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Die Frau in Weiß

Fortsetzung der Aussage Walter Hartrights

XI.

Die Todtenschau wurde aus gewissen Localgründen, welche bei dem Leichenbeschauer und den städtischen Behörden ins Gewicht fielen, beeilt. Dieselbe fand am Nachmittage des folgenden Tages statt. Ich war nothwendigerweise unter den Zeugen, welche für die Untersuchung vorgeladen wurden.

Mein Erstes am nächsten Morgen war, nach der Post zu gehen und den Brief zu fordern, den ich von Mariannen erwartete. Kein Wechsel der Verhältnisse, so außerordentlich derselbe auch sein mochte, konnte die eine große Sorge, die auf meinem Herzen lag, während ich von London abwesend war, in den Hintergrund drängen. Der Brief mit der Frühpost, welcher mir die einzige Sicherheit war, daß sich während meiner Abwesenheit kein Unfall ereignet hatte, war zugleich das ausschließliche Interesse, mit welchem mein Tag begann.

Zu meiner Beruhigung fand ich Mariannens Brief an mich auf der Post.

Es hatte sich Nichts ereignet – sie waren Beide so wohl und sicher, wie zur Zeit, da ich sie verlassen. Laura schickte mir ihren Gruß und bat mich, sie einen Tag vor meiner Rückkehr von derselben in Kenntniß zu setzen. Ihre Schwester fügte, um mir diesen Wunsch zu erklären, hinzu, daß sie »beinah einen Sovereign« aus ihrem eigenen Verdienste erspart habe und daß sie sich das Privilegium erbeten, das kleine Diner, das meine Heimkehr feiern sollte, selbst zu bestellen und anzuordnen. Ich las diese häuslichen kleinen Mittheilungen im hellen Morgenlichte mit der furchtbaren lebendigen Erinnerung an Das, was sich gestern Abend zugetragen hatte. Die Nothwendigkeit, Laura vor einer plötzlichen Kenntniß der Wahrheit zu schützen, war die erste Betrachtung, welche dieser Brief mir ins Gedächtniß rief. Ich schrieb augenblicklich an Marianne und erzählte ihr Alles, was vorgefallen, indem ich sie so allmälich und sorgsam wie möglich auf die Nachricht vorbereitete und sie warnte, Laura um keinen Preis während meiner Abwesenheit ein Zeitungsblatt in die Hände fallen zu lassen. Irgend einem anderen, weniger muthigen und weniger zuverlässigen Weibe gegenüber, hätte ich wohl gezögert, so ohne Rückhalt die ganze Wahrheit zu enthüllen. Aber Mariannen war ich es schuldig, meinen früheren Erfahrungen in Bezug auf sie treu zu bleiben und ihr zu vertrauen, wie ich mir selbst vertraute.

Mein Brief wurde nothwendigerweise ein langer, und er beschäftigte mich bis zu dem Augenblicke, wo ich nach der Todtenschau aufbrechen mußte.

Der gerichtlichen Untersuchung legten sich manche Verwickelungen und Schwierigkeiten in den Weg. Außer der Untersuchung über die Art und Weise, wie der Verstorbene seinen Tod gefunden, gab es ernste Fragen in Bezug auf die Ursache des Feuers, die Wegnahme der Schlüssel und die Anwesenheit des Fremden in der Sacristei zur Zeit, wo das Feuer ausbrach, zu lösen. Selbst die Identification des todten Mannes hatte noch nicht stattgefunden. Der hülflose Zustand des Dieners hatte die Polizei abgehalten, sein angebliches Erkennen seines Herrn als maßgebend anzunehmen. Sie hatte in der Nacht nach Knowlesbury geschickt, um sich Zeugen zu verschaffen, die mit Sir Percival Glyde’s persönlichem Aussehen genau bekannt waren, und hatte frühmorgens Boten nach Blackwater Park abgesandt. Diese Maßregeln setzten den Leichenbeschauer und die Geschworenen in den Stand, die Frage über die Identität zu lösen und die Richtigkeit der Behauptung des Dieners zu bestätigen, welches Zeugniß dann durch die Entdeckung gewisser Thatsachen, durch die Aussage competenter Zeugen und eine Untersuchung der Uhr des Verstorbenen noch bekräftigt wurde, welche Letztere inwendig Sir Percival Glyde’s Namen und Wappen trug.

Die nächsten Nachfragen bezogen sich auf das Feuer.

Der Diener, ich und der Knabe, welcher gehört hatte, wie in der Sacristei ein Licht angemacht worden, waren die ersten Zeugen, welche aufgerufen wurden. Der Knabe machte seine Angabe klar genug; aber des Dieners Geist hatte sich noch nicht von dem Schlage erholt, der ihn betroffen – es war augenscheinlich, daß er nicht im Stande war, den Zweck der Untersuchung zu fördern und erhielt derselbe daher Befehl, abzutreten.

Zu meiner Erleichterung währte mein Verhör nicht lange. Ich hatte den Verstorbenen nicht gekannt; hatte ihn nie gesehen; hatte von seiner Anwesenheit in Alt-Welmingham Nichts gewußt und war nicht zugegen gewesen, als man den Körper in der Sacristei gefunden. Alles, was ich beweisen konnte, war, daß ich in die Wohnung des Küsters getreten, um mich nach dem Wege zu erkundigen; daß ich von ihm von dem Verluste der Schlüssel gehört; daß ich ihn nach der Kirche begleitet, um ihm alle Hülfe zu leisten, die in meiner Macht war; daß ich das Feuer gesehen; daß ich gehört, wie im Innern der Sacristei Jemand, der mir unbekannt war, vergebens das Schloß zu öffnen versuchte; und daß ich gethan, was ich gekonnt – aus blosen Menschlichkeitsgründen – um den Mann zu retten. Andere Zeugen, welche mit dem Verstorbenen bekannt gewesen, wurden befragt, ob sie das Geheimniß seiner angeblichen Wegnahme der Schlüssel und seiner Anwesenheit in dem brennenden Zimmer erklären könnten. Aber der Leichenbeschauer nahm es natürlicherweise für ausgemacht an, daß ich als Fremder in der Nachbarschaft und für Sir Percival Glyde nicht im Stande sein würde, irgendwie Zeugniß über diese beiden Punkte abzulegen.

Mein Verfahren, nachdem mein förmliches Verhör vorüber war, schien mir vollkommen klar. Ich fühlte mich nicht berufen, mich zu einer freiwilligen Angabe meiner persönlichen Ueberzeugungen zu erbieten; erstens, weil dies keinem praktischen Zwecke dienen konnte, jetzt da jeder Beweis für meine Muthmaßungen mit dem Kirchenbuche verbrannt war; zweitens, weil ich meine Ansicht nicht auf verständliche Weise hätte auseinandersetzen können, ohne die ganze Geschichte von dem Complotte zu enthüllen und ohne wahrscheinlich auf den Leichenbeschauer und die Geschworenen denselben unbefriedigenden Eindruck zu machen, den ich bereits auf Mr. Kyrle gemacht hatte.

In diesen Blättern jedoch und nach einem so langen Zeitraume brauchen solche Berücksichtigungen die freie Mittheilung meiner Ansichten nicht länger zu hindern. Ich will daher, ehe meine Feder sich wieder mit anderen Ereignissen beschäftigt, kurz andeuten, auf welche Weise meine eigene Ueberzeugung mir die Wegnahme der Schlüssel, das Ausbrechen des Feuers und den Tod des Mannes erklärt.

Die Nachricht, daß ich wider Erwarten auf Bürgschaft frei gelassen, trieb, wie ich mir denke, Sir Percival auf seine letzten Hülfsmittel zurück. Der Angriff gegen mich auf der Landstraße war das eine derselben, und die Beseitigung jeden thatsächlichen Beweises seines Verbrechens, durch die Vernichtung des Blattes im Kirchenbuche, auf dem die Fälschung begangen, war das zweite und sicherste von beiden. Falls ich keinen geschriebenen Auszug aus dem Kirchenbuche beibringen konnte, damit derselbe mit der beschworenen Abschrift in Knowlesbury verglichen würde, so hatte ich keinen entschiedenen Beweis gegen ihn und konnte ihm daher nicht damit drohen, ihn durch Bloßstellung zu Grunde richten zu wollen. Alles, dessen er für seinen Zweck bedurfte, war, daß er ungesehen in die Sacristei gelangte, daß er das Blatt aus dem Kirchenbuche risse und dann die Sacristei ebenso unbemerkt, wie er sie betreten, wieder verließe.

Nach dieser Voraussetzung ist leicht zu begreifen, warum er bis Einbruch der Nacht wartete und warum er die Abwesenheit des Küsters benutzte, um sich die Schlüssel zu verschaffen. Er war gezwungen, ein Licht anzumachen, um das betreffende Kirchenbuch zu finden, und die gewöhnlichste Vorsicht erforderte, daß er die Thür von innen verschloß, für den Fall, daß irgend ein neugieriger Fremder oder etwa ich ihn zu stören käme, falls ich zufällig in der Nähe war.

Ich kann nicht glauben, daß es irgendwie in seiner Absicht gelegen, die Vernichtung des Kirchenbuches im Lichte eines Unfalles erscheinen zu lassen, indem er die Sacristei vorsätzlich in Brand steckte. Die blose Möglichkeit, daß schnelle Hülfe kommen und die Bücher etwa gar gerettet würden, mußte nach kurzer Ueberlegung genügt haben, um ihn den Gedanken wieder aufgeben zu lassen. Wenn ich an die Masse leicht entzündbarer Gegenstände in der Sacristei denke – an das Stroh, die Papiere, die Packkisten, das trockene Holz und die wurmstichigen alten Schränke– so deuten alle Wahrscheinlichkeiten meiner Ansicht nach darauf hin, daß das Feuer die Folge eines Unfalles war, den er entweder mit seinen Zündhölzchen oder seinem Lichte gehabt hatte.

Sein erster Impuls war unter diesen Umständen ohne Zweifel der, die Flammen zu löschen, und der zweite, da ihm dies mißlang (und er mit dem Zustande des Schlosses unbekannt war) der Versuch, durch die Thür, durch die er gekommen, zu entfliehen. Als ich ihm zugerufen, mußten die Flammen sich über die Thür, welche in die Kirche führte, erstreckt haben, zu deren beiden Seiten die Schränke standen und um welche herum die brennbaren Gegenstände lagen. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er, als er durch die innere Thür zu entfliehen versucht, von dem Rauche (und den Flammen (die keinen Ausweg aus dem Zimmer fanden) überwältigt worden. Er mußte in seiner Todesohnmacht – gerade in dem Augenblicke, wo ich auf das Dach gesprungen war und das Fenster einschlug – auf der Stelle hingesunken sein, an der man ihn fand. Selbst falls es uns später gelungen wäre, in die Kirche zu dringen und die Thür von der Seite zu sprengen, so mußte der Verzug doch schon tödtlich gewesen sein. Er konnte zu der Zeit längst nicht mehr zu retten sein. Wir hätten den Flammen nur freien Eingang in die Kirche gestattet, welche jetzt gerettet war, die aber in jenem Falle das Schicksal der Sacristei getheilt haben würde. Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß er schon, ehe wir noch in der leeren Hütte anlangten und mit aller Gewalt arbeiteten, um den Balken zu lösen, todt gewesen sein mußte.

Dies ist die nächste Annäherung an eine Erklärung, die ich mir über ein Resultat zu machen im Stande bin, das eine sichtbare Thatsache war. Wie ich sie beschrieben habe, so trugen sich draußen die Ereignisse vor unsern Augen zu. Und so, wie ich es erzählt habe, wurde seine Leiche gefunden.

Die Leichenschau wurde auf einen Tag vertagt; denn es war Nichts entdeckt worden, was das Auge des Gesetzes als genügende Erklärung der geheimnißvollen Umstände des Falles hätte anerkennen können.

Man kam überein, noch mehr Zeugen zu vernehmen und den Rechtsanwalt des Verstorbenen aus London zu verschreiben. Auch wurde ein Arzt beauftragt, über den geistigen Zustand des Dieners zu berichten, da derselbe augenblicklich unfähig schien, irgendwie Zeugniß von Wichtigkeit abzulegen. Er konnte blos auf eine geistesabwesende Art und Weise wiederholen, daß er am Abende des Feuers Befehl erhalten, in dem Nebenwege zu warten, und daß er weiter von Nichts wisse, außer daß der Verstorbene ganz gewiß sein ehemaliger Herr sei.

Meine eigene Ueberzeugung ging dahin, daß man ihn (ohne schuldiges Mitwissen von seiner Seite) dazu gebraucht hatte, sich von der Abwesenheit des Küsters zu überzeugen und dann im Nebenwege (doch außer Gesichtsweite von der Sacristei) zu warten, um für den Fall, wo ich dem Angriffe auf der Landstraße entginge und hier mit Sir Percival zusammenträfe, seinem Herrn Beistand zu leisten. Ich muß jedoch hinzufügen, daß des Mannes eigene Aussage diese meine Ansicht nie bestätigt hat. Der ärztliche Bericht über ihn lautete dahin, daß das Wenige, was er an Geistesfähigkeit besitze, ernstlich erschüttert sei; in der vertagten Untersuchung wurde nichts Befriedigendes aus ihm herausgebracht, und soviel ich weiß, ist er bis auf diesen Tag noch nicht wieder hergestellt.

Ich kehrte geistig und körperlich so erschöpft und durch Alles, was ich durchgemacht, so geschwächt und niedergedrückt zum Gasthofe in Welmingham zurück, daß ich nicht im Stande war, die Unterhaltung über die Leichenschau und die trivialen Fragen zu ertragen, welche die Gäste im Kaffeezimmer an mich richteten. Ich zog mich nach meinem frugalen Mittagsmahle auf mein schlichtes Dachstübchen zurück, um mir etwas Ruhe zu gönnen und ungestört an Laura und Marianne denken zu können.

Falls ich ein reicherer Mann gewesen, so wäre ich nach London gefahren, um mich noch diesen Abend durch den Anblick der beiden lieben Angesichter zu erquicken. Aber ich war verpflichtet, bei der vertagten Untersuchung zu erscheinen und doppelt verpflichtet vor der Behörde in Knowlesbury, der für mich geleisteten Bürgschaft nachzukommen. Unser bescheidenes Kapital hatte bereits ohnedies gelitten, und die zweifelhafte Zukunft – jetzt zweifelhafter denn je – ließ mich fürchten, dasselbe unnöthigerweise noch zu verringern, wenn es selbst nur die unbedeutende Ausgabe einer doppelten Eisenbahnfahrt zweiter Klasse war.

Den nächsten Tag – den, welcher unmittelbar dem Tage der Leichenschau folgte – hatte ich zu meiner eigenen Verfügung. Ich begann den Morgen, indem ich mir erst wieder den regelmäßigen Bericht von Mariannen auf der Post abholte. Ich fand denselben wie gewöhnlich vor, und er war durchweg mit frohen Lebensgeistern geschrieben. Ich las den Brief voll Dankbarkeit durch und machte mich dann auf den Weg nach Alt-Welmingham, um den Schauplatz des Feuers beim Tageslicht in Augenschein zu nehmen.

Welche Veränderungen fielen mir, dort angelangt, ins Auge!

Durch alle Wege unserer unerfaßlichen Welt geht das Triviale mit dem Furchtbaren Hand in Hand. Die Ironie der Verhältnisse schont keine Katastrophe der Sterblichkeit. Als ich bei der Kirche anlangte, war der zertrampelte Zustand des Begräbnißplatzes die einzige ernste Spur, welche von dem Feuer und dem Tode noch zurückgeblieben. Ein roher Bretterverschlag war vor dem Eingange der Sacristei errichtet. Bereits waren grobe Carricaturen auf denselben gezeichnet, und die Dorfkinder schrieen und balgten sich um das beste Guckloch, um in die Brandstätte zu schauen. An der Stelle, wo ich den Hülferuf aus dem brennenden Zimmer gehört, an der Stelle, wo der von Entsetzen ergriffene Diener auf seine Knie gesunken, kratzte jetzt eine geschäftige Hühnerfamilie nach Regenwürmern – und auf dem Boden zu meinen Füßen, wo die Thür mit ihrer grauenvollen Last gelegen, stand das Mittagsmahl eines Arbeiters in einer gelben Schüssel in ein Tuch gebunden, und sein treuer Hund, welcher es bewachte, bellte mich an, als ich der Stelle zu nahe kam. Der alte Küster, welcher in Müßigkeit dem langsamen Anfange der Ausbesserungen zuschaute, hatte jetzt nur ein Interesse, über das er schwatzen konnte – daß er selbst nämlich nach diesem Unfalle allem Tadel entginge. Eines der Dorfweiber, deren weißes, wildes Gesicht sich mir als ein Bild des Entsetzens gezeigt, als wir den Balken heruntergerissen, stand jetzt kichernd – ein Bild der Nichtigkeit – mit einer anderen Frau beim Waschkübel. Es giebt nichts Ernstes in der Sterblichkeit! Selbst bei Salomo in all’ seiner Glorie lauerten in jeder Falte seiner Gewänder, in jedem Winkel seines Palastes die Elemente des Verächtlichen.

Als ich den Ort verließ, dachte ich – nicht zum ersten Male – daran, wie für jetzt wenigstens alle Hoffnung darauf, Laura’s Identität zu behaupten, durch Sir Percival’s Tod über den Haufen geworfen war. Er war todt – und mit ihm die Aussicht, auf die ich meine größten Hoffnungen gebaut hatte.

Konnte ich das Mißlingen meiner Bemühungen aus keinem besseren Gesichtspunkte ansehen?

Gesetzt, er wäre am Leben geblieben – würde diese Veränderung der Verhältnisse den Erfolg verändert haben? Hätte ich – selbst um Laura’s willen – meine Entdeckung als eine verkaufbare Waare benutzen können, nachdem ich gesehen, daß der Raub der Rechte Anderer das Wesen von Sir Percival’s Verbrechen ausmachte? Hätte ich ihm den Preis meines Schweigens für sein Bekenntniß des Complotts bieten können, wenn die Wirkung dieses Schweigens die sein mußte, dem rechtmäßigen Erben sein Besitzthum und dem rechtmäßigen Eigenthümer seinen Namen vorzuenthalten? Unmöglich! Falls Sir Percival am Leben geblieben, so lag es nicht in meiner Macht, die Entdeckung, von der ich (in meiner Unkenntniß der wahren Natur des Geheimnisses) so viel gehofft hatte, zu verschweigen oder bekannt zu machen, wie ich es eben zur Behauptung der Rechte Laura’s nöthig erachtet hätte. Nach den allergewöhnlichsten Regeln der Redlichkeit und Ehre hätte ich sofort zu dem Fremden gehen müssen, dessen Erbrecht Jener sich angemaßt – ich hätte meinem Siege in dem Augenblick, wo ich ihn gewonnen, entsagen müssen, indem ich die Entdeckung ohne Vorbehalt in die Hände dieses Fremden gab – und ich hätte abermals all’ den Schwierigkeiten entgegentreten müssen, die sich zwischen mir und dem einen Zwecke meines Lebens erhoben – gerade wie ich auch jetzt noch im Innersten meines Herzens entschlossen war, denselben entgegenzutreten!

Ich kehrte mit ruhigerem Gemüthe nach Welmingham zurück, indem ich mich über mich selbst und meinen Entschluß sicherer fühlte, als ich noch bisher gethan.

Auf meinem Wege nach dem Gasthofe ging ich an dem einen Ende des Platzes vorbei, in welchem Mrs. Catherick wohnte. Sollte ich nach dem Hause zurückgehen und noch einen Versuch machen, sie zu sehen? Nein. Jene Nachricht von Sir Percival’s Tode, welche die letzte Nachricht war, die sie zu hören erwartete, mußte längst zu ihr gedrungen sein. Das ganze Verfahren bei der Leichenschau war in  dem Intelligenzblatte des betreffenden Tages beschrieben worden: ich hatte ihr Nichts zu erzählen, was sie nicht bereits wußte. Mein Interesse, sie zum Sprechen zu bewegen, hatte abgenommen. Ich gedachte des heimlichen Hasses, der sich in ihrem Gesichte aussprach, als sie sagte: »Es giebt keine Nachrichten über Sir Percival, auf die ich nicht vorbereitet wäre – ausgenommen die Nachricht seines Todes.« Ich gedachte des lauernden Blickes, mit dem sie nach diesen Worten beim Scheiden meine Gestalt betrachtete. Ein Instinct tief in meinem Herzen, von dem ich fühlte, daß er ein wahrer sei, machte mir den Gedanken, sie wiederzusehen, im höchsten Grade zuwider – ich wandte mich von dem Platze ab und ging geradezu nach dem Gasthofe zurück.

Einige Stunden später, als ich allein im Gastzimmer saß, überbrachte mir der Kellner einen Brief. Derselbe war an mich adressirt und, wie man mir sagte, gerade vor Dunkelwerden, ehe das Gas angezündet gewesen, von einer Frau abgegeben worden. Sie hatte Nichts gesagt und war schon wieder fortgegangen, ehe man noch Zeit gehabt, zu ihr zu sprechen oder zu bemerken, wer sie sei.

Ich öffnete den Brief. Derselbe war weder datirt noch unterzeichnet, und die Handschrift war sichtbar verstellt. Doch ehe ich noch den ersten Satz zu Ende gelesen, wußte ich, wer der Schreiber sei. Mrs. Catherick.

Der Brief lautete folgendermaßen. – Ich schreibe ihn Wort für Wort ab:


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