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Fräulein oder Frau?

Kapitel 1

Auf der See



Die Nacht war vorüber. Kein Windhauch regte sich in den Lüften, keine Welle zeigte sich auf der regungslos daliegenden Meeresfläche. Nichts veränderte sich, als die langsam aufsteigende Sonne; nichts bewegte sich, als der träge Nebel, der ihr im Osten der See entgegenwallte. Nach und nach wurde der Morgennebel im Aufsteigen dünner und dünner, bis er bei dem ersten Strahl der hervortretenden Tageskönigin die langen weißen Segel einer Vergnügungsjacht sichtbar werden ließ.

„Blase, blase, kleine Brise!“ sagte der Mann am Steuerruder, indem er den Anruf des Seemannes an den Wind leise vor sich hin flötete. „Blase, blase, kleine Brise!“

„Woher kommt sie?“ fragte eine tiefe dröhnende Stimme, die von der Kajütentreppe aus über das Verdeck hindrang.

„Woher Ihr wollt, Herr, von jedem Punkt der Windrose.“

Der Stimme folgte ihr Besitzer, der Eigentümer der Yacht. Das war Herr Richard Turlington von der großen mit der Levante handelnden Firma Pizzituti, Turlington & Branca, achtunddreißig Jahre alt, eine feste, straffe Gestalt von nicht mehr als fünf Fuß sechs Zoll Höhe, mit einem Gesicht, das aus verschiedenen geraden Linien bestand. In diesem geradlinigen Bau bildeten Stirn und Oberlippe je eine Linie, die geradeste und längste dieser Linien aber bildete das Kinn. Als Turlington sein dunkles Antlitz nach Osten wendete und seine lichtgrauen Augen gegen die Sonne beschattete, zeigte seine rauhe Hand deutlich, daß sie ihm schon einmal in seinem Leben mit ihrer harten Arbeit seinen Unterhalt verschafft haben mußte. Alles in Allem war er ein Mann, vor dem man leicht Respekt haben, den man aber schwer lieben konnte.

„Gestern Windstille“, brummte Richard Turlington, indem er verdrossen und nachdenklich nach allen Seiten hin umherschaute; „und heute wieder Windstille. Im nächsten Jahr will ich eine Dampfmaschine auf dem Schiffe herrichten lassen.“

„Denken Sie doch an die schmutzigen Kohlen und an das verfluchte Zittern und lassen Sie Ihre schöne Yacht wie sie ist. Wir sind ja nur auf einer Vergnügungsfahrt. Lassen Sie doch den Wind und die See auch ihr Vergnügen haben.“

Mit diesen Worten trat ein schlanker, gewandter junger Mann mit gelocktem Haar zu Richard Turlington auf das Verdeck, er trug seine Kleider unter dem Arm, ein paar Handtücher in der Hand und hatte nichts auf dem Leibe als das Nachthemd, in welchem er aus dem Bette gestiegen war.

„Launcelot Linzie, Sie haben auf meinem Schiff in der Eigenschaft eines ärztlichen Begleiters des Fräuleins Natalie Graybrooke auf den Wunsch ihres Vaters Aufnahme gefunden. Bleiben Sie Ihrer Stellung gefälligst eingedenk. Wenn ich Ihren Rat wünsche, werde ich Sie darum bitten.“

Launcelot Linzie war offenbar entschlossen, dem Eigentümer der Yacht unter keinen Umständen zu gestatten, ihn zu beleidigen.

„Ich danke Ihnen“, erwiderte er in einem gutmütig ironischen Tone, „es wird mir leicht, hier an Bord meiner Stellung eingedenk zu bleiben. Ich bin so anmaßend, mich meines Lebens hier ganz so zu erfreuen, als wäre ich selbst der Eigentümer des Schiffes. Das Leben auf der See ist für mich so neu! So ist es zum Beispiel so köstlich leicht, hier sich zu waschen. Auf dem festen Lande ist das Waschen eine durch Krüge, Schalen und Kübel höchst komplizierte Angelegenheit; man ist immer in Gefahr, etwas zu zerbrechen oder zu verderben. Hier braucht man nur aus dem Bette zu springen, aufs Deck zusteigen und dies zu tun.“

Dabei drehte er sich um, lief nach dem Bugspriet, warf sein Nachthemd ab, sprang auf den Rand der Schanzkleidung und tummelte sich im nächsten Augenblick behaglich in dem Salzwasser der sechzig Faden tiefen See. Turlingtons Augen folgten ihm mit einer widerstrebend unbehaglichen Aufmerksamkeit, als Linzie um das Schiff herum schwamm.

„Launcelot Linzie ist fünfzehn Jahre jünger als ich, und dazu ist er Natalie Graybrookes Vetter. Diese beiden Vorteile hat er unstreitig vor mir voraus; bleibt die Frage: hat er Nataliens Neigung gewonnen?“ -

Mit dieser Frage, die er sich wieder und wieder vorlegte, beschäftigt, setzte sich Richard Turlington in eine Ecke auf dem Hinterdeck. Er grübelte noch über diesem Problem, als der junge Arzt in seine Kabine zurückkehrte, um die letzte Hand an seine Toilette zu legen. Er hatte die Lösung des Problems noch nicht gefunden, als der Steward eine Stunde später mit den Worten vor ihn trat: „Das Frühstück ist fertig, Herr.“

Fünf Personen saßen eine Weile später um den Kajütentisch. Die erste war: Sir Joseph Graybrooke, Erbe eines schönen, von seinem Vater und Großvater erworbenen Vermögens; erwählter Major einer blühenden Provinzialstadt; ein Mann mit einem liebenswürdigen rosigen Gesicht, weichem, weißem, seidenem Haar und sorgfältiger Toilette, von gesunden, politischen Grundsätzen und mit guter Verdauung gesegnet – ein harmloser, gesunder, makelloser, aber charakterschwacher, alter Mann.

Die zweite: Fräulein Lavinia Graybrooke, Sir Josephs altjüngferliche Schwester, ihrem ganzen Wesen nach das zweite Ich von Sir Joseph im Unterrock. Wenn man den Einen kannte, kannte man auch die Andere.

Die dritte: Fräulein Natalie Graybrooke, Sir Josephs einziges Kind. Sie hatte von ihrer schon lange verstorbenen Mutter die äußere Erscheinung und das Temperament geerbt. In der aus Martinique stammenden Familie der verstorbenen Lady Graybrooke hatte eine Mischung französischen Bluts mit Negerblut stattgefunden. Natalie hatte den warmen dunklen Teint, das prächtige schwarze Haar und die schmelzenden, trägen, lieblichen, braunen Augen ihrer Mutter. Im Alter von fünfzehn Jahren, das sie kürzlich erreicht hatte, war ihr Körper in einer Weise entwickelt, wie es bei englischen Mädchen selten vor dem zwanzigsten Jahr der Fall ist. Alles an ihr hatte etwas großartig Amazonenhaftes. Ihre schön geformte Hand war lang und breit, ihre Taille schien, obgleich sie zierlich war, doch einer Frau anzugehören. Die graziöse Nachlässigkeit aller ihrer Bewegungen wurzelte in einer fast männlichen Körperkraft. Dieser merkwürdigen körperlichen Entwicklung ging aber keineswegs eine gleich amazonenhafte Entwicklung des Charakters zur Seite. Natalie hatte das sanfte Wesen eines unschuldigen jungen Mädchens. In ihrem Charakter mischten sich das gleichmäßige Temperament ihres Vaters mit der wandelbaren südlichen Natur ihrer Mutter. Sie bewegte sich wie eine Göttin und lachte wie ein Kind. Im verflossenen Frühjahre hatten sich bei Natalie die Symptome einer zu raschen körperlichen Entwicklung – eines nach dem üblichen Ausdruck „Ausderkraftwachsens“ - gezeigt. Der Hausarzt hatte eine Seereise als die beste Art, die schönen Sommermonate zu benutzen, angeraten. Wie man auf dem Kontinent eine Sommerwohnung auf dem Lande bezieht, so richtet man in England sich ein bequemes Schiff ein und schlägt sein luftiges Domizil auf der offenen See auf. Richard Turlingtons Yacht war ihr nebst Richard Turlington selbst, als einem der zur Yacht gehörigen niet- und nagelfesten Gegenstände, zur Verfügung gestellt worden. Mit ihrem Vater und ihrer Tante, in deren Gesellschaft sie die häusliche Atmosphäre nicht vermissen würde, und mit dem Vetter Launcelot – gewöhnlich kurzweg Lance genannt – als ärztlichen Ratgeber, hatte sich die liebliche Patientin zu ihrer Sommerkreuzfahrt eingeschifft und war alsbald in der belebenden Seeluft zu einem andern Wesen geworden. Nach einer zweimonatlichen in glückseligem Müßiggang verbrachten Fahrt an den Küsten Englands war von Nataliens Krankheit nichts mehr übrig, als ein reizender, schmachtender Ausdruck der Augen und die absolute Unfähigkeit, sich mit irgend etwas zu befassen, was einer ernsten Beschäftigung auch nur entfernt ähnlich sah.

Wie sie an jenem Morgen in ihrem wunderlich zugeschnittenen Seemansanzuge aus altmodischem Nanking am Frühstückstisch saß, und in der blühenden Reise ihrer Formen einen reizenden Kontrast mit der angebornen Kindlichkeit ihres Wesens darbot, hätte ein Mann fürwahr mit dem Rüstzeug der modernen Philosophie dreifach gewaffnet sein müssen, der diesem Anblick gegenüber hätte leugnen wollen, daß das erste Recht eines Weibes darin bestehe, schön zu sein, und ihr größtes Verdienst ihre Jugend sei.

Die beiden noch übrigen Personen am Kajütentisch waren die beiden Herren, die wir bereits auf dem Verdeck der Yacht kennen gelernt haben.

„Noch immer regt sich kein Lüftchen!“ sagte Richard Turlington. „Das Wetter muß etwas gegen uns haben. In den letzten achtundvierzig Stunden sind wir kaum vier oder fünf Meilen weiter gekommen. Sie werden gewiß nie wieder mit mir fahren wollen, Sie müssen sich danach sehnen, wieder ans Land zu kommen.“

Er richtete diese Worte an Natalie, mit ersichtlicher Beflissenheit, sich der jungen Dame angenehm zu machen; aber ohne daß es ihm gelungen wäre, irgend einen Eindruck auf sie hervorzubringen. Sie antwortete ihm höflich und blickte dabei auf ihre Teetasse, anstatt in Richard Turlingtons Gesicht.

„In diesem Augenblick könnte man sich schon aufs feste Land versetzt glauben“, bemerkte Launce. „Das Schiff liegt ja so fest, wie ein Haus, und der Schaukeltisch, an dem wir frühstücken, steht so ruhig, wie Ihr Eßtisch zu Hause.“

„Es wird mir am Lande sonderbar vorkommen“, sagte jetzt das junge Mädchen, „mich in einem Zimmer aufzuhalten, das sich nie hin- und herbewegt, und an einem Tisch zu sitzen, der nie in einem Augenblick auf meine Knie herabsinkt und mir im nächsten bis ans Kinn steigt. Wie werde ich das Geräusch der Wellen an meinen Ohren und das Läuten der Glocke auf dem Verdeck entbehren, wenn ich am Lande des Nachts erwachen werde! Da wird man sich auch nicht mehr dafür interessieren können, wie der Wind weht, oder wie die Segel aufgesetzt sind; nicht mehr, wenn man seinen Weg verloren hat, die Sonne mit einem kleinen kupfernen Instrument, einem Stück Papier und einem Bleistift befragen; und nicht mehr so köstlich von der Stelle kommen, so oft der Wind einsetzt, ohne daß man nötig hätte, sich vorher lange mit der Überlegung zu plagen, wohin man gehen will. O, wie werde ich die liebe, veränderliche, unbeständige See entbehren! Und wie beklage ich es, kein Mann und kein Seemann zu sein!“

Das Alles sagte sie zu Launce, dem auf dem Schiff gewissermaßen nur geduldeten Gast, während sie sich bei keinem ihrer Worte, wenn auch nur zufällig, an den Eigentümer der Yacht wandte. Richard Turlingtons dicke Augenbrauen zogen sich mit einem unverkennbaren Ausdruck peinlichen Mißbehagens zusammen.

„Wenn diese Windstille anhält“, fuhr er zu Sir Joseph gewandt fort, „fürchte ich, Graybrooke, werde ich nicht im Stande sein, Euch bis Ende der Woche in den Hafen zurückzubringen, von dem wir ausgesegelt sind.“

„Immerhin, Richard“, antwortete der alte Herr resigniert. „Mir ist jede Zeit recht.“

„Jede Zeit innerhalb gewisser Grenzen, Joseph“, bemerkte Fräulein Lavinia, die offenbar fand, daß ihr Bruder in seinem Zugeständnis zu weit gehe. Sie sprach mit Sir Josephs liebenswürdigem Lächeln und Sir Josephs sanft gedämpfter Stimme. Zwei Zwillingskinder hätten einander nicht ähnlicher sein können.

Während diese wenigen Worte unter der den älteren Personen gewechselt wurden, nahm unter dem Kajütentisch eine vertrauliche Unterhaltung der jungen Leute ihren Fortgang. Nataliens mit einem zierlichen Pantoffel bekleideter Fuß rückte auf dem Teppich vorsichtig Zoll für Zoll vor, bis er Launces Stiefel berührte. Launce, der damit beschäftigt war, sein Frühstück zu verzehren, blickte sofort von seinem Teller auf und sah dann anch einer Berührung Nataliens eiligst wieder nieder. Nachdem Natalie sie vergewissert hatte, daß sie nicht beobachtet werde, nahm sie ihr Messer in die Hand.

Während sie sich mit großem Geschick den Anschein zu geben wußte, als spiele sie in Gedanken versunken mit dem Messer, fing sie an, mit demselben ein Stück Schinken, das am Rande ihres Tellers liegen geblieben war, in sechs kleine Stücke zu zerschneiden. Launces Auge folgte mit erwartungsvollen Seitenblicken der Zerteilung des Schinkens. Er wartete offenbar darauf, daß die einzelnen Stückchen Schinken in einer vorher zwischen seiner Nachbarin und ihm verabredeten Weise telegraphisch verwendet werden würden.

Inzwischen nahm auch die Unterhaltung der übrigen Personen am Frühstückstisch ihren Fortgang. In diesem Augenblick aber wandte sich Fräulein Lavinia an den jungen Mann. „Weißt du wohl, daß du mich diesen Morgen recht erschreckt hast? - Ich schlief bei offenem Fenster in meiner Kabine und wurde durch ein furchtbares Aufspritzen des Wassers aufgeweckt. Ich rief die Stewardeß – ich glaubte wirklich, daß jemand über Bord gefallen sei.“

Bei diesen Worten blickte Sir Joseph plötzlich auf; die Worte seiner Schwester hatten zufällig die Erinnerung an ein altes Erlebnis bei ihm erweckt.

„Was du von über Bord Fallen sagst“, fing er an, „erinnert mich an eine außerordentliche, schreckliche Begebenheit -“

Hier fiel Launce ein, um sich zu entschuldigen.

„Es soll nicht wieder vorkomen, Fräulein Lavinia“, sagte er, , „morgen früh will ich mich am ganzen Körper ölen und so leise wie eine Fischotter ins Wasser schlüpfen.“

„An eine außerordentliche, schreckliche Begebenheit“, fuhr Sir Joseph fort, „die ich vor vielen Jahren, als ich noch ein junger Mann war, erlebte. Lavinia?“

Er hielt inne und sah seine Schwester fragend an. Fräulein Graybrooke nickte als Antwort mit dem Kopf und rückte sich auf ihrem Stuhle zurecht, wie wenn sie ihre Aufmerksamkeit in Voraussicht eines Appels an dieselbe im Voraus konzentrieren wolle. Für Leute, die Bruder und Schwester gut kannten, war diese Prozedur das Vorzeichen einer bevorstehenden Erzählung. Das Geschwisterpaar erzählte eine Geschichte immer gemeinschaftlich und zwar so, daß jedes von ihnen von jeder Tatsache immer eine von der des andern abweichende Auffassung hatte, indem die Schwester dem Bruder höflich widersprach, wenn die Erzählung von Sir Joseph, und der Bruder der Schwester höflich widersprach, wenn die Erzählung von Fräulein Lavinia begonnen wurde. Wenn sie von einander getrennt waren, und so des gewohnten Widerspruchs des andern entbehrten, konnten weder Bruder noch Schwester jemals den Versuch wagen, die einfachsten Tatsachen zu erzählen, ohne in ein unrettbares Stocken zu geraten.

„Es war fünf Jahre, bevor ich dich kennen lernte, Richard“, fuhr Sir Joseph fort.

„Sechs Jahre“, bemerkte Fräulein Graybrooke.

„Entschuldige, Lavinia.“

„Nein, Joseph, es steht in meinem Tagebuch.“

„Lassen wir den Punkt auf sich beruhen.“ Das war die Formel, deren sich Sir Joseph regelmäßig bei solchen Angelegenheiten als eines Mittels bediente, seine Schwester sofort wieder zu versöhnen und einen frischen Anlauf für seine Erzählung zu gewinnen.

„Ich kreuzte vor der Mündung der Mersey in einem Liverpooler Lotsenboote. Ich hatte das Boot gemeinschaftlich mit einem Freunde gemietet, welcher früher in der Londoner Gesellschaft eine bekannte Persönlichkeit unter dem Spitznamen ‚Mahagony-Dobbs‘ gewesen war. Den Spitznamen hatte er der Farbe seines Backenbarts zu verdanken.“

Richard Turlingtons harte Finger trommelten ungeduldig auf dem Tisch. Er blickte nach Natalie hinüber.

In Ermanglung einer andern Beschäftigung legte sie ihre Stückchen Schinken auf ihrem Teller zu einem Muster zurecht. Launcelot Linzie sah anscheinend ganz gedankenlos nach dem Muster.

Sie Joseph fuhr in seiner Erzählung fort:

„Wir kreuzten zehn oder zwölf Meilen vor der Mündung der Mersey.“

„Seemeilen, Joseph.“

„Darauf kommt es nicht an, Lavinia.“

„Entschuldige, lieber Bruder, der verstorbene große, vortreffliche Doktor Johnson pflegte zu sagen, man müsse sich selbst in den geringfügigsten Dingen immer der größten Genauigkeit befleißigen.“

„Es waren gewöhnliche Meilen, Lavinia.“

„Es waren Seemeilen, Joseph.“

„Lassen wir den Punkt auf sich beruhen. Mahagony-Dobbs und ich waren eben unten in der Kajüte damit beschäftigt - “. Hier hielt Sir Joseph mit seinem liebenswürdigen Lächeln inne, um sich zu besinnen. Fräulein Lavinia wartete ihrerseits mit ihrem liebenswürdigen Lächeln auf die nächste Gelegenheit, ihren Bruder zu berichtigen. In demselben Augenblick legte Natalie ihr Messer nieder und berührte Launce leise unter dem Tisch. Auf ihrem Tisch waren sechs Stückchen Schinken in einer Weise zurecht gelegt, welche in der zwischen Beiden verabredeten originellen Zeichensprache bedeutete: „Ich muß dich allein nach dem Frühstück sprechen.“

Während Natalie wieder zu ihrem Messer griff, um neue Zeichen vorzubereiten, fuhr Sir Joseph in seiner Erzählung fort: „Wir waren beide unten in der Kajüte beschäftigt, unser Mittagessen zu beenden, als wir plötzlich durch den auf dem Verdeck erschallenden Ruf: ‚Ein Mann über Bord!‘ erschreckt wurden. Wir liefen beide die Kajütentreppe hinauf, natürlich in der Besorgnis, daß einer von unserer Mannschaft über Bord gefallen sei: eine Besorgnis, die, wie ich hinzufügen muß, von dem Steuermann, der den Ausruf getan hatte, geteilt wurde.“

Sir Joseph hielt wieder inne. Er näherte sich einem der spannendsten Momente seiner Erzählung und wollte diesen Moment natürlich gern möglichst ergreifend wiedergeben. Den Kopf auf die Seite geneigt, überlegte er einen Augenblick. Fräulein Lavinia hielt ihren Kopf ein wenig auf die andere Seite geneigt, und überlegte ihrerseits auch ein wenig.

Natalie legte ihr Messer wieder nieder und berührte Launce mit der Fußspitze unter dem Tisch. Dieses Mal lagen fünf Stückchen Schinken in einer waagerechten Linie auf dem Teller und ein Stück unmittelbar unter der Mitte dieser Linie. In der Zeichensprache bedeutete diese Figur zwei verhängnisvolle Worte: „Schlechte Nachrichten!“ Launce sah mit einem bedeutungsvollen Blick nach dem Besitzer der Yacht hinüber und fragte damit: „Steckt er dahinter?“ Nataliens Antwort bestand in einem Zusammenziehen ihrer Brauen, und das hieß: „Allerdings!“ Launce sah wieder nach dem Teller. Sofort schob Natalie die sämtlichen Stückchen Schinken zu einem Haufen zusammen und sagte damit: „Ich habe nichts mehr zu sagen.“ - -

„Nun?“ sagte Richard Turlington zu Sir Joseph gewandt in scharfem Tone, „fahre fort mit deiner Geschichte. Was kommt nun?“

Bis jetzt hatte er es nicht der Mühe wert gehalten, auch nur scheinbar ein höfliches Interesse an der fortwährend unterbrochenen Erzählung seines alten Freundes zu nehmen. Erst bei den letzten Worten Sir Josephs, als er zu verstehen gab, daß es sich im Verlauf seiner Erzählung vielleicht ergeben werde, daß der über Bord gefallene Mann keiner von der Mannschaft des Lotsenbootes gewesen sei – erst bei diesen Worten lehnte sich Turlington in seinem Stuhl zurück und gab zu erkennen, daß er plötzlich ein lebhaftes Interesse an dem Fortgang der Erzählung nehme.

Sir Joseph fuhr fort: „Sobald wir aufs Verdeck kamen, sahen wir den Mann im Wasser hinter dem Schiff. Unser Rettungsboot wurde herabgelassen und der Kapitän und einer von der Mannschaft steiegen hinein und ergriffen die Ruder. Unsere Mannschaft bestand alles in allem aus sieben Mann. Davon waren zwei eben ins Rettungsboot gestiegen, ein Dritter war am Steuer und die übrigen vier standen hinter mir, so daß uns also in der Tat niemand von unserer Mannschaft fehlte. In demselben Augenblick rief Mahagony-Dobbs, der eben durch ein Fernglas sah: ‚Wer zum Teufel kann das sein? Der Mann treibt auf einem Hühnerkorb und wir haben gar keinen solchen Korb an Bord gehabt.‘“

Der einzige unter den Anwesenden, der, als Sir Joseph diese Worte aussprach, zufällig Richard Turlingtons Gesicht beobachtete, war Launcelot Linzie. Er, und nur er sah, wie die dunkle Gesichtsfarbe des levantinischen Kaufmanns sich allmälig in ein fahles Aschgrau verwandelte, während seine Augen mit einem unheimlichen Glanz, wie er dem Blicke wilder Bestien eigen ist, auf Sir Joseph Graybrooke geheftet waren. Obgleich er Launce nicht ansah, wurde er doch offenbar gewahr, daß dieser ihn beobachte, stützte daher seinen Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf in die Hand, um denselben so, während die Erzählung ihren Fortgang nahm, wirksam gegen die Beobachtung des jungen Arztes zu schützen.

„Der Mann wurde an Bord gebracht“, fuhr Sir Joseph fort, „und zwar wirklich mit einem Hühnerkorbe, auf dem er getrieben hatte. Der arme Kerl war blau vor Angst und Kälte; als wir ihn aufs Deck hoben, wurde er ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, erzählte er uns eine gräßliche Geschichte. Er war ein kranker, hilfloser Matrose gewesen und hatte sich in dem Schiffsraum eines englischen Schiffes versteckt, das nach einem Hafen seines Vaterlandes bestimmt, und an jenem Morgen von Liverpool abgesegelt war. Bald nach der Abfahrt war er entdeckt und vor den Kapitän gebracht worden. Der Kapitän, ein Ungeheuer in menschlicher Gestalt -“

Noch ehe sir Joseph ein Wort weiter sagen konnte, erschreckte Turlington die kleine Gesellschaft in der Kajüte, indem er mit den Worten aufsprang: „Die Brise, endlich die Brise!“ Dabei eilte er nach der Kajütentüre, so daß er seinen Gästen den Rücken zukehrte und lief aufs Verdeck. „Woher kommt der Wind?“

„Es ist keine Spur von Wind, Herr“, gab der Steuermann zur Antwort.

Auch in der Kajüte war nicht die geringste Bewegung des Schiffs bemerklich und kein Ton vernehmbar gewesen, der das Aufkommen des Windes verkündet hätte. Das war sicherlich ein sonderbares Mißverständnis von Seiten des Eigentümers der Yacht, eines seegewohnten Mannes, der erforderlichenfalls sein eigenes Schiff hätte führen können. Er kehrte zu seinen Gästen zurück und entschuldigte sich mit einer übertriebenen Höflichkeit, die ihm zu andern Zeiten und bei andern Gelegenheiten durchaus nicht eigen war.

„Fahre fort“, sagte er zu Sir Joseph, als er mit seinen Entschuldigungen zu Ende war, „ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so interessante Geschichte gehört. Bitte, fahre fort!“

Aber anstatt die beiden harmlosen, alten Leute zu ermutigen, erschreckte er sie, als er sich ihnen in einer fast herausfordernden Stellung gegenübersetzte, die Ellenbogen vor sich auf den Tisch legte, und sie mit dem Ausdruck einer finstern Entschlossenheit ansah, als wolle er zu erkennen geben, daß er bereit sei, nötigenfalls den Rest seines Lebens da zu sitzen und zuzuhören. Launce verstand es, Sir Joseph wieder in Gang zu bringen, indem er seinen Onkel fragte: „Sie wollen doch nicht sagen, daß der Kapitän jenes Schiffes den Mann habe über Bord werfen lassen?“

„Allerdings, Launce! Der arme Bursche war zu krank gewesen, um seine Passage abzuarbeiten. Der Kapitän hatte erklärt, er wolle keinen fremden Tagedieb an Bord haben, welcher fleißigen Engländern ihre Vorräte aufzehre. Mit eigenen Händen warf er den Hühnerkorb in das Wasser und mit Hilfe eines seiner Matrosen den Mann hinterher, indem er ihm zurief, er möge mit der Abendluft wieder nach Liverpool treiben.“

„Das ist eine Lüge!“ rief Turlington, nicht gegen Sir Joseph, sondern gegen Launce gewandt.

„Kennen Sie die Geschichte?“ fragte Launce ruhig.

„Ich weiß nichts von der Geschichte, sonder weiß nur aus eigener Erfahrung, daß fremde Matrosen noch größeres Gesindel sind, als englische Matrosen. Der Kerl war ohne Zweifel verunglückt. Seine ganze Geschichte aber war offenbar erlogen, um Sir Josephs Mitleid zu erregen.“

Sir Joseph schüttelte sanft den Kopf.

„Das war keine Lüge, Richard. Es ist durch Zeugen bewiesen, daß der Mann die Wahrheit gesprochen hat.“

„Zeugen? Pah! Andere Lügner, willst du sagen.“

„Ich ging zu den Eigentümern des Schiffes“, fuhr Sir Joseph fort. „Ich erfuhr von ihnen die Namen der Schiffsoffziere und der Mannschaft, und zeigte den Fall bei der Liverpooler Polizei an. Das Schiff scheiterte an der Mündung des Amazonenflusses, aber Mannschaft und Ladung wurden gerettet. Die Mannschaft, die nach Liverpool gehörte, kehrte dahin zurück. Das war böses Volk, das könnt ihr mir glauben! Aber sie wurden jeder einzeln über die Behandlung des fremden Matrosen vernommen und sagten ganz übereinstimend aus. Von ihrem Kapitän und dem Matrosen, der ihm bei dem Verbrechen behilflich gewesen war, wußten sie nichts, als daß dieselben sich auf dem Schiffe, das die übrige Mannschaft nach England zurückgebracht habe, nicht mit eingeschifft hätten. Was auch seitdem aus dem Kapitän geworden sein mag, gewiß ist, daß er nie nach Liverpool zurückkehrte.“

„Hast du seinen Namen herausgebracht?“ fragte Turlington. Selbst Sir Joseph, der ein außerordentlich schlechter Beobachter war, entging es nicht, daß Turlington diese Frage in einem unerklärlich pikierten Tone tat.

„Ereifere dich nicht, Richard“, sagte der alte Herr.

„Ich weiß nicht, was du meinst. Ich ereifere mich gar nicht, ich bin nur neugierig. Hast du herausgebracht, wer es gewesen ist?“

„Allerdings. Er hieß Howard – er war in Liverpool sehr wohl bekannt als ein höchst schlauer und äußerst gefährlicher Mensch. Er war zu der Zeit, von der ich rede, noch ganz jung und ein ausgezeichneter Kapitän, berühmt und berüchtigt wegen seiner Bereitwilligkeit, die Führung seeuntüchtiger, aber hoch in der Assekuranz stehender Schiffe und den Befehl über hergelaufenes Gesindel zu übernehmen. Wie man mir erzählte, hatte er sich für einen Mann in seiner Stellung, auf diese Weise – im Dienst schlecht berufener Firmen, wobei er vor keiner noch so schlimmen Gefahr zurückschreckte – schon ein hübsches Vermögen erworben. Ein gefährlicher Spitzbube, Richard! Mehr als einmal war er schon in Europa und Amerika durch Akte grausamer Gewalttätigkeit dem Gesetze verfallen. Er wird wohl schon lange tot sein.“

„Oder vielleicht“, sagte Launce, „lebt er noch unter einem anderen Namne und hat sein Glück auf einem anderen Wege unter neuen verzweifelten Gefahren anderer Art gemacht.“

„Kennen Sie die Geschichte?“ fragte Turlington, indem er Launce seine Frage in einem scharf herausfordernden Tone zurückgab.

„Was ist denn aus dem fremden Matrosen geworden, Papa?“ fragte Natalie dazwischen, indem sie Launce absichtlich zuvorkam, bevor er die in gereiztem Tone an ihn gerichtete Frage in gereiztem Tone beantworten konnte.

„Wir brachten etwas für ihn zusammen, liebes Kind, und wandten uns an sinen Konsul. Der arme Kerl kam so auf ganz gute Weise nach seinem Vaterlande zurück.“

„Und damit ist Sir Josephs Geschichte zu Ende“, sagte Turlington, indem er sich von seinem Sitze erhob. „Schade, daß wir nicht einen Schriftsteller an Bord haben, der könnte eine Novelle daraus machen.“ Als er aufgestanden war, sah er nach dem Oberlicht hinauf. „Da haben wir aber endlich die Brise, und dieses Mal irre ich mich nicht!“ rief er aus.

Es verhielt sich wirklich so. Endlich war die Brise da. Die Segel pauschten sich, der Hauptmast knarrte und das endlich wieder in Bewegung gekommene Wasser fing an, die Schiffswände mit munteren Wellen zu bespülen.

„Komm aufs Verdeck und schöpfe ein wenig frische Luft, Natalie“, sagte Fräulein Lavinia, indem sie nach der Kajütentüre voranging.

Natalie hob den Rock ihres Nankinganzuges etwas in die Höhe, und ließ dadurch sichtbar werden, daß von dem roten Besatz mehrere Ellen abgerissen waren.

„Laß mich erst noch eine halbe Stunde in meiner Kabine das wieder in Ordnung bringen, Tante“, sagte sie.

Fräulein Lavinia zog ihre ehrwürdigen Augenbrauen erstaunt empor. „Liebes Kind“, sagte sie, „seit du auf Herrn Turlingtons Yacht bist, hast du fortwährend deine Kleider zerrissen. Das ist doch höchst sonderbar! Ich habe mir während der ganzen Fahrt noch nichts an meinem Zeuge zerrissen.“

Nataliens dunkler Teint wurde noch eine Nuance dunkler. Sie lachte etwas gezwungen. „Ich bin so ungeschickt am Bord“, antwortete sie – und damit wandte sie sich ab und schloß sich in ihre Kabine ein.

Richard Turlington zog seine Zigarrentasche hervor.

„Jetzt“, sagte er zu Sir Joseph, „ist die Zeit für die beste Zigarre am Tage – die Zigarre nach dem Frühstück! Komm mit aufs Deck.“

„Kommst du mit hinauf, Launce?“ sagte Sir Joseph zu diesem.

„Laß mich erst eine halbe Stunde studieren“, erwiderte Launce. „Ich darf meine medizinischen Kenntnisse auf der See nicht einrosten lassen, und später am Tage werde ich wohl keine Lust zu den Büchern haben!“

„Ganz recht so, lieber Junge, recht so!“ - Dabei klopfte Sir Joseph seinem Neffen wohlgefällig auf die Schulter.

Launce ging seines Weges und schloß sich in seine Kabine ein. Die drei andern gingen zusammen aufs Verdeck.


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