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Die Blinde



Zwölftes Kapitel - »Wer soll entscheiden, wenn die Aerzte verschiedener Meinung sind.«

Wir waren gewiß noch keine zehn Minuten im Garten gewesen, als wir durch ein von dem Fenster des Wohnzimmers zu uns dringendes merkwürdiges Geschrei unterbrochen wurden. »He, he, hi, hi, ho, ho!« Wir blickten auf und sahen Herrn Grosse der am Fenster stand und ein großes rothseidenes Schnupftuch wie wahnsinnig schwenkte.

»Frühstück, Frühstück!« schrie der deutsche Arzt. »Die Consultation ist zu Ende, kommen Sie rasch, lassen sie uns anfangen!« .

Diesem peremtorischen Geheiß gehorchend kehrten Nugent, Lucilla und ich in’s Wohnzimmer zurück. Wir hatten, wie ich vorausgesehen, Oscar allein im Garten auf- und abgehend gefunden. Er hatte mich mit einer Geberde gebeten, Lucilla von seiner Anwesenheit nichts zu sagen, und war fortgeeilt, um sich in, einem der Seitengange zu verbergen. Es war jammervoll, seine Aufregung zu sehen. Es war unmöglich, ihm in jenem angstvollen Augenblick in Lucilla’s Gegenwart zu trauen.

Als wir die beiden Augenärzte verlassen hatten, hatte ich Zillah mit einer geschriebenen Botschaft an den Ehrwürdigen Finch geschickt, in welcher ich ihn bat, sich die Sache noch einmal zu Überlegen und, wenn auch nur der Form wegen, in dem für seine Tochter so hochwichtigen Augenblick des Ausspruches der Aerzte über ihren Fall zugegen zu sein. Bei unserem Wiedereintritt in’s Haus erhielt ich am Fuße der Treppe die auf einem Streifen Predigtpapier geschriebene Antwort

»Herr Finch erklärt, es entschieden ablehnen zu müssen, eine Prinzipienfrage irgend welchen nur von der Zweckmäßigkeit dictirten Erwägungen zu unterwerfen. Er erlaubt sich, Madame Pratolungo ernstlich an das zu erinnern, was er ihr bereits gesagt habe, mit andern Worten, er bittet sie wiederholt, nicht zu vergessen, daß er auf seinem Stück besteht.

Als wir wieder ins Zimmer traten, fanden wir die die beiden berühmten Augenärzte so weit wie irgend möglich von einander entfernt sitzen. Beide Herren lasen. Herr Sebright las in einem Buch. Herr Grosse las — in der Mayonaise.

Ich stellte mich dicht neben Lucilla und ergriff ihre Haud. Sie war kalt wie Eis. Mein armes liebes Kind zitterte zum Erbarmen. Es waren Augenblicke unaussprechlicher Qual für sie, diese Augenblicke der Ungewißheit, bevor die Aerzte ihren Ausspruch thaten. Ich drückte ihre kleine Hand in der meinigen und flüsterte »Muth!«

Ich gehöre wahrhaftig nicht zu den sentimentalen Naturen, aber ich kann in Wahrheit sagen, mein Herz blutete für sie.

»Nun, meine Herren«, sagte Nugent, »was ist das Resultat Ihrer Consultation?« Haben Sie sich geeinigt?«

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»Nein«, sagte Herr Sebright, indem er das Buch bei Seite legte.

»Nein«, sagte Herr Grosse, indem er mit der Mayonnaise liebäugelte.

Lucilla, die fortwährend die Farbe wechselte und deren Busen immer gewaltiger wogte, wandte ihr Gesicht zu mir. Ich flüsterte ihr zu, sie möge sich beruhigen.

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»Einer von ihnen«, sagte ich, »ist jedenfalls der Ansicht, daß Sie geheilt werden können.« Sie verstand mich und wurde sofort ruhiger. Nugent fuhr fort die beiden Aerzte zu befragen.

»Worin weichen Sie voneinander ab«, fragte er, »wollen Sie uns Ihre Ansichten nicht mittheilen?«

Nun gab es wieder einen langweiligen Etiquettenstreit zwischen unseren beiden ärztlichen Berathern. Herr Sebright verneigte sich gegen Herrn Grosse mit einer Miene, die da sagte: »Sie zuerst.« Herr Grosse verneigte sich wieder gegen Herrn Sebright, was so viel sagen wollte: »Nein, Sie zuerst!« Bei dieser lächerlichen, professionellen Zurückhaltung riß mir die Geduld.

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»Reden Sie doch beide zugleich, meine Herren, wenn Ihnen das lieber ist«, sagte ich in scharfem Tone. »Um’s Himmelswillen, thun Sie, was Sie wollen, aber lassen Sie uns nicht in dieser Ungewißheit. Ist es möglich, oder ist es nicht möglich, unserer Lucilla ihre Sehkraft wiederzugeben?«

»Ja«, sagte Herr Grosse.

Mit einem Freudenschrei sprang Lucilla auf.

»Nein«, sagte Herr Sebright.

Lucilla sank wieder in ihren Stuhl zurück und lehnte ihren Kopf schweigend an meine Schulter.

»Sind Sie einer Meinung in Betreff der Ursache ihrer Blindheit?« fragte Nugent.

»Es ist der graue Staar.« antwortete Herr Grosse.

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Herr Sebright. »Es ist der graue Staar.«

»Der graue Staar ist heilbar«, fuhr der Deutsche fort.

»Auch das halte ich für richtig«, bemerkte der Engländer, »aber mit dem Vorbehalt, der graue Staar ist bisweilen heilbar.«

»Dieser Staat ist heilbar!« rief Herr Grosse.

»Mit aller schuldigen Achtung«, fügte Herr Sebright, »muß ich doch dieser Meinung widersprechen. Der Staar bei Fräulein Finch ist nicht heilbar.«

»Können Sie uns Ihre Gründe für diese Ansicht sagen?« fragte ich.

»Meine Ansicht «, sagte Herr Sebright, stützt sich auf Erwägungen, zu deren Verständniß Fachkenntnisse erforderlich sind. Ich kann nur so viel sagen, daß ich nach der genauesten und gewissenhaftesten Untersuchung zu der Ueberzeugung gelangt bin, daß Fräulein Finch ihre Sehkraft für immer verloren hat. Und der Versuch, dieselbe durch eine Operation wieder herzustellen, würde nach meiner Ansicht nicht zu rechtfertigen sein. Die junge Dame würde sich nicht nur der Operation unterziehen, sondern sich auch gefallen lassen müssen, sich noch sechs bis acht Wochen — nach der Operation in einem dunklen Zimmer aufzuhalten. Ich brauche Sie wohl kaum darauf aufmerksam zu machen, daß sie während dieser Zeit unbedingt die zuversichtlichste Hoffnung auf ihre Wiederherstellung nähren würde. Ueberzeugt, wie ich es bin, daß das von ihr verlangte Opfer vergeblich sein würde, kann ich es aber nur für äußerst unwünschenswerth halten, unsere Patientin den moralischen Folgen einer Enttäuschung auszusetzen, welche sie sich natürlich sehr zu Herzen nehmen wird. Sie hat sich von ihrer frühesten Jugend an daran gewöhnt, ihre Blindheit mit Ergebung zu tragen. Als ein rechtschaffener Mann, der sich verpflichtet fühlt, seine Meinung ganz und entschieden auszusprechen, kann ich Ihnen nur rathen diese Ergebung nicht weiter auf die Probe zu stellen Ich erkläre, daß es nach meiner Ueberzeugung mindestens nutzlos und möglicherweise gefährlich wäre, eine Operation zum Zweck der Wiederherstellung ihrer Sehkraft an ihr vorzunehmen.«

In dieser klaren und entschiedenen Weise sprach sich der Engländer aus.

Lucilla’s Hand umklammerte die meinige krampfhaft. »Grausam, grausam,« murmelte sie zornig vor sich hin. Ich ermahnte sie durch einen kleinen Druck meiner Hand zur Geduld und blickte in schweigender Erwartung nach Herrn Grosse, auf den auch Nugent eben seine Blicke gerichtet hatte. Der Deutsche stand bedächtig auf und wackelte nach der Stelle hin, wo Lucilla und ich zusammen saßen.

»Ist der gute Herr Sebright fertig?« fragte er.

Herr Sebright antwortete nur mit seiner ewig gleichen Verneigung .

Gut! So will ich jetzt meine Meinung sagen«, sagte Herr Grosse. »Ich will mich ganz kurz fassen. Mit aller Achtung vor Herrn Sebright muß ich doch gegen das, was er nur meint, das in die Wagschale werfen, was ich, Grosse mit diesen meinen Händen gethan habe. Einen Staar, wie ihn das Fräulein da hat, habe ich schon öfter gestochen, schon öfter geheilt. Sehen Sie einmal her!« Mit diesen Worten drehete er sich plötzlich nach Lucilla um, schlug seine Manschette zurück, legte die Zeigefinger seiner beiden Hände auf die beiden Seiten ihrer Stirn und schob mit seinen beiden dicken Daumen ihre Augenlider sanft zurück. »Ich verpfände Ihnen mein Wort als Augenarzt«, sagte er, »daß mein Messer das Licht hier hineindringen lassen soll. Dieses liebenswürdige und charmante Mädchen soll noch liebenswürdiger und charmanter werden als zuvor. Aber zuvor muß meine hübsche Lucilla so wohl sein wie möglich; sie muß sich zunächst ganz meiner Leitung anvertrauen und dann — eins, zwei, drei! Und meine hübsche Lucilla kann wieder sehen.«

Mit diesen Worten schob er Lucilla’s Augenlider abermals zurück, heftete seine Glotzaugen durch seine Brillengläser hindurch fest auf sie, applicirte ihr auf die Stirn den lautesten Kuß, den ich je in meinem Leben gehört habe, lachte, daß die Stube zitterte und kehrte dann auf seinen Posten als Wache vor der Mayonnaise zurück. »Nun«, rief er heiter aus, »sind wir mit dem Reden fertig. Jetzt kann, Gott sei Dank, das Essen anfangen.«

Lucilla stand wieder auf und fragte: »Wo sind Sie Herr Grosse?«

»Hier, liebes Kind.«

Sie ging durchs Zimmer nach dem Tisch, an welchem er bereits damit beschäftigt, sich sein Lieblingsgericht vorzuschneiden, saß.

»Haben Sie gesagt, daß Sie ein Messer gebrauchen müssen, mir meine Sehkraft wieder zu geben?« fragte sie ganz ruhig.

»Ja, ja, fürchten Sie sich nicht davor. Es thut nicht sehr weh — nicht sehr weh.«

Sie gab ihm einen kleinen Schlag aus die Schulter.

»Kommen Sie. Herr Grosse, wenn Sie Ihr Messer bei sich haben — hier bin ich, thun Sie es gleich.«

Nugent und Herr Sebright fuhren zusammen; ihre Kühnheit setzte sie beide in Erstaunen. Ich bin der größte Poltron in Betreff aller wundärztlichen Operationen, das heißt, wenn sie an mir oder Andern vorgenommen werden. Lucilla erschreckte mich; ich stürzte auf sie zu und war närrisch genug, laut aufzuschreien.

Aber schon ehe ich sie erreichen konnte, war Herr Grosse ihrem Befehl gehorsam, mit einem leckeren Bissen aus der Spitze seiner Gabel aufgestanden. »Sie allerliebste kleine Närrin«, sagte er, »so rasch steche ich keinen Staar. Für heute will ich eine andere Operation mit Ihnen vornehmen«, und dabei steckte er ihr das Stück Huhn ohne Umstände in den Mund. »Aha, beißen Sie gut zu, es ist gut. Nun setzen Sie sich Alle herkommen Sie, lassen Sie uns frühstücken.«

Er war unwiderstehlich; wir setzten uns Alle zu Tisch.

Wir Uebrigen aßen, Herr Grosse schlang Alles gierig hinunter, von der Mayonnaise bis zur Fruchttorte und wieder von der Fruchttorte bis zur Mayonnaise und dann wieder von der Mayonnaise zu Schinkenbutterbröten und Pudding und schließlich, so wahr ich eine rechtschaffene Frau bin, noch einmal zur Mayonnaise zurück. Sein Trinken hielt Schritt mit seinem Essen. Bier, Wein, Branntwein — er verschmähte nichts und mischte alles unter einander. Die leichteren Beigaben des Mahles, Mandeln und Rosinen, eingemachten Ingber und überzuckerte Früchte, aß er zu allem. Ein Gericht Oliven hatte sich seiner besonderen Gunst zu erfreuen. Mit beiden Händen griff er hinein und stopfte sich die Hosentaschen damit voll. »So«, erklärte er, »brauche ich Niemand zu bitten, mir die Schüssel zu reichen. Ich werde so viel Oliven, wie ich zu essen Lust habe, immer bei mir haben. Als er nicht mehr essen und trinken konnte, ballte er seine Serviette zu einer Kugel zusammen und gab sich einer andächtig dankbaren Stimmung hin. »Wie gütig von Gott«, bemerkte er, »daß er, als er die Welt schuf, auch Essen und Trinken mit schuf! O«, seufzte Herr Grosse, indem er sich beide Hände mit ausgespreizten Fingern sanft aus den Bauch legte, »wie viel Glückseligkeit wohnt doch hier für den Menschen.«

Herr Sebright sah nach seiner Uhr.

»Wenn die Frage der Operation noch weiter besprochen werden soll, so muß es gleich geschehen«, sagte Herr Sebright. »Wir haben kaum noch fünf Minuten, Sie haben meine Ansicht gehört und ich bleibe dabei.«

Herr Grosse nahm eine Prise und sagte: »Und ich bleibe bei meiner Meinung.«

Lucilla wandte sich der Stelle zu, von welcher aus Herr Sebright gesprochen hatte.

»Ich· danke Ihnen für das Aussprechen Ihrer Ansicht, Herr Sebright«, sagte sie in einem sehr ruhigen und festen Ton. »Ich bin entschlossen, es mit der Operation zu versuchen. Wenn sie mißlingt, so werde ich bleiben, was ich jetzt bin. Wenn sie gelingt, so giebt sie mir ein neues Leben. Für die Möglichkeit meine Sehkraft wieder zu gewinnen, will ich aber Alles ertragen und Alles wagen.«

Mit diesen denkwürdigen Worten bahnte sie den Weg für das bedeutsamste Ereigniß in ihrem und in unserem späteren Leben, das zu schildern die Aufgabe dieser Erzählung ist.

Herr Sebright antwortete in seiner reservirten Weise:

»Ich kann nicht behaupten, daß Ihr Entschluß mich überrascht. Wie aufrichtig ich denselben auch bedaure, so muß ich doch zugeben, daß er in Ihrem Falle ganz natürlich ist.«

Lucilla wandte sich nun an Herrn Grosse.

»Bestimmen Sie selbst den Tag. Je eher, desto lieber, morgen, wenn Sie wollen.«

»Sagen Sie mir eines, mein Kind«, erwiderte der Deutsche mit einer Feierlichkeit des Tones und des Ausdrucks, die uns ganz neu an ihm war, »meinen Sie wirklich, was Sie sagen?«

Sie antwortete ihm ebenso feierlich: »Ich meine, was ich sage.«

»Gut, Alles hat seine Zeit, der Spaß und der Ernst. Jetzt ist es Zeit, ernst zu sein. Ich habe Ihnen, bevor ich gehe, mein letztes Wort zu sagen.«

Mit seinen wilden schwarzen Augen starrte er Lucilla durch seine Eulenbrillengläser an und stellte ihr in seinem gebrochenen Englisch, aber in einem höchst eindringlichen Ton die Nothwendigkeit vor, es mit der Operation, die er an ihr zu vollziehen unternommen habe, sehr ernst zu nehmen und sich gehörig auf dieselbe vorzubereiten. Sein Ton erleichterte mich sehr. Er sprach in dem Gefühl einer Autorität, die sie zu gespannter Aufmerksamkeit zwang. Vor allen Dingen ermahnte er Lucilla, es sich wohl gesagt sein zu lassen, daß wenn die Operation mißlänge, es nicht möglich sein würde, dieselbe ein zweites Mal vorzunehmen. Wenn sie einmal vorgenommen sei, das Resultat möge sein welches es wolle, so sei es damit zu Ende. Dann müsse er, bevor er sich zur Operation entschließen würde, darauf bestehen, daß gewisse für den Erfolg wesentliche Bedingungen sowohl von der Patientin selbst als von ihren Verwandten strenge erfüllt würden. Herr Sebright habe die Dauer der nach der Operation in einem dunklen Zimmer zu verbringen den Prüfungszeit keineswegs übertrieben. Unter keinen Umständen dürfe sie hoffen, ihre Augen nur einen Augenblick früher, als nach Verlauf von mindestens sechs Wochen, von ihrer Binde befreit zu sehen. Während dieser ganzen Zeit und wahrscheinlich während noch fernerer sechs Wochen sei es absolut nothwendig, sie in einem Gesundheitszustande zu erhalten, vermöge dessen der ganze Organismus den allmähligen Fortschritt bis zur völligen Wiederherstellung der Sehkraft unterstützen würde. Wenn nicht Körper und Geist beide in ihrer normalsten und bestmöglichen Verfassung erhalten würden, so könne Alles, was seine Geschicklichkeit zu leisten im Stande sei, vergeblich sein. Nichts was sie reizen oder aufregen könnte, dürfe das ruhige Einerlei ihres Lebens unterbrechen, bis er, Grosse, sich, überzeugt haben werde, daß ihre Sehkraft gesichert sei. Er verdanke seine Erfolge und seinen Ruf zum großen Theil seiner strengen Beobachtung dieser Regeln, welche sich auf seine eigene Erfahrung von dem Einfluß stützten, den der allgemeine, sowohl moralische als physische Gesundheitszustand eines Patienten auf die Wahrscheinlichkeit des Erfolges einer an diesen Patienten vorgenommenen Operation immer — und wieviel mehr noch, wenn es sich um die Operation an einem so zarten Organ wie das Auge handle, übe.

Nachdem er sich so ausgesprochen hatten appellirte er an Lucilla’s eigenes Urtheil und forderte sie auf, anzuerkennen, wie nothwendig es für sie sei, sich mit ihrem Entschluß noch Zeit zu lassen und zunächst mit Verwandten und Freunden zu Rathe zu gehen. Mit kurzen Worten: für die Dauer von wenigstens drei Monaten müßte alles so eingerichtet werden, daß der sie behandelnde Arzt die unbedingte Befugniß habe, ihre Lebensweise zu regeln und über jede mit derselben vorzunehmende Veränderung zu bestimmen. Sobald sie und die Mitglieder ihrer Familie sich überzeugt haben würden, daß sie im Stande seien, diese Bedingungen zu erfüllen, brauche ihm Lucilla nur nach seinem Hotel in London zu schreiben und er verpflichte sich dann, am nächsten Tage in Dimchurch zu sein und auf der Stelle, wenn er ihren augenblicklichen Gesundheitszustand befriedigend finde, die Operation vorzunehmen.

Nachdem er so sein Wort gegeben hatte, hauchte Herr Grosse seinen noch übrigen Athem in ein einziges aus der Tiefe ausgestoßenes »Ha« aus und setzte seine kleinen Beine flink in Bewegung.

In demselben Augenblick klopfte Zillah an die Thür und meldete, daß der Wagen der beiden Herren an der Pforte des Pfarrhauses halte.

Herr Sebright stand auf, offenbar noch zweifelhaft, ob sein College mit seiner Rede zu Ende sei. »Ich will Sie nicht eilen«, sagte er, »ich habe in London zu thun und muß nothwendig mit dem nächsten Zuge fort.«

»O, ich habe auch in London zu thun«, antwortete sein deutscher College; »ich muß mich amüsiren.« Herr Sebright schien betroffen von der Offenheit dieses anstößigen Bekenntnisses eines Berufsgenossen. »Ich bin ein so leidenschaftlicher Freund der Musik«, fuhr Herr Grosse fort, »ich muß zur rechten Zeit in der Oper sein. Ach Gott, die Musik ist so theuer in England; ich klettere nach der Gallerie hinauf und muß auch da noch meine fünf Schillinge bezahlen. In meinem Vaterlande kann ich dasselbe für fünf Kupferpfennige haben, nur besser. Aus der Tiefe meines Herzens«, fuhr dieser sonderbare Mann fort, indem er mir herzlich Lebewohl sagte, »danke ich Ihnen, meine Verehrte« für die Mayonnaise. Wenn ich wiederkomme« lassen Sie mich, bitte, wieder diese Himmelsspeise haben.« Dann wandte er sich zu Lucilla und legte ihr zum letzten Male vor seiner Abreise die Daumen auf die Augenlider.

»Mein liebes Kind, bedenken Sie wohl, was ich Ihnen gesagt habe. Ich werde Ihnen Ihr Augenlicht wiedergeben — aber auf die Art und zu der Zeit, die mir gut scheint. Das hübsche Kind! O, wie unendlich viel hübscher wird sie noch sein, wenn sie erst sehen kann!« Er ergriff Lucilla’s Hand, drückte sie mit einer sentimentalen Geberde unter seine Weste an sein Hezz und legte seine andere Hand darauf, als ob er dieselbe warm halten wolle. In dieser zärtlichen Attitude stieß er einen gewaltigen Seufzer aus, faßte sich wieder, in dem er seinen Krauskopf schüttelte, nickte mir durch seine Brillengläser zu und wackelte zur Thür hinaus, Herrn Sebright nach, der schon am Fuß der Treppe stand. Wer hätte denken sollen, daß dieser Mann die Schlüssel in Händen hielt, welche die Thore eines neuen Lebens für meine blinde Lucilla öffnen sollten.


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