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Die Frau in Weiß

Die Aussage Walter Hartrights in Clement's Inn zu London.

XI.

Wir setzten unsere Nachfragen in Limmeridge geduldig in allen Richtungen und unter allen Arten von Leuten fort, aber immer noch erfolglos. Drei von den Dorfleuten versicherten uns allerdings, daß sie die Frau gesehen hatten; da es ihnen jedoch unmöglich war, sie zu beschreiben, und sie durchaus nicht über die Richtung einig werden konnten, welche sie eingeschlagen hatte, als sie sie zuletzt gesehen, so gewährten uns diese drei glänzenden Ausnahmen von der allgemeinen Regel totaler Unwissenheit keinen größeren Beistand, als die Masse ihrer nutzlosen und unaufmerksamen Nachbarn.

Der Verlauf unserer erfolglosen Nachforschungen brachte uns mit der Zeit an das Ende des Dorfes, wo die von Mrs. Fairlie errichteten Schulen waren. Als wir an der Seite des Gebäudes entlang gingen, welches dem Gebrauche der Knaben gewidmet war, schlug ich vor, eine letzte Nachfrage bei dem Schulmeister anzustellen, von dem wir zufolge seines Amtes wohl annehmen durften, daß er der intelligenteste Mann im Orte sei.

»Ich fürchte, der Schulmeister muß mit seinen Schülern beschäftigt gewesen sein,« sagte Miß Halcombe, »als die Frau durch das Dorf hin und zurück ging. Indessen, wir können es ja versuchen.«

Wir traten in den eingeschlossenen Spielplatz und gingen an dem Schulstubenfenster vorbei, um zu der Eingangsthür zu gelangen, welche auf der Hinterseite des Hauses war. Ich stand einen Augenblick vor dem Fenster stille und sah hinein.

Der Schulmeister saß auf seinem Katheder, mit dem Rücken mir zugewandt, dem Anscheine nach seinen Schülern, die mit einer Ausnahme vor ihm standen, eine Rede haltend. Diese eine Ausnahme war ein derber weißblonder Bube, der von allen Anderen getrennt, allein in einer Ecke stand – wie ein verlassener kleiner Crusoe in der traurigen Abgeschiedenheit seiner wüsten Insel von einsamer Schande und Strafe.

Als wir zur Thür herum kamen, fanden wir dieselbe halb geöffnet und die Stimme des Schulmeisters drang deutlich bis zu uns hin, als wir einen Augenblick im Vorhäuschen stille standen.

»Jetzt, Jungen,« sagte die Stimme, »paßt auf, was ich euch sagen werde. Wenn ich in dieser Schule noch ein Wort von Gespenstern sagen höre, so soll es euch Allen schlimm ergehen. Es gibt keine Gespenster, und wenn daher ein Junge an Gespenster glaubt, so glaubt er an etwas Unmögliches; und ein Junge, der zu der Schule von Limmeridge gehört und an etwas Unmögliches glaubt, sträubt sich gegen alle Vernunft und Disciplin und muß folglich bestraft werden. Ihr Alle seht Jacob Pastlethwaite, der dort zur Strafe in der Ecke auf dem Schemel steht. Er ist bestraft worden – nicht, weil er gesagt hat, daß er gestern Abend ein Gespenst gesehen, sondern weil er zu frech und halsstarrig ist, um Vernunft anzunehmen, und weil er darauf besteht, zu behaupten, daß er ein Gespenst gesehen hat, nachdem ich ihm gesagt habe, daß dies unmöglich ist. Falls es mir nicht auf andere Weise gelingt, ihn zu überzeugen, so beabsichtige ich Jacob Pastlethwaite das Gespenst auszuprügeln, und falls sein Glaube sich unter euch verbreiten sollte, beabsichtige ich, noch einen Schritt weiter zu thun und der ganzen Schule das Gespenst auszuklopfen.«

»Es scheint, wir haben einen ungünstigen Augenblick zu unserem Besuche gewählt,« sagte Miß Halcombe, indem sie am Schlusse der Rede des Schulmeisters die Thür aufstieß und mir voran ging.

Unser Erscheinen machte große Sensation unter den Knaben. Sie schienen zu denken, daß wir ausdrücklich, um Jacob Pastlethwaite durchprügeln zu sehen, hinkämen.

»Geht Alle zu eurem Mittagessen nach Hause,« sagte der Schulmeister, »ausgenommen Jacob. Jacob muß bleiben, wo er ist, und das Gespenst mag ihm sein Mittagessen bringen, wenn er Lust hat.«

Jacobs Standhaftigkeit verließ ihn bei dem doppelten Unglücke des Verlustes seiner Schulkameraden und seines Mittagessens. Er zog seine Hände aus den Taschen, blickte fest auf seine Knöchel, erhob sie nach kurzer Ueberlegung zu seinen Augen, und als sie dort angelangt, drehte er sie in denselben um und um, während er die Handlung mit kurzem, krampfhaftem Schnüffeln begleitete, welches in regelmäßigen Zwischenräumen stattfand – die nasalen Minutenschüsse kindlichen Schmerzes.

»Wir kamen, um eine Frage an Sie zu thun, Mr. Dempster,« sagte Miß Halcombe, zum Schulmeister gewendet, »und waren wenig darauf vorbereitet, Sie damit beschäftigt zu finden, ein Gespenst zu beschwören, was soll dies Alles bedeuten? Was hat sich in Wirklichkeit zugetragen?«

»Dieser böse Bube, Miß Halcombe, hat die ganze Schule in Angst gejagt, indem er behauptet, gestern Abend ein Gespenst gesehen zu haben,« antwortete der Schulmeister. »Und trotz Allem, was ich ihm sagen kann, bleibt er noch immer bei seiner albernen Geschichte.«

»Sehr sonderbar,« sagte Miß Halcombe. »Ich hätte kaum geglaubt, das unsere Knaben Einbildungskraft genug besäßen, um ein Gespenst zu sehen. Dies ist in der That ein neuer Zuwachs zu der schweren Arbeit, den Geist der Jugend von Limmeridge zu bilden – und ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie es bald überstanden haben mögen, Mr. Dempster. Inzwischen erlauben Sie mir, Ihnen zu erklären, weshalb Sie mich hier sehen und was ich wünsche.«

Sie legte dann dem Schulmeister dieselbe Frage vor, die wir schon an fast alle Bewohner des Dorfes gerichtet hatten. Er gab dieselbe entmuthigende Antwort. Mr. Dempster hatte die Fremde, welche wir suchten, mit keinem Auge gesehen.

»Ich denke, wir können nun nach Hause zurückkehren, Mr. Hartright,« sagte Miß Halcombe; »es ist offenbar, daß wir die gewünschte Auskunft nicht erlangen werden.«

Sie hatte sich gegen Mr. Dempster verbeugt und war im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als die verlassene Lage Jacob Pastlethwaite’s, der auf seinem Bußschemel schnüffelte, daß es zum Erbarmen war, ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, als sie an ihm vorbeiging und sie still zu stehen bewog, um ein paar freundliche Worte zu dem armen Gefangenen zu sprechen, ehe sie hinausging.

»Du närrischer Knabe,« sagte sie, »warum bittest Du nicht Mr. Dempster um Verzeihung und hörst nun von dem Gespenst auf?«

»Was! – aber ich hab’s doch gesehen,« sagte Jacob Pastlethwaite mit einem Blicke des Entsetzens, begleitet von einer Thränenfluth.

»Unsinn! Du hast Nichts dergleichen gesehen. Mit Deinem Gespenste! Was für ein Gespenst –«

»Ich bitte um Verzeihung, Miß Halcombe,« unterbrach sie der Schulmeister ein wenig unruhig – »aber ich glaube, es wäre besser, wenn Sie den Knaben nicht befragen wollten. Die halsstarrige Narrheit seiner Geschichte ist unglaublich, und Sie könnten ihn verleiten, in seiner Dummheit –«

»In seiner Dummheit – was?« frug Miß Halcombe schnell.

»In seiner Dummheit Ihre Gefühle zu verletzen,« sagte Mr. Dempster, indem er außerordentlich verwirrt aussah.

»Wirklich, Mr. Dempster, Sie machen meinen Gefühlen ein großes Compliment, wenn Sie denken; daß sie schwach genug sind, um von diesem kleinen Buben verletzt zu werden!« Sie wandte sich mit einer Miene spöttischer Herausforderung zum kleinen Jacob und begann ihn sofort, ihn auszufragen. »Komm!« sagte sie; »ich beabsichtige, die ganze Geschichte zu erfahren. Du unartiger kleiner Bursch, wann hast Du das Gespenst gesehen?«

»Gestern Abend, im Schummern,« entgegnete Jacob.

»O! Du sahst das Gespenst gestern Abend im Zwielichte? Und wie sah es aus?«

»Es war ganz in Weiß – wie ein G’spinst sein sollte,« antwortete der Geisterseher mit einer Zuversicht, die über seine Jahre war.

»Und wo war es?«

»Da drüben, im Kirchhof – wo ein G’spinst hin gehört?«

»Wie ein ›G’spinst‹ sein sollte – wo ein ›G’spinst‹ hingehört – ei, Du kleiner Narr, Du sprichst ja, als ob Du seit Deiner frühesten Jugend mit den Sitten und Gewohnheiten der Gespenster vertraut gewesen wärst. Jedenfalls weißt Du Deine Geschichte gut auswendig, vermuthlich wirst Du sogar noch im Stande sein, mir zu sagen, wessen Gespenst es war?«

»Was! – Das kann ich auch,« entgegnete Jacob und nickte mit einer Miene finsteren Triumphes mit dem Kopfe.

Mr. Dempster hatte schon verschiedene Male zu sprechen versucht, während Miß Halcombe seinen Schüler examinirte und er legte sich jetzt entschlossen genug dazwischen, um gehört zu werden.

»Verzeihen Sie, Miß Halcombe,« sagte er, »wenn ich zu sagen wage, daß Sie den Knaben durch diese Fragen nur noch bestärken.«

»Ich will ihn nur noch eins fragen, Mr. Dempster, und dann völlig befriedigt sein. Nun«, fuhr sie, zu dem Knaben gewendet, fort, »wessen Geist war es also?«

»Der Geist von Mistreß Fairlie,« flüsterte der Knabe.

Die Wirkung dieser seltsamen Antwort auf Miß Halcombe war der Art, daß sie vollkommen die Besorgniß des Schulmeisters rechtfertigte, mit der er sie zu verhindern gesucht hatte, sie zu hören. Ihr Gesicht wurde purpurroth vor Entrüstung – sie wandte sich mit einer so zornigen Schnelligkeit zum kleinen Jacob, daß er von Neuem in einen Strom von Thränen ausbrach – öffnete die Lippen, wie um mit ihm zu sprechen – dann faßte sie sich – und wandte sich, anstatt zum Knaben, zu dem Lehrer.

»Es ist unnütz«, sagte sie, »ein Kind wie dieses für das, was es sagt, verantwortlich zu machen. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, daß die Idee ihm von Anderen in den Kopf gesetzt worden ist. Falls es in diesem Dorfe Leute gibt, Mr. Dempster, welche die Achtung und Dankbarkeit vergessen haben, welche jede Seele unter ihnen dem Andenken meiner Mutter schuldig ist, so will ich sie herausfinden; und wenn ich irgendwie Einfluß auf Mr. Fairlie habe, so sollen sie es fühlen.«

»Ich hoffe – gewiß, ich bin überzeugt, Miß Halcombe, daß Sie im Irrthum sind,« sagte der Schulmeister. »Die Sache beginnt und endet mit dieses Burschen Eigensinn und Narrheit. Er sah, oder bildet es sich wenigstens ein, gestern Abend, als er am Kirchhofe vorüber ging, eine Frau in Weiß, und die Gestalt, ob eine wirkliche oder eingebildete, stand neben dem Marmorkreuze, das allen Leuten in Limmeridge als das Monument auf Mrs. Fairlie’s Grabe bekannt ist. Sind nicht diese Umstände hinreichend, um dem Knaben selbst die Antwort einzugeben, die sie natürlicherweise so sehr verletzt hat?«

Obgleich Miß Halcombe nicht überzeugt zu sein schien, so fühlte sie doch offenbar, daß des Schulmeisters Darstellung der Sache eine zu verständige sei, um sie offen zu bestreiten. Sie antwortete blos, indem sie ihm für seine Aufmerksamkeit dankte und ihm versprach, ihn wieder zu besuchen, sobald ihre Zweifel beseitigt seien. Darauf grüßte sie ihn und verließ das Zimmer.

Während dieses ganzen seltsamen Auftrittes hatte ich beiseite gestanden, aufmerksam zugehört und dabei meine eigenen Schlüsse gezogen. Sobald wir wieder allein waren, fragte mich Miß Halcombe, ob ich irgend eine Meinung gefaßt über das, was ich gehört habe.

»Eine sehr entschiedene Meinung,« erwiderte ich. »Des Knaben Geschichte hat, wie ich überzeugt bin, ihre Grundlage in einer Thatsache. Ich gestehe, daß ich sehr gern das Monument auf Mrs. Fairlie’s Grabe sehen und den Boden umher untersuchen möchte.«

»Sie sollen das Grab sehen.«

Sie schwieg, nachdem sie dies gesagt, und sann ein wenig nach, während wir weiter gingen. »Das, was sich in der Schulstube ereignet hat,« sagte sie dann, »hat so vollständig meine Aufmerksamkeit von der Briefgeschichte abgezogen, daß ich ein wenig verwirrt bin, wenn ich darauf zurückzukommen versuche. Sollen wir den Gedanken an alle ferneren Nachforschungen aufgeben und warten, bis wir die Sache morgen Mr. Gilmore’s Händen übergeben können?«

»Durchaus nicht, Miß Halcombe. Was sich im Schulzimmer zugetragen hat, ermuthigt mich, unsere Nachforschungen fortzusetzen.«

»Warum ermuthigt es Sie?«

»Weil es einen Verdacht bestärkt, den ich fühlte, als Sie mir den Brief zu lesen gaben.«

»Sie hatten vermutlich Ihre Gründe, Mr. Hartright, wenn Sie mir diesen Verdacht bis jetzt verhehlten?«

»Ich fürchtete mich, ihn in mir selbst aufkommen zu lassen. Ich hielt ihn für völlig widersinnig – und mißtraute ihm als dem Erfolge eines Eigensinnes in meiner Phantasie. Aber ich kann dies jetzt nicht mehr. Nicht nur des Knaben Antworten auf Ihre Fragen, sondern auch ein zufälliger Ausdruck, welcher dem Schulmeister entfiel, als er seine Geschichte erklärte, haben mit Gewalt die Idee in meinen Geist zurückgerufen. Kommende Ereignisse mögen diese Idee noch als eine Sinnestäuschung ausweisen, Miß Halcombe; aber ich habe in diesem Augenblicke den festen Glauben, daß das eingebildete Gespenst im Kirchhofe und – der Schreiber des anonymen Briefes eine und dieselbe Person sind.«

Sie stand stille, erblaßte und sah mir begierig in’s Gesicht.

»Welche Person?«

»Der Schulmeister sagte es Ihnen unbewußterweise. Als er von der Gestalt sprach, welche der Knabe im Kirchhofe gesehen hatte, nannte er sie ›eine Frau in Weiß‹«.

»Doch nicht Anna Catherick –!«

»Ja, Anna Catherick.«

Sie legte ihren Arm durch den meinigen und lehnte sich schwer darauf.

»Ich weiß nicht warum,« sagte sie mit leiser Stimme, »aber es ist etwas in Ihrem Argwohne, das mich zu erschrecken und niederzudrücken scheint. Mir ist –« sie hielt inne und versuchte darüber zu lachen. »Mr. Hartright,« fuhr sie fort, »ich will Ihnen das Grab zeigen und dann in’s Haus zurückkehren. Ich möchte Laura lieber nicht zu lange allein lassen. Ich will lieber zu ihr gehen und bei ihr bleiben.«

Wir waren ganz nahe bei dem Kirchhofe, als sie dies sagte. Die Kirche, ein trauriges Gebäude von grauem Stein, lag in einem kleinen Thale, so daß sie gegen die rauhen Winde geschützt war, welche rings von der Haide herkamen. Der Begräbnißplatz zog sich von der Seite der Kirche ein wenig den Hügel hinauf. Derselbe war von einer rohen niedrigen Steinmauer umgeben und lag ganz frei da, außer an der Stelle, wo ein kleiner Bach rann und ein Gebüsch von kleinen Bäumen deren schmale Schatten auf das kurze, magere Gras warf. Gerade jenseits des Baches und der Bäume und nicht weit von den drei steinernen Tritten, über die man an verschiedenen Stellen in den Kirchhof stieg, erhob sich das weiße Marmorkreuz, welches Mrs. Fairlie’s Grab von den bescheidenen Monumenten, die es umgaben, unterschied.

»Ich brauche nicht weiter mit Ihnen zu gehen,« sagte Miß Halcombe, auf das Grab deutend. »Sie werden mich davon unterrichten, wenn Sie irgend etwas entdecken, um die Idee zu bestätigen, deren Sie soeben zu mir erwähnten. Wir werden uns zu Hause wiedersehen.«

Sie verließ mich. Ich ging sofort in den Kirchhof hinab und stieg über den Tritt, welcher direkt zu Mrs. Fairlie’s Grabe führte.

Das Gras umher war zu kurz und der Boden zu hart, um Fußspuren zu zeigen. Hierin getäuscht, betrachtete ich dann aufmerksam das Kreuz und den viereckigen Marmorblock unter demselben, in welchen die Inschrift gravirt war.

Die natürliche Weiße des Kreuzes hatte hie und da vom Wetter gelitten, und etwas mehr als die Hälfte des Blockes war auf der Seite, welche die Inschrift trug, in demselben Zustande. Die andere Hälfte indessen zog sogleich durch ihre vollkommene Sauberkeit meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich sah näher darauf hin und bemerkte, daß sie gereinigt – ganz kürzlich gereinigt worden war, in einer Richtung von oben nach unten. Die Linie zwischen dem gereinigten und dem nicht gereinigten Theile war an der Stelle zu erkennen, wo die Inschrift den Marmor frei ließ – deutlich als eine Linie zu erkennen, welche durch künstliche Mittel hervorgebracht worden. Wer hatte das Reinigen des Marmors angefangen, und wer hatte es unbeendet gelassen?

Ich schaute umher voll Neugierde, das Räthsel zu lösen. Von der Stelle, an der ich stand, war keine Wohnung zu sehen: der Begräbnißplatz war im ausschließlichen Besitze der Todten. Ich kehrte zur Kirche zurück und ging daran hin, bis ich zur Hinterseite des Gebäudes kam; dann stieg ich vermittelst eines der anderen Tritte über die Grenzmauer und fand mich am Eingange eines Pfades, welcher zu einem verlassenen Steinbruche führte. Gegen die eine Seite dieses Steinbruches lehnte sich eine kleine zweistubige Wohnung; und vor der Thür war eine alte Frau mit Wäsche beschäftigt.

Ich ging zu ihr heran und fing eine Unterhaltung über die Kirche und den Begräbnißplatz an. Sie ging bereitwillig genug darauf ein, und gleich die ersten Worte, die sie sprach, unterrichteten mich, daß ihr Mann das Amt des Küsters und Todtengräbers innehabe. Ich sagte dann ein paar lobende Worte in Bezug auf Mrs. Fairlie’s Monument. Die alte Frau schüttelte den Kopf und sagte mir, ich hätte es in keinem vortheilhaften Zustande gesehen. Es wäre ihres Mannes Geschäft, danach zu sehen, aber er sei schon seit vielen Monaten so schwächlich und unwohl, daß er nur mit der größten Anstrengung im Stande gewesen, Sonntags nach der Kirche zu schleichen, um sein Amt zu verrichten, und das Monument sei in Folge dessen etwas vernachlässigt. Er sei jetzt etwas in der Besserung und hoffe, in einer Woche oder zehn Tagen kräftig genug zu sein, um sich daran zu machen und es zu reinigen.

Dieser Bericht – den ich aus einer langen, weitschweifigen Antwort im breitesten cumberländischen Dialekte herauszuschälen hatte – sagte mir Alles, was ich besonders zu wissen wünschte. Ich gab der armen Frau eine Kleinigkeit und kehrte sofort nach Limmeridge House zurück.

Die theilweise Säuberung des Monumentes war also offenbar durch eine fremde Hand geschehen. Indem ich das, was ich bis hierher entdeckt hatte, mit dem zusammenhielt, was ich geargwöhnt, als ich von dem Erscheinen des Gespenstes im Zwielichte gehört hatte, bedurfte es weiter Nichts, meinen Entschluß, heute Abend heimlich Mrs. Fairlie’s Grab zu bewachen, zu befestigen; ich beschloß, um Sonnenuntergang dorthin zurückzukehren und im Gesichtskreise desselben bis Einbruch der Nacht zu warten. Die Säuberung des Monumentes war unbeendet geblieben, und die Person, welche sie angefangen, mochte vielleicht zurückkehren, um sie zu beenden.

Als ich im Hause anlangte, unterrichtete ich Miß Halcombe von dem, was ich zu thun beabsichtigte. Sie sah überrascht und beunruhigt aus, während ich ihr meine Absicht erklärte; aber sie machte keinen entschiedenen Einwurf gegen die Ausführung desselben. Sie sagte nur, »ich hoffe, es mag glücklich enden«. Gerade als sie mich wieder verließ, hielt ich sie zurück, um sie so ruhig, als es mir möglich war, nach Miß Fairlie’s Befinden zu fragen. Sie war weniger traurig und Miß Halcombe hoffte es über sie zu vermögen, daß sie sich ein wenig Bewegung in freier Luft mache, solange die Nachmittagssonne scheine.

Ich kehrte auf mein Zimmer zurück, um mit dem Ordnen der Zeichnungen fortzufahren. Es war nothwendig, daß ich dies that, und doppelt nothwendig, damit ich meinen Geist mit irgend etwas beschäftigte, das meine Aufmerksamkeit von mir selbst und von der hoffnungslosen Zukunft abzöge, die vor mir lag. Von Zeit zu Zeit hielt ich in meiner Arbeit inne, um aus dem Fenster zu schauen und den Himmel zu beobachten, als die Sonne tiefer und tiefer zum Horizont hinabsank. Bei einer solchen Gelegenheit erblickte ich auf dem breiten Kieswege unter meinem Fenster eine Gestalt. Es war Miß Fairlie. –

Ich hatte sie seit dem Morgen nicht gesehen und selbst da fast kein Wort mir ihr gesprochen. Es blieb mir nur noch ein Tag in Limmeridge und nach diesem Tage sollten meine Augen sie vielleicht nie wieder sehen. Dieser Gedanke genügte, um mich am Fenster festzuhalten. Ich war rücksichtsvoll genug gegen sie, um die Vorhänge so zurecht zu schieben, daß sie mich nicht sehen konnte, falls sie hinaufblicken sollte; aber ich hatte nicht die Kraft, der Versuchung zu widerstehen, ihr mit den Augen zu folgen, soweit dies auf ihrem Spaziergange geschehen konnte.

Sie trug einen braunen Mantel und darunter ein einfaches seidenes Kleid. Ihren Kopf bedeckte derselbe runde Strohhut, den sie an jenem Morgen getragen, wo ich sie zum ersten Male gesehen hatte. Es war jetzt ein Schleier daran befestigt, welcher mir ihr Gesicht verbarg. Neben ihr lief ihr kleines italienisches Windspiel, der Gefährte all ihrer Spaziergänge, der eine schöne, scharlachrothe Tuchdecke trug, um seine zarte Haut gegen die rauhe Luft zu schützen. Sie schien den Hund nicht zu bemerken, sondern ging gerade aus, den Kopf ein wenig gesenkt und die Arme unter dem Mantel verschlungen. Die welken Herbstblätter, welche im Winde vor mir gerauscht hatten, als ich am Morgen von ihrer Heirat hörte, rauschten jetzt im Winde vor ihren Füßen, als sie in dem matten, erblassenden Sonnenlichte dahin ging. Der kleine Hund schauerte zusammen und zitterte und drängte sich an ihr Kleid, damit sie ihn bemerke und ermuntere. Aber sie ließ ihn unbeachtet. Sie ging dahin, immer weiter fort von mir, und die welken Blätter rauschten auf ihrem Pfade um sie her – sie ging dahin, bis meine wehen Augen sie nicht mehr sahen, und ich wieder allein war mit meinem schweren Herzen.

Eine Stunde später war ich mit meiner Arbeit zu Ende, und die Sonne neigte sich zum Untergange. Ich holte mir meinen Hut und Ueberrock aus der Vorhalle und schlüpfte aus dem Hause, ohne Jemandem zu begegnen.

Die Wolken standen drohend am westlichen Himmel und ein kalter Wind blies vom Meere her. Ungeachtet der Entfernung des Meeresufers, strich doch das Getöse der Brandung über das Heideland herüber und schlug düster an meine Ohren, als ich in den Kirchhof trat. Kein lebendes Wesen war zu sehen. Der Ort sah verlassener aus denn je, als ich meine Stellung einnahm, in der ich beobachtend verharrte, die Augen auf das weiße Kreuz über Mrs. Fairlie’s Grabe geheftet.


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