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Ein tiefes Geheimnis



Achtes Kapitel

Das Ende des Tages

Die Nacht verging endlich mit ihren schlaflosen, unruhigen Stunden und der Morgen tagte hoffnungsvoll, denn er versprach, Rosamundes Ungewißheit ein Ende zu machen.

Das erste Ereignis des Tages war die Ankunft des Anwalts, Mr. Nixon, welcher am Abend vorher ein auf Leonards Wunsch geschriebenes Briefchen erhalten, durch welches er zum Frühstück eingeladen ward. Ehe der Anwalt sich wieder entfernte, hatte er mit Mr. und Mistreß Frankland alle vorläufigen Arrangements besprochen, welche notwendig waren, um die Rückerstattung der Kaufsumme für Porthgenna Tower zu bewirken, und einen Boten mit einem Briefe nach Bayswater abgesendet, in welchem er seine Absicht meldete, Andrew Treverton diesen Nachmittag zu besuchen, um mit ihm in einer wichtigen Angelegenheit hinsichtlich des persönlichen Besitztums seines verstorbenen Bruders zu sprechen.

Gegen Mittag fand Onkel Joseph sich wieder in dem Hotel ein, um Rosamunde abzuholen und nach dem Hause zu führen, in welchem ihre kranke Mutter lag.

Er kam in der heitersten Laune und erzählte von der wunderbaren Besserung, die in Folge der liebevollen Botschaft, welche er seiner Nichte am vorigen Abend überbracht, in dem Befinden derselben eingetreten sei. Er erklärte, sie sähe mit einem Male glücklicher, kräftiger und jünger aus. Sie habe seit langen Jahren wieder einmal die ganze Nacht ruhig und fest geschlafen, und die wohltätige Einwirkung dieses Umstandes sei vor kaum einer Stunde durch den Arzt selbst anerkannt worden.

Rosamunde hörte dies nachdenklich an, aber ihre Aufmerksamkeit war zerstreut, ihr Gemüt unruhig.

Als sie von ihrem Gatten Abschied genommen und sich mit Onkel Joseph draußen auf der Straße befand, hatte die Aussicht auf die bevorstehende Begegnung mit ihrer Mutter etwas, was trotz ihrer Bemühungen, diesem Gefühle zu widerstreben, sie fast verzagt machte.

Wäre es ihnen möglich gewesen, einander zu begegnen und sich zu erkennen, ohne Zeit gehabt zu haben, was auf einer oder der andern Seite zuerst gesagt oder getan werden müsse, so wäre dann die Zusammenkunft nichts weiter gewesen als die natürliche Folge der Entdeckung des Geheimnisses.

So aber äußerte die zweifelnde, traurige Geschichte der Vergangenheit, welche die Leere des Tages der Ungewißheit ausgefüllt, auf Rosamundes sanguinisches Temperament eine ungemein niederdrückende Wirkung. Ohne in ihrem Herzen gegen ihre Mutter einen Gedanken zu haben, der nicht zärtlich, mitleidig und aufrichtig gewesen wäre, fühlte sie jetzt nichtsdestoweniger ein unbestimmtes Gefühl von Verlegenheit, welches, je näher sie und der alte Mann dem Ziele ihrer kurzen Wanderung kamen, bis zu wirklicher Unbehaglichkeit anstieg.

Als sie endlich an der Tür des Hauses standen, war sie sich zu ihrem eigenen Abscheu bewußt, daß sie überlegte, welche Worte sie wohl zuerst zu sprechen, was sie wohl zuerst zu tun habe – gerade als ob sie in Begriff gestanden hätte, eine gänzlich fremde Person zu besuchen, deren günstige Meinung sie zu gewinnen wünsche und deren Bereitwilligkeit, ihr einen herzlichen Empfang angedeihen zu lassen, ein Gegenstand des Zweifels sei.

Die erste Person, welche sie, nachdem die Tür geöffnet wordne, sahen, war der Arzt. Er kam aus einem kleinen leeren Zimmer am Ende der Hausflur auf sie zu und bat um Erlaubnis, mit Mistreß Frankland einige Minuten zu sprechen.

Onkel Joseph ließ Rosamunde demgemäß bei dem Arzt und ging mit einer Flinkheit, um welche ihn Mancher, der halb so alt gewesen wäre wie er, beneidet haben würde, die Treppe hinauf, um seiner Nichte die Ankunft ihrer Tochter zu melden.

„Geht es schlimmer mit ihr? Kann mein Anblick ihr Gefahr bringen?“ fragte Rosamunde, während der Arzt sie in das leere Zimmer führte.

„Ganz im Gegenteil“, entgegnete er. „Sie ist diesen Morgen um vieles besser und diese Besserung hat, wie ich finde, ihren Grund hauptsächlich in dem beruhigenden und erheiternden Einfluß, den die Botschaft auf sie geäußert, welche sie gestern Abend von Ihnen erhalten hat. Diese Entdeckung ließ mich eben wünschen, mit Ihnen über ein gewisses Symptom des geistigen Zustandes meiner Patientin zu sprechen, ein Symptom, welches mich, als ich es zuerst entdeckte, überraschte und beunruhigte und mir seit dieser Zeit fortwährend großes Kopfzerbrechens verursacht hat. Meine Patientin leidet – um die Sache kurz und in den einfachsten Worten klar zu machen – an einer Sinnestäuschung von sehr außerordentlicher Art und welche, so weit meine Beobachtung reicht, sie gewöhnlich gegen das Ende des Tages bei Eintritt der Dämmerung heimsucht. Es ist dann in ihren Augen ein Ausdruck wahrzunehmen, als ob sie glaubte, es sei plötzlich jemand ins Zimmer getreten. Sie blickt und spricht dann in den leeren Raum hinein, gerade wie wir jemanden ansehen und anreden würden, der wirklich vor uns stünde und uns zuhörte. Der alte Mann, ihr Onkel, erzählt mir, er habe dies zuerst bemerkt, als sie vor einiger Zeit ihn besucht habe – ich glaube, er sagte, es sei in Cornwall gewesen. Sie sprach damals mit ihm über ihre Privatangelegenheiten, als sie plötzlich – es war in der Dämmerung – schwieg, dann eine Frage über das alte Thema des Aberglaubens hinsichtlich des Wiedererscheinens verstorbener Personen aufwarf, nach einer dunkeln Ecke des Zimmers blickte und nach dieser hin zu sprechen begann, gerade so wie ich sie hier in ihrem Zimmer blicken gesehen und sprechen gehört habe. Ob sie sich einbildet, daß sie von einer gespenstischen Erscheinung verfolgt werde, oder daß eine lebende Person zu gewissen Zeiten ihr Zimmer betrete – dies weiß ich nicht und der alte Mann, ihr Onkel, kann mir auch nichts sagen, was mir die Wahrheit erraten helfen könnte. Könnten Sie mir vielleicht einigen Aufschluß hierüber geben?“

„Nein, denn ich höre es zum ersten Male“, antwortete Rosamunde, indem sie den Arzt mit einem Blick des Erstaunens und der Unruhe ansah.

„Vielleicht“, fuhr er fort, „ist sie gegen Sie mitteilsamer als gegen mich. Wenn Sie es vielleicht einrichten können, daß Sie heute oder morgen zur Zeit der Abenddämmerung an ihrem Bett sind und wenn Sie glauben, daß Sie nicht selbst dadurch erschreckt werden, so wäre es mir sehr erwünscht, wenn Sie sie sehen und hören könnten, während sie sich unter dem Einfluß dieser Sinnestäuschung befindet. Vergebens habe ich mich bemüht, während dieser Zeit ihre Aufmerksamkeit davon abzulenken oder sie zu bewegen, später davon zu sprechen. Sie besitzen augenscheinlich eine bedeutende Einwirkung auf sie und deshalb wäre es leicht möglich, daß Ihnen etwas gelänge, was mir bis jetzt nicht hat gelingen wollen. Bei dem Zustande der Kranken lege ich großes Gewicht darauf, daß ihr Gemüt von allem befreit werde, was dasselbe umwölkt und bedrückt, ganz besonders aber von einer so ernsten Störung, wie die von mir soeben beschriebene ist. Gelänge es Ihnen, dieselbe zu bekämpfen, so würden Sie der Kranken den größten Dienst leisten und meine Bemühungen, ihrer Gesundheit wieder aufzuhelfen, wesentlich unterstützen. Sind Sie vielleicht geneigt, einen derartigen Versuch zu machen?“

Rosamunde versprach sowohl dies, als auch alles Andere zu tun, was zum Wohle der Patientin dienen könne.

Der Arzt dankte ihr und ging dann voran wieder in die Hausflur. Onkel Joseph kam, eben als sie aus dem Zimmer traten, die Treppe herunter.

„Sie ist bereit und sehnt sich, Sie zu sehen“, flüsterte er Rosamunden ins Ohr.

„Ich brauche Ihnen wohl nicht erst nochmals zu sagen, wie dringend notwendig es ist, die Kranke bei möglichst ruhiger Gemütsstimmung zu erhalten“, sagte der Arzt, indem er sich verabschiedete. „Es ist – wie ich Ihnen auf mein Wort versichere – keine Übertreibung, wenn ich sage, daß ihr Leben davon abhängt.“

Rosamunde verneigte sich schweigend und folgte dann ebenso schweigend dem alten Mann die Treppe hinauf.

An der Tür eines Hinterzimmers der zweiten Etage blieb Onkel Joseph stehen.

„Hier ist sie“, flüsterte er hastig. „Ich will Sie allein hineingehen lassen, denn es ist am besten, wenn in dem ersten Augenblick niemand weiter zugegen ist. Ich werde mittlerweile ein wenig in dem schönen warmen Sonnenschein auf der Straße hin und her gehen, an Sie beide denken und nach einer Weile wiederkommen. Gehen Sie hinein und der Segen und die Gnade Gottes seien mit Ihnen.“

Er drückte ihre Hand an seine Lippen und ging dann rasch wieder die Treppe hinunter.

Rosamunde stand nun allein vor der Tür. Ein augenblickliches Zitter schüttelte sie an allen Gliedern, als sie die Hand ausstreckte, um anzupochen. Dieselbe sanfte, wohlklingende Stimme, welche sie das letzte Mal in ihrem Schlafzimmer zu West Winston gehört, antwortete ihr jetzt.

So wie dieser Ton an Rosamundes Ohr schlug, stahl sich ein Gedanke an ihr Kind in ihr Herz und beschwichtigte das stürmische Pulsieren desselben. Sie öffnete nun ohne Weiteres die Tür und ging.

Weder das Aussehen des Zimmers im Innern, noch die Aussicht vom Fenster, weder die charakteristischen Zierden des Zimmers, noch die hauptsächlichsten Möbels desselben – mit einem Worte, keiner der Gegenstände, der zu andern Zeiten ihren raschen Beobachtungssinn gefesselt haben würde, machte jetzt irgend welchen Eindruck darauf.

Von dem Augenblick an, wo sie die Tür öffnete, sah sie nichts als die Pfühle des Betts, das darauf liegende Haupt und das ihr zugewendete Gesicht. Als sie die Schwelle überschritt, änderte sich der Ausdruck dieses Gesichts. Die Augenlider senkten sich ein wenig und die bleichen Wangen wurden plötzlich von brennender Röte übergossen.

Schämte sich ihre Mutter, sie anzusehen?

Schon dieser Zweifel reichte hin, um Rosamunden augenblicklich von dem Selbstmißtrauen, der Verlegenheit und dem Zögern in Bezug auf die Wahl ihrer Worte, welches ihren edelmütigen Impuls bis zu diesem Moment gefesselt, zu befreien. Sie eilte an das Bett, hob die abgezehrte, zurückbebende Gestalt in ihren Armen empor und legte das arme müde Haupt sanft an ihre warme junge Brust.

„Endlich komme ich, Mutter, um nun Deine Wärterin zu sein“, sagte sie. Das Herz ward ihr zu voll, so wie ihr Mund diese einfachen Worte stammelte – ihre Augen flossen über – sie konnte nichts weiter sagen.

„Weine nicht!“ murmelte die schwache, wohllautende Stimme schüchtern. „Ich habe nicht das Recht, dich hierher zu rufen und dir das Herz schwer zu machen. Weine nicht! Weine nicht!“

„O still! Still! Wenn du so zu mir sprichst, so kann ich weiter nichts tun als weinen”, sagte Rosamunde. „Laß uns vergessen, daß wir jemals getrennt gewesen sind – nenne mich bei meinem Namen – sprich mit mir, wie ich mit meinem eigenen Kinde sprechen werde, wenn Gott mir die Gnade schenkt, es heranwachsen zu sehen. Nenne mich Rosamunde und – bitte, bitte – sage mir, daß ich etwas für dich tun soll.“

Mit diesen Worten riß sie leidenschaftlich die Bänder ihres Hutes auseinander und warf ihn von sich auf den nächsten Stuhl.

„Sieh“, fuhr sie fort, „da steht ein Glas Limonade auf dem Tische. Sag: ‚Rosamunde, bring mir meine Limonade!’ Sag es in ganz gewöhnlichem Ton, Mutter. Sag, als ob du wüßtest, daß ich verbunden bin, dir zu gehorchen.“

Die Kranke sprach die Worte nach, obschon noch in etwas unsicherm Tone – sie sprach sie mit einem wehmütigen, verwunderten Lächeln und mit einem Verweilen der Stimme auf dem Namen Rosamunde, als ob es ihr einen Hochgenuß gewähre, denselben auszusprechen.

„Du hast mich durch jene Botschaft und durch den Kuß, den du mir von deinem Kinde schicktest, so glücklich gemacht“, sagte sie, als Rosamunde ihr die Limonade gegeben und wieder ruhig an dem Bett Platz genommen hatte. „Es war dies eine so freundliche Art und Weise, mir zu sagen, daß du mir verziehest! Es gab mir den Mut, dessen ich bedurfte, um mit dir so zu sprechen, wie ich jetzt spreche. Es ist möglich, daß meine Krankheit mich verändert hat, aber ich fühle mich jetzt nicht furchtsam und fremd in deiner Nähe, wie ich glaubte, daß es bei unserer ersten Begegnung, nachdem du das Geheimnis erfahren, der Fall sein würde. Ich glaube, ich werde bald wohl genug sein, um deinen Kleinen zu sehen. Sieht er dir ähnlich? Wenn dem so ist, so muß er –“

Sie stockte.

„Doch“, setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu, „das kann ich wohl denken, aber ich tue besser, wenn ich nicht davon spreche, sonst weine ich auch, und ich möchte nun gern mit Gram und Kummer fertig sein.“

Während sie diese Worte sprach, ruhten ihre Augen mit liebender Innigkeit auf den Zügen ihrer Tochter, der alte Instinkt der Sauberkeit war aber in ihren schwachen, abgezehrten Fingern immer noch unwillkürlich tätig. Rosamunde hatte nur erst die Minute zuvor ihre Handschuhe vor sich auf das Bett geworfen und schon hatte ihre Mutter dieselben ergriffen, strich sie sorgfältig glatt und faltete sie, während sie sprach, zierlich zusammen.

„Nenne mich noch einmal Mutter“, sagte sie, als Rosamunde ihr die Handschuhe abnahm und ihr durch einen Kuß für das Zusammenfalten derselben dankte.

„Noch niemals habe ich dich Mutter nennen hören bis jetzt – niemals von dem Tage an, wo du geboren wurdest, bis jetzt.“

Rosamunde unterdrückte die Tränen, welche ihr in die Augen traten, und wiederholte das Wort.

„Ich begehre kein größeres Glück als hier zu liegen und dich anzusehen und dich dies sagen zu hören. Gibt es wohl noch ein weibliches Wesen in der Welt, welches ein so schönes und gutes Gesicht hat wie das deinige?“

Sie schwieg und lächelte matt.

„Ich kann“, fuhr sie dann fort, „diese holden rosigen Lippen jetzt nicht ansehen, ohne daran zu denken, wie viel Küsse sie mir schuldig sind.“

„Hättest du doch diese Schuld schon längst bezahlen lassen“, sagte Rosamunde, indem sie die Hand ihrer Mutter ergriff, wie sie die ihre Kindes ergriff und sie auf ihren Hals legte. „Hättest du doch gleich das erste Mal, als wir uns sahen und du kamst um mich zu pflegen, alles gesagt. Mit welchem Kummer habe ich oft an jenen Tag gedacht! O, Mutter, habe ich dich in meiner Unwissenheit bekümmert? Hast du weinen müssen, wenn du später an mich dachtest?“

„Bekümmert, sagst du, Rosamunde? Mein ganzer Kummer ist nur durch mich selbst, aber nicht durch dich herbeigeführt worden. ‚Sei nicht hart gegen sie’ – erinnerst du dich noch dieser Worte? Als ich verdientermaßen fortgeschickt werden sollte, weil ich dich erschreckt hatte, sagtest du zu deinem Gatten: ‚Sei nicht hart gegen sie.’ Nur fünf Worte waren es – aber o, welch ein Trost war es später für mich, zu bedenken, daß du dies gesagt hattest! Ich wollte dich gern küssen, Rosamunde, als ich dir das Haar bürstete; es kostete mir einen so schweren Kampf, nicht laut zu schluchzen, als ich dich hinter den Bettvorhängen deinem Kleinen gute Nacht wünschen hörte. Das Herz trat mir gleichsam in den Munde und erstickte meine Worte. Ich nahm deine Partie, als ich später zu meiner Herrin zurückkehrte. Ich wollte nicht zugeben, daß sie auch nur ein einziges unfreundliches Wort über dich äußerte. Ich hätte hundert Herrinnen ins Gesicht schauen und ihnen allen widersprechen können. O nein, nein! Du hast mich niemals bekümmert. Meinen bittersten Trennungskummer erfuhr ich vor vielen Jahren, ehe ich in West Winston zu dir kam, um dich zu pflegen. Es war dies damals, als ich meinen Dienst in Porthgenna verließ – als ich mich an jenem furchtbaren Morgen in die Kinderstube stahl und dich mit deinen kleinen Armen den Hals meines Herrn umschlungen halten sah. In einer deiner Hände hieltst du die Puppe, welche du mit zu Bett genommen hattest, und dein Kopf ruhte an der Brust des Kapitäns, gerade so wie der meinige jetzt – o welch ein Glück, Rosamunde! – an der deinigen ruht. Ich hörte die letzten Worte, die er zu dir sprach, Worte, die du damals noch zu jung warst zu verstehen und zu behalten. ‚Still, liebe Rose’, sagte er. ‚Weine nicht mehr um die arme Mama, denke an den armen Papa und bemühe dich, ihn zu trösten.’ Dies, liebes Kind, war der bitterste und schwerste Kummer, den ich jemals zu tragen gehabt. Ich, deine eigene Mutter, stand dabei wie ein Spion und hörte ihn dies zu dem Kinde sagen, welches ich nicht als das meinige anzuerkennen wagte. ‚Denke an den armen Papa.’ Meine gute Rosamunde, jetzt weißt du, an welchen Vater ich dachte, als er diese letzten Worte sagte. Wie konnte ich ihm das Geheimnis mitteilen? Wie konnte ich ihm den Brief geben, während er niemand hatte, der ihn getröstet, als dich – während die furchtbare Wahrheit bei jedem Wort, welches er sprach, mein Herz zermalmte wie die Felsenwand, die den Vater erschlug, den du niemals gekannt.“

„Sprich jetzt nicht davon“, sagte Rosamunde. „Laß uns nicht wieder auf die Vergangenheit zurückkommen. Ich weiß davon alles, was ich wissen soll – alles, was ich davon zu wissen wünsche. Wir wollen von der Zukunft sprechen, Mutter, und von künftigen glücklichen Zeiten. Laß mich dir von meinem Gatten erzählen. Wenn Worte ihn loben können, wie er gelobt zu werden verdient – wenn Worte ihm danken können, wie ihm gedankt zu werden gebührt, dann geschieht es durch die meinigen, dann wird es, wie ich überzeugt bin, auch durch die deinigen geschehen. Laß mich dir erzählen, was er sagte und was er tat, als ich ihm den Brief vorlas, den ich in dem Myrtenzimmer gefunden. Ja, ja – laß mich dir dies erzählen.“

Der letzten Worte des Doktors eingedenk und heimlich zitternd, als sie das mühsame, unregelmäßige Puliseren des Herzens ihrer Mutter unter ihrer Hand fühlte, während sie zugleich den raschen Wechsel ihrer bald blassen, bald roten Gesichtsfarbe sah, beschloß sie, keine Worte mehr zwischen ihnen gesprochen werden zu lassen, welche geeignet wären, an den Kummer und die Leiden der Vergangenheit auf peinliche Weise zu erinnern.

Nachdem sie daher die Unterredung zwischen ihrem Gatten und ihr, welche mit der Enthüllung des Geheimnisses geschlossen, erzählt, veranlaßte sie ihre Mutter, von der Zukunft zu sprechen, von der Zeit, wo sie im Stande sein würde, wieder zu reisen, von dem Glück, miteinander nach Cornwall zurückzukehren, von dem kleinen Fest, welches sie bei ihrer Ankunft in Onkel Josephs Hause in Truro feiern könnten, und von der Zeit, wo sie weiter nach Porthgenna oder vielleicht irgend einem andern Orte gingen, wo neue Umgebungen und neue Gesichter ihnen alle trübe Erinnerungen, an welche es am besten sei nicht mehr zu denken, vergessen helfen würden.

Rosamunde sprach noch über diese Dinge und ihre Mutter hörte ihr noch mit steigendem Interesse an jedem Wort, welches sie sprach, zu, als Onkel Joseph zurückkam.

Er brachte einen Korb Blumen und einen Korb Obst mit, welche er triumphierend am Fuß des Bettes seiner Nichte emporhielt.

„Ich bin in dem schönen hellen Sonnenschein umhergewandelt, mein Kind“, sagte er, „um deinem Gesicht Zeit zu lassen, fröhlich auszusehen, damit ich es so wiedersehen möchte, wie ich es während meines noch übrigen Lebens stets zu sehen wünsche. Ja, Sara, ich habe dir endlich den rechten Doktor gebracht“, setzte er Rosamunden ansehend, in heiterm Tone hinzu. „Sie hat dir schon ein wenig geholfen. Warte noch ein wenig und sie wird dich ganz wieder auf die Füße bringen – deine Wangen werden so rot sein wie die meinigen, dein Herz ebenso leicht wie das meinige und deine Zunge wird ebenso schnell plappern wie die meinige. Sieh, die schönen Blumen und Früchte, die ich gekauft, sind wohltätig für deine Augen, angenehm für deine Nase, am allerangenehmsten aber werden die letztern dir sein, wenn du sie in den Mund steckst. Heute ist ein Festtag für uns und wir müssen das Zimmer schön und blank machen. Übrigens wird auch bald dein Essen kommen – ich habe es schon unten auf dem Anrichtetisch in der Küche gesehen – es ist ein wahrer Cherub unter Hühnern! Und dann folgt dein fester, wohltätiger Schlaf und Mozart wird das Wiegenlied singen und ich werde dasitzen und Wache halten und sobald du aufwachst, hinuntergehen und dir deine Tasse Tee holen. Ach, mein Kind, mein Kind! Welche Freude, daß wir endlich diesen Feiertag erlebt haben!“

Mit einem strahlenden Blick auf Rosmaunden und beide Hände voll Blumen nehmend, wendete er sich von seiner Nichte ab und begann das Zimmer zu dekorieren.

Mit Ausnahme des Augenblicks, wo sie dem alten Mann für die Geschenke dankte, die er mitgebracht, war ihre Aufmerksamkeit während der ganzen Zeit, wo er gesprochen, unverwandt dem Gesicht ihrer Tochter zugewendet gewesen, und ihre ersten Worte, als er schwieg, waren an Rosamunden allein gerichtet.

„Während ich mich über mein Kind freue“, sagte sie, „halte ich dich von dem deinigen fern. Ich aber sollte weniger als jeder andere Mensch euch so lange voneinander getrennt halten. Geh nun wieder nach Hause, liebe Tochter, zu deinem Gatten und deinem Kind, und überlaß mich meinen dankbaren Gedanken und meinen Träumen von bessern Zeiten.“

„Um Ihrer Mutter willen sagen Sie ja“, mischte Onkel Joseph sich ein, ehe Rosamunde antworten konnte. „Der Doktor sagt, sie müsse am Tage überhaupt ihre Ruhe haben wie in der Nacht. Und wie soll ich sie bewegen, die Augen zu schließen, solange sie die Versuchung hat, dieselben offen zu halten und auf Sie zu heften?“

Rosamunde sah die Wahrheit dieser letzten Worte ein und verstand sich dazu, auf einige Stunden nach dem Hotel zurückzukehren, jedoch in der Voraussetzung, daß sie am Abend wieder ihren Platz am Bett der Kranken einnähme.

Nachdem man diese Verabredung getroffen, wartete Rosamunde noch so lange im Zimmer, bis die Mahlzeit heraufgebracht ward, von welcher Onkel Joseph gesprochen, wo sie dann dem alten Manne beistand, um ihre Mutter zu überreden, dieses Mahl zu sich zu nehmen.

Als das Geschirr wieder fortgetragen war, und Rosamunde mit eigener Hand das Bett zurecht gemacht, vermochte sie endlich sich zu entfernen.

Die Arme ihrer Mutter hielten sie umschlungen und die Wange der Kranken schmiegte sich liebend an die ihrige.

„Geh nun, meine Tochter, oder ich kann es zuletzt nicht über mich gewinnen, mich auch nur einige Stunden von dir zu trennen“, murmelte die sanfte Stimme in ihrem leisestem, mildesten Tone. „Meine teure Rosamunde! Ich habe keine Worte, welche gut genug wären, dich zu segnen; keine Worte, die dir so zu danken vermöchten, wie ich es wünsche. Das Glück hat lange Zeit gebraucht, ehe es mich erreicht hat – aber o wie barmherzig hat die himmlische Vorsehung es mir doch noch gesendet!“

Ehe Rosamunde die Schwelle überschritt, blieb sie noch einmal stehen und blickte zurück in das Zimmer. Der Tisch, der Kaminsims, die kleinen eingerahmten Bilder an den Wänden waren mit Blumen bekränzt; die Spieluhr spielte eben die ersten Takte der herrlichen Arie Mozarts; Onkel Joseph saß schon auf seinem gewohnten Platz an dem Bett mit dem Fruchtkorbe auf den Knien. Das bleiche, abgezehrte Gesicht auf dem Pfühl ward mild durch ein Lächeln verklärt – Friede, Behaglichkeit und Ruhe – alles mischte sich in dem Krankenzimmer, alles vereinigte sich, um Rosamundes Gedanken friedlich bei der Hoffnung auf eine glücklichere Zeit verweilen zu lassen.

Drei Stunden vergingen. Die letzten Strahlen der Sonne leuchteten dem langen Sommertage am westlichen Himmel zur Ruhe, als Rosamunde an das Bett ihrer Mutter zurückkehrte. Leise trat sie in das Zimmer. Das einzige Fenster desselben hatte die Aussicht nach Westen, und auf dieser Seite des Bettes stand der Stuhl, welchen Onkel Joseph eingenommen, als sie ihn verlassen, und auf welchem sie ihn jetzt bei ihrer Rückkehr noch sitzend antraf. Er legte den Finger an den Mund und schaute nach dem Bett, als sie die Tür öffnete. Ihre Mutter schlief, mit ihrer Hand in der des alten Mannes ruhend.

Als Rosamunde sich geräuschlos näherte, sah sie, daß Onkel Josephs Augen trüb und müde aussahen. Die gezwungene Stellung, welche er einnahm, und die es ihm unmöglich machte, sich zu bewegen, ohne Gefahr zu laufen seine Nichte aufzuwecken, schien ihn allmälig zu ermüden.

Rosamunde legte Hut und Shawl ab und winkte ihm aufzustehen und sie seine Stelle einnehmen zu lassen.

„Ja, ja“, flüsterte sie, als sie ihn durch ein Kopfschütteln antworten sah. „Lassen Sie mich nun Ihren Posten einnehmen, während Sie ein wenig ausgehen und die kühle Abendluft genießen. Es steht nicht zu fürchten, daß sie erwachen werde; ihre Hand hält die Ihrige nicht umschlossen, sondern ruht bloß darin. Lassen Sie mich die meinige behutsam gegen die Ihrige vertauschen und wir werden sie nicht stören.“

Sie schob, während sie dies sagte, ihre Hand unter die ihrer Mutter. Onkel Joseph lächelte, während er sich von seinem Stuhl erhob und ihr seinen Platz überließ.

„Sie wollen es einmal so“, sagte er; „Sie sind für einen alten Mann, wie ich, viel zu rasch und zu gewitzt.“

„Schläft sie schon lange?“ fragte Rosamunde.

„Beinahe zwei Stunden“, antwortete Onkel Joseph. „Aber es ist nicht der gute Schlaf gewesen, den ich ihr gewünscht hätte, sondern ein träumender, sprechender, unruhiger Schlaf. Erst seit etwa zehn Minuten liegt sie so ruhig da, wie Sie sie jetzt sehen.“

„Haben Sie nicht vielleicht zu viel Licht hereingelassen?“ flüsterte Rosamunde, indem sie nach dem Fenster herumschaute, durch welches die Glut des Abendhimmels warm in das Zimmer fiel.

„Nein, nein!“ entgegnete er hastig. „Mag sie schlafen oder wachen, so will sie stets Licht haben. Wenn ich jetzt, wie Sie wünschen, auf eine Weile fortgehe und es dämmerig wird, ehe ich wiederkomme, so zünden Sie diese beiden Lichter auf dem Kaminsims an. Ich werde mich bemühen, noch eher wieder da zu sein, wenn aber die Zeit zu rasch vergehen sollte und Sara vielleicht aufwacht und seltsame Reden beginnt und oft von Ihnen hinweg in jene ferne Ecke des Zimmers schaut, so vergessen Sie nicht, daß die Zündhölzchen und die Lichter nebeneinander auf dem Kaminsims stehen und daß es am besten ist, wenn Sie die Lichter recht bald gleich nach Eintritt des ersten Zwielichts anzünden.“

Mit diesen Worten stahl er sich auf den Zehen nach der Tür und ging hinaus.

Seine letzten Worte erinnerten Rosamunden wieder an das, was diesen Morgen zwischen dem Doktor und ihr besprochen worden. Sie schaute wieder ruhig nach dem Fenster. Die Sonne sank eben hinter den fernen Dächern hoher Häuser hinab. Das Ende des Tages war nicht mehr fern.

Als sie ihr Gesicht wieder nach dem Bett wendete, fühlte sie, wie sie von einem augenblicklichen Frösteln beschlichen ward. Sie zitterte ein wenig, teils über das Gefühl selbst, teils über die Erinnerung, die dabei an jenes andere Frösteln erwachte, von welchem sie in der Einsamkeit des Myrtenzimmers befallen worden.

Angeregt durch die geheimnisvollen Sympathien der Berührung, bewegte sie die Hand ihrer Mutter in diesem Augenblick in der ihigen und über die wehmütige Friedlichkeit des müden Angesichts zuckte eine augenblickliche Unruhe – der fliegende Schatten eines Traums. Die bleichen, getrennten Lippen öffneten sich, schlossen sich, zitterten und öffneten sich wieder, die leisen Atemzüge kamen und gingen immer rascher und rascher; der Kopf bewegte sich unruhig auf dem Pfühl; die Augenlider öffneten sich halb; leise, schwache, stöhnende Töne entrangen sich rasch den Lippen – verwandelten sich bald in halb artikulierte Redesätze – und gingen dann allmälig in verständliche Worte über.

„Schwöre“, stammelte sie, „daß du dieses Papier nicht vernichten willst! Schwöre, daß du es nicht mit fortnehmen willst, wenn du das Haus verlässest.“

Die Worte, welche auf diese folgten, wurden so rasch und leise geflüstert, daß Rosamundes Ohr sie nicht zu erhaschen vermochte. Es folgte ein kurzes Schweigen. Dann sprach die träumerische Stimme plötzlich wieder und lauter.

„Wo? Wo? Wo?“ rief sie. „In dem Bücherschrank? In dem Tischkasten? – Halt! Halt! In dem Bilder der gespenstigen Frau –“

Bei diesen letzten Worten ging es Rosamunden eiskalt durchs Herz. Sie fuhr mit einer Bewegung des Schreckens plötzlich zurück – bemeisterte sich jedoch sofort wieder und neigte sich über das Bett.

Es war aber zu spät. Ihr Hand hatte, als sie zurückfuhr, eine hastige Bewegung gemacht, und die Kranke erwachte zusammenfahrend und mit einem leisen Schrei. Ihre Augen blickten stier mit dem Ausdruck der größten Angst vor sich hin und der Schweiß stand ihr in dichten Perlen auf der Stirn.

„Mutter!“ rief Rosamunde, indem sie sich auf dem Pfühl emporrichtete. „Ich bin wieder da. Kennst du mich nicht?“

„Mutter?“ wiederholte sie in traurigem, fragendem Tone, „Mutter?“

Bei der zweiten Wiederholung dieses Wortes ward ihr Gesicht von einer hellen Röte der Freude und Überraschung übergossen und sie schlang plötzlich beide Arme um den Hals ihrer Tochter.

„O, meine Rosamunde!” sagte sie. „Wäre ich jemals gewohnt gewesen, zu erwachen und dann dein teures Antlitz auf mich gerichtet zu sehen, dann würde ich dich trotz meines Traumes eher wiedererkannt haben. Hattest du mich geweckt, liebe Tochter? Oder erwachte ich von selbst?“

„Ich fürchte, ich hatte dich geweckt, Mutter.“

„Sage nicht: ‚Ich fürchte.’ Mit Freuden würde ich aus dem süßesten Schlaf, den je ein Mensch genossen, erwachen, um dein Gesicht zu sehen und dich ‚Mutter’ zu mir sagen zu hören. Du hast mich von der Angst eines meiner schrecklichen Träume befreit. O, Rosamunde, ich glaube, ich könnte glücklich leben in deiner Liebe, wenn ich nur Porthgenna Tower aus den Gedanken bringen könnte – wenn ich nicht mehr an das Schlafzimmer dächte, in welchem meine Herrin starb, und an das Zimmer, worin ich den Brief versteckte.“

„Wir wollen nun Porthgenna Tower zu vergessen suchen“, sagte Rosamunde. „Wollen wir vielleicht von andern Orten sprechen, wo ich gelebt und die du noch niemals gesehen? Oder soll ich dir vorlesen? Hast du vielleicht ein Buch hier, welches du gern liesest?“

Rosamunde blickte über das Bett hinüber nach dem Tisch auf der andern Seite. Es war auf demselben nichts zu sehen als einige Flaschen Arzenei, einige von Onkel Josephs Blumen in einem Glas Wasser und ein kleines längliches Arbeitskästchen. Dann schaute sies ich nach der Kommode um, die hinter ihr stand, aber auch hier waren keine Bücher zu sehen. Ehe sie ihre Augen wieder nach dem Bett wendete, schweiften dieselben seitwärts nach dem Fenster. Die Sonne war hinter den Dächern der Häuser hinabgesunken – das Ende des Tages stand nahe bevor.

„Wenn ich nur vergessen könnte! O, wenn ich nur vergessen könnte!“ sagte ihre Mutter seufzend, indem sie mit der Hand auf die Bettdecke schlug.

„Bist vielleicht wohl genug, liebe Mutter, um dir die Zeit ein wenig mit Arbeit zu vertreiben?“ fragte Rosamunde, indem sie auf das kleine längliche Arbeitskästchen zeigte und das Gespräch auf ein harmloses alltägliches Thema zu leiten suchte. „Was für Arbeiten machst du? Darf ich einmal hineinsehen?“

Saras Gesicht verlor den müden, leidenden Ausdruck und ward abermals durch ein Lächeln verklärt.

„Es ist keine Arbeit darin“, sagte sie. „Alle Schätze, die ich auf dieser Welt hatte, ehe du zu mir kamst, sind in dieses eine kleine Kästchen eingeschlossen. Öffne es, meien Liebe, und schaue hinein.“

Rosamunde gehorchte, indem sie das Kästchen auf das Bett stellte, sodaß ihre Mutter es mit leichter Mühe sehen konnte. Der erste Gegenstand, den sie darin entdeckte, war ein kleines Buch in schwarzem, abgenutztem Einband. Es war ein altes Gesangbuch. Einige vertrocknete Grashalme lagen zwischen den Blättern und auf einem der leeren Blätter stand geschrieben: „Dies Buch gehört Sara Leeson, welche es von Hugh Polwheal geschenkt erhalten.“

„Sieh es an, liebe Tochter“, sagte Sara. „Ich wünsche, daß du es wiedererkennen mögest. Wenn meine Zeit kommt, dich zu verlassen, Rosamunde, lege es mir mit deinen eigenen teuren Händen auf die Brust und eine Locke von deinem Haar dazu und begrabe mich auf dem Kirchhofe von Porthgenna, wo er schon so viele lange Jahre auf mich wartet. Die andern Sachen in dem Kästchen gehören dein, Rosamunde. Es sind gestohlene Andenken, welche mich an mein Kind erinnerten, als ich allein in der Welt stand. Vielleicht wirst du nach Jahren, wenn dein Haar ebenso zu ergrauen beginnt wie das meinige, diese armseligen Kleinigkeiten deinen Kindern zeigen, wenn du ihnen von mir erzählst. Trage kein Bedenken, Rosamunde, ihnen zu sagen, wie deine Mutter gefehlt und wie sie gelitten – zuletzt kannst du allemal diese Kleinigkeiten für sie sprechen lassen. Die geringste davon wird zeigen, daß sie dich stets geliebt hat.“

Sie nahm aus dem Kästchen ein Stück sauber zusammengefaltetes weißes Papier, welches unter dem Gesangbuche gelegen, öffnete es und zeigte ihrer Tochter einige darinliegende verwelkte Geiskleeblätter.

„Diese Blätter nahm ich mit von deinem Bett hinweg, Rosamunde, als ich nach West Winston kam, um dich zu pflegen. Als ich hörte, wer die Dame in dem Gasthause sei, konnte ich nicht der Versuchung widerstehen, alles zu wagen, um dich und mein Enkelkind zu sehen. Ich versuchte, nachdem ich die Blumen genommen, auch noch ein Band aus deinem Koffer zu nehmen – ein Band, von dem ich wußte, daß du es um den Hals getragen. Der Arzt aber kam mir zu nahe und erschreckte mich.“

Sie faltete das Papier wieder zusammen, legte es neben sich auf den Tisch und nahm dann aus dem Kästchen einen kleinen Kupferstich, welcher früher zu den Illustrationen eines Taschenbuchs gehört hatte. Das Bild stellte ein kleines Mädchen vor, welches mit einem Zigeunerhut auf dem Kopfe am Rande eines Flusses saß und eine Kette von Maßlieben flocht. Als Zeichnung hatte es durchaus keinen Wert, als Kupferstich hatte es nicht einmal das mechanische Verdienst, ein guter Abdruck zu sein. Darunter standen mit Bleistift die Worte geschrieben: „Rosamunde, als ich sie das letzte Mal sah.“

„Es war nicht hübsch genug, um dich darzustellen“, sagte Sara. „Dennoch aber lag etwas darin, was meine Erinnerung an dich unterstützte, als du noch ein kleines Mädchen warst.“

Sie legte den Kupferstich mit den Geiskleeblättern auf die Seite und nahm dann aus dem Kästchen ein aus einem Schreibebuch geschnittenes, zusammengefaltetes Blatt Papier, aus welchem ein schmaler, mit kleinen Buchstaben bedruckter Streifen fiel. Diesen Streifen sah sie zuerst an.

„Es ist die öffentliche Bekanntmachung deiner Verheiratung, Rosamunde“, sagte sie. „Ich pflegte sie immer und immer wieder zu lesen, wenn ich allein war, und versuchte mir zu denken, wie du dabei ausgesehen und was für ein Kleid du getragen. Hätte ich Zeit und Stunde deiner Vermählung gekannt, so hätte ich mich in die Kirche gewagt, um dich und deinen Bräutigam zu sehen. Das sollte aber nicht sein – und vielleicht war es so auch am besten, denn hätte ich dich auf diese verstohlene Weise gesehen, so wären mir meine Prüfungen später vielleicht nur um so schwerer zu ertragen gewesen. Ich hatte kein anderes Andenken an dich, Rosamunde, als dieses Blatt aus deinem ersten Schreibebuch. Das Kindermädchen in Porthgenna zerriß das Buch eines Tages, um Feuer damit anzuzünden, und ich nahm dieses Blatt weg, als sie zufällig anderswohin sah. Siehe, du warst damals noch gar nicht bis zu Worten gekommen – du konntest bloß Haar- und Grundstriche machen. O, wie oft habe ich dieses eine Blatt Papier betrachtet und mir zu denken versucht, daß ich deine kleine Kinderhand mit der Feder fest zwischen den rosigen Fingern sich darüber hinbewegen sähe. Ich glaube, ich habe über diesem deinem ersten Schreibversuche öfter geweint als über allen andern Andenken an dich zusammengenommen.“

Rosamunde wendete ihr Gesicht seitwärts nach dem Fenster, um die Tränen zu verbergen, die sie nicht länger unterdrücken konnte. Als sie dieselben hinwegwischte, verkündete ihr der erste Anblick des dunkler werdenden Himmels, daß bald die Abenddämmerung hereinbrechen würde.

Wie matt und eintönig sah jetzt die Röte am westlichen Himmel! Wie nahe war der Schluß des Tages herangerückt!

Als sie sich wieder nach dem Bett wendete, betrachtete ihre Mutter immer noch das Blatt aus dem Schreibebuche.

„Jenes Kindermädchen, welches das ganze übrige Buch zerriß, um Feuer damit anzuzünden“, sagte sie, „war in jenen frühen Tagen in Porthgenna eine sehr gute und liebevolle Freundin von mir. Sie erlaubte mir zuweilen, dich zu Bett zu bringen zu dürfen, Rosamunde, und quälte mich niemals mit Fragen oder dergleichen, wie die andern Dienstleute zu tun pflegten. Sie setzte sich dadurch, daß sie so freundlich gegen mich war, der Gefahr aus, ihren Dienst zu verlieren. Meine Herrin fürchtete, daß ich mich und sie verraten würde, wenn ich zu viel in der Kinderstube wäre, und verbot mir daher, dorthin zu gehen, denn es sei einmal nicht mein Platz. Keiner der andern Dienerinnen ward so oft verwehrt, mit dir zu spielen und dich zu küssen, Rosamunde, wie mir. Das Kindermädchen aber – Gott schenke ihr Segen und Gedeihen dafür! – stand mir als Freundin zur Seite. Oft hob ich dich in deinem kleinen Bett empor, liebes Kind, und wünschte dir gute Nacht, wenn meine Herrin glaubte, ich säße in ihrem Zimmer und arbeitete. Du pflegtest zu sagen, du hättest deine Wärterin lieber als mich, aber du sagtest mir dies niemals in unfreundlichem Tone, sondern botest mir deine lachenden Lippen so oft als ich dich um einen Kuß bat.“

Rosamunde legte ihr Haupt sanft auf den Pfühl neben das ihrer Mutter.

„Versuche weniger an die Vergangenheit und mehr an die Zukunft zu denken, liebe Mutter“, flüsterte sie bittend. „Versuche an die Zeit zu denken, wo mein Kind dir diese vergangenen Tage ohne deren Bitterkeit und Kummer zurückrufen wird – die Zeit, wo du es lehren wirst, seine Lippen den deinen zu bieten, wie ich dir die meinigen zu bieten pflegte.“

„Ich will es versuchen, Rosamunde – meine einzigen Gedanken an die Zukunft sind seit langen Jahren nur dem Wiedersehen im Himmel zugewendet gewesen. Wenn meine Sünden mir verziehen werden, wie werden wir uns dann dort wiedersehen? Wirst du mir sein, wie mein kleines Töchterchen – das Kind, welches ich nicht wiedergesehen, seitdem es fünf Jahre alt war. Ich möchte wissen, ob Gottes Gnade mich für unsere lange Trennung auf Erden entschädigen wird. Ich möchte wissen, ob du mir in jener Welt mit deinem kindlichen Antlitz erscheinen und das sein wirst, was du mir auf Erden hättest sein sollen – mein kleiner Engel, den ich auf meinen Armen tragen kann. Wenn wir im Himmel beten, werde ich dich dann dort dein Gebet lehren zum Trost dafür, daß ich es dich niemals hienieden lehren gekonnt?“

Sie schwieg, lächelte wehmütig, schloß die Augen und überließ sich schweigend den träumerischen Gedanken, welche noch ihr Gemüt bewegten. In der Meinung, daß sie wieder einschlummern würde, wenn man sie ungestört ließe, vermied Rosamunde, sich zu bewegen oder zu sprechen. Nachdem sie das friedliche Antlitz eine Zeit lang betrachtet, ward sie sich bewußt, daß das Licht auf demselben immer mehr hinwegschwand.

So wie diese Überzeugung sich ihr aufdrängte, schaute sie wieder nach dem Fenster herum. Die westlichen Wolken trugen bereits ihre ruhigen Zwielichtfarben – das Ende des Tages war da.

In dem Augenblick, wo sie sich auf dem Stuhl bewegte, fühlte sie die Hand ihrer Mutter auf ihrer Schulter. Als sie sich wieder nach dem Bett herumdrehte, sah sie die Augen der Kranken offen und auf sie geheftet.

Der Ausdruck dieser Augen kam ihr verändert vor – er war stier und unheimlich.

„Warum spreche ich vom Himmel?“ sagte sie, indem sie ihr Gesicht plötzlich dem dunkler werdenden westlichen Horizont zuwendete und in leisem murmelnden Tone sprach: „Woher weiß ich, daß ich würdig bin, in den Himmel einzugehen? Und dennoch, Rosamunde, habe ich mich keiens Eidbruchs gegen meine Herrin schuldig gemacht. Du kannst mir bezeugen, daß ich den Brief nicht vernichtet und daß ich ihn ebenso wenig mitgenommen, als ich das Haus verließ.“

„Es wird bald dunkel werden, Mutter. Laß mich einen Augenblick aufstehen, um die Lichter anzuzünden.“

Saras Hand bewegte sich langsam aufwärts und klammerte sich fest um Rosamundes Hals.

„Ich hatte nicht geschworen, ihm den Brief zu geben“, sagte sie. „Es war kein Verbrechen, ihn zu verbergen. Du fandest ihn in einem Bilde, Rosamunde, nicht wahr? Man pflegte es das Bild des Gespenstes von Porthgenna zu nennen. Niemand wußte, wie alt es war oder wenn es in das Haus gekommen. Meine Herrin haßte es, weil das gemalte Gesicht eine seltsame Ähnlichkeit mit dem ihrigen hatte. Eines Tages befahl sie mir, es von der Wand zu nehmen und zu vernichten. Ich scheute mich, es zu tun; deshalb versteckte ich es – es geschah dies noch, ehe du geboren warst – in dem Myrtenzimmer. Du fandest den Brief auf der Hinterseite des Bildes, nicht wahr, Rosamunde? Und dennoch war dies ein guter Ort, um ihn zu verbergen. Niemand würde jemals das Bild gefunden haben. Warum sollte jemand den Brief finden, der darin verborgen war?“

„Laß mich Licht anzünden, Mutter! Nicht wahr, du möchtest gern Licht haben?“

„Nein, jetzt noch nicht. Laß die Dunkelheit sich erst dort in dem Winkel des Zimmers sammeln. Richte mich auf und laß mich flüstern.“

Der umschlingende Arm hielt sich fester an, während Rosamunde ihre Mutter im Bett aufrichtete. Das entschwindende Licht fiel durch das Fenster auf ihr Gesicht und spiegelte sich in ihren starr vor sich hinblickenden Augen.

„Ich warte auf etwas, was sich allemal in der Dämmerung einfindet, ehe die Lichter angezündet werden“, flüsterte sie leise und atemlos. „Dort unten!“

Und sie zeigte auf die entfernteste Ecke des Zimmers neben der Tür.

„Mutter, um Gottes willen, was ist es! Was hat dich so verändert?“

„So ist es recht! Sag Mutter! Wenn sie auch wirklich kommt, so kann sie doch nicht bleiben, wenn sie hört, daß du mich Mutter nennst, wenn sie uns endlich beisammen sieht, trotz ihrer Ränke einander liebend und kennend. O, mein gutes, sanftes, mitleidiges Kind, wenn du mich nur von ihr befreiest, wie lange kann ich dann noch leben! – Wie glücklich können wir beide noch sein.“

„Sprich nicht so! Blicke nicht so! Sage mir ruhig – liebe, liebe Mutter – sage mir ruhig –“

„Still, still! Ich will es dir sagen. Sie drohte mir auf ihrem Sterbebett – wenn ich ihre Absicht vereitelte, so würde sie aus der andern Welt mich heimsuchen. Rosamunde, ich habe ihre Absicht vereitelt und sie hat ihr Versprechen gehalten – mein ganzes Leben lang seit jener Zeit hat sie ihr Wort gehalten. Schau! Dort unten!“

Ihr linker Arm hielt immer noch Rosamundes Hals umschlungen. Ihren rechten streckte sie nach der fernen Ecke des Zimmers aus und hob ihre Hand wie drohend gegen die leere Luft.

„Schau!“ sagte sie. „Dort ist sie, wie sie immer zu mir kommt, wenn der Tag sich neigt – in dem groben, schwarzen Anzuge, den meine verbrecherischen Hände für sie fertigten – mit dem Lächeln, welches auf ihrem Gesicht schwebte, als sie mich fragte, ob sie wohl aussähe wie eine Zofe. Herrin! Herrin! O, ruhe endlich! Das Geheimnis gehört nicht mehr unser. Ruhe endlich! Mein Kind ist wieder mein. Ruhe endlich und tritt nicht wieder zwischen uns.“

Sie schwieg, nach Atem keuchend und legte ihre heiße, pulsierende Wange an die Wange ihrer Tochter.

„Nenne mich noch einmal Mutter!“ flüsterte sie. „Sag es laut und banne sie damit hinweg für immer!“

Rosamunde bemeisterte die Angst, vor welcher sie an allen Gliedern erzitterte, und sprach das Wort.

Ihre Mutter beugte sich ein wenig vorwärts, immer noch nach Atem keuchend, und blickte mit angestrengter Sehkraft in die ruhige Dämmerung an dem untern Ende des Zimmers.

Sie ist weg!!!“ rief sie plötzlich, vor Frohlocken und Freude laut aufschreiend. „O barmherziger Gott, sie ist endlich weg!“

Im nächsten Augenblick sprang sie in ihrem Bett auf und sank auf die Knie nieder. Einen einzigen Augenblick lang schimmerten ihre Augen in dem grauen Zwielicht mit strahlender, überirdischer Schönheit, während sie einen letzten Blick der Liebe auf das Gesicht ihrer Tochter heftete.

„O, meine Liebe, mein Engel“, murmelte sie, „wie glücklich werden wir nun miteinander sein!“

Indem sie diese Worte sprach, schlang sie ihre Arme um Rosamundes Hals und drückte ihre Lippen entzückt auf die Lippen ihres Kindes.

Der Kuß zögerte, bis ihr Haupt sanft vorwärts sank, an Rosamundes Brust – zögerte, bis der Augenblick der göttlichen Barmherzigkeit kam und das müde Herz endlich Ruhe fand.


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