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Zwei Schicksalswege

Sechsunddreißigstes Kapitel

Unter dem Fenster

Nachdem ich die Lage des Hafens durch meinen Taschencompass festgestellt hatte, ging ich die nächste Straße, die vor mir lag, entlang. Wie ich vorwärts schritt, sahen mich die alten, verfallenen Häuser zu beiden Seiten finster an. Hinter dem Fenster waren keine Lichte, auf den Straßen keine Laternen. Ich ging eine Viertelstunde lang, tiefer und tiefer in das Innere der Stadt hinein, ohne einem lebenden Wesen zu begegnen, das Licht der Sterne war mein einziger Begleiter. Als ich endlich in eine Straße einbog, die breiter als die übrigen war, sah ich vor mir eine Gestalt, die sich bewegte, aber in dem Schatten der Häuser kaum zu unterscheiden war. Ich beschleunigte meine Schritte und wurde bald gewahr, dass ich einen Mann in Bauerntracht verfolgte. Als er meine Schritte hinter sich hörte, drehte er sich um und sah mich an und so wie er entdeckte, dass ich ein Fremder war, erhob er einen dicken Prügel, den er bei sich trug, schwang ihn drohend und rief mir, wie mir aus seinen Bewegungen hervorging, in seiner Sprache zu, dass ich stehen bleiben möge. Ein Fremder, der sich zu dieser Nachtzeit in Enkhuizen blicken ließ, wurde von diesem Bürger entschieden als ein Räuber betrachtet! Ich hatte unterwegs von dem Kapitän des Bootes gelernt, wie ich für den Fall dass ich mich allein in einer fremden Stadt befände, auf holländisch nach dem Wege fragen möchte und nun wiederholte ich meine Lektion, indem ich nach dem Wege zu dem Fischereigeschäft der Herren van Brandt fragte. Entweder verstand mich der Mann wegen meiner fremden Aussprache wirklich nicht, oder sein Argwohn hinderte ihn mir zu trauen.

Wiederum schwang er seinen Prügel und gab mir ein Zeichen zurückzubleiben. Weiter in ihn zu dringen, wäre nutzlos gewesen. Ich ging auf die andere Seite der Straße hinüber und er verschwand bald vor meinen Blicken in dem Portal eines Hauses.

Endlich erreichte ich, den Krümmungen der Straßen immer weiter folgend, die Stelle, die ich für das Ende der Stadt hielt.

Nach meiner Schätzung lag ungefähr eine halbe Meile oder mehr vor mir ein Strich Wiesenlandes, auf dem Schafe, die dort ihre Nachtruhe hielten, verstreut lagerten. Ich schritt über das Gras weiter und bemerkte hier und da, wo sich der Boden etwas erhob, vermoderte Überreste von Mauerwerk. Als ich mich mitten auf der Wiese befand, sah ich vor mir an der entgegengesetzten Seite einen luftigen Bogen oder Torweg schmal und dunkel in die Nacht hineinragen, ohne Mauern an den Seiten, ohne weit und breit irgend ein benachbartes Gebäude entdecken zu können. Das war, wie ich später erfuhr, eines der alten Stadttore. Die in Ruinen zerfallende Mauer war zerstört worden, weil man sie als ein unnützes Hindernis, das den Boden bedeckte, ansah. Auf der öden Wiese um mich her, hatten einst die Läden der reichsten Kaufleute, die Paläste der stolzesten Edelleute Nordhollands gestanden. Ich befand mich tatsächlich auf der Stelle, die einst das reichste Viertel von Enkhuizen gewesen war. Und was war nun davon übrig geblieben? Einige Hügel von zerbrochenen Mauersteinen, ein Weideland voll süßduftendem Grase und eine kleine, schlafende Schafherde.

Mich erfüllte schon der bloße Anblick der Verwüstung, ganz abgesehen von den geschichtlichen Erinnerungen mit einem Gefühl des Entsetzens Mir war, als wenn mein Gemüt in der schaurigen Stille um mich her, sein Gleichgewicht verlor. Ich fühlte unsagbare Vorahnungen von Leiden, die meiner warteten. Zum ersten Male bereute ich England verlassen zu haben, und meine Gedanken kehrten reuevoll zu den waldigen Ufern der Grünwasserfläche zurück. Wäre ich nur bei meinem Entschlusse geblieben, so ruhte ich jetzt friedlich in dem tiefen Wasser des Sees. Wofür hatte ich gelebt, Pläne entworfen, wozu war ich gereist, seit ich Dermodys Häuschen verließ? Vielleicht nur, um mich zu überzeugen, dass ich die Frau, die ich liebte, verloren hatte - in dem Augenblick, wo ich mich an demselben Orte mit ihr befand!

Als ich die äußerste Häuserreihe, die noch stehen geblieben war, wieder erreicht hatte, schaute ich mich in der Absicht um, die Straße zum Rückweg aufzusuchen, durch die ich hergekommen war. In dem Augenblick, als ich sie wiedergefunden zu haben glaubte, bemerkte ich ein zweites lebendes Wesen in dieser öden Stadt. Ein Mann stand an einem der letzten Häuser zu meiner Rechten vor der Tür und sah nach mir hin.

Ich beschloss, selbst auf die Gefahr hin, mich wieder einem rauhen Empfange auszusetzen, einen letzten Versuch zu wagen, um Frau van Brandt zu entdecken, bevor ich zu meinem Boote zurückkehrte.

Als der Fremde sah, dass ich mich ihm näherte, kam er mir auf halbem Wege entgegen. Seine Kleidung und Bewegungen zeigten deutlich, dass ich dieses Mal nicht jemand aus den niederen Gesellschaftsschichten vor mir hatte. Er beantwortete meine Fragen höflich in seiner Sprache. Als er sah, dass ich mich vergeblich bemühte seine Antworten zu verstehen, forderte er mich durch Zeichen auf ihm zu folgen.

Nachdem wir einige Augenblicke in einer mir ganz neuen Richtung weiter gegangen waren, blieben wir in einem kleinen Viereck, in dessen Mitte sich ein Stück gänzlich vernachlässigter Gartenanlagen befand, stehen. Mein Führer sagte auf holländisch, indem er auf ein niedriges Fenster in einem der Häuser wies, durch das ein düsteres Licht schimmerte:

»Hier ist das Geschäft von van Brandt, mein Herr« - verbeugte sich und - verließ mich.

Ich trat an das Fenster. Es stand offen, und ich reichte grade mit dem Kopfe heran. Das Licht aus dem Zimmer drang durch die Zwischenräume der hölzernen Fensterladen hinaus Ich zögerte meine Ankunft ganz plötzlich durch ein Ziehen an der Hausklingel anzukündigen, da mich immer noch eine Ahnung von bevorstehenden Sorgen bedrückte. Welch neues Ungemach konnte meiner warten, so wie die Tür geöffnet wurde? Ich blieb also unter dem Fenster und - lauschte.

Es verging kaum eine Minute bis ich die Stimme einer Frau im Zimmer vernahm. Der Zauber ihres Klanges war unverkennbar. Es war Frau van Brandts Stimme.

»Komm, mein Liebling!« sagte sie. »Es ist sehr spät, du hättest schon vor zwei Stunden zu Bett gehen müssen.«

Des Kindes Stimme antwortete: »Aber ich bin nicht müde, Mama.«

»Bedenke, dass Du krank gewesen bist, mein Kind. Du kannst wiederum erkranken, wenn Du abends so spät zu Bett gehst. Lege Dich nur erst hin, dann wirst Du schon einschlafen, wenn ich das Licht auslösche.«

»O bitte, lösche das Licht nicht aus," erwiderte das Kind mit großem Nachdruck. »Mein neuer Papa kommt an. Wie soll er den Weg zu uns finden, wenn Du das Licht auslöschst?«

Die Mutter antwortete scharf, als ob die Worte des Kindes sie gereizt hätten.

»Du sprichst Unsinn,« sagte sie, »und musst nun schlafen gehen. Mr. Germaine weiß nichts von uns, Mr. Germaine ist in England.«

Länger konnte ich mich nicht beherrschen. Ich rief unter dem Fenster: »Mr. Germaine ist hier!«


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