Fräulein oder Frau?
Kapitel 8
Mitgift und Testament
Am nächsten Tage waren Sir Joseph Graybrooke, Sir Josephs Advokat, Herr Dicas, ein höchst respektabler und ungeheuer reicher Mann, und Richard Turlington in der Bibliothek in Muswell Hill versammelt, um über den Ehekontrakt zu beraten.
Nachdem die gewöhnlichen einleitenden Redensarten vorgebracht worden waren, zauderte Sir Joseph offenbar, die Beratung der Frage, um derentwillen die drei Herren zusammengekommen waren, zu eröffnen. Er wich dem Auge seines Advokaten aus und sah Turlington mit etwas unruhigen Blicken an.
„Richard“, fing er endlich an, „als ich am Bord der Yacht mit dir von deiner Heirat sprach, sagte ich dir, ich würde meiner Tochter“ - entweder sein Mut oder sein Atem ging ihm in diesem Augenblicke aus. Er mußte inne halten.
„Ich sagte“, nahm er dann wieder auf, „ich würde meiner Tochter bei ihrer Heirat die Hälfte meines Vermögens geben. Verzeih‘ mir, Richard, das kann ich nicht.“
Herr Dicas, der seiner Instruktion harrte, legte seine Feder nieder und sah Sir Josephs Schwiegersohn in spe an. Was würde Herr Turlington darauf antworten? - Er antwortete gar nicht. Während Sir Joseph sprach, erhob er sich von seinem dem Fenster gegenüber befindlichen Platz und vertauschte denselben mit einem an der anderen Seite des Tisches, wo er dem Fenster den Rücken zukehrte.
„Meine Augen sind heute Morgen schwach“, sagte er mit gekünstelt leiser Stimme; „sie sind empfindlich gegen das Licht...“
Eine bessere Entschuldigung wußte er nicht dafür vorzubringen, daß er sein Gesicht vor dem forschenden Blicke der beiden Männer im Schatten verbarg. Die fortwährende, moralische Aufregung seines unglücklichen Brautstandes, in welchem ihm von Natalie nie eine größere Gunst, als die eines kalten Handkusses in Gegenwart anderer gewährt worden war, hatte ihn auch physisch nicht unberührt gelassen. Selbst seine gestählten Nerven fingen an, die Wirkung des Argwohns, der seit Wochen unablässig auf ihn einstürmte, zu empfinden. Er konnte sich, wie er sehr wohl wußte, nicht mehr auf seine Selbstbeherrschung verlassen. Er konnte sein Gesicht wohl verbergen, aber er hatte es nicht mehr in seiner Gewalt.
„Hast du mich gehört, Richard?“
„Allerdings. Fahre fort.“
Sir Joseph fuhr fort und wurde allmälig zuversichtlicher in seinen Worten.
„Mein halbes Vermögen!“ wiederholte er. „Das heißt, mich von meinem halben Leben trennen. Das heißt, meinem teuersten Freunde für immer Lebewohl sagen. Mein Geld ist ein solcher Trost für mich gewesen, Richard; eine so angenehme Beschäftigung für meinen Geist. Ich kenne keine so interessante und so belehrende Lektüre, wie die meines Kontokorrents mit meinem Bankier. Wie man da“, sagte Sir Joseph mit einer Stimme, in der sich Herzinnigkeit und Feierlichkeit mischten, - „wie man da die Debet-Posten auf der einen und die Kredit-Posten auf der anderen Seite verfolgt – bald die betrübende Verminderung der Bilanz und bald ihre erfreuliche Zunahme beobachtet – wie diese Lektüre uns so ganz hinnimmt! Der beste Roman der Welt ist nichts dagegen. Ich kann nicht, Richard, ich kann fürwahr meine hübsche, runde Bilanz nicht zu der Hälfte der Zahl zusammenschrumpfen sehen, an die ich mich seit einem Menschenalter gewöhnt habe.
Es mag schwach von mir sein“, fuhr Sir Joseph fort, indem er sich offenbar bewußt war, daß es durchaus nicht schwach von ihm war, „aber wir haben alle unsere schwachen Seiten und meine ist der Kontokorrent meines Bankiers. Überdies liegt die Sache ja nicht so, wie wenn du des Geldes bedürftest. Wenn du seiner bedürftest, natürlich – aber du bist ein reicher Mann, du heiratest meine liebe Natalie aus Liebe und nicht um des Geldes willen. Du und sie und meine Enkel, ihr bekommt ja alles nach meinem Tode. Es kann ja für dich keinen Unterschied machen, ob du noch ein paar Jahre zu warten hast, bis der Platz deines alten Schwiegervaters am Kamin leer geworden ist. Willst du mit dem vierten Teil statt mit der Hälfte zufrieden sein, Richard? Zwanzigtausend Pfund“, bat Sir Joseph in kläglichem Tone. „Ich kann es ertragen, mich von zwanzigtausend Pfund zu trennen, aber bei allem, was dir heilig ist, verlange nicht mehr von mir!“
Die Lippen des Advokaten verzogen sich zu einem sauer-süßen, ironischen Lächeln. Er liebte sein Geld, ganz so sehr, wie Sir Joseph. Er hätte Mitgefühl für seinen Klienten empfinden sollen, aber reiche Leute haben keine Sympathien füreinander. Herr Dicas machte kein Hehl aus seiner Verachtung für Sir Joseph.
Es entstand eine Pause. Die Rotkehlchen in den Büschen vor dem Fenster hatten gewiß ungeheuere Bilanzen bei ihren Bankiers; sie hüpften so verwegen freudig auf dem Fenstersims umher; sie schauten die beiden reichen Männer so unehrerbietig durchs Fenster an.
„Laß mich nicht im Ungewissen, Richard“, drängte Sir Joseph. „Sprich es aus: Ja oder nein?“
Turlington schlug leidenschaftlich aufgeregt mit der Hand auf den Tisch und platzte urplötzlich mit der Antwort heraus, mit welcher er bis jetzt so auffallend zurückgehalten hatte.
„Zwanzigtausend Pfund – mit tausend Freuden! - Unter der Bedingung, Graybrooke, daß die ganze Summe für Natalie und für ihre Kinder nach ihrem Tode festgesetzt wird, und daß kein Heller davon mir zukommt!“ wiederholte er großherzig im knarrendsten Ton seiner Stimme.
Sage keiner, daß die Reichen herzlos sind! Sir Joseph ergriff schweigend die Hand seines Schwiegersohns und brach in Tränen aus...
Herr Dicas, der ein sehr schweigsamer Mann war, sprach jetzt zum ersten Mal seit Beginn der Sitzung. „Höchst ehrenwert!“ dabei machte er sich auf der Stelle eine Notiz für seine Instruktionen.
Von diesem Augenblick an ging das Geschäft auf das Leichteste von statten. Sir Joseph setzte seine Ansichten in größter Ausführlichkeit auseinander und die Feder des Advokaten hielt Schritt mit ihm. Turlington, der seinen Platz am Fenster behielt, beschränkte sich auf eine rein passive Rolle bei den Verhandlungen. Er antwortete kurz, wo eine Antwort unerläßlich war und erklärte sich in allen Punkten mit beiden älteren Herren einverstanden. Der Mensch achtet nicht auf das, was andere tun und sagen, wenn er an einem Wendepunkt seines Lebens steht. Turlington stand an einem solchen Wendepunkt in jenem entscheidenden Augenblick, wo die unerwartete Proposition Sir Josephs eine sofortige Antwort von ihm erheischte. Er war vor eine erbarmungslose Alternative gestellt. Entweder, er mußte die geborgten vierzigtausend Pfund am Tage der Fälligkeit des Darlehens zurückzahlen oder er mußte Bulpit Brothers um eine Prolongation des Darlehens bitten und ein solches Gesuch müßte unausbleiblich eine Untersuchung der bei dieser Firma deponierten, trügerischen Sicherheit herbeiführen, deren Ausgang unzweifelhaft war. Seine letzte, in Wahrheit seine letzte Chance, nachdem Sir Joseph die versprochene Mitgift schamlos um die Hälfte vermindert hatte, bestand darin, daß er die Rolle des Großmütigen spielte und die Wahrheit verbarg, bis er dieselbe als Nataliens Gatte seinem Schwiegervater würde enthüllen können.
„In vierzehn Tagen habe ich eine Schuld von vierzigtausend Pfund zu entrichten, Herr Graybrooke, und besitze keinen Heller eigenes Vermögen. Sir müssen für mich bezahlen oder Sie werden den Namen Ihres Schwiegersohns in der Fallitenliste figurieren sehen...“
Wer konnte zweifeln, daß, wenn er seiner Zeit so sprach, Sir Joseph um seiner Tochter willen mit dem Gelde herausrücken werde? - Das Einzige, worauf es ankam, war die rechtzeitige Vollziehung der Heirat. Wenn Sir Joseph sich durch Zufall oder in Folge von Verrat veranlaßt finden sollte, den festgesetzten Tag der Hochzeit auch nur um vierzehn Tage zu verschieben, so würde der verhängnisvolle Fälligkeitstermin herankommen und der Name der Firma Pizzituti, Turlington und Branca würde in der Zeitung unter den Falliten erscheinen.
So raisonnierte er und ahnte nicht, daß er an der Schwelle der fürchterlichen Entdeckung stand, daß Natalie das Weib eines anderen sei!...
„Richard!“
„Herr Turlington!“
Er fuhr zusammen und raffte sich auf, um dem gegenwärtigen Vorgange die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden. Sir Joseph und der Advokat, welche ihn beide mit erstaunten Blicken ansahen, hatten ihn zugleich angerufen.
„Sind Sie mit dem Kontrakte fertig?“ fragte er.
„Lieber Richard, wir sind lange damit fertig“, erwiderte Sir Joseph. „Hast du wirklich nichts von dem gehört, was ich seit einer Viertelstunde hier zu dem guten Herrn Dicas gesagt habe? Woran kannst du nur gedacht haben?“
Turlington versuchte es gar nicht, diese Frage zu beantworten. „Bin ich bei dem, was du zu Herrn Dicas gesagt hast, interessiert?“
„Du sollst selbst urteilen“, erwiderte Sir Joseph in geheimnisvollem Tone. „Ich habe Herrn Dicas meine Instruktionen in Betreff meines Testaments gegeben. Ich wünsche, daß das Testament und die Heiratsakte zu gleicher Zeit vollzogen werden. Lesen Sie gefälligst Ihre Instruktionen, Herr Dicas!“
Sir Josephs Testament hatte, wie sich aus den Instruktionen ergab, zwei Vorzüge: es war einfach und kurz. Mit Ausnahme von einigen entfernten Verwandten, die mit ein paar unbedeutenden Vermächtnissen abgefunden wurden, hatte Sir Joseph – da für Fräulein Lavinia schon gesorgt war – niemanden zu bedenken als seine Tochter und die Kinder, die aus ihrer Ehe hervorgehen möchten. Die verschiedenen Verfügungen des Testaments, die alle von diesen beiden Gesichtspunkten geleitet waren, enthielten durchaus nur das in solchen Fällen Gebräuchliche. Es unterschied sich in keiner wesentlichen Beziehung von den unzähligen unter ähnlichen Umständen gemachten Testamenten. Noch war das Motiv, aus welchem Sir Joseph Richards besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, nicht ersichtlich, als Herr Dicas, bei dem der Ernennung der Exekutoren und Verwalter gewidmeten Paragraphen angelangt, erklärte, daß dieser Paragraph unausgefüllt geblieben sei.
„Sir Joseph Graybrooke, wollen Sie die Personen, welche Sie zu ernennen beabsichtigen, namhaft machen?“ fragte der Advokat.
Sir Joseph erhob sich, ersichtlich zu dem Zweck, um der Art, wie er die Frage seines Advokaten beantworten wollte, noch größeren Nachdruck zu geben.
„Ich ernenne“, sagte er, „zum alleinigen Exekutor und Verwalter – Richard Turlington.“
Es war nicht leicht, Herrn Dicas in Erstaunen zu setzen, aber Sir Josephs Antwort brachte ihn völlig außer Fassung. Er sah seinen ihm gegenübersitzenden Klienten an und sprach die drei Worte: „Sind Sie toll?“
Sir Joseph errötete ein wenig. „Ich war nie vollständiger im Besitze meiner Geisteskräfte, als in diesem Augenblicke, Herr Dicas!“
Herr Dicas war nicht der Mann, der sich mit einer solchen Redensart abspeisen ließ.
„Wissen Sie, was Sie tun“, beharrte der Advokat, „wenn Sie Herrn Turlington zum alleinigen Exekutor und Verwalter ernennen? So geben Sie es in die Gewalt des Mannes Ihrer Tochter, Herr Graybrooke, nach Ihrem Tode Ihr Geld bis auf den letzten Heller zu verbringen.“
Turlington hatte bisher mit einem aus Höflichkeit angenommenen Anschein von Interesse den Verhandlungen zugehört. Für ihn reichte die Zukunft nur bis zu dem Tage, an welchem Bulpit Brothers ein Recht hatten, die Rückzahlung des Darlehens zu verlangen. Im Vergleich zu dem unendlich viel höheren Interesse der Heirat war das Testament für ihn ein verhältnismäßig gleichgültiger Gegenstand. Erst als die brutale Deutlichkeit der Sprache des Advokaten seine Aufmerksamkeit auf das Testament lenkte, trat ihm die Frage seines pekuniären Interesses an dem Tode seines Schwiegervaters in ihrer wahren Bedeutung vor die Seele. Auch er errötete und auch er zeigte, daß er sich durch die letzte Äußerung des Herrn Dicas beleidigt fühle.
„Kein Wort, Richard!“ sagte Sir Joseph, „laß mich sowohl für dich, als für mich reden. Seit sieben Jahren“, fuhr er, gegen den Advokaten gewandt, fort, „habe ich mich gewöhnt, das unbedingteste Vertrauen in Richard Turlington zu setzen. Sein uneigennütziger Rat hat mich in den Stand gesetzt, mein Einkommen bedeutend zu vermehren, ohne einen Heller des Kapitals im Mindesten zu gefährden. Mehr als einmal habe ich ihn dringend gebeten, sich meines Geldes in seinem Geschäfte zu bedienen. Er hat sich aber beharrlich geweigert, das zu tun. Selbst seine bittersten Feinde waren genötigt, anzuerkennen, daß meine Interessen in seinen Händen am besten gewahrt seien. Soll ich jetzt, wo ich im Begriff stehe, ihm die Hand meiner Tochter zu geben, anfangen, ihm zu mißtrauen, Herr Dicas? Soll ich in einer testamentarischen Bestimmung einen Zweifel an seiner Redlichkeit kundgeben? Nein! Ich kann die Verwaltung des Vermögens, das mein Kind von mir erben wird, keinen ehrenwerteren und zuverlässigeren Händen anvertrauen, als den Händen des Mannes, der ihr Gatte zu werden bestimmt ist. Ich halte meine Bestimmung aufrecht, Herr Dicas. Ich beharre dabei, die ganze Verantwortlichkeit für die Ausführung meines Testaments auf meinen Schwiegersohn zu übertragen.“
Turlington sowohl, als auch der Advokat versuchten zu reden. Sir Joseph aber lehnte es mit einer gewissen, einfachen Würde, welche ihre Wirkung auf beide nicht verfehlte, ab, ein Wort von einem oder dem anderen zu hören.
„Nein, Richard, so lange ich lebe, ist dies meine Sache, nicht deine. Nein, Herr Dicas! Ich sehe sehr wohl ein, daß Ihr Beruf es mit sich bringt, gegen meinen Entschluß zu protestieren. Das haben Sie ja nun getan. Füllen Sie den leeren Raum aus, wie ich es Ihnen gesagt habe, oder lassen Sie die Instruktionen liegen und ich werde nach dem nächstwohnenden Anwalt schicken, damit er dieselben an Ihrer Stelle vervollständige.“
Mit diesen Worten war dem Advokaten seine Stellung klar vorgezeichnet. Er hatte keine andere Wahl, als zu tun, wie ihm geheißen war oder einen guten Klienten zu verlieren. Er brachte die Sache vollends zum Abschluß und ging hierauf verdrießlich von dannen. Sir Joseph begleitete ihn mit der Höflichkeit einer vergangenen Zeit in die Vorhalle hinaus. Als er in die Bibliothek mit der Absicht wieder eintrat, noch ein paar freundliche Worte zu Turlington in Betreff des Testaments zu sagen, bevor er das Gespräch über diesen Gegenstand ganz fallen ließe, ergriff ihn Turlington mit seiner gewaltigen Hand am Arm und schleppte ihn ohne Weiteres ans Fenster.
„Was soll das heißen, Richard“, rief Sir Joseph aus.
„Sieh einmal da hinüber!“ entgegnete Turlington mit lauter Stimme, indem er durch das Fenster auf einen sich zwischen Gebüsch hinziehenden, in geringer Entfernung vom Hause befindlichen Rasenweg hindeutete.
„Wer ist der Mann da? Rasch! Bevor wir ihn aus dem Gesicht verlieren – der Mann, der drüben von einem Gebüsch nach dem anderen geht? -“ Sir Joseph kam zu spät, um die Gestalt noch zu erkennen, ehe sie seinen Blicken ganz entschwand. Turlington flüsterte ihm in wilder Aufregung ins Ohr: „Es ist Launcelot Linzie!“
In vollkommen gutem Glauben erklärte Sir Joseph, der Mann könne unmöglich Launce gewesen sein. Aber Turlingtons krankhaft argwöhnsiche Eifersucht ließ sich nicht so leicht beruhigen. Er fragte bedeutungsvoll nach Natalien. Es hieß, sie gehe im Garten spazieren. „Ich wußte es wohl!“ rief er mit einem Fluch und stürzte nach dem Garten hinaus, um selbst die Wahrheit zu entdecken.
Es verfloß einige Zeit, bevor er wieder ins Haus zurückkehrte. Er hatte Natalien – allein gefunden. Nicht eine Spur von Launce hatte seine Nachforschungen belohnt. Zum hundertsten Male hatte er bei dieser Gelegenheit Natalien verletzt; zum hundertsten Male war er genötigt, an die Nachsicht ihres Vaters und ihrer Tante zu appellieren. „Es soll nicht wieder vorkommen“, sagte er mit dem Ausdruck verdrossener Reue. „Ihr werdet einen ganz anderen Menschen in mir finden, wenn ich euch erst alle in meinem Hause auf dem Lande habe. Vergeßt es nicht!“ platzte er plötzlich mit einem verstohlenen Blick heraus, in welchem sich ein eingewurzeltes Mißtrauen gegen Natalie und ihre ganze Umgebung malte. „Vergeßt es nicht! Es ist abgemacht, daß ihr alle nächsten Montag zu mir nach Somersetshire kommt.“
Sir Joseph antwortete etwas trocken, das sei abgemacht. Turlington schickte sich an, das Zimmer zu verlassen, kehrte aber plötzlich wieder um. „Wir sind ja übereingekommen“, fuhr er, zu Fräulein Lavinia gewendet fort, „daß am siebenten Januar unsere Hochzeit stattfindet, keinen Tag später!“ Fräulein Lavinia antwortete gleichfalls etwas trocken: „Natürlich, Richard, keinen Tag später.“ Er murmelte vor sich hin: „Alles in Ordnung“ - und verließ eiligst das Zimmer.
Eine halbe Stunde später kam Natalie wieder ins Haus und sah etwas verwirrt aus.
„Ist er fort?“ fragte sie flüsternd ihre Tante. Über diesen Punkt beruhigt, ging sie geraden Wegs in die Bibliothek, ein Zimmer, das sie sonst selten zu betreten pflegte. Fräulein Lavinia folgte ihr dahin, neugierig, was sie dort suche. Natalie eilte ans Fenster und schwang ihr Taschentuch, offenbar als Signal für jemanden, der sich draußen befand. Fräulein Lavinia trat sofort auf sie zu und ergriff sie heftig bei der Hand.
„Ist es möglich, Natalie?“ fragte sie. „Ist Launcelot Linzie ohne deines Vaters oder mein Wissen hier gewesen?“
„Und was wäre dabei, wenn er wirklich hier gewesen wäre?“ antwortete Natalie in einem Ausbruch ungeduldiger Übellaune. „Soll ich meinen Vetter nie wiedersehen, weil Herr Turlington zufällig eifersüchtig auf ihn ist?“
Plötzlich wandte sie ihr Gesicht, das bis zum Halse ein tiefes Rot überflog, ab; Fräulein Lavinia, die sich eben anschickte, das nötige Maß von Vorwürfen verabfolgen zu lassen, wurde durch eine neue Veränderung in der wandelbaren Laune Nataliens zum Schweigen gebracht: Natalie brach in Tränen aus. Durch diese Äußerung aufrichtiger Zerknirschung befriedigt, verstand sich die alte Dame dazu, dieses eine Mal ein Auge zuzudrücken und über das Geschehene Stillschweigen zu beobachten. Sie würden alle, meinte sie, in Somersetshire sein, bevor ein neuer Verstoß gegen die Disziplin möglich sei. Richard hätte glücklicherweise nichts entdeckt, und man konnte, alles wohl erwogen, hoffen, daß die Sache auf sich beruhen bleiben werde.
Fräulein Lavinia würde die Dinge vielleicht in einem weniger beruhigenden Lichte angesehen haben, wenn sie gewußt hätte, daß einer der Diener in Muswell Hill von Turlington als Spion gedungen war, und daß dieser Diener Launce durch die hintere Gartentür hatte fortgehen sehen.
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