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Ein tiefes Geheimnis



Siebentes Kapitel

Mozart spielt den Abschiedsgruß

Mit Ausnahme des Abschieds, den Onkel Joseph von Betsey, der Hausmagd, mit großer Herzlichkeit nahm, sprach Onkel Joseph nach seiner letzten Antwort an Mr. Munder kein Wort weiter, als bis er mit seiner Nichte sich wieder allein an der östlichen Mauer von Porthgenna Tower befand.

Hier blieb er stehen, blickte an dem alten Gebäude empor, dann auf seine Begleiterin, dann wieder auf das Haus und öffnete endlich den Mund, um zu sprechen.

„Es tut mir leid, mein Kind“, sagte er. „Es tut mir von Herzen leid. Dies war, wie man zu sagen pflegt, ein sehr schlechtes Geschäft.“

In der Meinung, er spräche von dem Auftritt, der soeben in dem Zimmer der Haushälterin stattgefunden, bat Sara ihn um Verzeihung, daß sie unschuldigerweise die Veranlassung gewesen, ihn mit einem solchen Manne wie Mr. Munder in feindselige Kollision zu bringen.

„Nein, nein, nein“, rief er, „ich dachte nicht an den Mann mit dem großen Körper und dem großen Maule. Er reizte mich zum Zorne, das will ich nicht leugnen, aber dies ist nun vorbei. Ich hielt mir ihn mit sammt seinem großen Maule vom Leibe, gerade so wie ich hier diesen Stein mit dem Fuße aus dem Wege stoße. Ich spreche jetzt nicht von diesen Munders, oder diesen Betseys, sondern von etwas, was dir näher am Herzen liegt und mir auch, weil ich dein Interesse auch als das meinige betrachte. Ich will dir, während wir weitergehen, sagen, was es ist, denn ich sehe dir am Gesicht an, Sara, daß du unruhig und ängstlich bist so lange wir in der Nähe dieses Kerkers verweilen. Komm, ich bin bereit, den Marsch wieder anzutreten. Hier ist der Fußsteig. Laß uns auf demselben zurückkehren und unser kleines Gepäck in dem Gasthause, wo wir es gelassen, jenseits dieser kahlen, windigen Einöde, wieder abholen.“

„Ja, ja, Onkel, wir wollen schnell gehen. Fürchte nicht, mich zu ermüden. Ich fühle mich jetzt wieder ganz wohl und kräftig.“

Sie schlugen wieder denselben Pfad ein, auf welchem sie während des Nachmittags nach Porthgenna Tower gelangt waren.

Als sie etwa zweihundert Schritt zurückgelegt hatten, stahl Jakob, der Knabe des Gärtners, sich mit seiner Hacke in der Hand hinter der verfallenen Einhegung auf der nördlichen Seite des Hauses hervor.

Die Sonne war soeben untergegangen, aber es lag noch ein schönes Licht über der weiten, offenen Fläche des Moorlandes und Jakob blieb stehen, um den alten Mann und seine Nichte noch ein wenig weiter von dem Schlosse hinwegkommen zu lassen, ehe er ihnen folgte. Die Haushälterin hatte ihn instruiert, die beiden Fremden bloß im Auge zu behalten, aber weiter nichts zu tun, und wenn er bemerkte, daß sie stehen blieben und hinter sich schauten, sollte er ebenfalls stehen bleiben und tun, als ob er mit seiner Hacke auf dem Moorland zu tun hätte.

Durch das Versprechen eines Sixpence, wenn er seinen Auftrag sorgfältig ausführte, angefeuert, bewahrte Jakob die ihm erteilten Instruktionen treulich im Gedächtnis, behielt die beiden Fremden scharf im Auge und hatte somit die gegründetste Hoffnung, den in Aussicht gestellten Sixpence auch wirklich zu bekommen.

„Und nun, mein Kind, will ich dir sagen, was mir leid tut“, hob Onkel Joseph, während sie ihren Weg weiter fortsetzten, wieder an. „Es tut mir leid, daß wir diese Reise gemacht, unsere kleine Gefahr bestanden, die an uns gerichteten Scheltworte hingenommen, aber dadurch nichts gewonnen haben. Das Wort, welches du mir ins Ohr sagtest, Sara, als es mir geland, dich aus deiner Ohnmacht zu erwecken – ich würde dich viel eher daraus erweckt haben, wenn das alberne Volk in diesem alten Gefängnis schneller mit dem Wasser bei der Hand gewesen wäre – das Wort, welches du mir ins Ohr sagtest, war nicht viel, aber es war genug, um mir zu sagen, daß wir diese Reise vergebens gemacht haben. Ich kann schweigen, ich kann gute Miene dazu machen, ich kann mich begnügen, mit verbundenen Augen in einem Geheimnis herumzutappen, welches meinen Augen auch den kleinsten Lichtschimmer bietet – aber deswegen ist es nicht weniger wahr, daß das eine Ding, was dir am meisten am Herzen lag zu tun, als wir diese Reise antraten, auch das eine Ding ist, welches du nicht getan hast. Das weiß ich, wenn ich auch nichts anderes weiß, und ich sage nochmals: es ist ein schlechtes Geschäft – ja, ja, bei meinem Leben, es läßt sich nicht verhehlen, es ist, wie man zu sagen pflegt, ein schlechtes Geschäft.“

Während er seiner Sympathie in diesen seltsamen Ausdrücken Worte lieh, ging die wachsame Angst, die Furcht und das Mißtrauen, welche die natürliche Sanftheit, die in Saras Augen lag, beeinträchtigte, in den Ausdruck wehmütiger Zärtlichkeit über, der ihnen ihre ganze Schönheit zurückzugeben schien.

„Mach dir keinen Kummer um meinetwillen, Onkel“, sagte sie, indem sie stehen blieb und mit ihrer Hand sanft einige Staubflecken von dem Kragen seines Rockes entfernte. „Ich habe so viel und so lange gelitten, daß die schwersten Täuschungen mich nicht viel tiefer beugen können.“

„Das mag ich nicht hören“, rief Onkel Joseph. „Es geht mir durch und durch, wenn ich dich auf diese Weise zu mir sprechen höre. Du sollst keine Täuschen mehr erfahren! Ich, Joseph Buschmann der Hartnäckige, der Dickköpfige, ich sage es.“

„Der Tag, wo ich keine Täuschungen mehr erfahren werde, Onkel, ist nicht mehr fern“, entgegnete Sara. „Laß mich nur noch ein wenig warten und ein wenig dulden – ich habe geduldig der Hoffnung entsagen gelernt. Von meiner Jugend an ist mein Leben aus bangen Befürchtungen und fehlgeschlagenen Erwartungen zusammengesetzt gewesen und nun bin ich an dieses Leben gewöhnt. Wenn du – wie du auch vollkommen Grund dazu hast – erstaunt bist, daß ich den Brief nicht in meinem Besitz habe, während ich doch die Schlüssel des Myrtenzimmers in der Hand hatte und niemand in meiner Nähe war, um mir es zu wehren, so gedenke der Geschichte meines Lebens un nimm diese als Erklärung hin. Befürchtungen und fehlgeschlagene Erwartungen – wenn ich dir die ganze Wahrheit erzählte, so könnte ich dir doch nicht mehr sagen als dies. Laß uns weiter gehen, Onkel.“

Die Resignation, welche in ihrer Stimme und Gebärde lag, während sie sprach, war die Resignation der Verzweiflung. Sie erhielt dadurch eine unatürliche Herrschaft über sich selbst, die sie in Onkel Josephs Augen fast zu einem ganz andern Wesen machte. Er betrachtete sie mit unverhohlener Unruhe.

„Nein“, sagte er, „wir wollen nicht weiter gehen; wir wollen nach dem alten Gefängnis zurückkehren; wir wollen einen andern Plan entwerfen; wir wollen versuchen, zu diesem verteufelten Brief auf eine andere Weise zu gelangen. Ich frage nicht nach diesen Munders, diesen Haushälterinnen, diesen Betseys – ich frage nach weiter nichts als daß du das bekommst, was du haben willst und daß ich dich so ruhig in deinem Gemüt wie ich selbst bin, wieder nach Hause bringe. Komm, laß uns umkehren.“

„Dazu ist es zu spät.“

„Wie, zu spät? Ha, du altes, dumpfiges, Gefängnis des Teufels, wie hasse ich dich!“ rief Onkel Joseph, indem er sich umschaute und drohend beide Fäuste gegen Porthgenna Tower erhob.

„Es ist zu spät, Onkel“, wiederholte Sara, „zu spät, weil die Gelegenheit vorbei ist, und spät, weil ich, wenn ich dieselbe auch zurückbringen könnte, doch nicht wagen würde, mich nochmals dem Myrtenzimmer zu nähern. Meine letzte Hoffnung war, das Versteck des Briefes zu wechseln, und diese letzte Hoffnung habe ich aufgegeben. Ich habe nun bloß noch einen Lebenszweck und bei Erreichung desselben kannst du mir behilflich sein. Ich kann ihn dir aber nicht mitteilen, wenn du nicht sogleich mir mir weiter kommst – wenn du nicht deine Absicht aufgibst, wieder nach Porthgenna Tower zurückzukehren.“

Onkel Joseph begann Gegenvorstellungen zu machen. Seine Nichte unterbrach ihn mitten in einem Redesatze, indem sie ihn an der Schulter berührte und auf einen besondern Punkt zeigte, der auf der immer dunkler werdenden Fläche des Moorlandes undeutlich sichtbar war.

„Schau“, sagte sie. „Dort kommt jemand hinter uns her; ist es ein Knabe oder ein Mann?“

Onkel Joseph schaute durch das sich immer mehr herabsenkende Dunkel und sah in einer kleinen Entfernung wirklich eine Gestalt. Es schien die eines Knaben zu sein, der mit einer Hacke auf dem Moorland beschäftigt war.

„Komm, wir wollen sofort weiter gehen!“ bat Sara, ehe der alte Mann ihr antworten konnte. „Ich kann das, was ich dir sagen möchte, Onkel, nicht eher sagen, als bis wir sicher und wohlbehalten im Gasthause sitzen.“

Sie gingen weiter, bis sie die höchste Stelle des Moorlandes erreichten. Hier blieben sie stehen und schauten wieder hinter sich.

Der noch übrige Weg führte abwärts und der Platz, auf dem sie standen, war der letzte Punkt, von welchem sie noch einen Blick auf Porthgenna Tower werfen konnten.

„Wir haben den Knaben aus den Augen verloren“, sagte Onkel Joseph, indem er seine Blicke über die unter ihnen liegende Fläche schweifen ließ. Saras jüngere und schärfere Augen bezeugten die Wahrheit der Worte ihres Onkels – die Aussicht und das Moorland war jetzt, so weit man sehen konnte, nach jeder Richtung hin einsam.

Ehe Sara wieder weiterging, trat sie ein wenig von dem alten Mann hinweg und betrachtete den Turm des alten Schlosses, welcher drohend und schwarz in dem Dämmerlichte emporstieg, während der dunkle Hintergrund des Meeres sich gleich einer Mauer hinstreckte.

„Niemals wieder!“ flüsterte sie bei sich selbst. „Niemals, niemals, niemals wieder!“

Ihre Augen schweiften hinweg nach der Kirche und nach der Umhegung des Begräbnisplatzes daneben, der jetzt in dem Schatten der hereinbrechenden Nacht kaum noch zu erkennen war.

„Warte noch ein wenig“, sagte sie, indem sie mit angestrengtem Blicke nach dem Begräbnisplatze hinschaute und ihre Hand auf die Stelle ihrer Brust drückte, wo sie das Gesangbuch trug. „Meine Wanderungen sind nun bald zu Ende – der Tag meiner Heimkunft ist nicht mehr fern.“

Tränen traten ihr in die Augen und umflorten die Aussicht. Sie holte ihren Onkel ein, faßte ihn am Arme und zog ihn einige Schritte den nun abwärts führenden Pfad entlang mit sich fort. Dann blieb sie, wie von einem plötzlichen Argwohn betroffen, stehen und ging einige Schritte zurück bis auf den höchsten Punkt des Moorlandes.

„Ich glaube“, sagte sie, den verwunderten und fragenden Blick ihres Begleiters beantwortend, „ich glaube, wir haben den Knaben, der dort auf dem Moorlande hackte, noch nicht zum letzten Mal gesehen.“

Während sie ihre Worte noch sprach, stahl sich eine Gestalt hinter einem der großen Granitblöcke hervor, welche nach allen Seiten hin auf der Einöde umhergestreut lagen. Es war wieder die Gestalt des Knaben und wieder begann er ohne den mindesten ersichtlichen Grund auf dem unfruchtbaren Boden zu seinen Füßen herumzuhacken.

„Ja, ja, ich sehe“, sagte Onkel Joseph, als seine Nichte ihre Aufmerksamkeit eifrig auf die verdächtige Gestalt lenkte. „Es ist derselbe Knabe und er hackt wieder; aber was geht das uns an?“

Sara versuchte nicht zu antworten.

„Laß uns weitergehen“, sagte sie hastig. „Laß uns machen, daß wir so schnell als möglich das Gasthaus erreichen.“

Sie drehten sich wieder herum und schlugen den vor ihnen liegenden abwärts führenden Pfad ein. Binnen weniger als einer Minute hatten sie Porthgenna Tower, die alte Kirche und die ganze westliche Gegend aus dem Gesicht verloren. Dennoch, und obschon weiter nichts als das kahle, immer finsterer werdende Moorland zu sehen war, blieb Sara immer noch so lange es nur noch ein wenig hell war, stehen, um einen Blick hinter sich zu werfen. Sie machte keine Bemerkung, sie entschuldigte sich nicht, daß sie die Wanderung nach dem Gasthause auf diese Weise verzögerte. Erst als sie die Lichter der Poststadt zu Gesicht bekam, hörte sie auf zurückzublicken, und sprach mit ihrem Begleiter.

Die wenigen Worte, die sie an ihn richtete, bestanden bloß in der Bitte, daß er, sobald sie ihr Nachtquartier erreichten, ein besonderes Zimmer verlangen möchte.

Demgemäß wurde ihnen, als sie in das Gasthaus kamen, das beste Zimmer angewiesen, wo sie warten wollten, bis ihnen das Abendessen gebracht würde, um sich später in ihre Schlafzimmer zu begeben. In dem Augenblick, wo sie miteinander allein waren, zog Sara ihren Stuhl dicht an den des alten Mannes und flüsterte ihm die Worte ins Ohr:

„Onkel, man ist uns von Porthgenna Tower bis hierher auf jedem Tritt nachgeschlichen.“

„So? Woher weißt du das?“ fragte Onkel Joseph.

„Still! Es kann ja jemand an der Tür horchen, es kann jemand unter dem Fenster lauern! Bemerktest du den Knaben, der auf dem Moorland hackte?“

„Aber Sara, fürchtest du dich vor einem Knaben, und willst du, daß auch ich mich davor fürchte?“

„O, nicht so laut, nicht so laut! Man hat uns eine Schlinge gelegt. Onkel, ich argwohnte es gleich, als wir das Schloß Porthgenna betraten; nun bin ich davon überzeugt. Was hatte das Geflüster zwischen der Haushälterin und dem Kastellan zu bedeuten, als wir in der Halle standen? Ich beobachtete ihre Gesichter und ich weiß, daß sie von uns sprachen. Sie waren lange nicht überrascht genug, uns zu sehen – sie waren nicht überrascht genug zu hören, was wir wollten. Lache mich nicht aus, Onkel! Es ist wirklich Gefahr vorhanden – ich bilde es mir nicht bloß ein. Die Schlüssel – rücke näher heran – die Schlüssel der Nordzimmer sind jetzt alle mit angehängten Nummern versehen und dieselben Nummern stehen an den Türen geschrieben. Das bedenke! Bedenke das Geflüster als wir eintraten und das Geflüster später in dem Zimmer der Haushälterin, als du aufstandest, um fortzugehen. Du bemerktest die plötzliche Veränderung in dem Benehmen jenes Mannes, nachdem die Haushälterin mit ihm gesprochen – du mußt es bemerkt haben. Sie ließen uns viel zu leicht hinein und viel zu leicht wieder heraus. Nein, nein! Ich täusche mich nicht. Es war irgendein geheimer Beweggrund vorhanden, uns in das Haus zu lassen, und ein eben solcher, aus welchem man uns wieder herausließ. Dieser Knabe auf dem Moorland verrät es, wenn es auch durch sonst nichts weiter verraten würde. Ich sah ihn ganz deutlich uns auf dem ganzen Wege hierher folgen, so deutlich, wie ich dich sehe. Ich ängstige mich diesmal nicht ohne Grund. So gewiß als wir beide uns jetzt in diesem Zimmer befinden, so gewiß haben die Leute in Porthgenna Tower uns eine Schlinge gelegt.“

„Eine Schlinge? Was für eine Schlinge? Und wie? Und warum? Und weshalb?“ fragte Onkel Joseph, indem er seine Verblüfftheit dadurch veranschaulichte, daß er seine beiden Hände rasch vor den Augen hin und her bewegte.

„Man will, daß ich spreche, man will mir nachschleichen, man will uns auskundschaften, wohin ich gehe, man will Fragen an mich richten“, antwortete sie, heftig zitternd. „Onkel, du entsinnst dich, was ich dir von jenen wahnsinnigen Worten erzählte, die ich zu Mistreß Frankland gesagt – lieber hätte ich mir die Zunge ausreißen als diese Worte sprechen sollen. Sie haben mir furchtbares Unheil zugefügt – ich weiß es gewiß – furchtbares Unheil schon jetzt. Ich habe mich verdächtig gemacht. Wenn Mistreß Frankland mich wieder ausfindig macht, so werde ich ausgefragt werden. Sie wird sich bemühen, mich ausfindig zu machen – man wird sich hier nach uns erkundigen – wir müssen alle Spuren verwischen, welche verraten könnten, wohin wir von hier gegangen sind – wir müssen dafür sorgen, daß die Leute in diesem Gasthause keine Frage in dieser Beziehung beantworten können – o, Onkel Joseph, was wir auch tun mögen, so laß uns wenigstens hierauf bedacht sein!“

„Gut“, sagte der alte Mann, indem er mit vollkommen selbstzufriedener Miene und freundlich mit dem Kopfe nickte. „Sei ganz unbesorgt, mein Kind, ich werde schon dafür sorgen. Wenn du zu Bett bist, so werde ich den Wirt rufen lassen und zu ihm sagen: ‚Besorgt uns einen kleinen Wagen, um morgen wieder nach der Station zurückzufahren, von welcher aus wir den Personenwagen nach Truro benutzen können.’“

„Nein, nein, nein! Hier dürfen wir keinen Wagen mieten.“

„Und ich sage: Ja, ja, ja! Wir wollen hier einen Wagen mieten, weil ich mich vor allen Dingen des Wirts versichern will. Höre mich an. Ich werde zu ihm sagen: ‚Wenn etwa, nachdem wir fort sind, Leute mit neugierigen Blicken und zudringlichen Fragen kommen, so haltet gefälligst reinen Mund.’ Dann werde ich mit dem Auge blinzeln, den Finger an die Nase legen – so – auf bedeutsame Weise lächeln und – knick! Knack! – habe ich mich des Wirtes versichert und die Sache hat ein Ende.“

„Wir dürfen dem Wirt nicht trauen, Onkel, wir dürfen niemandem trauen. Wenn wir morgen diesen Ort verlassen, so muß es zu Fuße geschehen und wir müssen Sorge tragen, daß keine lebende Seele uns folge. Sieh, hier hängt eine Karte von West Cornwall, auf welcher alle Haupt- und Nebenstraßen angegeben sind, an der Wand. Auf ihr können wir im voraus finden, welche Richtung wir einzuschlagen haben. Eine Nacht Ruhe wird mir so viel Kraft geben, als ich bedarf und wir haben kein Gepäck, welches wir nicht tragen könnten. Du hast nichts weiter mit als deinen Ranzen und ich weiter nichts als die kleine Reisetasche, welche du mir geliehen. Wir können, wenn wir zuweilen unterwegs ausruhen, recht gut sechs, sieben, ja zehn Meilen zu Fuße zurücklegen. Komm her und sieh die Karte an – ich bitte dich, komm her und sieh die Karte an.“

Obschon Onkel Joseph gegen das Aufgeben seines Planes, von dem er die Überzeugung hatte, derselbe sei vollkommen geeignet, alle Schwierigkeiten ihrer Lage zu begegnen, protestierte, so zog er doch auf Bitten seiner Nichte die Wandkarte zu Rate. Ein wenig jenseits der Poststadt war eine Kreuzstraße angegeben, welche nördlich mit der nach Truro führenden Hauptstraße einen rechten Winkel bildete und in eine andere Straße einmündete, welche breit genug aussah, um eine Fahrstraße zu sein und durch eine Stadt führte, die nicht ganz unbedeutend sein konnte, denn ihr Name war mit großen Buchstaben gedruckt.

Als Sara dies entdeckte, schlug sie vor, diese Kreuzstraße, die auf der Karte nicht mehr als fünf bis sechs Meilen lang zu sein schien, zu Fuße einzuschlagen und nicht eher ein Fuhrwerk zu nehmen, als bis sie die mit großen Buchstaben angegebene Stadt erreicht hätten. Wenn sie dies Verfahren einhielten, so verwischten sich, nachdem sie die Poststadt verlassen, alle Spuren der Weiterreise, wenn ihnen nämlich nicht von diesem Orte aus zu Fuße nachgeschlichen ward, wie ihnen über das Moorland nachgeschlichen worden.

Im Fall eine neue Schwierigkeit dieser Art eintrat, wußte Sara kein besseres Mittel vorzuschlagen, als bis nach Einbruch der Nacht auf der Straße zu verweilen und es der Finsternis zu überlassen, die Wachsamkeit der Personen zu täuschen, welche sie vielleicht von ferne belauerten, um zu sehen, wohin sie gingen.

Onkel Joseph zuckte resigniert die Achseln, als seine Nichte die Gründe angab, aus welchen sie wünschte, die Reise zu Fuße fortzusetzen.

„Da werden wir viel im Staube waten, uns viel umschauen und viel Umwege machen müssen“, sagte er. „Das ist lange nicht so bequem, mein Kind, als wenn wir uns des Wirtes versichern und auf den Polsterkissen der Personenkutsche sitzen. Wen du es aber einmal so haben willst, so soll es auch so sein. Ganz wie du willst, Sara, wie du willst – das ist die ganze Meinung, die ich mir erlaube zu sagen, bis wir wieder in Truro sind und nach Beendung unserer Reise ausruhen.“

„Nach Beendung deiner Reise, Onkel; nach Beendung meiner Reise, wage ich nicht zu sagen.“

Diese wenigen Worte veränderten das Gesicht des alten Mannes augenblicklich. Seine Augen hefteten sich vorwurfsvoll auf seine Nichte, seine roten blühenden Wangen verloren ihre Farbe, seine rastlosen Hände sanken schlaff herab.

„Sara“, sagte er in leisem, ruhigen Tone, der ein ganz anderer war als in welchem er gewöhnlich sprach. „Sara, kannst du es wirklich übers Herz bringen, mich wieder zu verlassen?“

„Habe ich wohl den Mut, in Cornwall zu bleiben? – Das ist die Frage, welche es gilt, Onkel! Hätte ich bloß mein eigenes Herz zu Rate zu ziehen, o wie gern würde ich dann unter deinem Dache leben – bis zur Stunde meines Todes, wenn du es mir gestattest. Aber diese Ruhe, dieses Glück ist mir nicht beschieden. Die Furcht, durch Mistreß Frankland ausgefragt zu werden, treibt mich hinweg von dir. Selbst meine Furcht, daß der Brief gefunden werde, ist jetzt kaum so groß als meine Furcht, ausgekundschaftet und ausgefragt zu werden. Ich habe schon gesagt, was ich nicht hätte sagen sollen. Wenn ich mich wieder in Mistreß Franklands Gegenwart befinde, so gibt es nichts, was sie mir nicht ablocken könnte. O mein Gott, wenn ich bedenke, daß diese gutherzige, liebenswürdige junge Frau, welche Glück überall hinbringt, wohin sie geht, mir nur Furcht und Angst bringt – Furcht, wenn ihre mitleidigen Augen mich anblicken, Furcht, wenn ihre gütige Stimme zu mir spricht, Furcht, wenn ihre zarte Hand die meine berührt! Onkel, wenn Mistreß Frankland nach Porthgenna kommt, werden selbst die Kinder sich zu ihr drängen – jedes Geschöpf in diesem armen Dorfe wird von dem Lichte ihrer Schönheit und Herzensgüte angezogen werden, als ob es der Sonnenschein des Himmels selbst wäre – und ich – ich von allen lebenden Wesen – ich allen – muß sie meiden, als ob sie die Pest wäre! Der Tag, wo sie nach Cornwall kommt, ist auch der Tag, wo ich es verlassen muß – der Tag, wo wir zwei einander Lebewohl sagen müssen. Mache meinen Jammer nicht größer, indem du mich fragst, ob ich es übers Herz bringen könne, dich zu verlassen! Um meiner seligen Mutter willen, Onkel Joseph, glaube, daß ich dankbar bin, glaube, daß es nicht mein eigener Wille ist, was mich hinweg führt, wenn ich dich wieder verlasse.“

Sie sank auf ein in der Nähe stehendes Sofa, legte ihren Kopf mit einem einzigen langen, tiefen Seufzer müde auf das Kissen und sprach nicht mehr.

Die Tränen traten Onkel Joseph in die Augen, indem er sich neben sie setzte. Er ergriff eine ihrer Hände und streichelte und klopfte dieselbe, als ob er ein kleines Kind beschwichtigte.

„Ich will es tragen so gut ich kann, Sara“, flüsterte er. „und ich will nichts weiter sagen. Aber du wirst mir doch zuweilen schreiben, wenn ich wieder ganz allein bin? Du wirst um deiner guten seligen Mutter willen dem alten Onkel Joseph auch manchmal eine Stunde widmen, nicht wahr?“

Sie wendete sich plötzlich nach ihm herum und schlang mit einer leidenschaftlichen Energie, welche mit ihrem sonst so ruhigen, zurückhaltenden Wesen in seltsamem Widerspruch stand, ihre beiden Arme um seinen Hals.

„Ich werde oft schreiben, lieber Onkel, ich werde immer schreiben“, flüsterte sie, ihren Kopf an seine Brust lehnend. „Wenn ich jemals in Not oder Gefahr gerate, so sollst du es erfahren.“

Sie schwieg verlegen, als ob die Ungewzungenheit ihrer eigenen Worte und Handlungen sie erschreckte, ließ ihre Arme los, wendete sich schnell von dem alten Manne wieder ab und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Die Tyrannei des Zwanges, der ihr ganzes Leben beherrschte, ward – wie traurig und wie beredt! – in dieser einen kleinen Bewegung ausgedrückt.

Onkel Joseph erhob sich von dem Sofa, ging leise im Zimmer auf und ab, sah seine Nichte besorgt an, sprach aber nicht zu ihr.

Nach einer Weile trat der Kellner ein, um den Tisch zum Abendessen zu decken. Es war dies eine willkommene Unterbrechung, denn Sara ward dadurch genötigt, sich so viel als möglich wieder zu fassen.

Nachdem die Mahlzeit vorüber war, begaben sich Onkel und Nichte jedes auf sein Schlafzimmer, ohne weiter ein Wort in Bezug auf ihre bevorstehende Trennung zu wechseln.

Als sie einander am nächsten Morgen wiedersahen, hatte der alte Mann seine gewohnte Laune immer noch nicht wieder gewonnen. Obschon er so heiter zu sprechen versuchte wie gewöhnlich, so lag doch etwas seltsam Gedämpftes und Ruhiges in Bezug auf Stimme, Blick und Sprache in ihm.

Sara ward tief ergriffen, als sie sah, welche Wirkung die Aussicht auf ihre Trennung auf ihn äußerte. Sie sprach einige Worte des Trostes und der Hoffnung, aber er winkte in seiner sonderbaren fremdländischen Weise bloß verneinend mit der Hand und eilte aus dem Zimmer, um den Wirt aufzusuchen und die Rechnung zu verlangen.

Bald nach dem Frühstück setzten sie, zur Verwunderung der Leute des Gasthofs, ihre Reise zu Fuße weiter fort. Onkel Joseph trug seinen Ranzen auf dem Rücken und die Reisetasche seiner Nichte in der Hand. Als sie an die Biegung kamen, welche zu dem Kreuzwege führte, blieben sie beide stehen und schauten zurück

Diesmal sahen sie nichts, was sie hätte beunruhigen können. Es war auf der breiten Landstraße, welche sie während der letzten Viertelstunde, nachdem sie das Gasthaus verlassen, gewandert waren, kein lebendes Wesen zu sehen.

„Die Luft ist rein“, sagte Onkel Joseph, während sie in den Kreuzweg einbogen. „Was auch gestern geschehen sein mag – jetzt wenigstens schleicht uns niemand nach.“

„Niemand, den wir sehen könnten“, antwortete Sara. „Ich traue aber selbst den Steinen an der Straße nicht. Wir wollen uns oft umschauen, Onkel, ehe wir uns sicher fühlen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr fürchte ich die Schlinge, welche diese Leute in Porthgenna Tower uns gelegt haben.“

„Du sagst uns, Sara. Warum sollte man denn auch mir eine Schlinge legen?“

„Weil man dich in meiner Gesellschaft gesehen hat. Du wirst weniger von ihnen zu fürchten haben, wenn wir nicht mehr beisammen sind, und dies ist abermals ein Grund, Onkel Joseph, weshalb wir das Unglück unserer Trennung so geduldig ertragen müssen als wir können.“

„Gehst du weit, sehr weit fort, Sara, wenn du mich verlässest?“

„Ich wage nicht eher meine Reise zu beendigen als bis ich fühle, daß ich mich in der großen Welt von London verloren habe. Sieh mich nicht so traurig an! Ich werde mein Versprechen niemals vergessen – ich werde niemals vergessen zu schreiben. Ich habe Freunde – nicht Freunde wie du, aber doch Freunde – zu welchen ich gehen kann. Nur in London kann ich mich sicher vor Entdeckung fühlen. Meine Gefahr ist groß – sie ist es wirklich! Aus dem, was ich in Porthgenna gesehen, kann ich mit Bestimmtheit schließen, daß Mistreß Frankland schon jetzt ein Interesse daran hat, mich ausfindig zu machen, und ich bin überzeugt, daß dieses Interesse noch um das Zehnfache gesteigert werden wird, wenn – wie sicherlich geschieht – sie hört, was gestern in dem Schlosse vorgegangen ist. Sollte man deine Spur bis nach Truro verfolgen, o dann sei auf deiner Hut, wenn du die Fragen, die sie an dich stellen, beantwortest.“

„Ich werde gar nicht antworten, mein Kind. Aber sage mir – denn ich möchte alle kleinen Möglichkeiten wissen, in deren Folge du doch vielleicht zu mir zurückkehrst – sage mir, wenn Mistreß Frankland den Brief findet, was wirst du dann tun?“

Bei dieser Frage faßte Saras Hand, welche, während sie nebeneinander hinschritten, matt auf ihres Onkels Arm gelegen, denselben plötzlich und krampfhaft.

„Wenn Mistreß Frankland auch in das Myrtenzimmer geht“, sagte sie, indem sie stehenblieb und sich furchtsam umsah, „so findet sie den Brief vielleicht doch nicht. Er ist ganz klein zusammengefaltet und an einem Ort versteckt, wo man ihn nicht so leicht sucht.“

„Wenn sie ihn nun aber doch findet?“

„Wenn dies der Fall ist, dann ist um so mehr Grund für mich vorhanden ,soweit als möglich hinweg zu sein.“

Während Sara diese Antwort gab, legte sie ihre beiden Hände aufs Herz und drückte sie fest darauf. Ein leichter Krampf schien ihre Züge zu verzerren, ihre Augen schlossen sich, ihr Gesicht ward dunkelrot und dann bleicher als vorher. Sie zog ihr Taschentuch heraus und fuhr sich damit mehrmals über das Gesicht, auf welchem jetzt dicker Schweiß stand.

Der alte Mann, welcher, als seine Nichte stehenblieb, in der Meinung, sie habe jemanden ihnen folgen sehen, hinter sich geschaut hatte, bemerkte ihre letztere Bewegung und fragte sie, ob es ihr zu heiß wäre.

Sie schüttelte den Kopf, nahm seinen Arm, um weiterzugehen und atmete, wie ihm vorkam, mit einiger Mühe.

Er schlug vor, daß sie sich am Rande der Straße niedersetzen und eine Weile ausruhen sollte, sie antwortete aber bloß: „Noch nicht.“

Und somit gingen sie wieder eine halbe Stunde weiter, schauten sich dann nochmals um, und als sie auch jetzt noch niemanden sagen, setzten sie sich auf eine Bank, die am Rande der Straße stand, um einige Minuten auszuruhen.

Nachdem sie noch zweimal an passenden Ruheplätzen Halt gemacht, erreichten sie das Ende des Kreuzweges. Auf der großen Landstraße, in welche sie dann einbogen, wurden sie von einem Mann eingeholt, der einen leeren Leiterwagen fuhr und sich erbot, sie bis zur nächsten Stadt mitzunehmen.

Sie nahmen den Vorschlag dankbar an und stiegen, als sie nach einer halbstündigen Fahrt die Stadt erreicht hatten, an der Tür des besten Gasthauses ab. Als sie auf Erkundigung hier erfuhren, daß der Personenwagen schon durchpassiert war und sie folglich zu spät kamen, mieteten sie eine Chaise, welche sie sehr spät am Nachmittag nach Truro zurückbrachte.

Während der ganzen Reise, von der Zeit an, wo sie die Poststadt von Porthgenna verlassen, bis zu der Stunde, wo sie auf Saras Wunsch auf dem Personeneinschreibebureau in Truro abstiegen, hatten sie nichts gesehen, was auch nur den mindesten Argwohn, daß ihre Bewegungen beobachtet würden, hätte erwecken können.

Niemand von den Leuten, welche sie in den benachbarten Ortschaften sahen, oder an welche sie auf der Straße vorüberkamen, schien mehr als die flüchtigste Notiz von ihnen zu nehmen.

Es war fünf Uhr als sie in das Fahrbureau von Truro traten, um sich nach den Fahrgelegenheiten in der Richtung von Exeter zu erkundigen. Man teilte ihnen mit, daß nach dieser Richtung binnen einer Stunde ein Wagen abgehen und um acht Uhr den nächsten Morgen ein zweiter die Stadt Truro passieren würde.

„Du wirst doch nicht heute abend noch weiter reisen?“ fragte Onkel Joseph in bittendem Tone. „Nicht wahr, du wartest, mein Kind, und ruhst bei mir aus bis morgen?“

„Es wird besser sein, wenn ich gehe, Onkel so lange mein Entschluß noch frisch ist“, lautete die traurige Antwort.

„Aber du bist so bleich, so müde, so schwach!“

„Stärker als ich jetzt bin, werde ich doch nie werden. Raube mir nicht vollends den Mut – meine Aufgabe ist ohnedies schwer genug.“

Onkel Joseph seufzte und sagte weiter nichts. Er ging voran quer über die Straße und dann die Nebengasse hinab nach seinem Hause. Der heitere Mann im Laden polierte ein Stück Holz hinter dem Ladentisch und saß genau in derselben Stellung, in welcher Sara ihn erblickt, als sie bei ihrer Ankunft in Truro zuerst durch das Fenster gesehen. Er hatte gute Nachrichten für seinen Herrn, denn es waren allerhand Bestellungen eingegangen, Onkel Joseph hörte aber nur mit halbem Ohre, was sein Gehilfe sagte, und eilte ohne den mindesten Abglanz seines gewohnten Lächelns auf seinem Gesicht in das kleine Hinterstübchen.

„Wenn ich keinen Laden hätte und keine Bestellungen eingegangen wären, so könnte ich dich auch ferner noch bgleiten, Sara“, sagte er, als er mit seiner Nichte allein war. „Ei, ei, der Anfang dieser Reise war der einzige glückliche Teil derselben. Setze dich nieder und ruhe aus, mein Kind. Ich muß es hinnehmen, wie es kommt und vor allen Dingen dir eine Tasse Tee bereiten.“

Nachdem er das Teegeschirr auf den Tisch gesetzt, verließ er das immer und kehrte nach einer Abwesenheit von wenigen Minuten mit einem Korbe in der Hand zurück. Als der Träger kam, um das Gepäck nach dem Fahrbureau abzuholen, ließ Onkel Joseph den Korb nicht gleichzeitig mit forttragen, sondern setzte sich nieder und stellte ihn zwischen die Füße, während er seiner Nichte eine Tasse Tee einschenkte.

Die Spieluhr hing immer noch in ihrem ledernen Reisefutteral an seiner Seite. Sobald er die Tasse Tee eingeschenkt, zog er das Futteral von der Spieluhr und stellte sie auf den Tisch neben sich. Seine Augen schweiften zögernd auf Sara, indem er dies tat. Er neigte sich vorwärts, seine Lippen zitterten ein wenig, seine Hände spielten verlegen mit dem leeren Lederfutteral, welches jetzt auf seinen Knien lag und er sagte in leisem, unsicherm Tone zu seiner Nichte:

„Willst du noch ein kleines Abschiedslied von Mozart hören? Es dauert vielleicht lange, Sara, ehe er dir wieder etwas vorspielen kann. Ein kleines Abschiedslied, mein Kind, ehe du gehst, nicht wahr?“

Seine Hand bewegte sich langsam von dem Lederfutteral nach dem Tische und ließ die Uhr dieselbe Arie spielen, welche Sara an dem Abend gehört, wo sie nach ihrer Reise von Somersetshire in das Zimmer trat und ihn allein am Tische sitzen und der Musik zuhören sah.

Welche Tiefen von Kummer lagen jetzt in diesen wenigen einfachen Tönen! Welche traurige Erinnerung an vergangene Zeiten erfüllte das Herz bei dieser einzigen, kurzen, klagenden Melodie!

Sara hatte nicht den Mut, ihre Augen zu dem Gesicht des alten Mannes zu erheben. Sie hätten ihm verraten können, daß sie an die Tage dachte, wo das Kunstwerk, welches er so hoch in Ehren hielt, die Arie, der sie jetzt zuhörten, an dem Bett seines sterbenden Kindes spielte.

Die hemmende Feder war nicht vorgeschoben und die Melodie begann daher, nachdem sie durchgespielt war, wieder von vorn. Nun aber folgten die Töne nach den ersten wenigen Takten immer langsamer aufeinander, die Melodie ward immer undeutlicher und reduzierte sich endlich bis auf drei Töne, welche in langen Zwischenpausen aufeinander folgten, dann hörte sie ganz auf. Die Kette, welche die Tätigkeit der Maschinerie regelte, war abgelaufen, Mozarts Abschiedslied verstummte plötzlich wie die Stimme eines Sterbenden.

Der alte Mann fuhr zusammen, sah seine Nichte aufmerksam an und warf das Lederfutteral über die Spieluhr, als ob er sie nicht mehr sehen wollte.

„So“, flüsterte er bei sich selbst in seiner Muttersprache, „so verstummte die Musik auch, als mein kleiner Joseph starb. Gehe nicht!“ setzte er schnell auf Englisch hinzu, beinahe ehe Sara noch Zeit gehabt, Verwunderung über die eigentümliche Veränderung zu empfinden, welche mit seiner Stimme und mit seinem Wesen vorgegangen war. „Geh nicht fort! Überlege dir es noch einmal und bleibe bei mir!“

„Ich habe keine andere Wahl als dich zu verlassen“, entgegnete Sara. „Du hältst mich doch nicht für undankbar? Tröste mich in diesem letzten Augenblick, indem du mir dies sagst.“

Er drückte ihr schweigend die Hand und küßte sie auf beide Wangen.

„Mein Herz ist schwer um deinetwillen, Sara“, sagte er. „Ich fürchte sehr, daß es nicht zu deinem Glücke sein werde, wenn du mich jetzt verlässest.“

„Ich habe keine andere Wahl“, wiederholte sie traurig; „ich habe keine andere Wahl als dich zu verlassen.“

„Dann ist es auch Zeit, Abschied zu nehmen.“

Die Wolke des Zweifels und der Furcht, welche von dem Augenblick an, wo die Musik so kläglich verstummte, sein Gesicht verändert, schien noch finsterer zu werden, als er diese Worte gesagt hatte. Er ergriff den Korb, welchen er so sorgfältig zwischen den Füßen gehalten, und ging schweigend voran zum Hause hinaus.

Sie kamen eben noch zu rechten Zeit, denn der Kutscher stieg schon auf den Bock, als sie in das Fahrbureau kamen.

„Gott behüte dich, mein Kind, und sende dich bald gesund und wohlbehalten zu mir zurück“, sagte Onkel Joseph. „Nimm den Korb auf deinen Schoß; es sind einige Kleinigkeiten für deine Reise darin.“

Seine Stimme wankte bei den letzten Worten und Sara fühlte, wie er seine Lippen auf ihre Hand drückte. Den nächsten Augenblick ward die Tür des Wagens geschlossen und sie sah ihn undeutlich durch die Tränen hindurch auf dem Pflaster unter den Gaffern stehen, welche warteten, um den Wagen fortfahren zu sehen.

Als dieser eine Strecke aus der Stadt hinaus war, konnte Sara endlich ihre Tränen trocknen und in den Korb sehen. Er enthielt einen Topf Marmelade und einen Hornlöffel, ein kleines eingelegtes Arbeitskästchen von dem Vorrat im Laden, ein Stück ausländisch aussehenden Käse, eine Zeile Semmeln und ein kleines Paket Geld in Papier, mit den von Onkel Josephs Hand darauf geschriebenen Worten: „Sei nicht bös.“

Sara schloß wieder den Deckel des Korbes und zog ihren Schleier herab. Niemals hatte sie den Schmerz des Scheidens in seiner ganzen Bitterkeit so gefühlt wie in diesem Augenblick. O, wie hart war es, von der schützenden Heimat verbannt zu sein, die ihr von dem einzigen Freund geboten ward, den sie noch in der Welt hatte!

Während sie dies bei sich dachte, schloß der alte Mann eben die Tür seines einsamen Zimmers. Sein Auge schweifte nach dem Teegeschirr auf dem Tisch und Saras leerer Tasse und er flüsterte wieder in seiner Muttersprache bei sich selbst:

„Gerade so verstummte die Musik, als mein kleiner Joseph starb!“


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