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Armadale



Achtes Kapitel.

Seit jenem Morgen, an dem Miß Gwilt und ihre Schülerin einen Spaziergang im Garten des Parkhäuschens gemacht, waren neun Tage vergangen und der zehnte nahte sich dem Ende.

Der Abend war umwölkt. Seit Sonnenuntergang waren Anzeichen am Himmel erschienen, aus denen der Volksglaube Regen prophezeit. Die Gesellschaftszimmer des Herrenhauses waren sämtlich leer und finster. Allan war ausgegangen, um den Abend bei den Milroy’s zuzubringen, und Midwinter wartete seine Heimkehr ab —— nicht unter den Büchern im Bibliothekzimmer, wo er ihn gewöhnlich erwartete —— sondern in dem kleinen Hinterstübchen, das Allan’s Mutter während der letzten Zeit ihres Aufenthalts in Thorpe-Ambrose bewohnt hatte.

Nichts war aus dem Zimmer fortgenommen, wohl aber Manches zu seinen sonstigen Geräthen hinzugefügt worden, seit Midwinter es zuletzt gesehen hatte. Die Bücher, welche Mrs. Armadale hinterlassen, das Mobiliar, die alte Matte am Fußboden, die alte Tapete an den Wänden —— alles war unangerührt geblieben. Noch immer stand die kleine Statue der Niobe auf ihrer Console, und noch immer ging das lange Fenster auf den Garten hinaus. Doch zu den Reliquien der Mutter waren jeztzt die persönlichen Habseligkeiten des Sohnes gekommen. Die bisher kahle Wand war mit Aquarellen geschmückt —— mit einem Porträt von Mrs. Armadale, dem links eine Ansicht des Hauses in Somersetshire und rechts ein Bild der Yacht zur Seite hing. Unter den Büchern, in welche in verblichener Tinte in Mrs. Armadale’s Handschrift die Worte: »Von meinem Vater« eingeschrieben standen, befanden sich andere Bücher, die in derselben Handschrift und mit schwärzerer Tinte die Inschrift: »An meinen Sohn» trugen. An der Wand, auf dem Kaminsims, auf dem Tische umhergestreut, standen und lagen unzählige kleine Gegenstände, denen einige Allan’s früherem Leben angehörten und andere zu seinen gegenwärtigen Beschäftigungen und Unterhaltungen nothwendig waren und die alle deutlich zu erkennen gaben, daß das Zimmer, das Allan in Thorpe-Ambrose vorzugsweise bewohnte, gerade das war, welches Midwinter einst an sein zweites Traumgesicht gemahnt hatte. Hier, merkwürdig gleichgültig gegen das, was ihn umgab und was vor so kurzem noch den Gegenstand seiner abergläubischen Befürchtungen gebildet hatte, wartete Allan’s Freund ruhig auf dessen Heimkehr —— und hier, was noch merkwürdiger, fielen seine Blicke auf eine Veränderung der Einrichtung, die ursprünglich durch ihn herbeigeführt worden war. Seine eigenen Lippen hatten von der Entdeckung berichtet, die er am ersten Morgen im neuen Hause gemacht; er selbst hatte freiwillig den Sohn dazu bewogen, sich in dem Zimmer seiner Mutter wohnlich zu etablieren.

Aus welchem Beweggrunde hatte er jene Worte gesprochen? Aus keinem andern, der nicht aus den neuen Interessen und den neuen Hoffnungen natürlich entsprang, die ihn jetzt belebten.

Der gänzliche Umschwung seiner Ueberzeugung seit dem denkwürdigen Ereignisse, das ihn Miß Gwilt gegenüber geführt hatte, war von einer Natur, die Allan zu verbergen nicht in seinem Wesen lag. Offen, wie es sein Charakter war, hatte er davon gesprochen. Das Verdienst, seinen Aberglauben überwunden zu haben, war ein Verdienst, das er sich ungern beimaß, bevor er nicht diesen Aberglauben schonungslos und seiner schlimmsten und schwächsten Seite dargelegt hatte. Erst nachdem er rückhaltslos eingestanden, unter welchem Impulse er Allan am See verlassen, hatte er sich Glück gewünscht, daß er nunmehr den Traum in anderem Lichte betrachten konnte. Dann, und nicht eher, hatte er von der Erfüllung des ersten Gesichts gesprochen, wiewohl der Arzt auf der Insel Man davon gesprochen haben würde —— er hatte sich gefragt, wie der Arzt gefragt haben würde, was es Wunderbares sei, einen Teich beim Sonnenuntergange zu erblicken, wo man rings von einem wahren Netze von Teichen umgeben war? und was Erstaunliches darin liege, ein Weib am See zu sehen, wenn offene Wege zu diesem hinführten und Dörfer genug in der Umgegend lager; wenn Boote auf dem Wasser umher fuhren und Lustpartien dahin veranstaltet wurden? Und so hatte er damit gewartet, den festeren Entschluß zu rechtfertigen, mit dem er jetzt der Zukunft entgegenblickte, bis er offenbart haben würde, was er jetzt selbst Alles als Irrthümer der Vergangenheit erkannt hatte. Die Interessen seines Freundes aufzugeben, das Vertrauen zu täuschen, das ihn mit der Verwalterstelle bekleidet, die von Mr. Brock in ihn gesetzten Erwartungen nicht zu erfüllen, was Alles im Gedanken lag, Allan zu verlassen —— das stand jetzt lebhaft vor ihm. Der crasse Widerspruch, der darin lag, daß er den Traum als die Schicksalsoffenbarung hinnahm und dann durch eine Anstrengung des freien Willens diesem Schicksale zu entgehen suchte —— daß er eifrig arbeitete, um sich für die Zukunft zu der Verwalterstelle geschickt zu machen, und zugleich vor dem Gedanken zurück bebte, daß die Zukunft ihn noch unter Allan’s Dache finden könne —— ward seinerseits schonungslos dargelegt. Er gestand jeden Irrthum, jede Inconsequenz ehe er von dem helleren und besseren Geist in ihm zu reden —— ehe er die letzte einfache Frage zu thun wagte, die Alles schloß: »Willst du mir in Zukunft vertrauen? willst du die Vergangenheit vergeben und vergessen?«

Ein Mann, der solchergestalt ohne einen einzigen Rückhalt, den die Rücksicht auf sich selbst ihm eingab, sein ganzes Herz ausschütten konnte, war nicht der Mann, irgendeine geringere Verheimlichung zu vergessen, deren seine Schwäche ihn gegen seinen Freund hätte schuldig machen können. Schwer lastete es auf Midwinter’s Gewissen, daß er seinem Freunde eine Entdeckung verheimlicht hatte, die er ihm in Allan’s Interesse hätte machen sollen —— die Entdeckung nämlich, die er im Zimmer seiner Mutter gemacht.

Ein Zweifel hatte jedoch seine Lippen geschlossen —— der Zweifel, ob Mrs. Armadale’s Verhalten auf der Insel Madeira bei ihrer Heimkehr nach England geheim gehalten worden war. Sorgfältige Erkundigungen, zuerst unter der Dienerschaft, dann unter den Gutspächtern, sorgfältige Berücksichtigung der wenigen zur Zeit umlaufenden Gerüchte, wie diese ihm von den wenigen noch übrigen Personen mitgetheilt wurden, die sich jener erinnerten, überzeugten ihn endlich, daß das Geheimniß in den Grenzen der Familie geblieben war. Sowie er einmal zu dem Schlusse gelangt war, daß die Nachforschungen des Sohnes in keiner Weise zu Enthüllungen führen konnten, die seine Achtung für das Gedächtniß seiner Mutter zu erschüttern vermochte, zögerte Midwinter nicht länger. Er hatte Allan in das Zimmer geführt und ihm die Bücher auf den Regalen sowohl als die darin enthaltenen Inschriften gezeigt. Er hatte offen zu ihm gesagt: »Mein Beweggrund, Dir früher nichts hiervon zu sagen, entsprang aus meiner Furcht, ein Interesse für das Zimmer in Dir zu erwecken, das ich mit Grausen als den zweiten Schauplatz meines Traumgesichts betrachtete. Verzeih mir auch dies, und dann wirst Du mir Alles verziehen haben.«

Bei Allan’s Liebe für das Andenken seiner Mutter, konnte ein solches Bekenntniß nur Einen Erfolg haben. Von Anfang an hatte ihm das kleine Zimmer gefallen wegen des angenehmen Contrastes, welchen es zu der drückenden Pracht der übrigen Zimmer von Thorpe-Ambrose bot —— und jetzt, da er wußte, welche Erinnerungen sich daran knüpften, beschloß er augenblicklich, es zu seinem speciellen Wohnzimmer zu erheben. Noch am selben Tage wurden all seine persönlichen Habseligkeiten zusammengesucht und in Midwinter’s Beisein und unter Midwinter’s Mithilfe in dem Zimmer untergebracht.

Unter diesen Umständen war die kleine häusliche Veränderung vollzogen worden, und in dieser Weise hatte Midwinter’s Ueberwindung seinen Fatalismus —— dadurch, daß er Allan zum täglichen Bewohner eines Zimmers gemacht hatte, das dieser sonst vielleicht nie betreten haben würde —— in der That die Erfüllung der zweiten Vision des Traumes gefördert.

Die Stunde verging ruhig, während Midwinter dasaß und auf Allan’s Heimkehr wartete. Er verkürzte sich die Zeit bald durch Lectüre, bald durch stilles Sinnen. Er ward jetzt von keinen widerwärtigen Sorgen, von keinen ahnungsvollen Zweifeln gequält. Der Zinstag, den er einst so sehr gefürchtet, war harmlos erschienen und harmlos verstrichen. Ein freundschaftlicheres Verständnis; zwischen Allan und seinen Pächtern hatte sich angebahnt. Mr. Bashwood hatte sich des in ihn gesetzten Vertrauens würdig gezeigt; Pedgifts, Vater und Sohn, hatten die gute Meinung, die ihr Client von ihnen gefaßt, in vollem Maße gerechtfertigt. Wohin Midwinter immer blickte, überall war die Aussicht hell, die Zukunft ohne Wolken.

Er putzte die Lampe auf dem Tische neben ihm und sah in die Nacht hinaus. Die Stalluhr schlug halb zwölf, als er ans Fenster trat, und eben begann es zu regnen. Er hatte die Hand auf die Klingel gelegt, um den Diener mit einem Regenschirme nach dem Parkhäuschen zu senden, als die bekannten Schritte auf dem Wege draußen ihn davon abhielten.

»Wie spät Du kommst!« sagte Midwinter, als Allan durch die offene Fensterthür hereintrat. »War Gesellschaft im Parkhäuschen?«

»Nein! Niemand als die Familie. Die Zeit verstrich, ohne daß man’s gewahr wurde«

Er antwortete mit leiserer Stimme als gewöhnlich und seufzte, indem er sich niedersetzte.

»Du scheinst in übler Stimmung zu sein«, fuhr Midwinter fort. »Was gibts?«

Allan zögerte. »Ich mag Dir’s wohl sagen«, erwiderte er nach einem Augenblicke. »Es ist nichts, dessen ich mich zu schämen brauchte; es wundert mich nur, daß Du es nicht schon bemerkt hast! Wie gewöhnlich handelt es sich um ein Weib —— ich bin « verliebt.«

Midwinter lachte. »Ist Miß Milroy heute Abend noch reizender als sonst gewesen?« fragte er munter.

»Miß Milroy!« wiederholte Allan. »Woran denkst Du! Ich bin nicht in Miß Milroy verliebt.«

»In wen denn?«

»In wen? Welch eine Frage! Wer kann es anders sein, als Miß Gwilt?«

Ein plötzliches Schweigen trat ein. Allan saß nachlässig da mit den Händen in den Taschen und sah hinaus auf den niederströmenden Regen. Hätte er seinen Freund angesehen, wie er Miß Gwilt’s Namen aussprach, so würde ihn die Veränderung in Midwinters Gesicht wahrscheinlich frappiert haben.

»Vermuthlich bist Du nicht damit einverstanden?« sagte er nach einer kleinen Pause.

Keine Antwort erfolgte.

»Es ist zu spät, um Einwürfe zu erheben«, fuhr Allan fort. »Ich meine es ernstlich, wenn ich sage, daß ich in sie verliebt bin.«

»Vor vierzehn Tagen warst Du in Miß Milroy verliebt«, sagte der Andere in ruhigem, gemessenem Tone.

»Bah! Eine bloße kleine Courmacherei. Diesmal ist es ganz etwas Anderes. Es ist mir Ernst mit Miß Gwilt.«

Er wandte sich um, indem er sprach. Mindwinter kehrte das Gesicht ab und beugte sich über ein Buch.

»Ich sehe, Du bist mit der Sache nicht einverstanden«, fuhr Allan fort. »Hast Du etwa dagegen einzuwenden, daß sie blos eine Gouvernante ist? Das kannst Du gewiß nicht. Wärest Du an meiner Stelle, der Umstand, daß sie blos Gouvernante ist, würde Dich nicht abhalten.«

»Nein«, sagte Midwinter, »ich wäre unwahr, wollte ich behaupten, daß mich dies abhalten würde.«

Er gab die Antwort widerstrebend und schob seinen Sessel zurück, aus dem Lichte der Lampe.

»Eine Gouvernante ist eine Dame, die nicht reich ist«, sagte Allan orakelhaft, »und eine Herzogin ist eine Dame, die nicht arm ist. Das der ganze Unterschied, den ich zwischen ihnen einräume. Miß Gwilt ist älter, als ich, das leugne ich nicht. Für wie alt hältst Du sie, Midwinter? Ich sage sieben- oder achtundzwanzig. Was meinst Du?«

»Nichts. Ich bin Deiner Ansicht.«

»Meinst Du, eine Frau von sieben- bis achtundzwanzig Jahren sei zu alt für mich? Du würdest sieben- oder achtundzwanzig Jahre nicht zu alt finden, wenn Du in ein Weib verliebt wärst, wie?«

»Ich kann nicht sagen, daß ich sie zu alt finden würde, wenn ——«

»Wenn Du sie wirklich lieb hättest?«

Abermals keine Antwort.

»Nun«, fuhr Allan fort, »wenn in dem Umstande, daß sie blos Gouvernante und dazu etwas älter ist, als ich, kein Hinderniß liegt, was hast Du dann gegen Miß Gwilt einzuwenden?«

»Ich habe nichts gegen sie eingewendet.«

»Ich sage nicht, daß Du dies gethan. Aber der Gedanke scheint Dir dem ungeachtet nicht zu gefallen.«

Ein abermaliges Schweigen erfolgte, welches diesmal von Midwinter gebrochen ward.

»Bist Du Deiner sicher, Allan?« fragte er, indem er das Gesicht wieder über das Buch neigte; »hegst Du wirklich eine ernstliche Zuneigung zu dieser Dame? Hast Du bereits ernstlich daran gedacht, sie um ihre Hand zu bitten?«

»Diesen Augenblick eben denke ich ernstlich daran«, sagte Allan »Ich kann nicht glücklich sein —— kann ohne sie nicht leben. Auf mein Wort, ich vergöttere den Boden, auf dem ihr Fuß wandelt.«

»Wie lange —«?« Midwinter’s Stimme bebte und er stockte. »Wie lange«, wiederholte er, »hast Du den Boden vergöttert, auf dem ihr Fuß wandelt?«´

»Länger, als Du glaubst. Ich weiß, daß ich Dir alle meine Geheimnisse anvertrauen darf ——«

»Vertraue mir nichts an!«

»Unsinn! Ich will Dir vertrauen. Noch eine kleine Schwierigkeit steht im Wege, deren ich nicht erwähnt habe. Es betrifft eine zarte Angelegenheit, und ich wünsche Dich zu Rathe zu ziehen. Unter uns gesagt, ich habe Gelegenheit gehabt, heimlich mit Miß Gwilt zusammenzukommen ——«

Midwinter sprang plötzlich auf und öffnete die Thür.

»Wir wollen morgen davon reden«, sagte er. »Gute Nacht.«

Allan sah sich erstaunt um. Die Thür war wieder geschlossen und er war allein im Zimmer.

»Er hat mir nicht die Hand gegeben» rief Allan, verblüfft den leeren Sessel betrachtend.

Als diese Worte seinen Lippen entstehn, öffnete sich die Thür und Midwinter trat wieder ein.

»Wir haben uns nicht die Hand gereicht«, sagte er kurz. »Gott segne Dich, Allan! Wir wollen morgen davon reden. Gute Nacht.«

Allan stand allein am Fenster und sah in den herabgießenden Regen; er hatte ein unbehagliches Gefühl, ohne die Ursache desselben zu wissen.

»Midwinter’s Manieren werden immer seltsamer«, dachte er. »Was kann er damit sagen wollen, daß er es auf morgen verschiebt, wenn ich gerne heute Nacht mit ihm reden möchte?« Etwas ungeduldig nahm er seine Kerze und setzte den Leuchter wieder nieder —— trat von neuem an das offene Fenster und sah nach der Richtung, wo das Parkhäuschen lag. »Ob sie jetzt wohl an mich denkt?« sprach er leise für sich.

Sie dachte in der That an ihn. Soeben hatte sie ihr Schreibpult geöffnet, um an Mrs. Oldershaw zu schreiben, und soeben hatte ihre Feder die Anfangszeile geschrieben: —— »Beruhige Dich. Ich habe ihn!«


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