicht gewaltsam eindringen«, sagte ich. Wenn Sie dem Diener entweder beim Betreten des Hauses Ihre Namen nennen, wird Nugent daraus ersehen, was ihm bevorsteht, und er ist nicht der Mann, Sie unter diesen Umständen ins Haus zu lassen. Wenn Sie Ihre Namen verschweigen, so präsentiren Sie sich als Fremde. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Nugent für Fremde zugänglich sein wird? Würde Lucilla sich in ihrer jetzigen Lage dazu entschließen, zwei ihr unbekannte Männer zu empfangen? Glauben Sie mir, wenn Sie jetzt hingehen, werden Sie nicht nur nichts erreichen, sondern Sie werden es nur noch schwieriger machen, als es schon ist, mit Lucilla in Verbindung zu treten.«
Es entstand eine kurze Pause. Beide Männer fühlten, daß es nicht leicht sei, etwas auf meine Einwendungen zu erwidern. Oscar ergriff wieder zuerst das Wort.
»Wollen Sie denn hingehen?« fragte er.
»Nein antwortete ich. »Ich würde vorschlagen, Lucilla zu schreiben. Ein Brief wird in ihre Hände gelangen.«
Auch das schien ihnen nicht einzuleuchten. Oscar fragte, was denn dieser Brief enthalten solle. Ich erwiderte, ich würde sie bitten, sie allein sprechen zu dürfen, weiter nichts.
»Und wenn Lucilla Ihnen das verweigert?« fragte Herr Finch.
»Sie wird es nicht verweigern«, erwiderte ich. »Ich gebe zu, daß ein kleines Mißverständniß zwischen uns obwaltete, als ich ins Ausland reiste Ich werde dieses Mißverständniß offen als den Grund meines Schreibens bezeichnen. Ich werde es Ihrer Tochter zur Ehrensache machen, mir eine Gelegenheit zu geben, mich mit ihr zu verständigen. Ich werde von Lucilla einen Akt der Gerechtigkeit fordern, ich glaube, sie wird mir denselben nicht verweigern.«
Das war beiläufig bemerkt der Aktionsplan, wie ich ihn mir auf der Fahrt nach Sydenham ausgedacht hatte. Ich hatte mit seiner Erwähnung nur gewartet, bis ich zuvor gehört haben würde, was die beiden Männer proponirten.
Oscar, der noch immer mit dem Hut in der Hand stand, blickte nach Herrn Finch hinüber, der gleichfalls den Hut in der Hand hielt und beharrlich seinen Platz an der Thür behauptete. In dem Gesicht und dem ganzen Wesen des Pfarrers sprach sich neben der größten Höflichkeit die entschiedene Absicht aus, Oscar, wenn er dabei beharren sollte, seinen Plan, allein zu gehen, zur Ausführung zu bringen, zu begleiten. Oscar sah sich zwischen einen Geistlichen und eine Frau gestellt, die beide fest entschlossen waren, ihren Willen durchzusetzen. Unter diesen Umständen blieb ihm nichts übrig, als Einem oder dem Andern von uns wirklich oder scheinbar nachzugehen. Er entschied sich für meinen Vorschlag.
»Und wenn es Ihnen gelingen sollte, sie zu sehen«, fragte er, »was denken Sie dann zu thun?«
»Ich denke sie entweder hierher zu ihrem Vater und zu Ihnen zu bringen, oder eine Zeit mit ihr zu verabreden, wo sie Sie beide in ihrer jetzigen Wohnung empfangen will«, erwiderte ich.
Nach einem abermaligen Blick auf den unbeweglichen Pfarrer klingelte Oscar und beorderte Schreibmaterial.
»Noch eine Frage«, sagte er, »wenn Lucilla Sie in Ihrer Wohnung empfangen sollte, beabsichtigen Sie —?« Er hielt inne, seine Blicke wichen den meinigen aus. — »Beabsichtigen Sie, noch Jemand Andern zu sehen?« nahm er wieder auf, indem er es noch immer vermied, — den Namen seines Bruders auszusprechen.
»Ich beabsichtige Niemand zu sehen, als Lucilla«, sagte ich. »Es ist nicht meine Sache, mich in Ihre Angelegenheit mit Ihrem Bruder zu mischen.« Der Himmel mag es mir vergeben, daß ich so mit ihm sprach, während ich doch die ganze Zeit über fest entschlossen war, mich in ihre Angelegenheit zu mischen.
»Meinetwegen schreiben Sie Ihren Brief«, sagte er, »aber Sie müssen mir ihre Antwort zeigen.«
»Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich denselben Anspruch erhebe«, fügte der Pfarrer hinzu. »In meiner Eigenschaft als Vater —«
Ich beeilte mich, seine Eigenschaft als Vater anzuerkennen, noch ehe er ein Wort weiter sagen konnte. »Sie sollen beide die Antwort sehen«, sagte ich und setzte mich hin, um meinen Brief zu schreiben; ich schrieb nur, was ich schreiben zu wollen erklärt hatte.
»Liebe Lucilla, ich kehre soeben vom Continent zurück. Um der Gerechtigkeit willen und im Angedenken an vergangene glückliche Tage bitte ich Sie, mich sofort empfangen zu wollen, ohne unserer Verabredung gegen irgend Jemand Erwähnung zu thun. Ich verpfände mein Wort, daß ich Sie in fünf Minuten überzeugt haben werde, daß ich mich niemals Ihrer Liebe und Ihres Vertrauens unwürdig gemacht habe. Der Ueberbringer wartet auf Antwort.«
Ich gab den Brief den beiden Herren zum Lesen. Herr Finch machte keine Bemerkung; er war sichtlich unzufrieden mit der untergeordneten Stellung, die er hier einzunehmen verurtheilt war. Oscar sagte: »Ich habe nichts gegen den Brief einzuwenden und werde nichts thun, bis ich die Antwort gelesen habe.«
Darauf dictirte er mir die Adresse seiner Cousine Ich übergab den Brief selbst einem zum Hotel gehörenden Boten.
»Ist es weit von hier?« fragte ich.
»Kaum zehn Minuten zu gehen, Madame.«
»Sie haben mich verstanden, daß Sie auf Antwort warten sollen?«
»Ja wohl, Madame.«
Damit ging er fort.
Soviel ich mich erinnere, verfloß wenigstens eine halbe Stunde, bevor er zurück kam. Man wird sich eine Vorstellung von der schrecklichen Ungewißheit machen können, die jetzt auf uns allen Dreien lastete, wenn ich sage, daß keiner von uns, von dem Augenblick, wo der Bote fortging, bis zu dem Augenblick, wo er wiederkam, ein einziges Wort sprach.
Der Bote kam mit einem Brief in der Hand zurück.
Meine Finger zitterten so, daß ich den Brief kaum öffnen konnte. Noch bevor ich ein Wort gelesen hatte, erfüllte mich der Anblick der Handschrift mit Entsetzen. Der Brief selbst war von einer fremden Hand geschrieben und die Ueberschrift am Schluß war in jenen großen unruhigen Zügen geschrieben, deren ich mich von der Zeit her, wo Lucilla in ihrer Blindheit ihren ersten Brief an Oscar geschrieben hatte, so wohl erinnerte.
Der sonderbare Wortlaut des Schreibens war folgender:
»Ich kann Sie hier nicht empfangen, aber ich kann und will in Ihrem Hotel zu Ihnen kommen, wenn Sie mich erwarten wollen. Ich kann die Zeit nicht genau angeben. Ich kann nur versprechen, die erste sich mir darbietende Gelegenheit, um Ihrer und um meinetwillen wahrzunehmen.«
Eine solche Sprache ließ nur eine einzige Auslegung zu. Lucilla war nicht frei in ihren Handlungen. Beide, der Pfarrer und Oscar mußten jetzt zugeben, daß ich Recht gehabt hatte. Wenn es für mich unmöglich war, in dem Hause empfangen zu werden, wie doppelt unmöglich würde es nicht für die Männer gewesen sein, sich Zutritt zu verschaffen Oscar ging, nachdem er den Brief gelesen hatte, in den entferntesten Winkel des Zimmers, ohne sich weiter zu äußern. Herr Finch entschloß sich, seine untergeordnete Stellung aufzugeben, indem er sofort selbstständig zu agiren anfing.
»Muß ich schließen«, fing er an, »daß es vergeblich wäre, wenn ich versuchen wollte, mein eigenes Kind zu sehen?«
»Ihr Brief spricht für sich selbst«, erwiderte ich. »Wenn Sie den Versuch machen, sie in Ihrer Wohnung zu sehen, so werden Sie wahrscheinlich damit nur Ihre Tochter verhindern, herzukommen.«
»Ja meiner Eigenschaft als Vater«, fuhr Herr Finch fort, »ist es mir unmöglich, passiv zu bleiben. Als geistlicher Bruder habe ich, denke ich, ein begründetes Recht auf den Beistand des Pfarrers dieses Kirchspiels. Sehr wahrscheinlich ist diese betrügerische Heirath bereits angemeldet worden. In diesem Fall ist es meine Pflicht, nicht nur gegen mich selbst und mein Kind, sondern auch gegen die Kirche, mit meinem ehrwürdigen Collegen zu conferiren. Ich will mich zu diesem Zweck zu ihm begeben.« Er stolzirte aus die Thür zu und fuhr fort. »Sollte Lucilla in meiner Abwesenheit erscheinen, so autorisire ich Sie, Madame Pratolungo, sie bis zu meiner Rückkehr zurückzuhalten.« Mit diesem Abschiedsauftrag verließ er das Zimmer.
Ich sah Oscar an. Er kam langsam vom anderen Ende des Zimmers her auf mich zu.
»Sie werden doch natürlich hier warten?« sagte er.
»Natürlich. Und Sie?«
»Ich werde etwas ausgehen.«
»Haben Sie einen besonderen Zweck dabei?«
»Nein, keinen anderen, als die Zeit hinzubringen. Ich habe das Warten satt.«
Nach der Art, wie er mir antwortete, war ich· fest überzeugt, daß er jetzt, nachdem er Herrn Finch losgeworden war, direct nach dem Hause seiner Cousine gehen werde.
»Sie vergessen, sagte ich, »daß Lucilla herkommen kann, während Sie fort sind. Ihre Anwesenheit in diesem oder dem anstoßenden Zimmer kann, wenn ich ihr mittheile, was Ihr Bruder gethan hat, von der größten Wichtigkeit sein. Wie, wenn sie mir nicht glaubt? Was soll ich dann anfangen, wenn ich mich dann nicht auf Sie berufen kann? Ich bitte Sie in Ihrem eigenen und in Lucilla’s Interesse, hier bei mir zu bleiben, bis sie kommt.«
Ich gab vorläufig nur diesen Grund an und wartete ab, was er thun werde. Nach einigem Zaudern antwortete er im Tone verdrossener Gleichgültigkeit, »Sie wünschen«, und ging wieder nach dem andern Ende des Zimmers. Als er mir den Rücken kehrte, hörte ich ihn für sich hin murmeln. »So muß ich noch ein bischen länger warten.«
»Auf was?« fragte ich.
Er wandte den Kopf nach mir um.
»Für jetzt muß ich Geduld haben. Sie werden bald genug von mir hören.«
Im Augenblick sagte ich nichts weiter zu ihm. Der Ton, in welchem er mir geantwortet hatte, zeigte mir, daß es nutzlos sein werde. Nach einiger Zeit, ich kann nicht sagen wie lange, hörte ich das Geräusch weiblicher Kleider draußen auf dem Vorplatz.
Im nächsten Augenblick wurde an die Thür geklopft.
« Ich gab Oscar ein Zeichen, eine andere dicht neben ihm am andern Ende des Zimmers befindliche Thür zu öffnen und sich wenigstens für den Augenblick dahin zurückzuziehen. Dann antwortete ich mit möglichst fester Stimme: »Herein.«.
Ein mir unbekanntes, als respektables Dienstmädchen gekleidetes Frauenzimmer trat ein. Sie führte Lucilla an der Hand. Mein erster Blick auf das geliebte Kind offenbarte mir die schreckliche Wahrheit. Gerade so, wie ich sie auf dem Corridor im Pfarrhause am ersten Tage gesehen hatte, sah ich sie jetzt wieder. Wieder wandte sie sich mit ihren blinden Augen, die das Licht das auf sie fiel, unempfindlich widerspiegelten, nach mir und blind! o Gott, nach wenigen Wochen, während deren sie sich des Augenlichts erfreut hatte, wieder blind!
Ueber dieser jammervollen Entdeckung vergaß ich alles Andere. Ich flog ihr entgegen und umschlang sie mit meinen Armen. Nach einem einzigen Blick auf ihr bleiches abgezehrtes Gesicht sank ich weinend an ihre Brust.
Sie stützte meinen Kopf sanft mit der Hand und wartete mit Engelsgeduld, bis dieser erste Ausbruch meines Kummers sich gelegt hatte. »Weinen Sie nicht über meine Blindheit«, sagte sie mit ihrer mir so wohlbekannten, sanften, weichen Stimme. Die Tage, wo ich sehen konnte, waren die unglücklichsten meines Lebens. Wenn ich aussehe, als hätte ich mich gegrämt, denken Sie nicht, es sei über meine Augen.« Sie hielt inne und seufzte tief auf. »Ihnen kann ich es ja sagen«, fuhr sie flüsternd fort, — »es ist mir eine wahre Erleichterung, ein Trost, es Ihnen zu sagen. — Ich gräme mich über meine Heirath.«
Diese Worte brachten mich wieder zu mir. Ich richtete mich auf und küßte sie. »Ich bin hergekommen, Sie zu trösten«, sagte ich, »und ich benehme mich wie eine Thörin.«
Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Diese Aeußerung sieht Ihnen recht ähnlich«, sagte sie. Sie klopfte mir in der alten vertraulichen Weise mit der Hand auf die Wange. Diese kleine Vertraulichkeit brach mir mit den Erinnerungen, die sich daran knüpften, fast das Herz. Ich erstickte fast an der Anstrengung, die dummen, unnützen, feigen Thränen, die sich wieder Luft machen wollten, zurückzudrängen. »Kommen Sieh sagte sie, »weinen Sie nicht mehr. Lassen Sie uns niedersetzen und miteinander plaudern, als waren wir in Dimchurch.«
Ich führte sie nach dem Sopha, auf dem wir nebeneinander Platz nahmen. Sie schlang ihren Arm um mich und legte ihren Kopf an meine Schulter. Wieder flatterte das schwache Lächeln wie ein verlöschendes Licht auf ihrem lieblichen Gesichte auf; auf diesem Gesicht, das jetzt bleich und abgezehrt, aber doch noch immer schön war, noch immer dem Antlitz der Sixtinischen Madonna glich. »Wir sind ein sonderbares Paar«, sagte sie in Einem momentanen Ausbruch ihres alten unwiderstehlichen Humors. »Sie sind meine bitterste Feindin und Sie brechen in dein Augenblick, wo wir uns wiedersehen, in Thränen aus. Sie haben mich abscheulich behandelt und ich halte Sie umschlungen und lehne meinen Kopf an Ihre Schulter und möchte Sie um Alles in der Welt nicht von mir lassen!« Ihr Gesicht nahm wieder einen traurigen Ausdruck an, der Ton ihrer Stimme veränderte sich plötzlich. »Sagen Sie mir«, fuhr sie fort, »wir kommt es, daß der Schein so entsetzlich gegen Sie sprach? Oscar überzeugte mich in Ramsgate, daß ich Sie aufgeben, daß ich Sie nie wiedersehen müßte. Ich theilte seine Auffassung, das kann ich nicht leugnen, liebste Frau; eine Zeitlang verabscheute ich Sie ebenso sehr wie er. Aber als ich wieder blind wurde, konnte ich es nicht länger ertragen. Ganz allmählig, in dem Maße wie mein Augenlicht verlosch, wandte sich mein Herz mit unwiderstehlicher Gewalt wieder Ihnen zu. Als man mir Ihren Brief vorlas, als ich erfuhr, daß Sie in meiner Nähe seien, da war es wieder ganz wie in der alten Zeit, ich konnte es vor Sehnsucht nach Ihnen nicht länger aushalten. Und da bin ich, noch ehe Sie mir eine Erklärung gegeben haben, überzeugt, daß ein trauriges Mißverständniß zwischen uns sein Wesen trieb.«
Ich wollte es in dankbarer Erkenntlichkeit für diese großmüthigen Worte versuchen, mich auf der Stelle zu rechtfertigen; aber es war mir unmöglich; ich konnte an nichts denken, von nichts reden, als von der schrecklichen Wiederkehr ihrer Blindheit.
»Lassen Sie mir ein paar Minuten Zeit«, sagte ich, »und Sie sollen Alles hören. Ich kann noch nicht von mir reden, ich kann nur von Ihnen reden. O, Lucilla, warum haben Sie sich von Grosse fern gehalten? Kommen Sie noch heute mit mir zu ihm. Lassen Sie ihn versuchen, was er für Sie thun kann, und zwar gleich, mein geliebtes Kind, ehe es zu spat ist.«
»Es ist zu spät«, sagte sie. »Ich bin bei einem anderen Augenarzt gewesen, einem Fremden. Er sagte dasselbe, was Herr Sebright gesagt hatte: er zweifelte, daß jemals die Möglichkeit meiner Heilung vorhanden gewesen sei; nach seiner Ansicht hätte die Operation nie vorgenommen werden müssen.«
»Warum sind Sie zu einem Fremden gegangen?« fragte ich, »warum haben Sie Grosse ausgegeben?«
»Darnach müssen Sie Oscar fragen«, antwortete sie, »auf seinen Wunsch habe ich mich von Grosse ferngehalten.«
Als ich das hörte, errieth ich alsbald das Motiv, welches Nugent dabei geleitet hatte, wie ich es später in dem Tagebuch bestätigt fand. Wenn er Lucilla zu Grosse hätte gehen lassen, so würde unser guter Deutscher Vielleicht bemerkt haben, daß ihr Verhältniß zu Nugent ihr Gemüth bedrücke, und würde es vielleicht für nöthig gehalten haben, ihr den Betrug Nugent’s zu entdecken. Uebrigens aber beharrte ich noch dabei, Lucilla dringend zu bitten, mit mir wieder zu unserem alten Freunde zu gehen.
»Erinnern Sie sich unserer Unterhaltung über diesen Gegenstand«, erwiderte sie mit entschiedenem Kopfschütteln. »Ich meine jene Unterhaltung, als die Operation nahe bevorstand. Ich sagte Ihnen, ich habe mich an meine Blindheit gewöhnt, ich wolle meine Sehkraft nur wieder erlangen, um Oscar sehen zu können. Und als ich ihn wiedersah, was geschah da? Meine Enttäuschung war so furchtbar, daß ich wieder blind zu werden wünschte. Fuhren Sie nicht auf, schreien Sie nicht, als wollten Sie ersticken. Ich meine, was ich sage. Ihr sehenden Menschen legt einen so albernen Werth auf Eure Augen. Erinnern Sie sich nicht, daß ich Ihnen das schon sagte, als wir uns zuletzt darüber unterhielten?«
Ich erinnerte mich dessen ganz genau. Sie hatte das wirklich gesagt. Sie hatte gesagt, daß sie niemals einen von uns ernstlich um seine Augen beneidet habe.Sie hatte unsere Augen geschmäht, hatte dieselben geringschätzig mit ihrem Tastsinn verglichen und sie als Betrüger, die uns beständig irreleiteten, lächerlich zu machen gesucht. Ich gab das Alles zu, ohne mich jedoch dadurch im Mindesten mit der eingetretenen Katastrophe ausgesöhnt zu fühlen. Wenn sie mir nur hätte zuhören wollen, würde ich sie noch weiter zu überreden gesucht haben. Aber sie weigerte sich rundheraus.
»Wir haben sehr wenig Zeit«, sagte sie. »Lassen Sie uns von etwas Interessanterem reden, ehe ich wieder fort muß.«
»Wieder fort muß?« wiederholte ich. »Sind Sie nicht Ihre eigene Herrin?«
Ihr Gesicht verdüsterte sich, ihr Wesen wurde verlegen.
»Ich kann nicht gerade sagen, daß ich eine Gefangene bin«, antwortete sie. »Ich kann nur sagen: ich werde beobachtet. Sobald Oscar fort ist, weiß es Oscar’s Consine, eine lauernde, argwöhnische, falsche Person, immer so einzurichten, daß sie bei mir ist. Ich habe sie zu ihrem Manne sagen gehört, sie glaube, ich würde mein Heirathsversprechen brechen; wenn man mir nicht scharf aufpasse. Ich weiß nicht, was ich anfangen sollte, wenn nicht eines der Dienstmädchen da wäre, eine vortreffliche Person, die sich für mich interessirt und mir beisteht.« Sie hielt inne und richtete den Kopf forschend auf. »Wo ist das Mädchen?«
Ich hatte das Mädchen, das sie in’s Zimmer gebracht hatte, ganz vergessen. Sie mußte uns taktvoller Weise ganz allein gelassen haben, nachdem sie Lucilla hereingeführt hatte. Als ich mich nach ihr umsah, war sie nicht da.
»Das Mädchen wartet ohne Zweifel unten sagte ich, »fahren Sie fort.«
»Ohne diese gute Person«, nahm Lucilla das Gespräch wieder auf; »wäre ich nie hergekommen Sie brachte mir Ihren Brief, las ihn mir vor und schrieb meine Antwort. Ich verabredete mit ihr, daß sie bei der ersten Gelegenheit mit mir davon schlüpfen solle. Die Chancen standen in einer Beziehung günstig für uns, außer der Cousine war Niemand da, der auf uns aufpaßte. Oscar war nicht im Hause.«
Bei dem letzten Wort hielt sie plötzlich inne. Ein leises Geräusch am andern Ende des Zimmers, welches ich gar nicht bemerkt hatte, war ihrem Ohr nicht entgangen. »Was ist das für ein Geräusch?« fragte sie. »Ist noch Jemand im Zimmer?«
Ich sah wieder auf.
Während sie von dem falschen Oscar sprach, stand der echte Oscar am andern Ende des Zimmers und hörte zu. Als er bemerkte, daß ich ihn sehe, bat er mich mit einer flehenden Geberde, seine Anwesenheit nicht zu verrathen. Er hatte offenbar, noch ehe ich ihn bemerkt hatte, gehört, was wir miteinander gesprochen hatten; denn er berührte seine Augen und erhob seine Hände mit dem Ausdruck tiefen Mitleids. Was er auch im Schilde führen mochte, diese traurige Entdeckung mußte ihn tief ergriffen haben. Lucilla’s Einfluß konnte jetzt nicht anders als gut auf ihn wirken. gab ihm ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten und sagte Lucilla daß keine Veranlassung für sie sei, sich zu beunruhigen. Sie fuhr fort:
»Qscar ist diesen Morgen nach London gegangen. Können Sie rathen, zu welchem Zweck? Er will sich die Heirathserlaubniß für uns erwirken, er hat unsere Heirath bei der Kirche angemeldet. Ich setze meine letzte Hoffnung in Sie: Trotz Allem, was ich dagegen einwandte, hat er unsere Hochzeit auf den Einundzwanzigsten festgesetzt, auf übermorgen! Ich habe Alles aufgeboten um einen Aufschub zu erwirken. O, wenn Sie wüßten!« — Ihre wachsende Aufregung machte sie für den Augenblick sprachlos. Dann aber, als sie sich wieder etwas erholt hatte, fuhr sie fort: »Ich darf die kostbaren Minuten nicht vergeuden, ich muß zurück sein, bevor, Oscar wiederkommt. O, meine alte Freundin, Sie sind ja nie um eine Auskunft verlegen; Sie wissen ja immer was zu thun ist. Ersinnen Sie etwas, wie ich meine Heirath aufschieben kann. Rathen Sie mir etwas, womit ich sie überraschen und · sie zwingen kann, mir Zeit zu lassen!«
Ich blickte wieder zu Oscar hinüber. In athemloser Spannung zuhörend, war Oscar geräuschlos bis in die Mitte des Zimmers vorgeschritten. Auf ein Zeichen von mir blieb er stehen und ging nicht weiter.
»Ist es Ihre wahre Meinung, Lucilla, daß Sie ihn nicht mehr lieben?« fragte ich.
»Ich kann Ihnen nichts darüber sagen«, antwortete sie »außer daß eine schreckliche Veränderung mit mir vorgegangen ist. So lange ich sehen konnte, glaubte ich mir die Sache theilweise erklären zu können; ich glaubte der neue Sinn habe ein neues Wesen aus mir gemacht. Aber jetzt, nachdem ich meine Sehkraft wieder verloren habe, jetzt wo ich wieder bin, was ich mein ganzes Leben gewesen war, will die schreckliche Unempfindlichkeit noch immer nicht von mir weichen. Ich empfinde so wenig für ihn, daß es mir bisweilen schwer wird, mich zu überreden, daß er wirklich Oscar ist. Sie wissen, wie ich ihn anzubeten pflegte. Sie wissen, mit welchem Entzücken ich ihn einst geheirathet haben würde. Und nun stellen Sie sich vor, was ich bei der Art, wie ich jetzt für ihn fühle, leiden muß!
Ich sah wieder auf. Oscar hatte sich näher herangeschlichen; ich konnte sein Gesicht deutlich sehen. Der gute Einfluß Lucilla’s fing an, sich bei ihm geltend zu machen. Ich sah, wie die Thränen ihm in die Augen traten; ich sah Liebe und Mitleid an die Stelle von Haß und Rache treten. Der alte Oscar, wie er in meiner Erinnerung lebte, stand wieder vor mir.
»Ich will ihn ja nicht verlassen, fuhr Lucilla fort; »Alles, was ich verlange, ist, daß er mir etwas Zeit läßt. Die Zeit muß mir helfen, mir mein altes Selbst wiederzugewinnen. Ich bin ja mein Lebelang blind gewesen. Können die wenigen Wochen, wo ich sehen konnte, mich der Gefühle beraubt haben, die sich jahrelang in mir entwickelt haben? Ich kann es nicht glauben. Ich kann mich im Hause wieder zurechtfinden, kann die Dinge nach der Berührung erkennen; kurz, ich kann jetzt, wo ich wieder blind bin, wieder alles das, was ich früher im Zustande meiner Blindheit konnte, das Gefühl für ihn wird sich also auch, wie alles Uebrige, wieder einstellen, nur muß man mir Zeit lassen!«
Bei den letzten Worten sprang sie plötzlich unruhig auf. »Es ist doch Jemand hier im Zimmer«, sagte sie, »Jemand, der da weint. Wer ist es?«
Oscar stand dicht bei uns. Die Thränen rannen ihm über die Wangen. Auch ich hatte, wie Lucilla, den einen schwachen schluchzenden Athemzug der ihm entfahren war, gehört.
Ich ergriff seine Hand mit meiner einen und Lucilla’s mit meiner anderen Hand. Ob es zum Guten oder zum Schlimmen war, das stand in Gottes Hand. Die Zeit war gekommen.
»Wer ist das?« wiederholte Lucilla ungeduldig.
»Versuchen Sie es doch, bestes Kind, ob Sie es nicht sagen können, ohne mich zu fragen.« Mit diesen Worten legte ich ihre in Oscar’s Hand und beobachtete dabei ihr Gesicht scharf.
Im ersten Augenblick, als sie die ihr vertraute Berührung wieder fühlte, wurde sie todtenbleich. Ihre blinden Augen erweiterten sich schrecklich. Wie versteinert stand sie da. Dann aber stieß sie einen langen, leisen Schrei aus, einen Schrei athemlosen Entzückens, und umschlang ihn leidenschaftlich mit ihren Armen. Das Leben kehrte auf ihre Wangen zurück; ihr liebliches Lächeln umspielte zitternd ihre geöffneten Lippen; ihr Busen wallte von raschen, schwachen Athemzügen unruhig hin und her. In sanften Tönen des Entzückens murmelte sie mit den Lippen auf seiner Wange glückselig:
»O, Oscar, ich kenne Dich wieder!«
Neuntes Kapitel - Das Ende
Eine kleine Zeit war verflossen.
Ihr erstes Entzücken über das Wiedererkennen durch den Tastsinn hatte sich gelegt. Sie hatte sich wieder beruhigt. Sie ließ Oscar los und wandte sich zu mir mit der Frage, die, wie ich vorausgesehen hatte, der Vereinigung ihrer Hände folgen mußte:
»Was hat das zu bedeuten?«
Die Antwort auf diese Frage mußte die Bloßstellung Nugent’s, die Enthüllung des verhängnißvollen Geheimnisses von Oscar’s Gesicht und endlich, nicht zum wenigsten, die Vertheidigung meines Benehmens gegen sie umfassen. So vorsichtig, so delikat und so rücksichtsvoll wie ich konnte, enthüllte ich ihr die ganze Wahrheit. Wie die Erschütterung auf sie wirkte, hat sie mir weder damals noch später gesagt. Ihre Hand in Oscar’s Hand gelegt, ihren Kopf an Oscar’s Brust gelehnt, hörte sie mir zu, ohne mich durch ein einziges Wort zu unterbrechen. Dann und wann sah ich sie zittern, hörte ich sie tief seufzen. Das war Alles. Erst als ich mit meiner Antwort zu Ende war — erst nach einer langen Pause, während deren Oscar und ich sie in sprachloser Angst beobachteten, richtete sie sich langsam auf und brach ihr Schweigen.
»Gott sei Dank!« hörten wir sie im inbrünstigen Tone sagen, »Gott sei Dank, daß ich blind bin!«
Das waren ihre ersten Worte. Sie erfüllten mich mit Entsetzen und ich flehte sie an, sie zurückzunehmen.
Ruhig lehnte sie ihren Kopf wieder an Oscar’s Brust und sagte:
»Warum sollte ich die Worte zurücknehmen? Denken Sie, ich möchte ihn entstellt, wie er jetzt ist, sehen? Nein! Ich möchte ihn sehen, und ich sehe ihn, so wie meine Einbildungskraft mir sein Gesicht in den ersten Tagen seiner Liebe vormalte. Meine Blindheit ist ein Segen für mich; sie hat mir das alte Gefühl des Entzückens bei seiner Berührung wiedergegeben, sie erhält mir mein geliebtes Bild von ihm, das einzige Bild an dem mir etwas gelegen ist, unverändert und unwandelbar. Sie beharren dabei, zu glauben, daß mein Glück von dem Besitz meiner Sehkraft abhängt; ich aber denke mit Schrecken an das, was ich während der kurzen Zeit, wo ich sehen konnte, gelitten habe, ich, biete Alles auf, um diese Zeit zu vergessen. O, wie wenig kennen Sie mich doch! Welcher Verlust würde es für mich sein, wenn ich ihn sehen müßte, wie Sie ihn sehen! Versuchen Sie es, mich zu verstehen, und Sie werden nicht mehr von meinem Verlust, Sie werden nur noch von meinem Gewinn reden.«
»Ihr Gewinn?« wiederholte ich. »Was haben Sie denn gewonnen?«
»Glück«, antwortete sie. »Ich lebe nur wahrhaft in meiner Liebe und die Lebenslust meiner Liebe ist meine Blindheit.«
Das war in wenigen Worten eine ganze Lebensgeschichte!
Wer, wie ich, gesehen hätte, wie sie in der Aufregung des Redens ihr strahlendes Gesicht wieder aufrichtete; wer sich, wie ich, dabei dessen erinnert hätte, was der Augenarzt in Betreff des Preises erklärt hatte, mit welchem sie unbedingt die Wiedererlangung ihrer Sehkraft erkaufen müsse, der würde wohl auch, wie ich, bescheidentlich zugegeben haben, daß sie besser die Bedingungen ihres Glückes kennen müsse, und würde ihr nicht widersprochen haben!
Ich überließ Lucilla und Oscar ihrer Unterhaltung und ging im Zimmer auf und ab, um mir zu überlegen was wir zunächst zu thun haben würden.
Das war nicht leicht zu sagen. Wußte ich doch über die in Betracht kommenden Verhältnisse nichts als das Wenige, was mir das theure Kind darüber mitgethetlt hatte. Nugent hatte nicht davor zurückgeschreckt, seinen grausamen Betrug bis an’s Ende fortzuspielen. Er hatte im Namen seines Bruders seine Heirath fälschlich bei der Kirche angemeldet. Und er war jetzt in London, um sich wieder fälschlich im Namen seines Bruders den Heirathserlaubnißschein aushändigen zu lassen. Das war Alles, was ich von seinem Vorgehen wußte.
Während ich noch mit mir zu Rathe ging, zerschnitt Lucilla den gordischen Knoten.
»Warum halten wir uns hier auf?« fragte sie. »Laßt uns fortgehen und nie wieder an diesen verhaßten Ort zurückkehren.«
In dem Augenblicks wo sie aufstand, ließ sich ein leises Klopfen an der Thür vernehmen.
Ich rief herein; das Mädchen welches Lucilla nach dem Hotel gebracht hatte, trat wieder ein. Sie schien sich zu scheuen sich weit von der Thür zu entfernen. Sie blieb dicht vor derselben stehen, sah ängstlich nach Lucilla hin und sagte:
»Kann ich Sie sprechen, Fräulein?«
»Sie können vor dieser Dame und diesem Herrn Alles sagen«, antwortete Lucilla. »Was giebt’s?«
»Ich fürchte, man ist uns nachgegangen, Fräulein!«
»Nachgegangen? Wer?«
»Die Kammerjungfer. Ich sah sie vor einer kleinen Weile, wies sie nach dem Hotel hinaufblickte und dann rasch wieder umkehrte, und das ist noch nicht das Schlimmste, Fräulein!«
»Was ist denn sonst noch geschehen?«
»Wir haben uns mit der Eisenbahn geirrt«, antwortete das Mädchen. »Es giebt einen Zug von London, den wir im Fahrplan übersehen haben und dieser Zug ist, wie ich eben unten im Hotel höre, schon vor länger als einer Viertelstunde angekommen. Bitte, lassen Sie uns wieder nach Hause gehen, sonst fürchte ich, finden sie uns nicht zu Hause.«
»Gehen Sie nur allein nach Hause, Jane«, sagte Lucilla.
»Allein?«
»Ja, ich danke Ihnen, daß Sie mich hergebracht haben; ich bleibe hier.«
Kaum hatte sie sich wieder zwischen mich und Oscar hingesetzt, als die Thür leise von außen geöffnet wurde.
Eine lange, dünne, nervöse Hand langte durch die Oeffnung hinein; ergriff das Mädchen am Arm und zog sie den Vorplatz hinaus. Statt ihrer trat ein Mann mit dem Hut auf dem Kopfe in’s Zimmer. Es war Nugent Dubourg.
Er blieb an derselben Stelle, wo das Mädchen gestanden hatte, stehen. Er sah nach der Reihe Lucilla, seinen Bruder und mich an.
Stumm stand er da, der Freundin, die er verleumdet, und dem Bruder, den er verrathen hatte, gegenüber. Da stand er — die Augen fest auf die zwischen uns sitzende Lucilla geheftet — mit dem Bewußtsein, daß Alles vorbei sei, daß das Weib, um dessentwillen er sich entwürdigt hatte, für immer für ihn verloren sei. Da stand er, von seinen selbstbereiteten Qualen verzehrt.
Bei dem Erscheinen seines Bruders war Oscar aufgestanden und hatte seinen Arm um Lucilla geschlungen. Jetzt trat er mit Lucilla Nugent einen Schritt entgegen. Ich folgte ihm, indem ich sein Gesicht mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtete. Ich fürchtete mich jetzt nicht mehr vor dem was er thun möchte. Lucilla’s segensreicher Einfluß hatte den bösen Dämon, der versteckt in ihm gelauert hatte, ausgetrieben. Ich erwartete also mit Spannung, aber ohne Besorgniß, wie er sich jetzt benehmen würde.
»Nugent«, sagte er sehr ruhig.
Nugent ließ den Kopf schweigend auf die Brust sinken.
Sobald Lucilla Oscar den Namen aussprechen hörte, wußte sie sofort, was geschehen war. Sie schauerte entsetzt zusammen. Oscar legte sie sanft in meine Arme und trat nun allein noch näher auf seinen Bruder zu. Auf seinem Gesichte malte sich ein innerer Kampf verschiedenartiger Gefühle von Liebe und Angst, von Kummer und Scham. Er erinnerte mich auf die sonderbarste Weise an den Eindruck, den er auf mich gemacht hatte, als er mir zuerst die Geschichte seines Prozesses anvertraute und mir sagte, daß Nugent sein guter Engel sei.
Jetzt trat er dicht an seinen Bruder heran und legte in der einfachen, kindlichen Weise, die mir von früher her so wohlbekannt an ihm war, seine Hand auf Nugent’s Arm.
»Nugent!« sagte er. »Bist Du derselbe liebe gute Bruder, der mich vom Tode auf dem Schaffot rettete und der mir mein schweres Leben nachher erträglich machte? Bist Du derselbe gescheidte und noble Mensch, den ich immer so sehr liebte und auf den ich immer so stolz war?«
Er hielt inne, nahm seinem Bruder den Hut ab und strich ihm zärtlich das herabhängende Haar aus der Stirn. Nugent tieß den Kopf noch tiefer herabsinken. Unter der Last der furchtbar schmerzlichen Erinnerungen, welche Oscar’s zärtliche Stimme und die Berührung seiner sanften Hand in ihm wachriefen, verzerrte sich sein Gesicht und ballten sich seine Hände krampfhaft zusammen. Oscar ließ ihm Zeit; sich wieder zu fassen und wandte sich zunächst an mich.
»Sie kennen Nugent«, sagte er. »Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung sagte, Nugent sei ein Engel? Und als er dann nach Dimchurch kam, sahen Sie da nicht selbst, wie gütig er mir zur Seite stand, wie streng er mein Geheimniß bewahrte? Ein wie treuer Freund er mir war? Sehen Sie ihn an und Sie werden überzeugt sein, wie ich es bin, daß wir auf eine wahrhaft ungeheuerliche Weise ihn mißverstanden, seine Absichten mißdeutet haben müssen.« Dann wandte er sich wieder an Nugent. »Ich wage Dir nicht zu sagen«, fuhr er fort, »was ich von Dir gehört, was ich von Dir geglaubt und mit welchen niedrigen unbrüderlichen Rachegedanken ich mich getragen habe. Jetzt weiß ich, Gott sei Dank! nichts mehr von dem Allen. Jetzt, wo ich Dich wiedersehe, mein alter Junge, erscheinen sie mir nur noch wie ein böser Traum.
Wie könnte ich Dich sehen, Nugent, und glauben, daß Du falsch gegen mich gewesen seiest? Du solltest ein Schurke gewesen sein und es versucht haben, mir Armen das einzige Weib in der Welt zu rauben, das sich etwas aus mir macht? Du, der Du so schön und so beliebt bist und jedes Mädchen, das Du haben willst, heirathen kannst! Das kann nicht sein. Du bist unschuldigerweise und ohne es zu wissen in eine falsche Stellung hineingerathen. Vertheidige Dich! Nein, laß mich Dich vertheidigen, Du sollst Dich vor Niemand demüthigen. Sage mir, wie Du in Wahrheit gegen mich und Lucilla gehandelt hast und überlasse Deinem Bruder Deine Rechtfertigung bei Jedermann. Komm, Nugent, richte Dich auf und sage mir, was ich den Leuten sagen soll?«
Nugent richtete sich auf und sah Oscar an.
Trotz des unheimlichen Ausdrucks seines Gesichts beobachtete ich in seinen Augen, als er sie zuerst auf seinen Bruder heftete, etwas, was mich wieder an vergangene Zeiten, an die Tage erinnerte, wo er zuerst nach Dimchurch kam und in jener zärtlichen, leichten Weise, die mich anfänglich so sehr für ihn eingenommen hatte, von dem »armen Oscar« sprach. Ich mußte wieder an jene denkwürdige Zusammenkunft mit ihm in Browndown, an dem Abend des Tages, wo Oscar England verlassen hatte, denken. Wieder erinnerte ich mich der Anzeichen, welche für seine edlere Natur gesprochen hatten. Und wieder dachte ich der Gewissensbisse, die ihm Thränen entlockt hatten — der Anstrengungen, die er in meiner Gegenwart gemacht hatte, frühere Vergehen wieder gut zu machen und den letzten Kampf gegen die schuldvolle Leidenschaft, die ihn beherrschte, zu kämpfen. Konnte die Natur eines Menschen, in welchem sich das Gewissen so geregt hatte, ganz verderbt sein? Konnte der Mann, der sich nach vielen vorangegangenen noch zu einer solchen letzten Anstrengung aufgerafft hatte, grundschlecht sein?
»Warten Sie«, flüsterte ich Lucilla zu, die in meinen Armen zitterte und weinte. »Er wird sich noch unserer Theilnahme würdig zeigen; er wird noch unsere Verzeihung und unser Mitleid gewinnen!«
»Komm!« wiederholte Oscar, »sage mir, was ich sagen soll.«
Nugent zog ein beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche.
»Sage«, antwortete er, »daß ich Deine Heirath bei der Kirche hier angemeldet habe und daß ich nach London gegangen bin, um Dir diesen Schein zu verschaffen.«
Mit diesen Worten reichte er seinem Bruder das beschriebene Blatt Papier. Es war die auf den Namen seines Bruders lautende Heirathserlaubniß.
»Sei glücklich, Oscar«, fügte er hinzu, »Du verdienst es.«
Mit diesen Worten schlang er den Arm in seiner alten protegirenden Weise um Oscar. Dabei berührte seine Hand Oscar’s Brusttasche. Noch ehe es möglich war, ihm Einhalt zu thun, hatten seine geschickten Finger die Tasche geöffnet und aus derselben eine kleine Pistole mit einem von Oscar selbst verfertigtem Griff von getriebener Arbeit gezogen.
»War: das für mich bestimmt?« fragte er mit einem matten Lächeln. »Mein armer Junge, das hättest Du doch nie gethan, nicht wahr?«
Er küßte Oscar’s dunkle Wange und steckte die Pistole in seine eigene Tasche. »Der Griff ist Deine Arbeit«, sagte er, »ich will sie als Geschenk von Dir behalten. Kehre nach Browndown zurück, wenn Du verheirathet bist. Ich werde wieder reisen. Du sollst von mir hören, bevor ich England verlasse.«
Mit fester und sanfter Hand schob er seinen Bruder von sich. Ich versuchte es mit Lucilla, auf ihn zuzugehen und mit ihm zu reden. Aber ein Ausdruck übermenschlicher, in sein Schicksal ergebener finsterer Ruhe die mir aus seinen Augen entgegenblickte, hielt mich von ihm zurück und erfüllte mich mit der Ahnung, daß ich ihn nie wiedersehen werde. Er ging nach der Thür und öffnete sie, wandte sich dann wieder um, und grüßte uns, indem er Lucilla einen langen Abschiedsblick zuwarf, schweigend mit einer Neigung des Kopfes. Sanft schloß sich die Thür hinter ihm. Nur wenige Minuten, nachdem er das Zimmer betreten, hatte er uns für immer verlassen. Wir sahen einander an, wir vermochten nicht zu reden. Er hatte eine traurige und schreckliche Leere zurückgelassen. Ich war die Erste, die sich wieder rührte. Schweigend führte ich Lucilla an ihren Platz auf dem Sopha zurück und winkte Oscar, an meiner Stelle zu ihr zu treten. Dann verließ ich sie und ging fort, um Lucilla’s Vater bei seiner Rückkehr aus dem Hotel entgegenzugehen. Ich wünschte ihn zu verhindern, sie zu stören. Nach dem Vorgefallenen schien es mir, gut, sie eine Weile allein zu lassen.
Epilog - Madame Pratolungo’s letztes Wort.
Zwölf Jahre waren vergangen seit den Ereignissen, die in diesen Blättern erzählt worden sind. Ich sitze an meinem Schreibtisch, blicke müßig auf alle die Blätter, welche meine Feder beschrieben hat — und frage mich, ob ich noch etwas hinzuzufügen habe, ehe ich schließe.
Noch etwas habe ich zu berichten, aber nicht viel.
Zuerst muß ich von Oscar und Lucilla reden. Zwei Tage, nachdem sie einander in Sydenham wiedergegeben waren, wurden sie in der Kirche dieses Ortes getraut. Es war eine trübselige Hochzeit. Niemand war in guter Laune, als Herr Finch. Wir trennten uns in London. Die jungen Eheleute kehrten nach Browndown zurück. Der Pfarrer blieb ein paar Tage in London, um einige Freunde aufzusuchen. Ich kehrte zu meinem Vater zurück, um ihn, meinem Versprechen gemäß, auf seiner Reise von Marseille nach Paris zu begleiten. Soviel ich mich erinnere, blieb ich etwa eine Woche auf dem Continent. Während dieser Zeit erhielt ich freundliche Briefe aus Browndown. Einer derselben meldete mir, daß Oscar von seinem Bruder gehört habe.
Nugent’s Brief war nicht lang. Er war von Liverpool datirt und meldete seine in zwei Stunden bevorstehende Einschiffung nach Amerika. Er habe von der neuen Nordpol-Expedition gehört, die eben in den Vereinigten Staaten zu dem Zweck ausgerüstet werde, das muthmaßlich zwischen Spitzbergen und Nowaja-Semlja gelegene offene Polarmeer zu entdecken, es sei ihm sofort klar geworden, daß diese Expedition einem Landschaftsmaler, der sich die Darstellung der Natur in ihren Erscheinungen zur Aufgabe gemacht habe, ein ganz neues Feld für seine Studien darbiete. Er habe beschlossen, sich dieser Expedition als Freiwilliger anzuschließen und habe sich bereits das zu seiner Ausrüstung nöthige Geld durch den Verkauf der einzigen in seinem Besitz sich befindlichen Werthgegenstände, seiner Juwelen und seiner Bücher, verschafft. Sollte er mehr brauchen, so verspreche er, sich an Oscar wenden zu wollen. Auf alle Fälle werde er noch einmal schreiben, bevor die Expedition vom Stapel laufe. Und so sage er seinem Bruder und seiner Schwester, nur für jetzt ein zärtliches Lebewohl.
Als ich später den Brief selbst sah, fand ich in demselben auch nicht die leiseste Anspielung auf die Vergangenheit und keinerlei Erwähnung des Gesundheits- und Gemüthszustandes des Schreibers.
Von Marseille kehrte ich nach unserem entfernten Dorf zurück und bewohnte das Zimmer, welches Lucilla selbst in Browndown für mich hergerichtet hatte. Ich fand das junge Paar in ihrer Ehe so glücklich, wie Mann und Frau es nur mit einander sein können.
Nur, glaube ich, lastete Nugent’s Abwesenheit bisweilen auf ihren Gemüthern, wie auf dem meinigen. Vielleicht war das der Grund, daß Lucilla mir ruhiger erschien, als sie in ihren Mädchentagen zu sein pflegte. Indessen trug meine Gegenwart etwas dazu bei, ihr ihre alte Laune wiederzugeben und Grosse’s baldige Ankunft that wieder das ihrige dazu, mich munter zu erhalten.
Sobald sein Gichtanfall wieder beseitigt war, erschien er mit seinen Instrumenten in Browndown, um womöglich eine zweite Operation mit Lucilla’s Augen vorzunehmen.
»Wenn meine Operation fehlgeschlagen wäre«, sagte er, »so würde ich Sie nicht weiter geplagt haben. Aber sie ist nicht fehl geschlagen; Sie haben die schönen neuen Augen, die ich Ihnen gegeben habe, nicht gehörig in Acht genommen.« Mit diesen Worten versuchte er es, sie zu überreden, ihn eine zweite Operation bei ihr vornehmen zu lassen, aber sie weigerte sich standhaft, sich der Operation zu unterwerfen, und die darauf folgende Discussion versetzte sie in die beste Laune.
Mehr als einmal versuchte Grosse es noch später auch, sie anderen Sinnes zu machen. Aber vergebens. Die Zänkereien zwischen den Beiden ließen das Haus wieder von heiterem Lachen erschallen. Lucilla fand bei der Widerlegung der komischen Argumente und Ueberredungen unseres würdigen deutschen Arztes ihre ganze frühere Heiterkeit wieder. Anders lautete die Antwort, die sie mir gab, als ich es ein- oder zweimal versuchte, sie in ihrem Entschluß wankend zu machen. Heiter wiederholte sie die Worte, die sie mir in Sydenham gesagt hatte: »Ich lebe nur wahrhaft in meiner Liebe und die Lebenslust meiner Liebe ist meine Blindheit.« Die Gerechtigkeit gebietet mir, zu bemerken, daß Herr Sebright und eine andere zugleich mit ihm consultirte Autorität ohne Zaudern erklärten, daß sie Recht habe. Nach Sebright’s Ansicht hätte der Erfolg von Grosse’s Operation unter allen Umständen nur ein vorübergehender sein können. Und sein College, der Lucilla’s Augen später untersucht hatte, stimmte ihm völlig bei. Wer Recht hatte, diese Beiden oder Grosse, — wer kann es sagen? Als die blinde Lucilla hat der Leser sie kennen gelernt, als blinde Lucilla sieht er sie jetzt zum letzten Mal. Wer geneigt sein sollte, das zu beklagen, den erinnere ich daran, daß sie das Einzige, worauf es wirklich ankommt, besaß. Ihr Leben war ein glückliches und wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Bedingungen des Glückes nicht nothwendig auch die ihrigen zu sein brauchen.
Um die Zeit, von der ich jetzt schreibe, traf ein zweiter Brief von Nugent ein. Er war an dem Abend vor seiner Abfahrt nach dem Polarmeer geschrieben. Ein Satz in demselben rührte uns tief: »Wer weiß, ob ich England je wiedersehen werde? Wenn Dir ein Sohn geboren wird, Oscar, gieb ihm meinen Namen, um meinetwillen.«
Eingelegt in diesen Brief war ein besonderes Schreiben von Nugent an mich. Es war das Bekenntniß, auf welches ich bereits in meinen Anmerkungen zu Lucilla’s Tagebuch angespielt habe. Hinzugefügt waren nur folgende Worte am Schluß: »Jetzt wissen Sie Alles. Vergehen Sie mir, wenn Sie können. Ich bin nicht ohne schwere Leiden davongekommen, vergessen Sie das nicht.« Nachdem ich von dem Selbstbekenntniß den dem Leser bereits bekannten Gebrauch gemacht hatte, habe ich den Brief bis auf die vorstehenden letzten Zeilen verbrannt.
In großen Zwischenräumen hörten wir zweimal durch Wallfischfänger von dem Expeditionsschiff. Dann kam eine lange traurige Zeit ohne irgend welche Nachricht. Endlich kam die Nachricht von dem Untergang des Schiffes. Und abermals verging ein ganzes Jahr ohne jede Nachricht über die vermißte Mannschaft.
Man wußte, daß sie mit Vorräthen aller Art gut versehen seien und man hoffte allgemein, daß sie vielleicht würden aushalten können. Eine neue Expedition wurde zu ihrer Aufsuchung ausgesandt, aber vergebens, Wallfischfängern wurden für ihre Auffindung Belohnungen versprochen, die sie niemals erhielten. Wir trauerten äußerlich und innerlich um Nugent.
Wieder verflossen zwei Jahre, bevor man über das Schicksal der Expedition völlig aufgeklärt wurde. Ein verschlagener Wallfischfänger stieß auf ein im Eise gescheitertes und entmastetes Schiff. Ich will die Geschichte mit den Worten des Capitains berichten:
»Das Wrack trieb längs einer Rinne offenen Wassers, als wir seiner zuerst ansichtig wurden. Nicht lange, und es kam von einem Eisberg geschoben ganz in unsere Nähe. Ich stieg mit einigen meiner Matrosen in ein Boot und wir ruderten nach dem Schiffe hin.
Keine menschliche Gestalt war auf dem mit Schnee bedeckten Verdeck zu erblicken. Wir riefen an, erhielten aber keine Antwort. Ich blickte durch eine der glasbedeckten Luken am Hintertheil des Schiffes hinein und sah undeutlich die Gestalt eines an einem Tische sitzenden Mannes. Ich klopfte an das dicke Glas, aber er rührte sich nicht. Wir stiegen aufs Deck, öffneten die Luke nach der Kajüte und gingen hinunter. Der Mann, den ich gesehen hatte, saß vor uns im Hintergrunde der Kajüte. Ich ging aus ihn zu und redete ihn an. Er gab keine Antwort. Ich sah näher zu und berührte eine seiner Hände, die auf dem Tische lag. Zu meinem Schrecken und Erstaunen erkannte ich, daß es eine erfrorene Leiche war.
Auf dem Tische vor ihm lag die letzte Auszeichnung in’s Schiffs-Journal:
»Heute sind es siebzehn Tage, seit wir im Eise eingeschlossen liegen! Unser Feuer erlosch gestern; der Capitätn versuchte es wieder anzuzünden, aber vergebens. Der Arzt und zwei Matrosen starben diesen Morgen vor Kälte. Wir Uebrigen müssen ihnen bald folgen. Sollten wir jemals aufgefunden werden, so bitte ich Denjenigen, der mich findet, dies —« Bei diesen Worten war die Hand, welche die Feder hielt, dem Schreiber in den Schooß gefallen. Die linke Hand lag noch auf dem Tisch. In ihren erfrorenen Fingern hielt sie eine lange, an den beiden Enden mit blauem Bande zusammengebundene Haarlocke. Die offenen Augen der Leiche waren noch fest auf die Locke geheftet.
Der Name des Mannes fand sich in feinem Taschentuch. Er hieß Nugent Dubourg. Ich theile den Namen hier in meinem Bericht mit, für den Fall, daß derselbe seinen Verwandten zu Gesicht kommen sollte.
Eine genauere Untersuchung des Schiffes und eine Vergleichung von Daten mit den Daten des Schiffsjournals ergab, daß die Officiere und die Mannschaft seit länger als zwei Jahren todt waren. Die Lage, welcher wir die Erfrorenen fanden und die Namen, soweit es möglich war, sie ausfindig zu machen, ergaben sich ans Folgendem: . . .«
Jene »weibliche Haarllocke« befindet sich jetzt in Lucillas Besitz. Sie wird ihrem Verlangen gemäß mit ihr begraben werden. O, armer Nugent! Sind wir nicht alle Sünder? Bleiben wir des Guten an ihm eingedenk und vergessen wir das Schlimme.
Ich sitze noch immer vor meinem Schreibtisch und kann mich, offen gestanden, nur schwer von demselben trennen. Aber was soll ich noch weiter sagen? Ich höre Oscar bei seiner Ciselirarbeit hämmern und vergnüglich bei seiner Arbeit pfeifen. In einem andern Zimmer giebt Lucilla ihrer kleinen Tochter Clavierunterricht. Auf meinem Tisch liegt ein Brief von Frau Finch, er ist datirt aus einer unserer entfernten Colonien, in welcher Herr Finch, der es weit in der Welt gebracht hat, als Bischof residirt. Er kann die Eingebornen nach Herzenslust haranguiren, und die wunderlichen Eingebornen finden Gefallen daran. Jicks ist in ihrem Elemente unter den engeborenen Mitgliedern der Gemeinde ihres Vaters, und es steht zu fürchten, daß die wandernde Zigeunerin der Finchschen Familie schließlich einen Häuptling heirathen werde. Frau Finch sieht, der Leser mag es nun glauben oder nicht, wieder ihrer Niederkunft entgegen.
Lucilla’s ältester Junge ist eben hereingekommen, und steht neben meinem Schreibtisch. Er schaut mit seinen hellen blauen Augen zu mir auf, und in seinem runden rosigen Gesicht malt sich große Unzufriedenheit mit dem, was ich thue.
»Tante«, sagte er, »Du hast genug geschrieben, komm jetzt und spiele mit mir.«
Der Junge hat Recht. Ich muß mein Manuskript bei Seite legen und von dem Leser Abschied nehmen. Meine vortreffliche Laune ist durch den Gedanken an diesen Abschied etwas getrübt. Ob auch der Leser es bedauert? Das werde ich wohl nie erfahren. Nun, es fehlt mir nicht an Trost bei diesem Abbruch meiner Beziehungen zu dem Leser. Ich bin von guten Menschen umgeben, die mich lieben, und, wohlgemerkt, ich halte an meinen politischen Principien so fest wie je. Die Welt bekehrt sich immer mehr zu meinen Anschauungen, das Pratolungo-Programm, meine Freunde, nähert sich mit Riesenschritten seiner Verwirklichung. Hoch lebe die Republik! Lebt wohl!