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Zwei Schicksalswege

Neunzehntes Kapitel

Die Katzen

Ich wusste wirklich nicht, was ich sagen sollte, so erstaunt hatte mich die Äußerung von Miss Dunroß gemacht.

Es wäre eine große Rücksichtslosigkeit von mir gewesen, besonders nach Allem, was ich gehört hatte, wenn ich sie gradezu befragt hätte, weshalb das Zimmer, so lange sie sich darin aufhält, dunkel sein muss. Da ich ihre Verhältnisse nicht im mindesten kannte, hätte eine allgemeine Versicherung meiner Teilnahme an ihrem Leiden uns beide schon beim Beginn unserer Bekanntschaft in eine peinliche Stellung zueinander bringen müssen. Ich bat also nur, dass sie das Zimmer unverändert ließe, wie es jetzt war und stellte es ihrem eigenen Ermessen ganz anheim, ob sie mich in ihr Vertrauen ziehn wollte oder nicht.

Sie ahnte vollkommen was in mir vorging, setzte sich auf einen Stuhl an mein Bett und erzählte mir rückhaltlos und ernst die düstere Geschichte über das verdunkelte Zimmer.

»Sie müssen sich an diese Schattenwelt gewöhnen, Mr. Germaine,« begann sie, »wenn Sie mich öfter sehen wollen. Sie ist die Welt in der ich leben muss. Vor langer Zeit wütete eine ansteckende Krankheit auf unserer Insel und ich war so unglücklich von der Seuche auch befallen zu werden. Als ich genas - nein das Wort »Genesung« darf ich nicht anwenden, als ich dem Tode entronnen war, wurde ich von einem Nervenleiden heimgesucht, das bis heute jeder ärztlichen Hilfe Trotz geboten hat. Nach dem Ausspruch der Ärzte leiden die Nerven an der Oberfläche meines Körpers an einer krankhaften Empfindlichkeit gegen den Einfluss des Lichtes. Zum Beispiel würde ich über dem ganzen Gesichte die heftigsten Schmerzen empfinden, wenn ich jetzt die Vorhänge öffnete und zum Fenster hinaus sähe; bedeckte ich aber das Gesicht und zöge die Vorhänge mit den bloßen Händen auf, so würden mich meine Hände in derselben Weise schmerzen. Sie können vielleicht kaum unterscheiden, dass ich über meinem Kopf einen weiten, sehr dichten Schleier trage. Wenn ich den herablasse während ich gezwungen bin über die Flure zu gehn, oder meines Vaters Studierzimmer zu betreten, so habe ich dadurch Schutz genug vor dem Lichte. Beklagen Sie mein trauriges Schicksal aber nicht zu sehr, mein Herr. Ich habe mich so daran gewöhnt im Dunklen zu sehn, dass ich darin vollständig allen Anforderungen meines armseligen Daseins genügen kann. Ich kann in diesem Dunkel lesen und schreiben, ich sehe Sie deutlich und kann Ihnen, wenn Sie es mir gestatten, manchen kleinen Dienst leisten. Weshalb sollte ich also über mein Los verzweifeln? Fühle ich doch ganz sicher, dass mein Leben obenein nicht lange währen wird. Hoffentlich ist es mir vergönnt die Gefährtin der letzten Lebensjahre meines Vaters zu sein. Darüber hinaus denke ich nicht und inzwischen habe ich meine kleinen Freuden, deren spärlicher Zahl ich gerne das Vergnügen Ihnen nützlich zu sein, hinzufügen möchte. Ihr Erscheinen ist ein Lebensereignis für mich. Die Aussicht Ihnen vorzulesen oder für Sie Briefe zu schreiben, ist für mich, was für andre Mädchen ein neues Kleid oder ein erster Ball ist. Ich hoffe, dass Sie es nicht unpassend finden, dass ich Ihnen das Alles so offen sage, aber ich kann nicht anders. Alles was ich denke, sage ich meinem Vater und unseren armen Nachbarn rings umher - wie sollte ich diese Gewohnheit nun in einem Augenblick aufgeben? Ich sage jedem gerade heraus, ob ich ihn gern mag oder nicht. Ich habe nun auch in Ihren Zügen, während Sie schliefen, wie in einem Buche gelesen und habe Anzeichen von Gram auf Ihrer Stirn und auf Ihren Lippen gefunden, die mich auf einem so jungen Gesicht Wunder nehmen. Am Ende werde ich Sie mit zu vielen Fragen über Ihr Schicksal quälen, wenn wir erst bekannter mit einander werden. Zuerst frage ich nun aber in meiner Eigenschaft als Pflegerin, ob Ihre Kopfkissen so auch bequem für Sie liegen? Mich dünkt sie müssten etwas ausgeschüttelt werden. Soll ich nach Peter klingeln, dass er Sie aufrichtet? Leider bin ich nicht kräftig genug, um das selbst zu tun. Nein, können Sie sich selbst aufrichten? Warten Sie einen Augenblick - so! Nun legen Sie sich zurück und sagen Sie mir jetzt, ob ich es gut verstehe, zwischen einem ganz verschobenen Kopfkissen und einem müden Kopfe das rechte Einvernehmen herzustellen.«

Mich berührte es fast schmerzlich, als die weichen süßen Töne ihrer Stimme plötzlich verstummten, so unbeschreiblich rührte und bewegte sie mich, obgleich ich ihr ganz fremd war. Während ich ihr in ziemlich ungeschickter Weise bei dem Kopfkissen behilflich war, berührte meine Hand die ihre, die so kalt und mager war, dass ich förmlich darüber erschrak. Nun ich ihr viel näher gekommen war, versuchte ich vergeblich etwas von ihrem Gesicht zu erkennen, aber die unbarmherzige Finsternis hüllte es in ihr geheimnisvolles Dunkel, wie zuvor. Da doch nichts ihrer Beobachtung entging, sollte meine Neugierde von ihr unbemerkt geblieben sein? Ihre Worte überzeugten mich bald, dass ich entdeckt war. »Sie bemühten sich mich zu sehen,« sagte sie, »aber meine Hand hat Sie wohl davor gewarnt. Ich sah Ihren Schreck, als Sie sie eben berührten.«

Diese ungemein scharfe Auffassungsgabe war nicht zu täuschen, diese furchtlose Offenherzigkeit erheischte von meiner Seite eine gleiche Aufrichtigkeit. Ich gestand ihr also die Wahrheit und überließ es Ihrer Nachsicht mir zu verzeihen - sie setzte sich langsam wieder auf den Stuhl n mein Bett.

»Wenn wir Freunde werden wollen, Mr. Germaine,« sagte sie, »so müssen wir uns zuerst gegenseitig ganz klar werden und Sie dürfen sich keinerlei romantische Vorstellungen von unsichtbarer Schönheit über mich machen. Vor meiner Krankheit war meine Gesichtsfarbe meine einzige Zierde und die habe ich nachher verloren. Jetzt ist an mir nichts, als das Spiegelbild meines früheren Ichs zu sehn - die Trümmerreste einer Frau. Durch diese Mitteilung will ich Sie nicht betrüben, ich will Sie nur mit der Dunkelheit aussöhnen, die, soweit es Ihre Augen betrifft, zwischen uns eine dauernde Scheidewand aufrichtet. Fassen Sie Ihre Lage hier von der besten und nicht von der ungünstigen Seite an, sie bietet Ihnen neue Eindrücke, die Sie unterhalten können, während sie krank sind. Sie haben eine Pflegerin, die ein körperloses Wesen ist - ein Schatten zwischen Schatten; sie besitzt nur eine Stimme, um mit Ihnen zu sprechen und Hände, um Ihnen zu helfen, nichts weiter. Nun aber genug von mir!« rief sie sich erhebend aus und wechselte den Ton. »Ich habe schlimme Liebhaberein,« fuhr sie fort, »vielleicht kann ich Ihnen aber doch durch eine derselben eine Zerstreuung bereiten, Mr. Germaine. Geht es Ihnen, wie so vielen Menschen, dass Sie die Katzen hassen?«

Ich erstaunte über die Frage, die ich aber ehrlich dahin beantworten konnte, dass ich in diesem Falle nicht wie andere Menschen sei.

»Meiner Ansicht nach,« fügte ich hinzu, »wird die Katze besonders in England sehr verkannt. Wenn die Frauen auch im Allgemeinen ihrer anschmiegenden Natur Gerechtigkeit widerfahren lassen, so behandeln die Männer sie doch grader wie Feinde des Menschen. Wenn eine Katze es wagt die Treppe herauf zu kommen, so vertreiben die Männer sie aus ihrer Gegenwart und hetzen die Hunde auf sie, wenn sie sich auf den Straßen zeigt. Dann aber wenden sie sich um und beschuldigen das arme Tier, dessen gesellige Natur sich irgendwo anzuschmiegen sucht, dass es sich mit Vorliebe in der Küche aufhält.«

Meine ungewöhnliche Gesinnung über die Katzen schien mich in Miss Dunroß's Augen sehr zu heben.

»So haben wir also auf alle Fälle eine gemeinschaftliche Neigung,« sachte sie, »dann kann ich Ihnen Vergnügen bereiten! Jetzt sollen sie eine Überraschung haben!«

Sie zog bei diesen Worten den Schleier über ihr Gesicht und klingelte aus der halbgeöffneten Tür. Peter erschien und empfing seine Befehle. »Nimm den Schirm fort,« sagte Miss Dunroß. Peter gehorchte, der rötliche Schein des Feuers erhellte den Fußboden, während Miss Dunroß in ihren Vorbereitungen fortfuhr. »Öffne die Tür zum Katzenzimmer, Peter und bringe mir meine Harfe. Erwarten Sie ja keine große Kunstleistung, Mr. Germaine,« fuhr sie fort, als Peter seinen seltsamen Auftrag ausführte, »die Harfe, die Sie sehn werden, ist auch nicht so, wie Sie sie sich, nach Ihren modernen Begriffen, vorstellen. Ich kann nur einige alte, schottische Weisen darauf spielen und meine Harfe ist ein altes Instrument mit neuen Saiten - seit mehreren Jahrhunderten ein Erbstück in unserer Familie. Ihr Anblick wird Sie an die Bilder von der heiligen Cäcilie erinnern und ich hoffe Sie werden meine Leistung milde beurteilen, in Erwägung, dass ich keine Heilige bin!«

Sie zog ihren Stuhl an das Licht des Feuers und pfiff auf einer kleinen Pfeife, die sie aus der Kleidertasche zog. Im nächsten Augenblick erschienen, dem Rufe ihrer Herrin gehorsam, die schlanken und schattenhaften Katzengestalten geräuschlos im Zimmer. Ich zählte ihrer sechs, als die Tiere sich ganz ehrbar im Kreise um den Stuhl am Kamin setzten. Peter folgte ihnen mit der Harfe, schloss die Tür und verschwand. Als das Tageslicht wieder ganz aus dem Zimmer verbannt war, schlug Miss Dunroß den Schleier zurück und legte die Harfe, nachdem sie, wie ich bemerkte, ihr Gesicht vom Feuer abgewendet hatte, an ihr Knie.

»Diese Beleuchtung wird für Sie ausreichend sein, um die Katzen zu sehn,« sagte sie, »und ist für mich nicht zu grell. Der Schein des Feuers veranlasst mir auch nicht die heftigen Schmerzen, die das Tageslicht hervorbringt, ich fühle so nur ein Unbehagen an meinem Gesicht, nichts weiter.«

Sie berührte die Saiten ihres Instruments, der alten Harfe von dem Bilde der heiligen Cäcilie, wie sie sie genannt hatte, ich möchte sie mehr den Harfen der alten schottischen Barden vergleichen. Meinem ungeschulten Ohre klang der Ton zuerst unangenehm hoch. Bei den ersten Tönen der Melodie einer sanft klagenden Weise erhoben sich die Katzen und marschierten ganz im Takt, im Kreise um ihre Herrin herum, dann gingen sie einzeln hinter einander her, dann bei einem Wechsel in der Melodie zu Zweien und Zweien, endlich teilten sie sich in Abteilungen zu je Drei und Dreien und gingen in entgegengesetzten Richtungen um den Stuhl herum. Als die Musik schneller wurde, beschleunigten auch die Katzen ihren Schritt, bis die Weise schneller und schneller erklang und die Katzen sich schließlich im roten Schein des Feuers, lebenden Schatten gleich, wirbelnd um den Stuhl drehten, auf dem ihre Harfe auf dem Knie, die stille, schwarze Gestalt saß. Selbst in meinen Träumen hatte ich mir nie etwas so Zauberisches, Mildes, Geisterhaftes ausmalen können! Jetzt änderte sich die Musik und die wirbelnden Katzen begannen zu springen. Die Eine setzte sich am Fuße der Harfe nieder, Vier sprangen zugleich und setzten sich je Zwei und Zwei auf die Schultern ihrer Herrin, die letzte und kleinste der Katzen machte den größten Sprung und befand sich auf ihrem Kopfe. Dort nun saßen die sechs Tiere so still und regungslos, wie Statuen, es bewegte sich nichts als die mageren, weißen Hände auf den Saiten der Harfe, kein Laut war außer der Musik im Zimmer zu vernehmen. Wiederum wechselte die Melodie und sofort waren die sechs Katzen wieder am Boden und setzten sich um den Stuhl herum, wie sie gleich nach ihrem Erscheinen getan. Die Harfe wurde bei Seite gelegt und die leise sanfte Stimme sprach: »Ich bin so müde, meine Katzen können erst morgen mit ihrer Vorstellung fortfahren.«

Sie stand auf und näherte sich meinem Bett.

»Damit Sie aus Ihrem Fenster den Sonnenuntergang beobachten können, verlasse ich Sie jetzt,« sagte sie. »Vom Einbrechen der Dunkelheit bis morgen um die Frühstückszeit dürfen Sie auf meine Dienste nicht rechnen, das sind meine Ruhestunden. Mir bleibt keine Wahl als, wo möglich schlafend, zwölf Stunden zu Bett zu bleiben, es scheint, als wenn diese lange Ruhe mein Leben erhält. Habe ich Sie durch meine Katzen überrascht? Halten Sie mich für eine Hexe und diese für die mir verwandten Geister? Wenn Sie denken wie wenige Freuden ich habe, so werden Sie es erklärlich finden, dass ich mich damit zerstreue diesen kleinen Tieren ihre Künste beizubringen und sie wie Hunde an mich zu gewöhnen. Zuerst begriffen sie sehr schwer und lehrten mich Geduld zu üben, jetzt wissen Sie nun, was ich wünsche und lernen sehr leicht. Wie werden Sie Ihren Freund bei seiner Rückkehr vom Angeln mit der Geschichte von der Dame, die im Dunkel lebt und mit einer Katzengesellschaft Vorstellungen gibt, unterhalten. Morgen hoffe ich nun aber, dass Sie mich unterhalten werden, indem Sie mir von Ihren Erlebnissen sprechen und mir erzählen, was Sie hierher auf unsere wilde Insel führt. Wenn wir dann im Laufe des Tages näher mit einander bekannt geworden sind, werden Sie mich vielleicht mehr in Ihr Vertrauen ziehen und mir von dem Kummer reden, den ich so untrüglich, während Sie schliefen, in Ihren Zügen las. Sie sehen ich bin Frau genug geblieben, um der Neugierde zum Opfer zu fallen, sobald ich jemand finde, der mein Interesse erregt. Leben Sie also wohl bis auf morgen! Ich wünsche Ihnen eine ruhige Nacht und ein fröhliches Erwachen. Kommt meine verwandten Geister, kommt meine Katzenkinder. wir müssen uns in unsere Gemächer zurückziehen.«

Sie ließ ihren Schleier herab und verließ von ihrem Katzengefolge begleitet, leise das Zimmer.

Sogleich erschien Peter, um die Vorhänge aufzuziehen und das Licht der untergehenden Sonne strömte voll ins Zimmer, das eben mein Reisegefährte in heiterster Stimmung betrat, um mir von seinem Fischfang zu berichten. Ich musste mich wirklich besinnen, ob die verschleierte Gestalt mit der Harfe und der Tanz der Katzen nicht bloß fantastische Gebilde meiner erregten Einbildungskraft gewesen waren, so groß war der Kontrast zwischen dem, was ich jetzt sah und hörte und was hier vor wenigen Augenblicken vorgegangen war. Ich fragte darum wirklich meinen Freund, ob er mich bei seinem Eintreten wachend oder schlafend gefunden habe.

Die Nacht folgte dem Abend und der Meister der Bücher erschien, um sich die neusten Nachrichten über mein Befinden zu holen. Seine Gedanken schienen auch ganz bei seinen Büchern zu sein, denn er war sehr zerstreut, während er sich mit mir unterhielt und wurde erst aufmerksam, als ich dankbar der Freundlichkeit seiner Tochter Erwähnung tat. Bei ihrem Namen leuchteten seine blassblauen Augen, erhob sich sein gesenktes Haupt und seine leise Stimme tönte voller.

»Nehmen Sie ja ihre Dienste an,« sagte er, »denn Alles, was sie zerstreut und erfreut verlängert ihr Leben und ihr Leben ist der Atem für das Meine. Sie ist mir mehr als eine Tochter, sie ist der Schutzgeist meines Hauses und Himmelsluft weht, wo sie erscheint. O, mein Herr, beten Sie für mich, dass meine Tochter mir noch etwas länger erhalten bleibt.«

Mit einem tiefen Seufzer und wiederum gesenkten Hauptes verließ er mich.

Zu vorgerückter Stunde wurde das Nachtessen an meinem Bett aufgetragen. Der stumme Peter wurde, als er sich für die Nacht beurlaubte, etwas gesprächiger. »Ich schlafe hier nebenan,« sagte er, »bitte klingeln Sie, wenn Sie etwas wünschen.« Mein Reisegefährte, der neben mir in dem andern Bette lag, schlief bereits den süßen Schlaf der Jugend. Im Hause herrschte tiefe Stille und draußen hörte man nur den sanften Gesang des Nachtwindes, der anschwellend und sinkend über den See und das Moorland hinstrich. So beschloss ich den ersten Tag in dem gastfreien Hause auf Schottland.


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