Wilkie Collins - Ein biographisch-kritischer Versuch
von Ernst Freiherr von Wolzogen (1855-1934)
Kapitel 2
Wilkie Collins wurde geboren am 8. Januar 1824 zu London. Sein Vater war William Collins, der berühmte, auch über sein Vaterland hinaus bekannte Maler englischen Landlebens und englischer Küstenszenerie. Den Namen Wilkie gab ihm der Vater zum Andenken an seinen besten Freund, den gleichfalls berühmten schottischen Maler dieses Namens. Ich erinnere bei dieser Gelegenheit an die Tatsache, daß man in England häufig die Familiennamen hervorragender Männer oder auch guter Freunde und Verwandter als Taufnamen verwendet. Dieses Patengeschenk zweier berühmter Namen erweckte schon in dem Knaben den Ehrgeiz, sich ihrer würdig zu zeigen. Außer ihm war nur noch jüngerer Bruder, Charles, vorhanden, welcher sich gleichfalls als Novellist versucht hat und später Charles Dickens Schwiegersohn wurde; er starb jedoch schon im frühen Mannesalter. Einzelne seiner Novellen finden sich in den von Dickens herausgegebenen „Household words“. Von dem Atelier seines Vaters und dem Verkehr im Hause desselben empfing der Knabe Wilkie seine ersten künstlerischen Anregungen, auch mag er aus den Erzählungen seines viel umher gewanderten Vaters mancherlei Material zu späteren Novellen erhalten haben, wie dies sich z.B. aus der Vorrede zu „After Dark“ (In der Dämmerstunde) ergibt. Das Familienleben im Hause des berühmten Malers war ein sehr inniges. Vater und Mutter wurden von den beiden Söhnen wahrhaft angebetet.
Der Verkehr im Vaterhause wirkte weit bildender auf des jungen Wilkie Herz und Kopf ein, als das Lateinisch und Griechisch in den englischen Schulen, welche er besuchte und von welchen er nie viel gehalten hat. Daß auch sein Gemütsleben eine eigentümliche, von der gewöhnlichen abweichenden Richtung einnahm, bezeugt die komische Geschichte seiner ersten Liebe. Im Alter von zwölf Jahren nämlich entbrannte sein Herz für eine mindestens dreimal so alte verheiratete Frau und seine Eifersucht auf deren vortrefflichen Gemahl war so heftig, daß er seine Nähe nicht ertragen konnte, sondern davonlief, wenn er ihn kommen sah.
Im Jahre 1837-38 nahemn die Eltern den dreizehnjährigen Wilkie, sowie Charles mit sich nach Italien. Die Eindrücke, welche Wilkie auf dieser Reise empfing, waren von größter Bedeutung für die Entwicklung seines Geistes und prägten sich tief in sein Gedächtnis ein. Schon damals verwebten sich in der regen Phantasie des Knaben die lebendigen Sinneseindrücke des erhabenen Ruinenlandes mit den Vorstellungen einstigen Glanzes, welche ihm der Geschichtsunterricht erweckt hatte. Es ist danach nicht zu verwundern, daß sein erster Roman uns als eine historisch-phantastische Ausbeutung jener starken Reiseeindrücke des Knaben entgegentritt: es war dies nämlich „Antonina or the fall of Rome“.
Nach England zurückgekehrt, tat der junge Collins seine ersten selbständigen Schritte auf der Lebensbahn als Commis eines Handlungshauses, vertauschte jedoch diese ihm gar nicht zusagende Beschäftigung sehr bald mit dem Studium der Rechte. Er wurde ein Barrister (Advokat) in Lincolns Inn (einem der bekannten Gerichtshöfe Londons), arbeitete jedoch dort ebenso wenig, wie vorher im Comptoir, sondern beschäftigte sich vielmehr damit, einen ganz tollen Roman zu schreiben, dessen Schauplatz die Insel Tahiti vor der Entdeckung durch die Europäer war. Nachdem er das Manuskript von einer großen Anzahl von Verlegern dankend zurückerhalten hatte, kam er glücklicherweise zur Besinnung und begann unverweilt ein neues Werk und dies war der schon erwähnte Roman „Antonina“. Den ersten Band davon, so wie einen Teil des zweiten schrieb er in dem Atelier seines Vaters, in welches er sich des Abends fast ebenso regelmäßig mit Feder und Tinte zurückzog, wie sein Vater es morgens mit Palette und Pinsel betrat. Ehe jedoch die Hälfte des neuen Manuskripts geschrieben war, starb der vielgeliebte Vater und Wilkie legte Antonina beiseite, um eine neue Geschichte zu beginnen, welche seinem Herzen weit näher lag, nämlich die Lebensgeschichte seines Vaters.
„The Life of William Collins, R..A.“ hieß das erste Buch, auf dessen Titel der Name Wilkie Collins gedruckt erschien. Nach der Veröffentlichung dieser Memoiren im Jahre 1848 nahm er das halbvollendete Romanmanuskript wieder vor, dieses Mal jedoch mit weit weniger Zuversicht, denn er konnte den Gedanken nicht los werden, daß sein erster Menschenfresserroman, der bei sämtlichen belletristischen Verlegern Londons herumgewandert war, diese sicherlich gegen ihn voreingenommen haben müßte. Dennoch hatte er soviel Interesse an seiner neuen Schöpfung, um dieselbe trotz aller Zweifel an sich selber langsam zu fördern. In Paris beendete er das Manuskript. Allein der erste Versuch, einen Verleger zu finden, schlug abermals fehl und der Autor war schon ganz darauf vorbereitet, eine zweite Serie von Absagebriefen mit den bekannten höflichen Wendungen zu erhalten, als zu seiner größten Freude schon der zweite Versuch bei Mr. Bentley glückte. Antonina erschien im Jahre 1850 prächtig gebunden in drei Teilen und fand zu des Autors nicht geringer Überraschung das einstimmige Lob der Kritik. Nie wieder ist einem späteren Werke eine gleiche Aufnahme von Seiten der Kritik zu Teil geworden und doch ist Anonina dasjenige Werk, welches von der Eigenart Wilkie Collins’ noch gar keine Spur aufweist und heute schon wenig mehr gelesen wird. Immerhin erfüllten jene wohl nicht ganz richtig angebrachten Lobsprüche die Aufgabe, dem jungen Talente den Glauben an seinen Beruf beizubringen. Diesem Beruf ist Wilkie Collins bis auf den heutigen Tag treu geblieben und hat, obwohl er verhältnismäßig langsam arbeitet und materielle Rücksichten ihn schon längst nicht mehr dazu nötigen, das Publikum mit einer langen Reihe von Romanen beschenkt.
Seine Advokatenlaufbahn gab er alsbald auf und die Geschichte seines späteren Lebens bis auf diesen Tag liegt lediglich in seinen Werken – eine Geschichte ernster Arbeit an sich selbst zur Freude seines Publikums.
Es war aber nicht die von der Kritik so gepriesene „Antonina“, welche den Namen Wilkie Collins mit einem Schlage der ganzen romanlesenden Welt bekannt machte, sondern „Die Frau in Weiß“, ein Buch, dessen Erfolg selbst den besten Freunden des Verfassers sehr zweifelhaft schien und welches von der Kritik, wie alles Neue in England, sehr mißtrauisch und übelwollend aufgenommen wurde. Mit Ausnahme von Charles Dickens, dem großen Freunde des Verfassers, wollte schon der Titel keinem seiner Bekannten gefallen – und kaum war „Die Frau in Weiß“ erschienen, als allerorten kleine Geister Nachahmungen als „Frau in Rot“, „Frau in Malvenfarbe“, kurz „Frauen“ in allen Regenbogenfarben auf den Markt brachten. Das nächste Bedenken seiner Freunde richtete sich gegen die Form der Erzählung in Berichten einzelner Augenzeugen – sie glaubten, diese Manier würde besonders bei dem Erscheinen des Werkes in Buchform sich als sehr nachteilig für die Wirkung herausstellen. Trotzdem war Collins so vorsichtig, das Verlagsrecht des Buches nicht ein- für allemal zu verkaufen. Ehe die Buchausgabe erschien, verließ der Verfasser England, ging ‚yachting’ und kreuzte monatelang in verschiedenen Meeren umher. Als er zurückkehrte, war „Die Frau in Weiß“ bereits in vierter Auflage erschienen und in alle europäischen Sprachen übersetzt! Seine Mutter kam ihm mit einem großen Korb voller Briefe von einer Anzahl enthusiastischer Leser entgegen, und dies freiwillige Lob so vieler unbekannter Bewunderer machte Mrs. Collins zu einer der stolzesten und glücklichsten Frauen in England. Trotz dieses fast beispiellosen Erfolges beim Publikum fuhr die Kritik fort, sich gegen den starken Strom des allgemeinen Entzückens zu stemmen und suchte, mit Ausnahme von ein oder zwei Revüen, das Verdienst des Verfassers, in Inhalt und Form einen neuen Weg eingeschlagen zu haben, nach Möglichkeit zu schmälern. Der Erfolg ihrer Bemühungen war der, daß von der bald veranstalteten neuen, billigen Ausgabe des Werkes im Umsehen 60.000 Exemplare verkauft wurden. Durch diesen großartigen Erfolg seines Publikums gewiß, hat Collins es sich von jener Zeit ab zum Gesetz gemacht, keine Rezensionen über seine Werke mehr zu lesen und er ist diesem Vorsatze nur in seltenen Fällen untreu geworden, wenn ihn gute Freunde einmal ausdrücklich darum baten.
Sein äußeres Leben ist seither ein durchaus ruhiges und glückliches gewesen. Das Publikum ist ihm stets treu geblieben und in der Gunst desselben hat er seinen schönsten Lohn für sein unablässiges Arbeiten gefunden. Daß der klingende Lohn aus den Kassen seiner Verleger, Chatto & Windus und Smith, Elder & Co. in London ihm in fast ununterbrochenem Strom zufloß, wird jeder, der die großartigen Verhältnisse des englischen Buchhandels kennt, sich wohl denken können. Um einen Begriff von dieser Großartigkeit zu geben, will ich hier nur das Faktum mitteilen, daß nach dem Erfolg von „No Name“ die Firma Smith, Elder & Co. dem Verfasser einen neuen Kontrakt zur Unterschrift vorlegte, worin sie sich verpflichtete, ihm für seinen nächsten Roman – von dem der Autor selbst noch nichts wußte – 5.000 Pfund Sterling, also über 100.000 Mark zu zahlen. Dieser nächste Roman war „Armadale“. –
Sein inneres Glück dagegen ist nicht ungetrübt geblieben. Vater, Mutter und Bruder starben ihm und einer seiner Freunde nach dem andern folgte ihnen nach. Er empfand dieser Verluste um so schmerzlicher, als ihm das Glück der Ehe nicht zuteil ward. So komisch die Geschichte seiner ersten Knabenliebe ist, so tief traurig war für Wilkie Collins die unglückliche Liebe seiner Mannesjahre. Während seiner letzten schweren Krankheit verbrannte er alle Briefe und Liebespfänder, mit denen sich fast nur traurige Erinnerungen verknüpften, und wie er dadurch andeutete, daß er die Vergangenheit seiner Herzenserlebnisse begraben sein lassen wolle, so will auch ich an diesem Grabe schweigend vorübergehen.
Es ist natürlich, daß in einem warmfühlenden Männerherzen, dem Frauenliebe nicht blüht, die Freundschaft eine um so festere Stätte haben wird. So war es auch mit Collins. Der Verkehr mit seinen Freunden, deren ältester und geliebtester Freund Charles Dickens, der Schwiegervater seines Bruders, war, mußte ihm den schmerzlichen Mangel einer eigenen Häuslichkeit und Familie ersetzen. Aber auch diese Freunde starben einer nach dem andern, bis auf einige wenige, unter welchen ihm der treffliche Arzt Carr Beard am nächsten steht, derselbe Mann, welcher lange Zeit mit der Liebe eines Bruders über Charles Dickens schwankender Gesundheit wachte und ihm später die Augen zudrückte. Auf den Umgang mit Beard ist wohl Collins’ oft an den Tag gelegte Vertrautheit mit den merkwürdigsten pathologischen Erscheinungen zurückzuführen. Leider muß er mit seiner Erfahrung nicht nur dem Schriftsteller, sondern nur zu oft dem Menschen Collins dienen, welchen schon seit längerer Zeit eine ererbte und unheilbare Gicht in den Augen plagt, die ihn oft zu gänzlicher Untätigkeit verdammt und fast am Leben verzweifeln macht. Aber die Arbeit reißt ihn immer wieder aus solchen trüben Stimmungen heraus, und während er seine ganze Gesiteskraft für das Gelingen eines neuen Werkes einsetzt, vermag er auch den Körper zum Gehorsam zu zwingen und den Schmerz zu bannen. Den 1883 erschienenen Roman „Heart and Science“ schrieb Collins in freiwilliger Verbannung von London wie ein Einsiedler lebend und von schmerzhaften Anfällen seines bösen Leidens gequält. In einem Zustand gänzlicher Erschöpfung schloß er das Manuskript, und bald darauf stellte sich wieder ein heftiger Anfall ein. Trotzdem hat er im vergangenen Jahre bereits einen neuen zweibändigen Roman vollendet. Welche rastlose, bewundernswerte Energie!
Dem Leser, welchen die Art und Weise seines Schaffens interessiert, kann ich wohl am besten dienen, wenn ich hier wörtlich übersetze, was Collins mir selbst darüber schrieb. In einem Briefe vom 20. Dezember 1882 sagt er nämlich: „Was meine Schriftstellerei anbelangt, so habe ich vier Regeln. Zunächst: die Hauptidee. Zweitens: das Ende. Drittens: der Anfang. Die Erfüllung welcher letzteren mit der schrecklichen Schwierigkeit verknüpft ist: immer beim Anfang anzufangen. Wer das kann, der kann auch die Hauptbedingung des Erfolgs erfüllen, nämlich viertens: die Geschichte immer vorwärts schreiten zu lassen. Ich werde oft nach meinem ‚Geheimnis’ gefrag: das ist es! Als ein literarischer Handwerker betrachtet, bin ich wohl einer der langsamsten und am meisten sich mühenden Autoren, die je eine Feder gehalten haben. Ich verbessere wieder und wieder, bis meine Manuskripte fast unleserlich sind und arbeite am Stil mit einem, je älter ich werde, immer höher geschraubten Ideal, von dem, was ich erreichen sollte – leider weit entfernt von dem, was ich erreichen kann! Manche meiner Zunftgenossen wundern sich, warum ich mir so viel Mühe mache, in dieser Zeit des eilfertigen und kritiklosen Durcheinanderlesens. Meine einzige Antwort ist, daß ich nichts anders kann. Einen nachlässig gebauten Satz im Druck stehen gelassen zu haben, würde mich für mehrere Tage ganz unglücklich machen.“
Jene eben aufgestellten Regeln für die Komposition eines Romans klingen vielleicht etwas leer und nüchtern. Bei näherer Betrachtung werden wir aber in ihnen allerdings die Collins’sche Manier trefflich erklärt finden. Ich denke mir danach die Entstehung eines Collins’schen Romanes folgendermaßen: Er liest oder hört eine merkwürdige Anekdote und gewinnt daraus die Hauptidee. Gute Hauptideen schwirren ja zu Tausenden in der Luft herum. Nun kommt aber schon der erfinderische Geist des Autors zur Geltung bei der Frage: wie löst sich der gegebene Konflikt im Sinne höherer Gerechtigkeit und mit psychologischer wie realer Wahrheit? Hier wird der Autor meist schon seinen Halt an der Wirklichkeit verlieren, weil in der Wirklichkeit oft die großartigsten Anfänge sich elend im Sande verlaufen, Konflikte ungelöst bleiben und ein alberner Zufall interessante Verwickelungen zerstört. „Das Ende“ ist somit ein weiterer Begriff, der große Schwierigkeiten und ernstestes Nachdenken in sich schließt. Um über „das Ende“ in jedem Sinne schlüssig zu werden, muß also die ganze moralische, bzw. soziale oder sonst welche Tendenz des Werkes dem Autor bereits ganz klar sein. Es gibt so unendlich viele Romane, welche enden, wenn es eben genug davon ist, oder wenn sie sich kriegen, ohne daß durch den Schluß irgendwie die Summe aus der vorausgegangenen Rechnung gezogen würde. Wilkie Collins hat diesen Fehler von seinem ersten bis zu seinem letzten Romane vermieden – und das ist kein geringes Lob!
Und nun der Anfang, welchen Collins mit Recht für das schwerste Stück Arbeit hält. Den richtigen Zeitpunkt instinktiv zu fühlen, in welchem die Personen des Romans alle am Besten dazu vorbereitet sind, in die Handlung einzugreifen – das ist eine große Kunst. Sie schließt ferner die Schwierigkeit in sich, das Rätsel, um dessen Lösung es sich handelt, gleich auf den ersten Seiten so geschickt hinzuwerfen, daß der Leser sofort mit einem innerlichen „Aha!“ die Augen weiter aufmacht und nun wirklich Geschichte, nicht nur Worte liest. Und endlich die größte Schwierigkeit, womöglich alle Fäden einfach und scheinbar kunstlos anzuknüpfen, welche später zu dem bunten Gewebe benützt werden sollen, sonst entstehen eben später Knoten in demselben – Wiederholungen, Stillstände, unorganische Einschiebsel, welche bei der Lektüre Steine des Anstoßes bilden und leicht das Interesse, die Spannung zum Straucheln und selbst zum Fallen bringen können. Jetzt wird man begreifen, wie in der Tat nach Überwindung aller Schwierigkeiten des Anfangs der Weg durch die Mitte zum Ende geebnet ist und wie ein guter Anfang das unerläßlichste Erfordernis ist, wenn die Geschichte stetig vorwärtsschreiten soll. Und dies stete Vorwärtsschreiten nennt Collins mit vollem Rechte die Hauptbedingung des Erfolges: sie ist es nicht nur für den Sensationsroman, sondern überhaupt für jede erzählende Dichtung; denn auch da, wo der Schwerpunkt des Interesses nicht in der Handlung ruht, wird der Fortschritt in der Entwicklung der Charaktere, in der Klarlegung der poetischen Idee, oder was es nun sei, immer das Hauptmittel sein, um das Interesse wachzuhalten. Wer mit dieser Kenntnis von dem „Geheimnis“ unseres Autors irgend eines seiner Werke aufmerksam liest, der wird sich kaum einen zu hohen Begriff machen können von der großen Summe von Arbeit, von Scharfsinn und künstlerischer Fähigkeit, welche er zur Vollendung jedes dieser Werke aufwendete.
Collins ist durch und durch Realist. Nachdem er dem Sturm und Drang der Jugend in „Antonina“ den schuldigen Tribut gezahlt hatte, wendete er sich ausschließlich der Schilderung moderner, fast ausnahmslos englischer Verhältnisse zu. Das ist es eben, was ihn in den Augen der großen Masse eingebildeter Gebildeter als der Beachtung nicht würdig erscheinen läßt, weil sie sich die Poesie, deren Vorhandensein im Roman als das notwendige Erfordernis für seine literarische Wertschätzung gilt, nicht gut anders als im Kostüm oder sonstwie phantastisch verschnörkelt und der aktuellen Modernität entkleidet vorstellen kann. Die Poesie liegt aber, wie das Geld, auf der Straße, wenn man sie nur zu finden weiß; und wer nur den Begriff weit genug nimmt, der sieht sie in jedem Konflikt eines eigenartigen Charakters mit Gesetz, Herkommen, Sitte oder mit sich selbst – überhaupt in jeder originellen Betätigung eines originellen Empfindens. Solche Konflikte, solche Charaktere treffen wir in jedem Collins’schen Romane wieder, und zwar nehmen diese Konflikte im Allgemeinen an Bedeutsamkeit zu, je mehr sich die Lebensanschauungen des Autors vertiefen, und besonders, je mehr seine Urteile über Gesetze, Sitten und Vorurteile seines Vaterlandes schärfer und zweckbewußter werden. Daher die Erscheinung, daß seine letzten Werke die ausgesprochensten Tendenzromane geworden sind.
Wilkie Collins zeigt sich von Anfang an frei von der schlimmen religiösen und sozialen Engherzigkeit und Ängstlichkeit seiner Landsleute, er versetzt ihren lächerlichsten und ihren gefährlichsten nationalen Eitelkeiten und Unverzeihlichkeiten Schlag auf Schlag in seinen Romanen mit einer Kühnheit, die der echte Durchschnittsengländer empörend finden und die dem kleineren Kreise der Einsichtigen und Belehrbaren die Augen öffnen muß, welche jedoch bei ersteren in ihrer verletzenden und bei letzteren in ihrer aufreizenden Wirkung gemildert wird durch den alle Leserkreise gleichmäßig bannenden, die Hauptsache oft vergessen machenden Reiz der aktuellen Spannung.
Daher kommt es, daß diejenigen, welche ihn wegen seiner künstlerischen Eigenschaften eigentlich verehren müßten, ihn nicht beachten zu brauchen glauben, und diejenigen, welche ihn wegen seiner Tendenzen eigentlich hassen müßten, ihn lieber heimlich lieben – und alle ihn lesen!
Seiner ganzen künstlerischen Art und Weise nach möchte ich Wilkie Collins den Sardou des englischen Romans nennen. Des Letzteren ungemeines technisches Geschick, bedeutende Erfindungsgabe, sprudelnder Witz und packende Wirkung der Charaktere und Situationen werden von manchen Kritikern ebenso über die Achsel angesehen, wie die gleichen Eigenschaften des Ersteren, und doch wird der Einsichtige nicht leugnen können, daß die ganze Besonderheit des Dramatikers Sardou etwas durchaus Modernes, Neues, in ihrer Art Meisterhaftes und für das französische Drama der Jetztzeit ebenso charakteristisch ist, wie etwa der naturalistische Roman Zolas. Eine ähnliche Stellung wie Sardon in der französischen, möchte ich Collins in der englischen Literatur anweisen, jedoch, wenn ich davon absehe, daß der Dramatiker, dessen Kunst, die bei weitem schwerere ist, dadaurch schon immer höher steht als der gleichwertige Novellist, eine noch etwas höhere, denn er besitzt vor dem oberflächlicheren Franzosen den Vorzug einer weit größeren Gewissenhaftigkeit in der psychologischen Begründung, einer größeren Breite und Tiefe seiner künstlerischen Zwecke und des kostbaren germanischen Urbesitzes Humor, welcher vielleicht von allen modernen Franzosen nur bei Daudet zu finden ist.
Schreiten wir nun zur Betrachtung der einzelnen Werke unseres Autors.
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