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Gesetz und Frau



Achtes Kapitel.

Ich sehe meinen Weg.

Der Morgen des nächsten Tages dämmerte bereits, als ich die Lectüre des Processes beendete.

Ich war durchaus nicht von Müdigkeit überwältigt und fühlte nicht das geringste Bedürfniß zum Schlafen. Mir war zu Muthe, als wenn ich geruht hätte und eben erwacht wäre, ein anderes Weib mit einer neuen Seele.

Jetzt konnte ich wenigstens verstehen, weshalb Eustace mich verlassen. Für einen Mann von so zarten Gemüth würde es ja ein Märtyrerthum gewesen sein, seinem Weibe ins Auge zu blicken nachdem es gelesen, was aller Welt von ihm berichtet war. Ich fühlte das in meinem tiefsten Herzen. Ich vergab ihm, daß er von mir gegangen und hoffte auf seine baldige Wiederkehr.

Ein kleiner Umstand lastete mir aber, trotz meiner Philosophie, auf der Seele. Liebte Eustace noch im Stillen Mrs. Beanly? oder war jene Leidenschaft bereits in ihm erloschen! Zu welcher Art von Schönheit mochte die Dame wohl gehören?

Das Fenster meines Zimmers blickte nach Osten. Ich zog das Rouleau auf und sah die Sonne strahlend am Horizont emporsteigen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen auszugehen und die frische Morgenluft zu athmen. Ich setzte den Hut auf, schlang den Shawl um die Schultern und nahm den Bericht des Processes unter den Arm. Eine Minute später befand ich mich in Benjamins kleinem Garten.

Getröstet und gestärkt durch die Einsamkeit und die erquickende Luft, fand ich Muth genug der ernsten Frage über meine Zukunft entgegenzutreten.

Ich hatte den Proceß gelesen. Ich hatte es mir zur heiligen Lebensaufgabe gemacht, die Unschuld meines Gatten an den Tag zu bringen. Wie sollte ich einsames, verlassenes Weib meine Ausgabe beginnen?

Der kühnste Anfang war jedenfalls der beste. Mein erster Gedanke war an Miserrimus Dexter. Wie er auch meine Handlungsweise beurtheilen mochte; jedenfalls mußte das Experiment gemacht werden. Ich hatte Vertrauen zu dem verwachsenen Mann mit dem seltsamen Namen. Wenn er mich fragen würde: »Was gedenken Sie zu thun?« oder: »Wie kann ich Ihnen dabei behilflich sein?« Konnte ich ihm ans diese beiden Fragen antworten? Gewiß! Mr. Dexter war der einzige Mensch, dem ich die geheimen Gedanken hätte anvertrauen mögen die sich, während der Lectüre des Processes, in meiner Seele gebildet.

Ich vermochte es nicht, den gefaßten Verdacht länger zurückzudrängen. Der Lord-Anwalt hatte mir den ersten Anstoß dazu gegeben, in dem er durch seine Reden meinen Gatten in das allerungünstigste Licht stellte. Daß Mrs. Macallan aus Versehen, sich selber vergiftet habe, glaubte ich nicht, sondern ich war ganz entschieden der Ansicht, daß sie im Besitz des Giftes gewesen sei, um es als Remedium gegen ihren schlechten Teint zu gebrauchen. Eine andere Person mußte ihr nachher das Gift in todtbringender Dosis beigebracht haben; da diese andere Person aber nicht mein Gatte sein konnte; wer war es sonst? — Mein Verdacht fiel sofort auf ein Weib, und der Name dieses Weibes war Mrs. Beanly.

Blicken wir einmal zurück auf jenen Brief, der nur mit »Helena« unterzeichnet und an Mr. Macallan adressirt war. Kein vernünftiger Leser wird daran zweifeln daß Mrs. Beanly jenes Schreiben verfaßt Gut! In dem Inhalt dieses Schreibens sehe ich deutlich die Absicht der schönen Dame, die sie bei ihrem Besuch in Gleninch hegte.

Wie lauteten die betreffenden Worte?

»Mein armer Eustace! Mein Herz zieht sich schmerzlich zusammen wenn ich daran denke, daß Ihr Leben diesem elenden Weibe gewidmet ist.«

Und dann sagt sie weiter: »Wenn wir Beide Mann und Frau geworden wären wie sollte es meine Lebensaufgabe gewesen sein, dem besten und edelsten der Männer die irdische Glückseligkeit zu bereiten.«

Ist dies nicht die Sprache eines Weibes, die schamlos und fast wahnsinnig in einen Mann verliebt ist, den sie nicht Gatten nennt? Sie ist dermaßen bezaubert von ihm, daß sie den Traum ihres Verhältnisses sogar bis in die andere Welt fortsetzt. In dieser Seelen und Körperbeschaffenheit sieht sich die Dame plötzlich durch den Tod ihres Gatten wieder frei. Ihren Liebkosungen und Zärtlichkeiten sehen sich ebenfalls der drückenden Fessel entledigt. Sobald es irgend der Anstand erlaubt, Besuche zu machen macht sie Besuche und wird im Laufe der Zeit der Gast des Mannes, den sie anbetet. Die Gattin desselben liegt krank im Bett. Der einzige, andere Besuch in Gleninch ist ein Krüppel, der sich nur im Räderstuhl fortbewegen kann. Die Lady hat also das Haus mit dem geliebten Gegenstande fast ganz für sich allein. Es steht nichts zwischen ihr und dem Idol ihrer Seele als eine kranke, häßliche Frau, für die Mr. Macallan nicht einen Funken von Neigung fühlt.

Ist es so vollkommen absurd zu denken daß ein Weib wie dies, von solchen Motiven geleitet und in einer ähnlichen Situation nicht eine so günstig dargebotene Gelegenheit ergreifen sollte, um ein Verbrechen zu begehen?

Was äußerte sie in ihrer eigenen Aussage?

Sie giebt zu mit Mrs. Macallan eine Unterredung gehabt zu haben, in welcher die Letztere sie um cosmetische Mittel zur Verbesserung des Teint befragt. Sollte sich während dieser Unterredung nicht noch mehr ereignet haben? Sollte Mrs. Beanly nicht vielleicht mit Mrs. Macallan ein Experiment gemacht haben das später so unheilvolle Folgen hatte?

Mrs. Beanly erwähnte dessen nicht.

Und was sagte der Gärtner aus?

Er belauschte eine Unterhaltung zwischen Mr. Macallan und Mrs. Beanly, welche wenigstens die Möglichkeit zeigte, daß Letztere einmal die Stelle der gegenwärtigen Gattin ersetzen konnte. Sie bricht das Gespräch darüber als zu gefährlich ab, während der keinen bösen Gedanken hegende Mr. Macallan ruhig arglos weiter geplaudert haben würde.

Was erzählte die Wärterin Mrs. Ormsay?

Am Todestage von Mrs. Macallan wird sie entlassen und hinunter geschickt. Sie verläßt die von ihrem ersten Anfall sich bessernde Kranke, die ihre Zeit mit Schreiben verbringen will. Mrs. Ormsay bleibt wohl eine halbe Stunde unten und wundert sich dann daß die Klingel sie nicht zurückruft. Sie begiebt sich in’s Morgenzimmer, um Mr. Macallan darüber zu befragen. Hier vernimmt sie, daß Mrs. Beanly vermißt wird. Mr. Macallan weiß nicht wo sie ist und fragt Mr. Dexter, ob er sie nicht gesehen habe. — Mr. Dexter verneint es. Wann verschwindet also Mrs. Beanly? Zu derselben Zeit wo Christina Ormsay Mrs. Macallan allein gelassen hat.

Endlich ertönt die Klingel heftig. Die Wärterin kehrt fünf Minuten vor elf in’s Krankenzimmer zurück und findet daß die alten Symptome von heute Morgen im verschlimmerten Maße wieder eingetreten sind. Höchstwahrscheinlicherweise ist also der Kranken während der Abwesenheit der Wärterin und seit dem verschwinden der Mrs. Beanly eine zweite, verstärkte Dosis des Giftes gereicht worden. Als die Wärterin um Hilfe zu suchen auf den Corridor hinausblickt begegnet sie Mrs. Beanly, die grade aus ihrem Zimmer kommt, um sich nach dem Befinden der Kranken zu erkundigen.

Etwas später begleitet Mrs. Beanly Mr. Macallan zum Besuch seiner Frau. Die Sterbende wirft einen seltsamen Blick auf die Beiden und fordert sie auf, das Zimmer zu verlassen Mr. Macallan betrachtete diese Aeußerung als eine Folge körperlichen Leidens und wartet im Zimmer, um der Wärterin zu sagen daß nach dem Arzt geschickt sei. Und was thut Mrs. Beanly? Sie verläßt bei dem Blick der Mrs. Macallan in panischem Schrecken das Zimmer. Selbst Mrs. Beanly scheint ein Gewissen zu haben.

Findet nach solchen Vorgängen der Verdacht noch keine Berechtigung?

Mir ist die Schlußfolgerung ganz klar.

Die zweite Dosis Arsenik ward von Mrs. Beanly’s Hand gegeben. Dies zugestanden muß sie ihr auch die erste Dosis gereicht haben. Auf welche Art konnte sie dies bewerkstelligen? Gehen wir auf die Zeugenaussage zurück. Die Wärterin giebt an, daß sie von Morgens zwei bis sechs Uhr im festen Schlaf lag. Sie spricht ebenfalls von einer verschlossenen Verbindungsthür, deren Schlüssel, man wußte nicht von wem, entfernt worden. Er mußte also gestohlen sein. Weshalb nicht von Mrs. Beanly?

Weiter!

Miserrimus Dexter hatte beim Kreuzverhör indirect zugestanden daß er seine eigenen Ideen über Mrs. Macallan’s Tod habe. Gleichzeitig hatte er von Mrs. Beanly in einem Tone gesprochen der deutlich genug verrieth, daß er ihr nicht freundlich gesinnt war. Hatte er ebenfalls Verdacht gegen sie? — Die Frage mußte ihm vorgelegt werden ehe irgend etwas Anderes geschah. Wenn er ebenso über sie dachte, wie ich es that, war mir mein Weg klar vorgezeichnet. Ich mußte sorgfältig meine Identität verbergen und mich Mrs. Beanly als harmlose Fremde vorstellen.

Die erste Schwierigkeit bei meinem Unternehmen war die, zu Miserrimus Dexter zu gelangen.

Der beruhigende Einfluß der frischen Luft hatte mich müder gemacht als die nächtliche Lectüre es gethan. Als ich beim offenen Fenster vorüberging, blickte mich mein Bett einladend an.

Nach fünf Minuten folgte ich der Einladung und sagte für kurze Zeit meinem Kummer und meinen Sorgen Lebewohl. Kaum hatte ich mich niedergelegt als ich fest entschlummerte.

Ein bescheidenes Klopfen an der Thür er weckte mich.

»Liebes Kind!« hörte ich draußen Benjamins Stimme sprechen. »Wenn Sie noch länger schlafen werden Sie verhungern. Es ist ein Uhr durch, und ein Freund von Ihnen wird mit uns frühstücken.«

Ein Freund von mir? Wer konnte das sein?

— Mein Gatte war weit weg, und Onkel Starkweather hatte mich aufgegeben.

»Wer ist es?« rief ich von meinem Bett aus, durch die geschlossene Thüre.

»Major Fitz-David!« antwortete Benjamin.

Ich sprang aus dem Bett. Grade der Mann dessen ich bedurfte, wartete auf mich. Major Fitz-David kannte alle Welt. Eng befreundet mit meinem Gatten würde er mir gewiß etwas von dessen altem Freunde Miserrimus Dexter sagen können.

Ich machte sorgfältige Toilette und ließ das Frühstück warten. Kein lebendes Weib würde anders gehandelt haben, wenn sie vom Major Fitz-David eine Gunst zu erbitten gehabt hätte.


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