Blinde Liebe

Zweiundvierzigstes Kapitel

Schon am nächsten Tag empfing Hugh wieder Nachrichten von Iris, die aber durchaus nicht darnach angetan waren, seine Befürchtungen zu zerstreuen. Fanny Mere suchte ihn in seinem Hotel auf.

Der Abschied Mr. Vimpanys am vorhergehenden Abend war das erste Ereignis, von dem das Mädchen zu berichten hatte. Sie war dabei gewesen, als der Doktor ihrem Herrn und ihrer Herrin Lebewohl gesagt. Er gab als Grund seiner plötzlichen Abreise dringende Geschäfte in London an. Lord Harry hätte die Entschuldigung so aufgenommen, als ob er sie wirklich glaubte, und schien sehr erfreut zu sein, seinen Freund so schnell los zu werden; Lady Harry dagegen sprach ihre Meinung dahin aus, dass Mr. Vimpanys Rückkehr nach London wahrscheinlich durch einen Akt von Frei¬gebigkeit von seiten des edelsten der jetzt lebenden Menschen veranlasst worden sei. Sie sagte zu ihrem Gatten: »Dein Freund hat, wie ich glaube, von meinem Freund Geld bekommen.« Mylord sah sie sehr befremdet an, als sie in diesem Tone von Mr. Mountjoy sprach, und ging dann schweigend aus dem Zimmer. Sobald er seinen Rücken gewendet hatte, erhielt Fanny die Erlaubnis zum Ausgehen; sie führte ihre Absicht aus, auf der Station zu warten, und sah auch, wie Mr. Vimpany in dem Postzug unter den Reisenden nach London Platz nahm.

In die Villa zurückgekehrt, hatte Fanny ihrer Pflicht gemäß in dem Zimmer ihrer Herrin nach¬fragen wollen, ob ihre Dienste noch gebraucht würden. Als sie jedoch an die Tür kam, hörte sie die Stimmen des Lords und der Lady, und sie war, wie Mr. Mountjoy wahrscheinlich mit Genugtuung ver¬nehmen werde, in diesem Fall zu ehrlich gewesen, um an der Tür zu horchen. Sie ging gleich weg auf ihr Zimmer und wartete dort, bis man sie holen ließ. Nach einer langen Zwischenzeit ertönte die Glocke, welche sie rief; sie fand ihre Herrin in sehr aufgeregtem Zustand vor, teils ärgerlich, teils betrübt, und erlaubte sich daher, zu fragen, ob irgendetwas Unangenehmes vorgefallen sei; auf diese Frage er¬folgte jedoch keine Antwort. Fanny war daher schweigend ihrer Pflicht nachgekommen und hatte ihrer Herrin bei der Nachttoilette geholfen. Dann hatten sie sich »Gute Nacht« gesagt, sonst aber kein Wort gewechselt. Am nächsten Morgen hatte das Mädchen, als sie wie gewöhnlich ihren Dienst in dem Zimmer ihrer Herrin versah, diese in etwas ruhigerer und mitteilsamerer Stimmung gefunden. Sie war immer noch von Furcht gepeinigt, jedoch bereit gewesen, über ihren Kummer zu sprechen.

Sie hatte von Mr. Mountjoy zu reden angefangen.

»Ich glaube, Sie haben ihn auch gern, Fanny; jedermann hat ihn ja gern; Sie werden daher traurig sein, zu hören, dass wir niemals die Aussicht haben, ihn wieder in unserer Villa zu sehen.« Dann hielt sie inne. Etwas, was sie nicht ausgesprochen hatte, schien ihre Gedanken zu beschäftigen und zu quälen. Die arme Seele war nahe daran, zu weinen, hatte es aber standhaft unterdrückt. »Ich habe keine Schwester«, fuhr sie dann fort, »und keine Freundin, die mir eine Schwester ersetzen könnte. Es ist vielleicht nicht ganz richtig, wenn ich von meinem Kummer zu meinem Kammermädchen spreche, aber es ist fast unerträglich, kein teilnehmendes Herz in der Nähe zu wissen, das heißt, keine andere Frau, welche versteht, wie Frauen fühlen. Es ist so einsam hier, o, gar zu einsam! Ich möchte wissen, ob Sie mich verstehen und Mitleid mit mir fühlen können.«

Fanny ließ nichts außer acht, was sie ihrer Herrin schuldig war, - wenn sie so sprechen dürfe, ohne dass es den Schein hätte, sie wolle sich selbst loben - sie war aber in Wahrheit betrübt. Es hätte ihr eine große Erleichterung gewährt, wenn sie offen ihre Meinung hätte aussprechen dürfen, dass nur Lord Harry allein schuld daran trage, wenn seine Gattin betrübt sei; als Mann sei er eben von Natur grausam gegen seine Frau. Das Klügste, was Mylady tun könnte, wäre, nichts von ihm zu erwarten. Das Mädchen schien sehr in Versuchung geführt zu sein, ihrer Herrin in dieser Hinsicht einen kleinen Rat zu geben; aber sie war durch ihre eigenen Erfahrungen vorsichtig gemacht. Fanny hielt es daher für besser, zu warten, was ihre Herrin zunächst sagen würde.

Lord Harrys Benehmen war der erste Gegenstand, als das Gespräch wieder aufgenommen wurde.

Mylady erwähnte, dass sie wohl bemerkt habe, wie er missvergnügt aussah und wie er sich eilig entfernte, als sie so lobend von Mr. Mountjoy sprach.

Sie hatte ihn gedrängt, sich offen auszusprechen, und dabei eine Entdeckung gemacht, welche ihr die bitterste Enttäuschung ihres ganzen Lebens bereitete. Ihr Gatte beargwöhnte sie! Ihr Gatte war eifersüchtig! Es war zu schrecklich! Das war eine Beleidigung, die nicht zu ertragen war, eine Beleidigung sowohl gegen Mr. Mountjoy wie gegen sie selbst. Wenn diesem besten und liebsten der Freunde das Haus verboten werden, wenn er fortgehen und sie ihn nie wieder sehen und sprechen sollte, dann war sie fest entschlossen, eines zu tun: er durfte nicht fortgehen, ohne dass sie ihm vorher ein freundliches Wort zum Abschied gesagt hatte; er sollte hören, wie wert sie ihn hielt, ja, und wie sie ihn verehrte und mit ihm fühlte! Würde Fanny nicht an ihrer Stelle dasselbe tun? Und Fanny hatte sich der Zeit erinnert, wo sie dasselbe für einen Mann wie Mr. Mountjoy getan haben würde.

»Sorgen Sie dafür, dass Sie heute abend zu Hause sind«, fuhr das Mädchen fort. Sie sprach so erregt, dass Hugh sie kaum wiedererkannte. »Meine Herrin will hieher kommen, um Sie noch einmal zu sehen und zu sprechen, und ich werde sie begleiten.«

Solch ein unkluges Benehmen war ganz undenkbar! - »Sie müssen von Sinnen sein!« rief Mountjoy aus.

»Ich bin gar nicht von Sinnen, Sir«, antwortete Fanny. »Ich freue mich nur, wenn ein Mann in dieser Weise handelt. Der Lord speist heute außer dem Hause und wird davon nichts erfahren, und«, rief das sonst so kühle und gemessene Mädchen erregt aus, »er verdient es nicht besser!«

Hugh machte alle möglichen Einwendungen, hatte aber nicht den geringsten Erfolg.

Das nächste, was er tat, war, dass er einige Zeilen an Lady Harry schrieb, in denen er sie beschwor, daran zu denken, dass ein eifersüchtiger Mann sich nicht selten zu Handlungen der entsetzlichsten Art hinreißen lasse, und dass sie daher auf ihrer Hut sein möge.

Als er den Brief Fanny übergab, damit sie ihn besorgen sollte, bemerkte sie höflich, dass es besser sei, wenn er ihr den Brief nicht anvertraue. »Eine Person will zuweilen das Richtige tun«, sagte sie zu ihm, »und tut schließlich doch das Falsche.« Ehe sie ihrer Herrin Schmerz verursache, wäre sie imstande, den Brief auf ihrem Heimweg zu zerreißen und gar nichts davon zu sagen. Hugh versuchte es zunächst mit einer Drohung:

»Ihre Herrin wird mich nicht zu Hause finden, wenn sie hieher kommt - ich werde heut abend ausgehen.«

Das sonderbare Mädchen sah ihn mit mitleidigem Lächeln an und antwortete nur:

»Sie werden das gewiss nicht tun!«

Es war ein beschämendes Selbstbekenntnis, aber Fanny kannte ihn besser als er sich selbst.

Alles, was Mountjoy gesagt und getan hatte, um dem Besuch vorzubeugen, war wirklich nur aus Rücksicht auf die junge Frau geschehen. Wenn er sein eigenes Herz gefragt hätte, so würde er entdeckt haben, dass er bei der glücklichen Aussicht, Iris wiederzusehen, hätte aufjubeln mögen.

Als der Abend herankam, brauchte Hugh die Vorsicht, seinen ergebenen und verschwiegenen Diener zu beauftragen, Lady Harry an der Tür des Hotels zu empfangen, bevor der Ton der Glocke den Portier aus seiner Loge herbeirufen konnte. Bei ruhiger Betrachtung schien alles dafür zu sprechen, dass sie eine Entdeckung durch Lord Harry nicht zu fürchten brauchte. Der eifersüchtige Gatte auf der Bühne, welcher früher oder später das schuldige oder bisweilen auch unschuldige Paar entdeckt, ist nicht immer der Gatte in der Welt außerhalb des Theaters.

Während er noch darüber nachdachte, sah Hugh, dass die Tür seines Wohnzimmers vorsichtig geöffnet wurde, zu einer früheren Stunde, als er angenommen hatte. Sein alter Diener führte eine dicht verschleierte Dame herein, - es war Iris.


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