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Die Neue Magdalena - Buch 2

Kapitel 4

Eine Nachricht aus Mannheim

Lady Janets Neugierde war durch Julians Worte auf das Höchste gespannt; er hatte ihre Aufforderung, den Namen der in dem Briefe erwähnten Dame zu nennen, mit einem blicke auf ihre Adoptivtochter beantwortet und auf ihre Frage, was denn diese mit der ganzen Angelegenheit zu tun hätte, erklärt, er könne in Miss Roseberrys Gegenwart nicht davon sprechen.

Was hatte dies zu bedeuten? Lady Janet war entschlossen, der Sache auf den Grund zu kommen.

„Ich hasse alle Geheimniskrämerei”, sagte sie zu Julian, „und betrachte sie als einen Mangel an guter Erziehung. Leute unserer Klasse sollten längst über das Flüstern in den Zimmerecken hinaus sein. Da Sie nun aber einmal Ihr Geheimnis haben müssen, so kann ich Sie auch in die entsprechende Zimmerecke führen. Kommen Sie mit mir in das Bibliothekszimmer.”

Julian folgte seiner Tante nur mit Widerstreben. Gleichviel, was das Geheimnis war, es brachte ihn in arge Verlegenheit, dasselbe so ohne weiteres aufdecken zu sollen. Lady Janet setzte sich in ihrem Stuhl zurecht und wollte eben damit beginnen, ihren Neffen der Kreuz und Quere nach auszufragen, als am anderen Ende des Zimmers sich ihr ein Hindernis in Gestalt eines Bedienten entgegenstellte. Eine ihrer Bekannten war, wie es verabredet gewesen, gekommen, um sie zu einer Komiteesitzung abzuholen, welche an diesem Tage stattfinden sollte. Der Diener meldete, die Dame warte draußen im Wagen.

Lady Janet wusste sofort sich dieses Hindernis aus dem Wege zu räumen. Sie befahl dem Diener, den Besuch in das Wohnzimmer zu führen und sie bei demselben wegen unvorhergesehener Geschäfte zu entschuldigen. Miss Roseberry werde die Dame sogleich begrüßen. Dann wendete sie sich ironisch zu Julian: „Wäre es Ihnen vielleicht noch lieber, wenn Miss Roseberry nicht bloß das Zimmer, sondern sogar das Haus verlassen hätte, bevor Sie Ihr Geheimnis enthüllen?”

Julian bejahte dies ernsthaft.

Lady Janet kehrte in das Speisezimmer zurück.

„Liebe Grace”, sagte sie, „Sie sahen, als ich Sie vorhin hier schlafend fand, sehr erhitzt und leidend aus; ich glaube, die frische Luft dürfte Ihnen recht gut tun. Meine Freundin ist hier, um mich zu der Komiteesitzung abzuholen. Ich habe ihr sagen lassen, dass ich verhindert bin - Sie würden mir einen großen Gefallen tun, wenn Sie statt meiner gehen wollten.”

Mercy war etwas betroffen. „Meinen Sie die Komiteesitzung von Samaritan-Convalescent-Home? Da wird ja, glaube ich, heute darüber beraten, welcher Plan für das neue Gebäude gewählt werden soll. Ich kann doch nicht für Sie stimmen?”

„Sie können dies ebenso gut wie ich, liebes Kind”, versetzte die alte Dame. „Die Baukunst ist eine undankbare Kunst. Sie verstehen nichts davon; ich auch nicht. Die Architekten selber verstehen nichts davon. Ohne Zweifel ist ein Plan so schlecht wie der andere. Stimmen Sie, wie ich es auch täte, mit der Majorität. Oder, wie der gute, arme Doktor Johnson sagt: ,Halte dich an den Pöbel, der am lautesten schreit.' Machen Sie, dass Sie auf den Weg kommen und lassen Sie das Komitee nicht warten.”

Horace beeilte sich, Mercy die Tür zu öffnen.

„Wie lange bleiben Sie aus?” flüsterte er ihr vertraulich zu. „Ich hätte Ihnen so viel zu sagen, und gerade jetzt wurden wir gestört.”

„In einer Stunde bin ich wieder da.”

„Da können wir dann in diesem Zimmer allein sein. Kommen Sie hier herein, ich werde Sie hier erwarten.”

Mercy drückte ihm bedeutsam die Hand und schritt zur Tür hinaus. Lady Janet kehrte zu Julian zurück, welcher bis dahin im Hintergrunde stehen geblieben war, allem Anscheine nach weniger als je dazu aufgelegt, seine Tante über das Geheimnis aufzuklären.

„Nun?” sagte sie. „Jetzt hindert Sie nichts mehr, zu sprechen. Grace ist fort; warum zögern Sie? Ist Ihnen Horaces Gegenwart dabei unangenehm?”

„Nicht im Geringsten. Mir ist nur etwas unbehaglich zumute -”

„Unbehaglich, weshalb?”

„Ich fürchte, Sie haben diesem reizenden Geschöpf damit eine Unannehmlichkeit bereitet, dass Sie sie gerade jetzt fortschickten.”

Horace blickte rasch auf; über sein Gesicht flog eine leise Röte.

„Sie meinen mit dem reizenden Geschöpf, wie es scheint, Miss Roseberry?”

„Gewiss”, antwortete Julian. „Was weiter?”

Lady Janet legte sich ins Mittel. „Nicht so heftig, Julian”, sagte sie, „Sie haben bisher Grace nur als meine Adoptivtochter kennengelernt.”

„Und, wie mir scheint, ist es höchste Zeit”, fügte Horace hinzu, „Ihnen nunmehr mitzuteilen, dass sie meine Braut ist.”

Julian traute kaum seinen Ohren. „Ihre Braut!” rief er aus und sah dabei Horace mit einem Blicke bitterer Enttäuschung und Überraschung an.

„Ja, meine Braut”, wiederholte dieser. „In vierzehn Tagen ist unsere Hochzeit. Oder”, fügte er mit höhnischer Unterwürfigkeit hinzu, „haben Sie vielleicht dagegen etwas einzuwenden?”

Lady Janet trat abermals dazwischen. „Unsinn, Horace”, sagte sie, „Julian gratuliert Ihnen dazu, das versteht sich.”

Julian sprach in kühlem Tone und wie geistesabwesend die Worte nach: „O ja, ich gratuliere Ihnen, das versteht sich.”

Lady Janet kam nun auf den eigentlichen Gegenstand ihrer Unterredung zurück.

„Jetzt sind wir miteinander im Reinen”, sagte sie. „Jetzt will ich von der Dame hören, welche über dem letzten Gespräch zwischen uns vergessen worden war, nämlich die, deren Sie in Ihrem Briefe erwähnen, Julian. Wir sind allein, wie Sie es gewünscht. Nun lüften Sie den Schleier, hochwürdiger Neffe, welcher jenes Wesen sterblichen Augen verhüllt! Sie dürfen auch erröten, wenn Sie dazu Lust haben. Ist es vielleicht die künftige Mistress Gray?”

„Ich kenne die Dame gar nicht”, antwortete Julian gelassen.

„Sie kennen Sie nicht? Und schrieben mir doch, dass Sie sich für sie interessierten.”

„Das tue ich auch. Und was noch mehr ist, Sie selbst werden sich für sie interessieren, wenn Sie von ihr hören.”

Lady Janet trommelte mit den Fingern ungeduldig auf dem Tisch. „Habe ich Ihnen denn nicht schon gesagt, Julian, dass ich Geheimnisse nicht leiden kann. Wollen Sie sich näher erklären oder nicht?”

Ehe er noch antworten konnte, erhob sich Horace von seinem Stuhl und sagte: „Vielleicht bin ich hier im Wege?”

Julian winkte ihm, ruhig da zu bleiben.

„Ich habe es Lady Janet bereits gesagt”, antwortete er, „dass Ihre Gegenwart für mich kein Hindernis ist; um so weniger, da Sie, als Miss Roseberrys künftiger Gatte - ebenfalls von dem, was ich zu sagen habe, berührt werden dürften.”

Horace nahm mit einem argwöhnischen und überraschten Ausdruck seines Gesichtes seinen früheren Platz wieder ein. Julian wendete sich zu Lady Janet.

„Sie haben mich gewiss oft”, begann er, „meinen langjährigen Freund und Schulgenossen, John Cressingham, erwähnen hören?”

„Ja, den englischen Konsul von Mannheim?”

„Denselben. Als ich vom Lande zurückkam, fand ich unter anderen auch einen langen Brief des Konsuls vor. Ich habe ihn mit hierher genommen, um Ihnen daraus einige Stellen vorzulesen, welche Ihnen eine höchst merkwürdige Geschichte klarer und glaubwürdiger erzählen werden, als ich dies mit meinen eigenen Worten zu tun im Stande wäre.”

„Ist der Brief sehr lang?” fragte Lady Janet etwas beunruhigt, als sie ihren Neffen die eng beschriebenen Blätter entfalten sah.

Horace schien seinerseits kein besonderes Vertrauen in die Wichtigkeit der Mitteilung zu haben.

„Sie sind überzeugt, dass die Sache auch mich angeht?” fragte er. „Aber der Konsul in Mannheim ist mir gänzlich unbekannt.”

„Ich stehe Ihnen dafür”, erwiderte Julian ernst, „dass weder meiner Tante, noch Ihre Geduld umsonst in Anspruch genommen werden wird, wenn Sie mir nur aufmerksames Gehör schenken wollen.”

Mit diesen Worten begann er die erste Stelle aus dem Briefe des Konsuls vorzulesen.

„Ich habe im allgemeinen ein schlechtes Gedächtnis für Daten. Aber ich glaube, vor ungefähr drei Monaten bekam ich eines Tages die Mitteilung, dass in dem hiesigen Hospital eine Engländerin aufgenommen worden sei, deren nähere Umstände mich als englischer Konsul interessieren sollten.

Ich ging noch selben Tages in das Spital und wurde dort an ein Bett geführt.

Darin lag eine Frauengestalt, sie war jung und in gesundem Zustande mochte sie auch ganz hübsch sein. Auf den ersten Blick hielt ich sie für tot. Ich bemerkte, dass sie eine Binde um den Kopf trug und erkundigte mich nach der Art ihrer Verwundung. Darauf wurde mir erzählt, sie sei, niemand wisse warum oder weswegen, bei einem Gefecht zwischen Franzosen und Deutschen in der Nähe des Kampfplatzes gewesen, und habe hierbei durch den Splitter einer deutschen Granate diese Verwundung am Kopfe erhalten.”

Horace - welcher bis dahin nachlässig in seinen Stuhl zurückgelehnt war - fuhr bei diesen Worten plötzlich in die Höhe und rief: „Herr Gott! Sollte das dieselbe Person sein, welche ich in dem französischen Häuschen als Leiche sah?”

„Das kann ich Ihnen nicht sagen”, versetzte Julian. „Hören Sie nur weiter. Vielleicht gibt Ihnen der Brief meines Freundes darüber Aufschluss.”

Er fuhr fort zu lesen:

„Die Verwundete ward für tot erklärt und blieb bei dem Rückzug der Franzosen in jenem Häuschen zurück, wo sie die Deutschen, als sie sich der Stellung des Feindes bemächtigt hatten, auffanden. Sie wurde zuerst von dem Chefarzt einer deutschen Ambulanz entdeckt.”

„Ignaz Wetzel?” rief Horace.

Julian sah in dem Brief nach und sagte: „Ganz recht, Ignaz Wetzel.”

„Dann ist es dieselbe!” sagte Horace. „Das ist allerdings höchst interessant für uns. Erinnern Sie sich, Lady Janet, wie ich Ihnen sagte, dass ich mit Grace zuerst zusammentraf. Seitdem wird sie selbst Ihnen gewiss davon noch mehr erzählt haben!”

„Sie hat eine Art von Entsetzen davor, von diesem Teile ihrer Herreise zu sprechen”, versetzte Lady Janet. „Sie hat mir nur erzählt, dass sie an der Grenze aufgehalten worden und dort zufällig mit einer ihr fremden Engländerin zusammengetroffen sei. Auf meine hierdurch veranlassten Fragen, erfuhr ich, dass die Engländerin fast an ihrer Seite von einer deutschen Granate getötet worden sei. Seitdem hatten weder sie noch ich ein besonderes Verlangen danach, diese Sache wieder zu berühren. Sie hatten deshalb ganz recht, Julian, dieses Gespräch nur in Graces Abwesenheit führen zu wollen. Jetzt ist mir alles klar. Grace hat ihrer Reisegefährtin gegenüber wahrscheinlich meinen Namen genannt und diese wendet sich jetzt in ihrer Not durch Sie an mich um Unterstützung. Ich will ihr auch gerne helfen; nur soll sie noch nicht gleich hierher kommen, weil ich Grace erst darauf vorbereiten muss, die Totgeglaubte wieder zu sehen. Für den Augenblick ist wohl keine Gefahr, dass sie zusammentreffen könnten.”

„Dessen bin ich gar nicht sicher”, sagte Julian leise, ohne dabei seine Tante anzusehen.

„Was sagen Sie? Ist das Geheimnis damit noch nicht zu Ende?”

„Dies hat noch nicht einmal angefangen. Sie sollen das weitere wieder von meinem Freunde, dem Konsul selbst hören.”

Julian nahm den Brief zur Hand und las weiter:

„Nach sorgfältiger Untersuchung der angeblichen Leiche hatte der deutsche Arzt gefunden, dass hier in der Eile des Rückzuges der Fall verkannt worden war, indem die Verwundung die Lebenserscheinungen momentan unterbrochen, nicht aber den Tod herbeigeführt hatte. Als Fachmann interessierte er sich besonders für diesen Fall und versuchte deshalb eine Operation. Sie gelang vollkommen. Die ersten Tage behielt er die Patientin in seiner Obhut, dann wurde sie in das nächste Spital gebracht - und das war in Mannheim. Doktor Wetzel musste wieder zu der Armee und so ließ er die Kranke in dem Zustande zurück, in welchem ich sie damals sah. Weder er, noch sonst jemand in dem Hospital konnte irgendwelche Auskunft über sie geben. Es fanden sich keine Papiere vor, überhaupt nichts, wodurch ich im Stande gewesen wäre, mich an ihr nahestehende Personen zu wenden; das einzige, was man mir in dieser Hinsicht zeigen konnte, war ein mit ihrem Namen gezeichnetes Taschentuch. Ich notierte mir den Namen „Mercy Merrick” und verließ das Spital.”

Lady Janet zog ihr Taschenbuch hervor und sagte: Ich will ihn mir auch notieren; ich habe ihn noch nie gehört und könnte ihn sonst leicht vergessen. Lesen Sie weiter, Julian.”

„Unter diesen Umständen musste ich warten, bis die Kranke wieder so weit hergestellt sein würde, um mit mir sprechen zu können. Es vergingen einige Wochen, während welcher ich gar nichts von der Sache hörte. Als ich einmal nachfragte, hieß es, das arme Geschöpf läge in heftigem Fieber, beständig zwischen Delirium und der darauffolgenden Ermattung. In ihren Phantasien rief sie oft den Namen Ihrer Tante, Lady Janet Roy; alles übrige war für ihre Umgebung ganz unverständlich. Ich dachte mehrmals daran, Ihnen deshalb zu schreiben, damit Sie mit Lady Janet darüber sprächen; aber da die Ärzte ihren Zustand für bedenklich, zwischen Leben und Tod schwankend erklärten, so beschloss ich zu warten, bis sich dieser auf die eine oder auf die andere Weise entschieden haben würde!”

„Sie mögen es zwar besser wissen, Julian”, sagte Lady Janet; „aber ich bekenne, ich verstehe nicht, weshalb mich dieser Teil der Geschichte interessieren soll.”

„Ich wollte eben dasselbe sagen”, setzte Horace hinzu. „Es ist recht traurig, aber uns geht dies doch eigentlich nichts an.”

„Lassen Sie mich erst vollenden”, antwortete Julian; „dann mögen Sie darüber urteilen.”

Er nahm den Brief und las weiter:

„Endlich erhielt ich die Mitteilung, dass Mercy Merrick, obgleich noch sehr schwach, doch außer Gefahr und im Stande sei, mir einige Fragen zu beantworten, die ich notwendig an sie richten musste. Als ich in das Hospital kam, wurde ich zu meiner Überraschung gebeten, zuerst dem Oberarzt auf seinem Zimmer einen Besuch zu machen. Dieser gab mir nun einige Winke, wie ich mich gegen die Kranke zu benehmen hätte. „Ich halte es für ratsam”, sagte er, „Ihnen zu sagen, dass Sie mit großer Vorsicht und Schonung ans Werk gehen müssen; geben Sie acht, sie durch kein Zeichen von Überraschung oder Zweifel über ihr etwas sonderbares Wesen zu reizen. Wir sind hier in Betreff ihres Zustandes verschiedener Ansicht. Einige, darunter bin auch ich, bezweifeln, dass mit der Wiedererlangung ihrer körperlichen Gesundheit auch ihr Geist genesen sei. Ohne sie gerade wahnsinnig nennen zu können - denn sie ist ganz sanft und harmlos - scheint sie uns doch in einer gewissen wahnsinnsähnlichen Täuschung befangen. Erinnern Sie sich meines Rates, und im Übrigen werden Sie ja selbst darüber urteilen können.” Ich war etwas betroffen und überrascht, tat aber, wie mir der Arzt gesagt. Ich fand die Kranke traurig, schwach und abgezehrt im Bette liegen, aber so weit ich es beurteilen konnte, bei vollkommen klarem Bewusstsein. In der Art, wie sie sprach und sich benahm, zeigte sich unverkennbar die Dame von Stand. Ich stellte mich ihr erst mit wenigen Worten vor und versicherte sie dann meines amtlichen und persönlichen Beistandes, wenn sie dessen irgendwie bedürfte. Bei dieser Gelegenheit redete ich sie mit dem Namen an, welchen ich in ihrer Wäsche gezeichnet gesehen hatte. Die Worte „Miss Merrick” waren kaum über meine Lippen, als sie ihre Augen mit einem wilden, rachsüchtigen Blick auf mich richtete und zornig ausrief: „Nennen Sie mich nicht bei diesem verhassten Namen! Es ist nicht der meinige. Alle Welt verfolgt mich hier damit, und wenn ich darüber in Zorn gerate, so weisen sie mir meine Wäsche vor. Wenn Sie mein Freund sein wollen, so tun Sie nur das nicht!” Ich erinnerte mich dessen, was mir der Oberarzt empfohlen hatte, und suchte sie durch meine Entschuldigung zu besänftigen, was mir auch gelang. Ich ließ die Frage in Betreff ihres Namens ganz fallen und bat sie nur, mir mitzuteilen, was sie zu tun gedenke und hierbei nach Belieben über mich zu verfügen. „Weshalb wollen Sie wissen, was ich zunächst beabsichtige?” fragte sie argwöhnisch. Ich erinnerte sie daran, dass ich englischer Konsul und deshalb hergekommen sei, um ihr womöglich behilflich zu sein. „Sie können mir einen großen Dienst erweisen”, sagte sie eifrig, „wenn Sie Mercy Merrick ausforschen lassen!” dabei nahmen ihre Augen wieder den rachsüchtigen Ausdruck an, und über ihre bleichen Wangen breitete sich eine zornige Röte. Ich enthielt mich jeder Äußerung der Überraschung und fragte sie, wer Mercy Merrick sei? „Eine schlechte Person, wie sie selbst von sich sagte”, versetzte sie rasch. „Wie soll ich sie aber ausfindig machen?” fragte ich. „Sie können sie an einem schwarzen Kleid mit dem roten Kreuz auf der Schulter erkennen; sie ist Krankenpflegerin bei einer französischen Ambulanz.” Ich fragte weiter, was sie denn getan habe? „Ich habe meine Papiere, meine Kleider verloren; beides muss Mercy Merrick mir entwendet haben”, sagte sie. „Wie wissen Sie das?” „Weil es niemand anderer entwendet haben kann. Glauben Sie mir, oder glauben Sie mir nicht?” Sie geriet in Aufregung; so versicherte ich sie nur, nach besten Kräften für die Ausforschung Mercy Merricks wirken zu wollen. Dann kehrte sie sich auf ihrem Kissen um, und ich hörte nur, dass sie mich einen guten Menschen nannte und bat, wenn ich etwas erfahren hätte, es ihr mitzuteilen. So verlief die erste Unterredung, welche ich mit unserer Landsmännin hatte. Zwar bezweifelte ich vollständig die Existenz jener beschriebenen Krankenpflegerin, allein ich wollte mein Versprechen erfüllen und so wendete ich mich zunächst an Doktor Wetzel, dessen stets wechselnder Aufenthaltsort seinen Freunden in Mannheim bekannt war. Ich schrieb an ihn und erhielt die Antwort, dass er, nachdem die Deutschen sich in jenem nächtlichen Gefecht der französischen Stellung bemächtigt hatten, in dem Häuschen nur zurückgelassene Verwundete, aber keine Krankenpflegerin bei ihnen angetroffen habe, das einzige lebende Wesen außerdem sei die junge Engländerin in einem grauen Reisemantel gewesen, welche an der Grenze angehalten und später durch den Kriegskorrespondenten einer englischen Zeitung in ihre Heimat befördert worden war.”

„Das war Grace”, sagte Lady Janet.

„Und der Kriegskorrespondent war ich”, setzte Horace hinzu.

„Hören Sie noch einige Worte”, sagte Julian, „und Sie werden begreifen, weshalb ich Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch genommen habe.”

Er nahm den Brief zum letztenmale auf und las den Schluss, wie folgt:

„Ich teilte die Erfolglosigkeit meiner Nachforschungen in Betreff jener Krankenwärterin der Dame, welche ich doch Mercy Merrick nennen will, schriftlich mit und erhielt darauf weiter keine Antwort. Erst gestern wurde ich wieder gebeten, mich bei der Patientin einzufinden. Sie war unterdessen so weit hergestellt, dass sie ihre Entlassung begehrte, um unverzüglich nach England zurückzukehren. Der Oberarzt wollte die Verantwortlichkeit nicht auf sich nehmen und hatte deshalb mich rufen lassen. Es war unmöglich, sie darum zurückzuhalten, weil ein Teil der Ärzte ihre geistigen Fähigkeiten für nicht hinreichend zuverlässig erklärte, um sie nicht noch zu beaufsichtigen; so konnte er weiter nichts tun, als mich von ihrer Entlassung in Kenntnis setzen, und im übrigen die Angelegenheit in meine Hände geben. Als ich sie da zum zweitenmale sah, fand ich sie mürrisch und zurückhaltend. Sie schrieb das Nichtauffinden der Krankenpflegerin unverhohlen meinem geringen Eifer in ihrer Angelegenheit zu. Ich hatte meinerseits auch keinen Grund, sie zurückzuhalten; ich fragte sie daher nur, ob sie das nötige Geld für ihre Reisekosten besäße, und da sagte sie mir, dass auf Verwendung des Hospitalsgeistlichen, welcher ihre trostlose Lage an mehreren Orten geschildert hatte, die in Mannheim lebenden Engländer unter sich einen kleinen Betrag gesammelt hätten, um ihr dadurch die Reise in ihre Heimat zu ermöglichen. In dieser Richtung mit der erhaltenen Auskunft zufrieden, fragte ich sie, ob sie zu Bekannten oder Verwandten nach England zurückkehre. Darauf antwortete sie, sie hätte eine Freundin, welche die Gastfreundschaft selber sei - Lady Janet Roy. Sie können sich meine Überraschung denken, als ich dies hörte; ich fand es nach alledem ganz unnötig, noch irgend etwas weiter zu forschen; woher sie Ihre Tante kannte, oder, ob diese sie erwartete. Meine Fragen schienen sie zu verletzen; wenigstens hörte sie sie mit düsterem Schweigen an. Unter diesen Umständen beschloss ich nun, da ich auf Ihre menschenfreundliche Unterstützung dieses unglücklichen Geschöpfes mit Sicherheit rechnen durfte, die Dame mit einem Brief an Sie zu versehen, und dadurch bei ihrer Ankunft in London Ihrem Schutze zu empfehlen. Sie werden alles von ihr selbst erfahren und besser als ich beurteilen können, ob sie wirklich in irgendwelcher Beziehung zu Lady Janet Roy steht. Nun muss ich Ihnen zum Schluss dieses ungebührlich langen Briefes noch sagen, dass ich, wie schon erwähnt, bei meinem ersten Besuche sie nicht weiter nach ihrem Namen gefragt hatte; bei dem zweiten jedoch konnte ich ihr diese Unannehmlichkeit nicht mehr ersparen.”

Bei diesen letzten Worten gewahrte Julian, wie Lady Janet in plötzlicher Unruhe von ihrem Stuhl leise aufstand und sich hinter ihn stellte, um über seine Achsel hinweg den Brief zu lesen. Er sah die Bewegung gerade noch rechtzeitig, um ihre Absicht zu vereiteln, indem er die letzte Zeilen des Briefes mit der Hand bedeckte.

„Was soll das heißen?” fragte die Tante scharf.

„Sie mögen den Schluss des Briefes für sich lesen”, erwiderte Julian. „Aber vorher muss ich Sie auf eine große Überraschung vorbereiten. Fassen Sie sich und hören Sie den Brief zu Ende; er schließt mit den zwei Worten, welche ich Ihnen dann aufdecken will.”

Er fuhr fort:

„Ich sah der Engländerin scharf in das Gesicht und sagte ihr: Sie haben geleugnet, dass der Name, welcher in Ihrer Wäsche gezeichnet ist, der Ihrige sei. Wenn Sie nun nicht Mercy Merrick heißen, wie heißen Sie sonst? Sie antwortete ohne zu zögern: Ich heiße -”

Julian entfernte die Hand von dem Papier. Lady Janet las die zwei nachfolgenden Worte und fuhr mit einem lauten Schrei des Erstaunens zurück; Horace sprang empor.

„Sagen Sie mir doch eines der Worte”, rief er, „welchen Namen nannte sie?”

Julian sagte es ihm:

„Grace Roseberry.”


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