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Die Neue Magdalena - Buch 1

Kapitel 3

Die deutsche Granate

Der Knall des dritten Büchsenschusses drang durch die Nacht - schon ganz aus der Nähe des Häuschens. Grace sprang auf und trat erschreckt an das Fenster.

„Was bedeutet dies Schießen?” fragte sie.

„Signale der Vorposten”, erwiderte die Wärterin gelassen.

„Droht irgend Gefahr? Kehren die Deutschen zurück?”

Doktor Surville erwiderte diese Frage. Er hob eben den Zeugvorhang in die Höhe, um einen Blick in das Zimmer zu werfen, als Miss Roseberry sprach.

„Die Deutsche dringen gegen uns vor”, sagte er. „Ihre Vorhut ist in Sicht.”

Grace sank auf den nebenstehenden Stuhl und zitterte am ganzen Leibe. Mercy näherte sich dem Arzt und richtete entschlossen die Frage an ihn:

„Werden wir die Stellung verteidigen?” forschte sie.

Doktor Surville schüttelte bedeutsam den Kopf.

„Unmöglich! Der Feind ist uns wie immer um das Zehnfache überlegen.”

Der schrille Wirbel der französischen Trommeln wurde draußen gehört.

„Das Zeichen zum Rückzug!” sagte der Arzt. „Der Kapitän ist nicht der Mann danach, über das, was er zu tun hat, lange nachzudenken. Wir müssen selbst für uns sorgen. In fünf Minuten müssen wir diesen Ort geräumt haben.” Bei diesen Worten knallte eine förmliche Salve aus den Reihen der Deutschen. Ihre Vorhut griff die französischen Vorposten an. Grace fasste den Arzt mit flehender Gebärde am Arme. „Nehmen Sie mich mit”, rief sie. „O ich habe schon einmal von den Deutschen zu leiden gehabt; verlassen Sie mich nicht, wenn sie wieder kommen!” Der Arzt fühlte sich der Situation gewachsen; er drückte die Hand der hübschen Engländerin an seine Brust.

„Fürchten Sie nichts, Madame”, sagte er, und dabei sah er aus, als könnte er mit seinem unüberwindlichen Arm die gesamten Streitkräfte der Deutschen vernichten.

„Das Herz eines Franzosen schlägt unter Ihrer Hand. Die Ergebenheit eines Franzosen wird Sie zu schützen wissen.”

Graces Kopf sank auf seine Schulter. Monsieur Surville hatte das Bewusstsein, sich gut benommen zu haben; er blickte auffordernd nach Mercy hin. Auch sie war ein reizendes Wesen. Der Franzose hatte eine zweite Schulter für sie bereit. Zum Unglück war das Zimmer finster - der Blick für Mercy war verschwendet. Sie dachte der hilflosen Kranken im Innern des Hauses und erinnerte den Arzt an die Pflichten seines Berufes.

„Was soll aus den Kranken und Verwundeten werden?” fragte sie.

Monsieur Surville zuckte die Achsel - die freie nämlich.

„Die kräftigsten unter ihnen können wir mit uns fortnehmen”, sagte er. „Die Anderen müssen hier zurückbleiben. Für sich selbst meine Liebe, brauchen Sie nichts zu fürchten. Es wird sich schon ein Platz im Gepäckwagen finden.”

„Und auch für mich?” bat Grace eifrig.

Der unbesiegbare Arm des Arztes legte sich leise um die Taille der jungen Dame und antwortete stumm mit einem Drucke auf diese Frage.

„Nehmen Sie diese dann mit”, sagte Mercy. „Mein Platz ist bei den Armen, die Sie hier zurücklassen.”

Grace horchte mit maßlosem Erstaunen. „Bedenken Sie doch, was Sie riskieren”, sagte sie, „wenn Sie hier bleiben.” Mercy zeigte auf ihre linke Schulter.

„Beunruhigen Sie sich nicht um meinetwillen”, antwortete sie, „das rote Kreuz wird mich schützen.”

Ein neuer Trommelwirbel ermahnte den empfindsamen Wundarzt, seinen Platz als Generaldirektor der Ambulanz ohne Verzug einzunehmen. Er führte Grace zu einem Stuhl und legte diesmal ihre beiden Hände an sein Herz, um sie über das Unglück seines Abganges zu trösten. „Fürchten Sie nichts, reizende Freundin. Sagen Sie sich selbst, Surville ist ein ehrenhafter Mann! Surville ist mir ergeben!” Er schlug beteuernd auf seine Brust; er vergaß abermals die Finsternis im Zimmer, und warf einen Blick unbeschreiblicher Ehrerbietung auf seine reizende Freundin. „A bientôt!” rief er, warf ihr einen Kuss zu und verschwand.

Als der Zeugvorhang hinter ihm herabgefallen war, wurde plötzlich der Knall des Kleingewehrfeuers von dem Dröhnen der Kanonen mächtig übertönt. Im nächsten Augenblicke platzte draußen im Garten, nur einige Klafter vom Fenster entfernt, eine Granate mit fürchterlichem Gekrach.

Grace sank mit einem Schrei des Entsetzens auf die Knie, Mercy - ohne ihre Besonnenheit zu verlieren - trat zum Fenster und blickte hinaus.

„Der Mond ist aufgegangen”, sagte sie. „Die Deutschen beschießen das Dorf.”

Grace stand auf und lief Schutz suchend auf sie zu.

„Bringen Sie mich fort”, rief sie. „Wir werden getötet, wenn wir hier bleiben.” Sie hielt inne und sah verwundert auf die große schwarze Gestalt der Wärterin, die unbeweglich am Fenster stand. „Sind Sie denn aus Eisen?” rief sie. „Kann Sie denn nichts erschrecken.” Mercy lächelte traurig. „Weshalb sollte ich mich fürchten, mein Leben zu verlieren?” antwortete sie. „Ich habe nichts, was des Lebens wert wäre.”

Der Donner der Kanonen erschütterte abermals das ganze Häuschen. Eine zweite Granate platzte im Hof, dem Gebäude gerade gegenüber.

In höchster Bestürzung über das Getöse und von Schrecken ergriffen, da die Geschosse immer näher dem Häuschen einschlugen, schlang Grace die Arme um die Wärterin und hing sich in Vertraulichkeit, zu der sie das Entsetzen hinriss, an das Wesen, dessen Hand zu berühren sie vor kaum fünf Minuten sich gescheut hatte. „Wo ist es am sichersten?” rief sie. „Wo kann ich mich verstecken?”

„Wie soll ich Ihnen sagen können, wo das nächste Geschoss einschlagen wird?” antwortete Mercy ruhig.

Die standhafte Fassung der Einen schien die Andere geradezu wahnsinnig zu machen. Grace ließ die Wärterin los und blickte wild umher, um einen Weg zur Flucht zu entdecken. Sie wollte nach der Küche eilen, aber das Geschrei und die Verwirrung, welche die Übertragung der leichten Verwundeten in den Krankenwagen begleitete, trieb sie zurück. Ein zweiter Blick zeigte ihr die Tür, die in den Hof führte. Sie stürzte darauf los, mit einem Ausruf der Erleichterung. Eben legte sie die Hand auf das Schloss, als der dritte Donner des Geschützes ertönte.

Grace sprang einen Schritt zurück und hielt sich mechanisch mit beiden Händen die Ohren zu. Im selben Augenblicke platzte die dritte Granate auf dem Dache des Häuschens, durchschlug Dach und Decke und explodierte im Zimmer gerade an der Tür. Mercy sprang unverletzt von ihrem Platz am Fenster gegen die Mitte zu. Die glühenden Bruchstücke der Granate steckten den hölzernen Fußboden sogleich in Brand, und mitten unter diesen Sprengstücken im Rauch, nur schwach zu erkennen, lag die bewusstlose Gestalt ihrer Gefährtin. Selbst in diesem furchtbaren Augenblick verlor die Krankenwärterin nicht ihre Geistesgegenwart. Sie eilte an die Stelle zurück, wo sie früher gestanden hatte, und in deren unmittelbarer Nähe sie schon vorhin die leeren Mehlsäcke auf einen Haufen zusammengelegt bemerkt hatte, sie erfasste zwei derselben, warf sie auf den rauchenden Boden und trat das Feuer mit den Füßen aus. Hierauf kniete sie bei der bewusstlosen Frau nieder und hob ihren Kopf in die Höhe.

War sie verwundet oder tot?

Mercy zog die eine kraftlose Hand empor und legte ihre Finger an das Gelenk. Während sie noch erfolglos nach dem Puls fühlte, eilte Doktor Surville, in Besorgnis für die Damen, herein, um zu sehen, ob etwas geschehen sei.

Mercy rief ihn an. „Ich fürchte, die Granate hat sie gestreift”, sagte sie und überließ ihm ihren Platz. „Sehen Sie doch nach, ob sie schwer verwundet ist?”

Die Besorgnis des Arztes für seine reizende Patientin drückte sich in einer kurzen Verwünschung aus, wobei er jedoch mit besonderer Emphase den Buchstaben R schnarren ließ. „Ziehen Sie ihr de Mantel aus”, rief er, indem er seine Hand unter ihren Kopf schob. „Der arme Engel! Sie hat sich im Fallen umgedreht; die Schnur ist um ihren Hals gewickelt.”

Mercy entfernte den Mantel. Er fiel auf den Boden, als der Arzt Grace in seinen Armen aufrichtete.

„Bringen Sie Licht”, sagte er ungeduldig; „Sie werden in der Küche eines bekommen.” Er versuchte den Puls zu fühlen; seine Hand zitterte, der Lärm und die Verwirrung in der Küche machten ihn bestürzt. „Gerechter Gott!” rief er aus, „meine Erregung übermannt mich.” Mercy näherte sich ihm mit dem Lichte.

Sein Schein fiel auf die grässliche Verletzung, die der Engländerin am Kopfe durch einen Granatsplitter beigebracht worden war. Im Nu veränderte sich das Benehmen des Arztes. Der Ausdruck von Besorgnis verschwand aus seinem Gesichte; seine handwerksmäßige Fassung legte sich plötzlich wie eine Maske darüber. Was war jetzt der Gegenstand seiner Bewunderung? Eine schwerfällige Last in seinen Armen - nichts weiter. Mercy entging die Veränderung in seinem Gesichte nicht. Ihre großen, grauen Augen beobachteten ihn aufmerksam.

„Ist die Dame schwer verwundet?” fragte sie.

„Bemühen Sie sich nicht länger das Licht zu halten”, war die kühle Antwort. „Es ist vorbei - ich kann nichts mehr für sie tun.”

„Tot?”

Doktor Surville nickte mit dem Kopfe und schüttelte seine geballte Faust in der Richtung der Vorposten. „Verfluchte Deutsche”, rief er; er sah auf das tote Gesicht auf seinem Arm und zuckte resigniert die Achseln. „Dies ist das Schicksal im Kriege”, sagte er; dabei hob er die Gestalt empor und legte sie auf das Bett in der einen Ecke des Zimmers. „Ein nächstes Mal, Wärterin, trifft es vielleicht Sie oder mich. Wer weiß? Pah! Das Problem des Geschickes der Menschen widert mich an.” Er wendete sich vom Bett weg und gab seinen Abscheu dadurch noch deutlicher zu erkennen, dass er die Bruchstücke der zerplatzten Granate anspuckte. „Wir müssen sie hier zurücklassen”, nahm er das Gespräch wieder auf. „Sie war im Leben ein reizendes Geschöpf - jetzt ist sie nichts. Kommen Sie fort, Miss Merrick, bevor es zu spät ist.”

Er bot der Wärterin seinen Arm; das Knarren der abfahrenden Bagagewagen wurde draußen gehört und der schrille Trommelwirbel ward in der Entfernung von neuem laut. Der Rückzug hatte begonnen.

Mercy schob den Vorhang auf die Seite und sah die Schwerverwundeten hilflos, der Gnade oder Ungnade des Feindes überlassen, auf ihrem Strohlager hingestreckt. Sie wies den dargebotenen Arm Monsieur Survilles zurück.

„Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich hier bleiben werde”, antwortete sie.

Monsieur Surville erhob seine Hände als höfliches Zeichen eines feingebildeten Mannes, dass er eine Einwendung machen müsse. Mercy hielt den Vorhang zurück und deutete nach der Tür des Häuschens.

„Gehen Sie”, sagte sie. „Ich bin entschlossen.”

Selbst in diesem letzten Augenblick hielt sich der Franzose gut. Er verschwand vom Schauplatz mit ungeschmälerter Grazie und Würde. „Madame”, sagte er, „Sie sind erhaben!” Bei diesen schmeichelhaften Abschiedsworten verbeugte sich der Meister der Galanterie - bis ans Ende seiner Bewunderung des schönen Geschlechtes treu - und verließ, die Hand auf der Brust, das Häuschen.

Mercy ließ den Vorhang in der Tür ganz fallen. Sie war allein mit der Toten.

Das letzte Geräusch der Tritte, das letzte Rasseln der Wagen erstarb in der Entfernung. Kein erneuertes Schießen aus der feindlichen Stellung störte die darauffolgende Stille. Die Deutschen wussten, dass die Franzosen auf dem Rückzug waren. In einigen Minuten konnten sie das verlassene Dorf besetzen. Der Lärm ihres Anzuges musste im Häuschen hörbar werden. Inzwischen war die lautlose Stille fürchterlich. Selbst die armen Verwundeten, die in der Küche zurückgelassen waren, erwarteten schweigend ihr Schicksal.

Allein im Zimmer, wendete sich Mercys erster Blick nach dem Bette.

Die zwei Frauen waren bei einbrechender Nacht in der Verwirrung des ersten Gefechtes zusammengetroffen. Bei der Ankunft im Häuschen trennten sie sich, als die Wärterin von ihrer Pflicht abgerufen wurde, dann waren sie erst wieder im Zimmer des Kapitäns zusammengekommen. Ihre Bekanntschaft war von kurzer Dauer gewesen; sie hatte auch nicht versprochen, zur Freundschaft zu gedeihen. Aber der unglückliche Zufall hatte Mercys tiefere Teilnahme für die Fremde erweckt. Sie nahm das Licht und näherte sich dem Leichnam der Frau, die buchstäblich an ihrer Seite getötet worden war.

Sie stand am Bett und blickte in der Stille der Nacht auf das regungslose, tote Gesicht herab.

Es war ein interessantes Gesicht - das einmal gesehen, lebend oder tot, für immer unvergesslich blieb. Die Stirn war ungewöhnlich nieder und breit, die Augen ungewöhnlich weit auf der Seite; Mund und Kinn auffallend klein. Mit zarter Hand glättete Mercy das aufgelöste Haar und ordnete die zerdrückten Kleider. „Vor kaum fünf Minuten”, dachte sie bei sich selbst, „wünschte ich sehnlichst, mit dir tauschen zu können!” Sie wendete sich seufzend vom Bett ab. „Ich wollte, ich könnte jetzt tauschen!”

Die Stille fing an, ihr drückend zu werden. Sie schritt langsam an das andere Ende des Zimmers.

Der Mantel auf dem Boden - ihr eigener Mantel, den sie Miss Roseberry geliehen hatte, erregte ihre Aufmerksamkeit, als sie daran vorbeischritt. Sie hob ihn auf, bürstete den Staub davon ab und hing ihn über den Stuhl. Dann setzte sie das Licht wieder auf den Tisch und ging an das Fenster, um auf die ersten Laute zu horchen, die das Heranrücken der Deutschen verkünden würden. Der Wind strich leise durch einige nahestehende Bäume und erregte so den einzigen Ton, den ihr Ohr vernahm. Sie wendete sich vom Fenster ab und setzte sich beim Tisch nieder, in Gedanken vertieft. Gab es hier noch irgendwelche Verpflichtung, die christliche Barmherzigkeit gegen einen Toten zu erfüllen hatte? Gab es noch einen Dienst, der inzwischen, bis die Deutschen kamen, geleistet werden konnte?

Mercy rief sich das Gespräch ins Gedächtnis zurück, das zwischen ihr und ihrer unglücklichen Gefährtin geführt worden war. Miss Roseberry hatte von dem Zweck ihrer Rückkehr nach England gesprochen. Sie hatte einer Dame Erwähnung getan - einer angeheirateten Verwandten, der sie persönlich fremd war - die sie aufnehmen wollte. Jemand, der im Stande wäre, die Art und Weise zu erzählen, wie das arme Geschöpf vom Tode überrascht worden war, sollte doch wohl dieser ihrer einzigen Bekannten deshalb schreiben. Wer konnte dies tun? Niemand anderer, als die einzige zurückgebliebene Zeugin der ganzen Katastrophe - Mercy selbst.

Sie nahm den Mantel vom Stuhle, auf den sie ihn vorhin gelegt hatte, und zog aus der Tasche die lederne Brieftasche, welche Grace ihr gezeigt hatte. Das einzige Mittel, um die Adresse zu erfahren, an die sie in England schreiben sollte, war, die Brieftasche zu öffnen und die darin befindlichen Papiere durchzusehen. Mercy öffnete die Tasche - und hielt inne, denn sie fühlte ein sonderbares Widerstreben, die Nachforschung noch weiter fortzusetzen.

Nach kurzem Überlegen sah sie beruhigt ein, dass ihre Bedenken hier nicht am Platze waren. Wenn sie auch die Brieftasche unverletzt bewahrte, die Deutschen würden sicherlich nicht zaudern, sie zu durchsuchen, und die Deutschen würden sich dann wohl schwerlich die Mühe nehmen, nach England zu schreiben. Welche Augen waren somit berufener, die Papiere der verstorbenen Dame zu prüfen - die Augen von Männern und dazu fremden, oder die Augen ihrer eigenen Landsmännin? Mercy zauderte nicht mehr. Sie leerte den Inhalt der Brieftasche auf den Tisch.

Diese nichtssagende Handlung wurde jedoch entscheidend für den ganzen, weiteren Verlauf ihres Lebens.


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