Der Mondstein



Vierte Erzählung.

in einem Auszuge aus dem Tagebuche
Ezra Jennings.

1849. 15. Juni. —— Unter verschiedenen Unterbrechungen durch Patienten und Schmerzanfälle beendete ich meinen Brief an Fräulein Verinder rechtzeitig für die heutige Post. Es hat mir nicht gelingen wollen, den Brief so kurz zu fassen, wie ich es gewünscht hätte, aber ich glaube er ist deutlich. Ich stelle ihr darin ihre Entscheidung völlig anheim. Wenn sie einwilligt, dem Experiment beizuwohnen, so thut sie es aus eigenem freien Willen und nicht aus Gefälligkeit für Herrn Franklin Blake oder für mich.

16. Juni. —— Nach einer schrecklichen Nacht spät aufgestanden. Das gestern eingenommene Quantum Opium hat sich durch eine Reihe fürchterlicher Träume gerächt. Einmal wurde ich von den Phantomen verstorbener befreundeter und feindlicher Gestalten durch den leeren Raum gejagt. Ein anderes Mal erschien in einem das Dunkel der Nacht widerwärtig erhellenden phosphoresirens den Licht das geliebte Antlitz, das ich niemals wiedersehen werde, über meinem Bett und starrte mich grinsend an. Ein leichter Anfall des alten Schmerzes der sich zur gewohnten Zeit am frühen Morgen einstellte, war mir als eine Abwechslung willkommen. Er verscheuchte meine Gesichte und schien mir deshalb erträglich.

In Folge der schlechten Nacht kam ich erst spät zu Franklin Blake. Ich fand ihn auf dem Sopha ausgestreckt bei seinem aus Cognac und Sodawasser und einem trocknen Biscuit bestehenden Frühstück.

»Sie können sehr mit mir zufrieden sein,« sagte er, »Ich habe eine miserable, schlaflose Nacht verbracht und heute Morgen nicht den mindesten Appetit! Gerade wie voriges Jahr, als ich das Rauchen aufgab. «Je rascher mein Zustand die Verabreichung meiner zweiten Dosis Opium gestattet, desto lieber ist es mir.«

»Sie sollen sie sobald wie möglich bekommen,« antwortete ich. Inzwischen müssen wir doch bestmöglichst für Ihre Gesundheit sorgen. Ihre Kräfte dürfen nicht erschöpft werden. Wir müssen Ihnen zum Mittagessen Appetit schaffen. Mit andern Worten, Sie müssen diesen Morgen spazieren gehen oder reiten.«

»Wenn ich hier ein Pferd finden kann, so will ich reiten. Beiläufig, ich habe gestern an Herrn Bruff geschrieben. Haben Sie an Fräulein Verinder geschrieben?«

»Ja, mit der gestrigen Abendpost.«

»Gut. Also dürfen wir hoffen, uns morgen gegenseitig einige interessante Mittheilungen machen zu können. Bleiben Sie doch noch ein wenig, ich habe Ihnen ein Wort zu sagen. Sie schienen gestern zu glauben, daß unser Experiment mit dem Opinm von einigen meiner Freunde wahrscheinlich nicht mit günstigen Augen werde angesehen werden und Sie hatten ganz recht. Ich zähle den alten Gabriel Betteredge zu meinen Freunden und es wird Sie amüsiren zu hören, daß, als ich ihm gestern von der Sache erzählte, er energisch dagegen protestirte. »Sie haben eine außerordentliche Menge von Thorheiten in Ihrem Leben begangen, Herr Franklin, aber diese übertrifft alle früheren!« Das ist Betteredges Ansicht! Sie werden seine Vorurtheile schonen, wenn Sie ihn sehen, nicht wahr?«

Ich verließ Herrn Blake, um meine Patienten zu besuchen, und fühlte mich schon nach der kurzen Zusammenkunft mit ihm besser und glücklicher.

Wie soll ich mir die geheime Anziehungskraft, die dieser Mensch auf mich ausübt, erklären? Beruht dieselbe nur auf dem Contrast der freundschaftlichen Art mit der er mir entgegen gekommen ist, und der unbarmherzig mißtrauischen und abstoßenden Weise, mit der mich die übrigen Menschen behandeln? Oder ist wirklich etwas in ihm, was meine Sehnsucht nach menschlicher Sympathie befriedigt —— diese Sehnsucht, welche die Einsamkeit und die Verfolgung vieler Jahre überlebt hat, und welche stärker und stärker zu werden scheint, je näher die Zeit heranrückt, wo ich nichts mehr leiden und fühlen werde? Wie nutzlos solche Fragen zu thun! Herr Blake hat, dem Leben ein neues Interesse für mich verliehen. Dabei will ich mich beruhigen, ohne der Natur dieses Interesses weiter nachzuforschen.

17. Juni. —— Diesen Morgen vor dem Frühstück zeigte mir Herr Candy an, daß er auf vierzehn Tage zu einem Freunde im südlichen England reisen werde. Der arme Mann gab mir so viele specielle Anweisungen in Betreff der Patienten, als ob er noch die große Praxis hätte wie vor seiner Krankheit. Die Praxis ist jetzt äußerst klein geworden! Andere Aerzte haben ihn verdrängt und keiner, der umhin kann, kennt mich.

Es ist vielleicht ein Glück, daß er gerade jetzt fortgeht; es würde ihn gekränkt haben, wenn ich ihn von dem Experiment, das ich mit Herrn Blake zu machen im Begriff stehe, nichts gesagt hätte. Und doch hätte ich ihn nicht ins Vertrauen ziehen können, ohne die unerwünschtesten Folgen befürchten zu müssen. Es ist also ohne Frage besser so.

Als Herr Candy eben das Haus verlassen hatte, erhielt ich Fräulein Verinders Antwort.

Ein charmanter Brief! Er giebt mir eine sehr hohe Meinung von ihr. Kein Versuch, ihr Interesse an unserm Unternehmen zu verhehlen. Sie sagt mir in der liebenswürdigsten Weise, daß mein Brief sie von Herrn Blake’s Unschuld überzeugt habe, ohne daß es für sie noch irgend eines Beweises meiner Behauptung bedürfe. Das arme Mädchen macht sich selbst sogar höchst unverdiente Vorwürfe darüber, daß sie nicht seiner Zeit die wahre Lösung des Räthsels errathen habe. Das Motiv aller dieser Aeußerungen ist offenbar etwas mehr als der großmüthige Eifer, ein einer andern Person unabsichtlich zugefügtes Unrecht wieder gut zu machen. Es ist klar, daß sie trotz der zwischen ihnen eingetretenen Entfremdung nicht aufgehört hat, ihn zu lieben. An mehr als einer Stelle bricht das Entzücken über die Entdeckung, daß er ihre Liebe verdient, inmitten der formellsten Wendungen eines an einen Fremden geschriebenen Briefes durch. Ist es möglich, frage ich mich beim Lesen dieses köstlichen Briefes, daß ich unter allen lebenden Menschen berufen bin, die Wiedervereinigung dieser beiden jungen Leute zu vermitteln?

Mein eignes Glück ist mit Füßen getreten, meine eigene Liebe ist mir entrissen. Soll ich es erleben, daß das Glück Anderer durch mich begründet, daß ein liebendes Paar sich durch mein Bemühen wieder vereinigt? O barmherziger Tod, laß es mich erleben, bevor Deine Arme mich umschlingen, und bevor Du mir zuflüsterst: Komm zur ewigen Ruhe!

Der Brief enthält zwei Bitten. Eine derselben verhindert mich, ihn Herrn Franklin Blake zu zeigen. Fräulein Verinder autorisirt mich, ihm zu sagen, daß sie uns mit Vergnügen ihr Haus zur Disposition stellt.

So weit kann ich also ihren Wünschen leicht entsprechen.

Aber die zweite Bitte setzt mich ernstlich in Verlegenheit. Nicht damit zufrieden, daß sie Herrn Betteredge angewiesen hat, alle meine Ordres auszuführen, bittet Fräulein Verinder mich um die Erlaubniß, mir durch persönliche Ueberwachung der Wiederherstellung ihres Wohnzimmers behilflich sein zu dürfen, hiervon aber Herrn Blake nichts mitzutheilen. Sie wartet nur auf ein Wort der Erwiederung von mir, um die Reise nach Yorkshire anzutreten, und in der Nacht, wo die Wirkung des Opiums zum zweiten Mal versucht werden soll, als Zeugin zugegen zu sein.

Hier liegt abermals ein besonderes Motiv zu Grunde und wieder glaube ich es zu erkennen.

Was sie mir verbietet, Herrn Franklin Blake zu sagen, will sie ihm, wie mir scheint, gern selbst sagen, bevor er auf die Probe gestellt wird, die seinen Ruf in, den Augen anderer Menschen reinigen soll. Ich verstehe und bewundere diese großmüthige Hast, ihn freizusprechen, ohne abzuwarten, ob der Beweis seiner Unschuld gelingt oder nicht.

Es verlangt sie darnach, das Unrecht wieder gut zu machen, das sie ihm unschuldiger und unvermeidlicher Weise angethan hat. Aber das darf nicht sein. Ich bin fest überzeugt, daß die Aufregung, welche eine Zusammenkunft auf Beide hervorbringen würde, —— die alten Gefühle, welche dieselbe wiedererwecken, die neuen Hoffnungen, welche sie rege machen würde —— in ihrer Wirkung auf das Gemüth des Herrn Blake dem Erfolg unseres Experiments verhängnisvoll sein würde. Es ist schon schwer genug, wie die Sachen stehen, die Bedingungen, unter welchen das Opium im vorigen Jahre auf ihn wirkte, ganz oder nahezu wieder in ihm hervorzurufen. Wenn neue Interessen und neue aufregendes Emotionen hinzukämen, so würde der Versuch nutzlos sein.

Und doch kann ich es trotz dieser Ueberzeugung nicht übers Herz bringen, ihr ihre Bitte abzuschlagen. Ich muß sehen, ob ich nicht noch vor Abgang der Post ein neues Arrangement ersinnen kann, welches mir gestatten würde, Fräulein Verinder ihre Bitte zu gewähren, ohne den Dienst, den ich mich Herrn Franklin Blake zu leisten verpflichtet habe, zu beeinträchtigen.

Zwei Uhr Nachtmittags —— Ich komme eben von meinen Krankenbesuchen nach Hause, nachdem ich natürlich zuerst im Hotel vorgesprochen hatte.

Herr Blake berichtet über seine Nacht gerade wie gestern. Er ist ein paar Mal auf kurze Augenblicke ein geschlafen, mehr nicht; aber er empfindet es heute weniger, nachdem er gestern nach Tisch geschlafen hat. Dieser Mittagsschlaf ist ohne Zweifel die Wirkung des Ritts, den er auf meinen Rath gemacht hat. Ich fürchte, ich werde seine erfrischende Bewegung in der Lust etwas beschränken müssen. Er darf nicht zu elend, er darf aber auch nicht zu wohl sein. Es ist ein Fall, wo, wie die Seeleute sagen würden, sehr scharf gesteuert werden muß.

Er hat noch keine Antwort von Herrn Bruff. Er war sehr begierig zu erfahren, ob ich Antwort von Fräulein Verinder habe.

Ich theilte ihm genau das mit, was ich Erlaubniß hatte ihm zu sagen, aber nicht mehr. Ich brauchte keinen Entschuldigungsgrund dafür anzudeuten, daß ich ihm den Brief nicht zeigte. Der arme Junge sagte mir sehr bitter, er verstehe das Zartgefühl, das mich abhalte, ihn den Brief sehen zu lassen, vollkommen. »Sie giebt natürlich ihre Einwilligung,« sagte er, »wie es die einfachste Höflichkeit und Gerechtigkeit gebietet, aber sie bleibt bei ihrer Ansicht über mich und wartet das Resultat ab.« Ich fühlte mich schmerzlich versucht, ihm zu verstehen zu geben, daß er jetzt ihr Unrecht thue, wie sie es früher ihm gethan hatte. Bei näherer Ueberlegung aber durfte ich ihr den doppelten Genuß, ihn zu überraschen und ihm zu vergeben, nicht vorwegnehmen.

Mein Besuch war sehr kurz. Meine Leiden in der vorgestrigen Nacht hatten mich bestimmt, mich abermals des Opiums zu enthalten. Die nothwendige Folge davon ist, daß meine Schmerzen wieder die Oberhand gewonnen haben. Ich fühlte den Anfall herannahen und verließ Herrn Blake plötzlich, um ihn nicht zu beunruhigen oder zu betrüben. Dies Mal dauerte er nur eine Viertelstunde und ließ mir Kraft genug, meinem Beruf nachzugehen.

5 Uhr Nachmittags. —— Ich habe meine Antwort an Fräulein Verinder geschrieben. Ich habe ihr ein Arrangement proponirt, das, wenn sie sich mit demselben einverstanden erklärt, die beiderseitigen Interessen zu vermitteln geeignet ist. Nachdem ich zuerst die Einwände, die einer Zusammenkunft zwischen ihr und Herrn Blake vor dem Versuch des Experiments entgegenstehen, aufgeführt, habe ich ihr vorgeschlagen, sie möge ihre Reise so einrichten, daß sie an dem Abend, wo wir das Experiment machen wollen, im Hause einträfe Wenn sie mit dem Nachmittagszug von London abreist, so trifft sie erst um 9 Uhr hier ein. Um diese Stunde habe ich es übernommen, dafür zu sorgen, daß Herr Blake sich in sein Schlafzimmer zurückgezogen haben wird, und daß daher Fräulein Verinder bis zu der Zeit über ihre Zimmer disponiren kann, wo das Opium verabreicht werden muß. Nachdem das geschehen sein wird, steht nichts im Wege, daß sie mit uns Uebrigen die Wirkung beobachtet. Am folgenden Morgen soll sie dann, wenn sie will, Herrn Blake ihre Correspondenz mit mir zeigen und ihn so überzeugen, daß sie ihn in ihrem Herzen freigesprochen hatte, noch ehe der Beweis seiner Unschuld erbracht war.

In diesem Sinne habe ich ihr geschrieben Das ist Alles, was ich heute thun kann. Morgen muß ich Herrn Betteredge sprechen und ihm die nöthigen Ordres in Betreff der Instandsetzung des Hauses geben.

18. Juni. —— Ich kam wieder erst spät dazu, Herrn Franklin Blake zu besuchen Wieder am frühen Morgen die schrecklichsten Schmerzen, denen dieses Mal mehrere Stunden lang die vollständigste Erschöpfung folgte. Ich sehe voraus, daß ich trotz der unvermeidlichen schlimmen Folgen zum hundertsten Male meine Zuflucht zum Opium werde nehmen müssen. Wenn ich nur an mich selbst zu denken hätte, so würde ich die empfindlichen Schmerzen den schrecklichen Träumen vorziehen. Aber die körperlichen Leiden erschöpfen mich und wenn ich meine Kräfte schwinden lasse, so würde ich Herrn Blake vielleicht zu der Zeit, wo er meiner am meisten bedarf, nicht mehr nützen können.

Es war fast Ein Uhr geworden, bevor ich heute nach dem Hotel gehen konnte. Der Besuch war selbst in meinem geschwächten Zustande, Dank der Gegenwart Gabriel Betteredge’s, höchst unterhaltend.

Ich fand ihn im Zimmer, als ich eintrat. Er zog sich an’s Fenster zurück und schaute hinaus, während ich meine erste gewöhnliche Frage an meinen Patienten richtete. Herr Blake hatte wieder schlecht geschlafen und empfand die fehlende Ruhe heute stärker als bisher.

Ich fragte ihn dann, ob er von Herrn Bruff gehört habe.

Gerade an diesem Morgen hatte er einen Brief erhalten. Herr Bruff sprach die entschiedenste Mißbilligung des Verfahrens aus, das sein Freund und Client nach meinem Rath eingeschlagen habe. Dasselbe sei vom Uebel, denn es erwecke Hoffnungen, welche sich vielleicht nie realisiren würden. Er vermöge darin nichts zu erkennen als eine Art Spiegelfechterei von der bekannten Sorte der Künste des Mesmerismus, der Clairvoyance u. dgl. Es bringe Fräulein Verinder’s Haus in Verwirrung und würde schließlich auch sie selbst verwirrt machen. Er habe, ohne Namen zu nennen, den Fall einem bedeutenden Aerzte vorgelegt und dieser habe gelächelt, den Kopf geschüttelt und nichts geantwortet. Aus diesen Gründen müsse sich Herr Bruff darauf beschränken, gegen die Sache zu protestiren.

Meine nächste Frage betraf den Diamanten, ob der Advocat irgend etwas zum Beweise beigebracht habe, daß der Edelstein sich in London befinde?«

Nein, der Advocat hatte es einfach refüsirt, die Frage zu discutiren Er sei, schreibt er, für seine Person überzeugt, daß der Mondstein an Herrn Luker verpfändet sei. Sein berühmter, jetzt abwesender Freund, Herr Murthwaite, dessen genaue Bekanntschaft des indischen Characters Niemand in Abrede stellen könne, sei derselben Ueberzeugung gewesen. Unter diesen Umständen und im Hinblick aus die vielen Ansprüche, die in dieser Angelegenheit bereits an ihn gemacht worden seien, müsse er es ablehnen, sich in Betreff des Beweises auf weitere Erörterungen einzulassen. Die Zeit werde Alles an den Tag bringen und Herr Bruff wolle die Zeit geduldig abwarten.

Es war ganz klar, auch wenn Herr Blake es dadurch nicht noch klarer gemacht hätte, daß er nur über den Inhalt des Briefes berichtete, anstatt ihn wirklich vorzulesen, daß dem ganzen Raisonnement des Herrn Bruff nur das Mißtrauen gegen meine Person zu Grunde lag. Da ich dies vorausgesehen hatte, so konnte es mich weder kränken noch überraschen. Ich fragte Herrn Blake, ob der Protest seines Freudes ihn in seiner Ueberzeugung erschüttert habe. Er antwortete emphatisch, daß er nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht habe. Danach stand es mir frei, bei unsern Erwägungen ganz von Herrn Bruff zu abstrahiren und ich that das.

Es entstand nun eine Pause in unserer Unterhaltung und Betteredge trat aus seiner Zurückgezogenheit am Fenster wieder hervor.

»Wollen Sie mir einen Augenblick Gehör schenken?« fragte er, sich an mich wendend.

»Ich stehe ganz zu Diensten« antwortete ich.

Betteredge nahm sich einen Stuhl und setzte sich an den Tisch. Er zog ein ungeheures altmodisches Taschenbuch mit einem Bleistift von entsprechender Dimension hervor. Nachdem er seine Brille aufgesetzt, schlug er in dem Taschenbuch eine leere Seite auf und wandte sich abermals an mich.

»Ich habe,« sagte Betteredge indem er mich fest ansah, »nun beinahe 50 Jahr in dem Dienst meiner verstorbenen gnädigen Frau verlebt. Vorher war ich Page in dem Dienst des alten Lords, ihres Vaters. Ich bin jetzt so etwas wie zwischen 70 und 80 Jahr alt —— es kommt nicht so genau darauf an! Ich gelte dafür, daß ich soviel Weltkenntniß und Erfahrung gesammelt habe, wie die meisten Menschen. Und was muß ich jetzt erleben, Herr Ezra Jennings, daß ein ärztlicher Assisient an Herrn Franklin Blake ein Zauberkunststück mit einer Flasche Opium probirt und daß ich, hol’s der Teufel, in meinen alten Tagen den Handlanger des Zauberers abgeben muß!»

Herr Blake brach in Lachen aus. Ich versuchte es zu reden, aber Betteredge machte eine Handbewegung, zum Zeichen daß er noch nicht fertig sei.

»Kein Wort, Herr Jennings!« sagte er. »Es bedarf keines Wortes von Ihnen, mein Herr. Ich habe Gott sei Dank! meine Grundsätze. Wenn mir eine Ordre zukommt, die einer Ordre aus dem Tollhaus so ähnlich sieht wie ein Eis dem andern, einerlei —— so lange die Ordre von meinem Herrn oder meiner Herrin kommt, parire ich. Ich kann meine eigene Ansicht haben, die wie Sie gefälligst bemerken wollen, auch die Ansicht des Herrn Bruff, des großen Herrn Bruff ist!« sagte Betteredge mit erhobener Stimme und indem er, mir zugekehrt, feierlich mit dem Kopfe schüttelte. »Einerlei; trotz alledem behalte ich meine Ansicht für mich. Mein junges Fräulein sagt: »Thun Sie das!« Und ich sage: »Gnädiges Fräulein, es soll geschehen!« Hier bin ich mit meinem Taschenbuch und meinem Bleistift —— der Bleistift ist zwar nicht so gut zugespitzt, wie ich es wünschen möchte, aber wenn Christenmenschen ihren Verstand verlieren, kann man auch von Bleistiften nicht erwarten, daß sie ihre Spitzen behalten. Herr Jennings, ich erwarte Ihre Befehle, ich will sie mir notiren. Ich bin entschlossen, sie aufs Genaueste auszuführen und nicht um ein Haarbreit mehr oder weniger zu thun. Ich bin ein blindes Werkzeug, weiter nichts —— weiter nichts als ein blindes Werkzeug. wiederholte Betteredge mit außerordentlichem Behagen über seine Schilderung seiner eigenen Person.

»Es thut mir sehr leid,« fing ich an, »daß Sie und ich nicht einer Meinung sind.«

»Lassen Sie mich aus dem Spiel!« unterbrach mich Betteredge. »Es handelt sich hier für mich nicht um Meinungen, sondern um Gehorsam. Geben Sie Ihre Ordres, Herr, geben Sie Ihre Ordres!«

Herr Blake machte mir ein Zeichen, ihn beim Wort zu nehmen. Ich gab meine Ordres so klar und mit so ernsthafter Miene wie es mir möglich war.

»Ich wünsche,« sagte ich, »daß gewisse Räume des Hauses wieder in Stand gesetzt und genau so wieder möblirt werden. wie sie es im vorigen Jahre um diese Zeit waren«

Betteredge befeuchtete seinen mangelhaft gespitzten Bleistift mit der Zunge und sagte feierlich: »Nennen Sie die Räume, Herr Jennings!«

»Erstens: Die innere Halle, welche zur Haupttreppe führt.«

»Erstens: Die innere Halle,« schrieb Betteredge. »Schon einmal unmöglich, die innere Halle wieder so zu möbliren, wie sie voriges Jahr möblirt war.«

»Warum?«

»Weil voriges Jahr ein ausgestopfter Mäusefalk in der Halle stand, Herr Jennings. Als die Familie abreiste, wurde der Mäusefalk mit den andern Sachen weggeräumt. Beim Wegräumen aber platzte er.«

»Lassen wir also den Mäusefalken weg.«

Betteredge notirte sich diese Weglassung. »Die innere Halle wieder so möbliren, wie sie voriges Jahr möblirt war, mit einziger Ausnahme des Mäusefalken. Fahren Sie gefälligst fort, Herr Jennings.«

»Den Teppich auf die Treppe legen, wie früher.«

»Den Teppich auf die Treppe legen, wie früher. Bedaure recht sehr, mein Herr: aber das ist ebenso wenig möglich.«

»Warum nicht?«

»Weil der Mann, der die Decke gelegt hat, todt ist, Herr Jennings, und einen Tapezier, der es so wie er versteht, einen Teppich in eine Ecke zu passen, finden Sie in ganz England nicht mehr.«

»Nun gut, so müssen wir es mit dem geschicktesten Mann in England, der jetzt lebt, versuchen.«

Betteredge notirte wieder und ich fuhr mit meinen Ordres fort.

»Fräulein Verinder’s Zimmer genau so wieder herstellen, wie es im vorigen Jahre war. Desgleichen den Corridor, der von dem Wohnzimmer nach dem ersten Treppenabsatz führt. Desgleichen den Corridoy der von dem zweiten Treppenabsatz zu den besten Schlafzimmern führt. Desgleichen das Schlafzimmer, welches Herr Franklin Blake im vorigen Juni inne hatte.«

Betteredge’s stumpfer Bleistift folgte mir gewissenhaft Wort für Wort. »Fahren Sie fort, Herr!« sagte er mit krampfhafter Feierlichkeit. »Die Bleistiftspitze hält noch lange vor«

Ich sagte ihm, daß ich keine Ordres mehr zu geben habe. »Herr,« sagte Betteredge, »in diesem Falle habe ich ein paar Bemerkungen in Betreff meiner selbst zu machen.« Er schlug eine neue weiße Seite in dem Taschenbuch auf und feuchtete den unerschöpflichen Bleistift wieder an.

»Ich möchte wissen,« sing er an, »ob ich meine Hände waschen kann ——«

»Gewiß können Sie das,« sagte Herr Blake, »ich will dem Kellner klingeln.«

»—— reinwaschen kann von gewissen Verantwortlichkeiten,« fuhr Betteredge fort, indem er fest entschlossen schien, von Niemandem im Zimmer. außer von mir und sich Notiz zu nehmen. »Um zuerst von Fräulein Verinder’s Wohnzimmer zu reden. Als wir im vorigen Jahre die Decke aufnahmen, Herr Jennings, fanden wir eine große Anzahl von Nadeln. Bin ich verpflichtet, diese Nadeln wieder hinzulegen?«

»Gewiß nicht!«

Betteredge notirte sich sofort diese Concession.

»Was demnächst den ersten Corridor betrifft« fing er wieder an. »Als wir die Ornamente aus dem Corridor wegnahmen, befand sich darunter auch die Statue eines fetten nackten Kindes, welches in dem Inventar unseliger Weise als »Amor, Gott der Liebe« bezeichnet war. Voriges Jahr hatte er zwei Flügel an seinen fetten Schultern. Als ich einen Augenblick den Rücken gekehrt hatte, brachen sie ihm einen davon ab. Bin ich verantwortlich für den Amorflügel?«

Ich beruhigte ihn auch darüber und Betteredge machte wieder eine Notiz in sein Taschenbuch.

»Was den zweiten Corridor betrifft,« fuhr er fort, »da auf demselben voriges Jahr nichts gestanden hat, als die Thüren zu den Zimmern (deren Vorhandensein ich, wenn es nöthig ist, beschwören kann), so bin ich in Betreff dieses Theils des Hauses sehr ruhig. Was aber Herrn Franklin’s Schlafzimmer betrifft, —— wenn das wieder in seinen frühern Zustand gebracht werden soll ——, so möchte ich wissen, wer die Verantwortlichkeit dafür übernehmen soll, dasselbe in einem Zustande beständiger Confusion zu erhalten, gleichviel wie oft es wieder in Ordnung gebracht wird, —— hier seine Hosen, da seine Handtücher und seine französischen Romane überall ——, ich frage, wer die Verantwortlichkeit dafür zu übernehmen hat, die Ordnung in seinem Zimmer beständig wieder in Unordnung zu bringen —— er oder ich?«

Herr Blake erklärte sich mit dem größten Vergnügen bereit, die ganze Verantwortlichkeit zu übernehmen. Betteredge lehnte es hartnäckig ab, irgend einen Vorschlag zur Lösung der Schwierigkeit anzuhören, bevor er denselben meiner Sanction und Genehmigung vorgelegt habe.

Ich nahm Herrn Blake’s Vorschlag an und Betteredge machte über diesen Gegenstand eine letzte Notiz in sein Taschenbuch.

»Sehen Sie von morgen an nach, wenn es Ihnen gefällig ist,« sagte er aufstehend. Sie werden mich mit dem nöthigen Hilfspersonal bei der Arbeit finden. Ich sage Ihnen meinen verbindlichsten Dank, Herr, für Ihre Nachricht, sowohl in Betreff des ausgestopften Mäusefalken als des Amorflügels —— und dafür, daß Sie mich von jeder Verantwortlichkeit für die Nadeln aus der Decke und die Unordnung in Herrn Franklins Zimmer freigesprochen haben. Als Diener bin ich Ihnen tief verpflichtet, als Mensch betrachte ich Sie als einen verschrobenen Querkopf und protestire gegen Ihr Experiment als gegen eine Täuschung und einen Hohn. Fürchten Sie aber nicht, daß meine Gefühle als Mensch der Erfüllung meiner Pflicht als Diener im Wege stehen werden! Ihre Befehle sollen ausgeführt werden, Herr, —— sollen, trotz Ihrer Verschrobenheit, genau ausgeführt werden. Und wenn die Sache damit enden sollte, daß Sie das Haus in Brand strecken, —— hol mich der Teufel. wenn ich nach den Spritzen schicke, ehe Sie geklingelt und Ordre dazu gegeben haben!«

Mit dieser Abschiedsversicherung verneigte er sich und verließ das Zimmer.

»Glauben« Sie, daß wir uns auf ihn verlassen können?« fragte ich.

»Vollkommen,« antwortete Herr Blake. »Wenn wir ins Hans kommen, werden wir nichts versäumt und nichts vergessen finden.«

19. Juni. —— Ein neuer Protest gegen unser beabsichtigtes Verfahren! Dieses Mal von einer Dame.

Die Morgenpost brachte mir zwei Briefe, den einen von Fräulein Verinder, mit der freundlichsten Zustimmung zu dem von mir proponirten Arrangement. Den andern von der Dame, unter deren Obhut sie lebt, einer Mrs. Merridew.

Mrs. Merridew empfiehlt sich mir und erklärt, daß sie sich nicht anmaße, von der wissenschaftlichen Bedeutung des Gegenstandes, über welchen ich mit Fräulein Verinder correspondirt habe, etwas zu verstehen. Sie erlaube sich aber, vom Standpunkt einer Betrachtung der socialen Bedeutung des Gegenstandes aus, eine Meinung zu äußern. Ich wisse wahrscheinlich nicht, meint Mrs. Meridew, daß Fräulein Verinder kaum neunzehn Jahre alt sei. Einem jungen Mädchen dieses Alters zu gestatten, ohne Begleiterin in einem Hause anwesend zu sein, in welchem eine Anzahl von Männern sich zum Zweck der Anstellung eines medicinischen Experiments versammeln, erscheine als ein grober Verstoß gegen die Schicklichkeit, den Mrs. Merridew auf keine Weise zugeben könne. Wenn die Sache vor sich gehen müsse, so würde sie es als ihre Pflicht betrachten, mit Hintansetzung ihrer eigenen Bequemlichkeit, Fräulein Verinder nach Yorkshire zu begleiten. Unter diesen Umständen wagte sie es, mich freundlich zu bitten, mir die Sache noch einmal zu überlegen, da Fräulein Verinder sich weigert, von irgend Jemand Andern als von mir in dieser Angelegenheit Rath anzunehmen. Unmöglich könne ihre Anwesenheit nothwendig sein und ein Wort von mir in diesem Sinn würde sowohl Mrs. Merridew als mich von einer sehr unangenehmen Verantwortlichkeit befreien.

Seiner Umhüllung von höflichen Redensarten entkleidet, heißt das Vorstehende, wie ich es verstehe, so viel wie, daß Mrs. Merridew eine tödtliche Angst vor dem Urtheile der Welt hat. Unglücklicher Weise wendet sie sich an einen Mann, der wohl von allen lebenden Menschen die wenigste Ursache hat, das Urtheil der Welt zu respectiren. Ich möchte Fräulein Verinder nicht unangenehm enttäuschen, und möchte die Versöhnung zweier junger Leute, die sich lieben und schon so lange getrennt gewesen sind, nicht hinausschieben. In höfliche Redensarten eingehüllt, wird meine Antwort dahin lauten: daß Herr Jennings sich Mrs. Merridew höflichst empfiehlt und sein Bedauern darüber ausspricht, daß er sich nicht für befugt halten kann, irgend etwas in dieser Angelegenheit zurückzunehmen.

Herrn Blake’s Bericht über seinen Zustand lautete diesen Morgen ganz wie bisher. Wir kamen überein, Betteredge heute noch nicht bei seiner Arbeit zu stören. Es wird morgen noch früh genug sein, eine erste Inspektion zu halten.

20. Juni. —— Herr Blake fängt an, die Folgen seiner anhaltenden Schlaflosigkeit zu verspüren. Je eher jetzt —— die Zimmer wieder in Stand gesetzt werden können, desto besser.

Auf unserm Wege nach dem Hause consultirte er mich diesen Morgen mit einer gewissen nervösen Ungeduld und Unentschlossenheit in Betreff eines Briefes von Sergeant Cuff, den er über London erhalten hatte.

Der Sergeant schreibt aus Irland. Er bekennt sich zu dem ihm durch seine Haushälterin übermittelten Empfang einer Karte und einer Bestellung, welche Herr Blake in seinem Hause in der Nähe von Dorking hinterlassen hat und kündigt seine Rückkehr nach England als wahrscheinlich in längstens einer Woche bevorstehend an. Inzwischen bittet er um eine Angabe der Gründe, aus welchen Herr Blake ihn, wie die Karte besage, in Betreff des Mondsteins zu sprechen wünsche. Wenn Herr Blake ihn zu überzeugen im Stande sei, daß er im Laus seiner vorjährigen Untersuchung in Betreff des Diamanten in einem erheblichen Punkte fehlgegangen sei, so werde er es im Hinblick auf die liberale Remuneration seiner Dienste durch die verstorbene Lady Verinder als seine Pflicht betrachten, sich Herrn Blake zur Verfügung zu stellen. Wenn nicht, so bitte er um die Erlaubniß, in seiner ländlichen, der Blumenzucht gewidmeten Zurückgezogenheit verbleiben zu dürfen.

Nachdem ich den Brief gelesen, trug ich kein Bedenken, Herrn Blake den Rath zu ertheilen, Sergeant Cuff in Erwiederung seines Briefes alles Das mitzutheilen, was seit der Sistirung der Untersuchung im vorigen Jahre vorgefallen ist und ihm die Folgerungen aus diesen einfachen Thatsachen selbst zu überlassen.

Bei näherer Erwägung rieth ich ihm aber ferner, den Sergeanten aufzufordern, falls er zeitig genug nach England zurückkehrt, dem Experimente beizuwohnen. Er würde auf alle Fälle ein werthvoller Zeuge sein und falls sich meine Annahme, daß der Diamant in Herrn Blake’s Zimmer versteckt sei, als falsch erweisen sollte, so könnte sein Rath in einem späteren Stadium des Verfahrens, über das ich keine Controle auszuüben im Stande wäre, von großer Wichtigkeit werden. Diese letzte Erwägung schien für Herrn Blake entscheidend zu sein. Er versprach, meinem Rath zu folgen.

Als wir uns dem Hause näherten, tönten uns Hammerschläge aus demselben entgegen und belehrten uns, daß die Arbeit der Wiederinstandsetzung in vollem Gange sei.

Wir trafen Betteredge, der bei der Arbeit eine rothe Fischermütze ausgesetzt und eine grüne baumwollene Schürze vorgebunden hatte, in der äußern Halle. In dem Augenblick, wo er meiner ansichtig wurde, zog er Taschenbuch und Bleistift hervor und capricirte sich, jedes Wort was ich ihm sagte, zu notiren. Wohin wir aber blickten fanden wir, wie es Herr Blake vorausgesagt hatte, daß die Arbeit so rasch und so verständig gefördert wurde, wie es nur irgend möglich war. Aber in der innern Halle und in Fräulein Verinders Zimmer war noch viel zu thun. Es mußte zweifelhaft erscheinen, ob das Haus vor Ende der Woche für uns werde fertig sein können.

Nachdem wir Betteredge zu dem raschen Fortgang der Arbeiten Glück gewünscht hatten —— er blieb dabei, sich jedes meiner Worte zu notiren und nahm beharrlich von dem, was Herr Blake sagte, nicht die mindeste Notiz —— und nachdem wir versprochen hatten, in ein oder zwei Tagen wieder vorzusprechen und nachzusehen, schickten wir uns an, das Haus durch die Hinterthür zu verlassen.

Aber noch ehe wir die Thür erreicht hatten, hielt mich Betteredge, gerade als ich an der zu seinem Zimmer führenden Thür vorüberging zurück.

»Kann ich Sie einen Augenblick allein sprechen"?« flüsterte er mir geheinmißvoll zu. Ich erklärte mich natürlich bereit. Herr Blake ging voraus, mich im Garten zu erwarten, während ich Betteredge in sein Zimmer begleitete.

Ich war auf ein Gesuch um neue Concessionen gefaßt, wie ich sie bereits in den Fällen des ausgestopften Mäusefalken und des Amorflügels gemacht hatte.

Zu meiner großen Ueberraschung aber legte mir Betteredge vertraulich seine Hand auf die Schulter und richtete eine ganz unerwartete Frage an mich.

»Herr Jennings, kennen Sie zufällig Robinson Crusoe?«

Ich antwortete ihm, daß ich Robinson Crusoe als Kind gelesen habe.

»Seitdem nicht mehr?« fragte Betteredge.

»Nein.«

Er prallte ein paar Schritte zurück und sah mich mit einem aus mitleidiger Neugierde und abergläubischer Ehrfurcht gemischten Ausdruck an.

»Er hat Robinson Crusoe seit seiner Kindheit nicht gelesen,« sagte Betteredge vor sich hin. »Wir wollen doch einmal sehen, was Robinson Crusoe jetzt für einen Eindruck auf ihn machen wird.«

Er schloß einen in der Ecke stehenden Schrank auf und holte ein schmutziges, reichlich mit Eselsohren versehenes Buch hervor, das beim Aufschlagen einen starken Tabacksgeruch aushauchte; nachdem er die Stelle, die er suchte, gefunden zu haben schien, bat er mich in demselben vertraulichen und geheimnißvoll leisen Ton, zu ihm in die Ecke zu treten.

»In Betreff Ihres Hokospokus Herr, mit dem Opium und Herrn Franklin Blake,« fing er an, »so lange die Arbeiter im Hause sind, läßt das Gefühl meiner Pflicht als Diener meine Empfindungen als Mensch nicht aufkommen; aber wenn die Arbeiter fort sind, verdrängen meine Empfindungen als Mensch das Gefühl meiner Pflicht als Diener. Nun wohl! Vorige Nacht, Herr Jennings, überwältigte mich der Gedanke, daß Jhr neues medicinisches Unternehmen ein schlechtes Ende nehmen müsse Wenn ich dieser geheimen Eingebung nachgegeben hätte, so würde ich mit meinen eigenen Händen alle Möbel wieder bei Seite geschafft und die Arbeiter am nächsten Morgen wieder fortgeschickt haben.«

»Ich freue mich eben gesehen zu haben,« sagte ich, »daß Sie Ihrer geheimen Eingebung widerstanden haben.«

»Widerstanden ist nicht das Wort,« antwortete Betteredge, »geschwankt ist das rechte Wort. Ich schwankte zwischen der geheimen Eingebung meiner Stimme und den geschriebenen Ordres in meinem Taschenbuch, bis ich, mit Erlaubniß zu sagen, in Schweiß gebadet war. Und was that ich in diesem schrecklichen Zustand geistiger Verwirrung und körperlicher Ermattung? Ich nahm meine Zuflucht, Herr, zu dem Mittel, das mir seit dreißig Jahren und länger noch nie seine Dienste versagt hat, —— zu diesem Buch!«

Er schlug mit der offenen Hand laut auf das Buch und entlockte demselben damit einen noch penetranteren Tabacksgeruch, als vorher.

»Und was fand ich hier,« fuhr er fort, »auf der ersten Seite, die ich zufällig aufschlug? Diese gewaltigen Worte, Herr, Seite 171 wie folgt: —— »Nach diesen und vielen ähnlichen Erwägungen, machte ich es mir später zum Gesetz, so oft ich diese geheimen Winke, in meinem Innern etwas zu thun oder nicht zu thun, oder diesen oder jenen Weg einzuschlagen, vernahm, dieser geheimen Stimme zu folgen.« —— So wahr ich lebe, Herr Jennings, das waren die ersten Worte, die mir grade in dem Augenblick, wo ich mit einer geheimen Eingebung kämpfte, in die Augen fielen! Sie finden darin nichts Besonderes, Herr? Wie?«

»Ich sehe darin ein zufälliges Zusammentreffen, weiter nichts.«

»Sie fühlen sich dadurch in Ihrem Vorhaben nicht wankend gemacht, Herr Jennings?«

»Nicht im Allermindesten.«

Betteredge starrte mich schweigend an. Er machte das Buch bedächtig zu und verschloß es wieder ungemein behutsam in den Schrank; dann drehte er sich um, starrte mich wieder an und sagte feierlich:

»Herr, einem Manne, der Robinson Crusoe seit seiner Kindheit nicht gelesen hat, muß man viel nachsehen. Ich wünsche Ihnen ’einen guten Morgen.«

Er öffnete die Thür mit einer tiefen Verbeugung und überließ es mir, meinen Weg nach dem Garten allein zu finden. Ich traf Herrn Blake, eben im Begriff in’s Haus zurückzukehren.

»Sie brauchen mir nicht zu erzählen, was vorgefallen ist,« sagte er; »Betteredge hat seinen letzten Trumpf ausgespielt: er hat einmal wieder eine prophetische Entdeckung im Robinson Crusoe gemacht. Sind Sie auf sein Lieblingsthema eingegangen? Nein? Sie haben ihn merken lassen, daß Sie nicht an Robinson Crusoe glauben? Herr Jennings, dann sind Sie für alle Zeit so tief wie möglich in Betteredges Achtung gesunken, Sie mögen fortan thun oder sagen was Sie wollen, Sie werden finden, daß er von nun an kein Wort mehr an Sie verschwendet.«

21. Juni. —— Heute muß ich mich mit einer kurzen Notiz in meinem Tagebuche begnügen.

Die letzte Nacht war für Herrn Blake so schlimm, wie noch keine frühere. Ich bin sehr gegen meinen Willen genöthigt gewesen, ihm etwas zu verschreiben. Glücklicher Weise wirken Heilmittel bei Menschen von seiner reizbaren Organisation rasch, sonst würde ich fürchten müssen, daß er, wenn die Zeit des Experiments herankommt, ganz unempfänglich für dasselbe sein würde.

Ich selbst hatte diesen Morgen, nachdem meine Schmerzen einige Tage etwas nachgelassen hatten, wieder einen Anfall, über den ich nichts bemerke, als daß ich mich habe entschließen müssen, wieder zum Opium meine Zuflucht zu nehmen. Ich will dieses Buch bei Seite legen und meine volle Dosis —— 500 Tropfen —— nehmen.

22. Juni. —— Heute sind unsere Aussichten wieder besser. Herr Blake fühlt eine wesentliche Erleichterung seiner nervösen Beschwerden. Er hat in der vorigen Nacht etwas geschlafen. Ich habe, Dank dem Opium! die Nacht in völliger Betäubung verbracht. Ich würde mich ungenau ausdrücken, wenn ich sagte, daß ich diesen Morgen erwachte; es wäre richtiger zu sagen, daß ich wieder zur Besinnung kam.

« Wir fuhren nach dem Hause. um nachzusehen, ob die Wiederinstandsetzung beendet sei. Sie wird morgen —— Sonnabend —— fertig werden.

Wie Herr Blake vorhergesagt hatte, machte Betteredge keine Schwierigkeiten mehr. Vom ersten bis zum letzten Augenblick beobachtete er eine bedeutungsvolle förmliche Höflichkeit und ein ausdrucksvolles Schweigen.

Mein medicinisches Unternehmen, wie Betteredge es nennt, muß jetzt nothwendig bis zum nächsten Montag verschoben werden. Morgen Abend werden die Arbeiter noch spät im Hause zu thun haben. An dem darauf folgenden Tage sind die Züge, in Folge der herkömmlichen Sonntagstyrannei, welche zu den Institutionen dieses freien Landes gehört, so eingericht, daß es für uns unmöglich ist, irgend Jemanden aufzufordern, von London aus zu uns zu reisen.

Bis Montag also kann ich nichts thun, als Herrn Blake sorgfältig beobachten und ihn, wo möglich, in demselben Zustand.erhalten, in welchem ich ihn heute finde.

Inzwischen habe ich ihn bewogen, an Herrn Bruff zu schreiben und denselben dringend zu ersuchen, bei dem Experiment als Zeuge anwesend zu sein. Ich lege besonderes Gewicht auf die Gegenwart des Advokaten, gerade weil er entschieden gegen unser Vorhaben eingenommen ist. Wenn es uns gelingt, ihn zu überzeugen, so ist unser Sieg über jede Anfechtung erhaben.

Herr Blake hat ferner einen Brief an Sergeant Cuff und ich habe eine Zeile an Fräulein Verinder geschrieben. An den genannten Personen und an dem alten Betteredge, —— der wirklich eine bedeutende Rolle in der Familie spielt —— werden wir Zeugen genug für unsern Zweck haben, nicht gerechnet Mrs. Merridew, wenn dieselbe darauf bestehen sollte, ihre Bequemlichkeit dem Urtheil der Welt zum Opfer zu bringen.

23. Juni. —— Vorige Nacht habe ich wieder für das Opium büßen müssen. Gleichviel ich muß mich jetzt, bis der Montag vorüber ist, aufrecht erhalten.

Herr Blake ist heute wieder nicht so wohl. Heute Morgen um zwei Uhr hat er, wie er mir gestanden, die Schublade, in welcher seine Cigarren verschlossen sind, geöffnet. Es bedurfte eines gewaltsamen Aufgebots seiner Energie für ihn, um die Schublade wieder zuzuschließen. Um einer ähnlichen Versuchung für die Folge zu entgehen, hat er dann seinen Schlüssel zum Fenster hinausgeworfen. Der Kellner brachte ihm den Schlüssel, den er aus dem Boden eines leeren Brunnens gefunden hatte —— so geht es! Jetzt habe ich den Schlüssel bis nächsten Dienstag an mich genommen.

24. Juni. —— Herr Blake und ich machten eine lange Spazierfahrt in einem offenen Wagen. Wir empfanden Beide die wohlthätige Wirkung der milden Sommerluft. Ich speiste mit ihm im Hotel. Zu meiner großen Freude —— denn ich hatte ihn diesen Morgen in einem sehr überreizten Zustand gefunden —— hielt er nach Tische einen zweistündigen gesunden Mittagsschlaf. Wenn die nächste Nacht auch wieder schlecht sein sollte, so fürchte ich die Folgen nicht weiter.

25. Juni. Montag. —— Der Tag des Experiments! Es ist fünf Uhr Nachmittags. Wir sind eben im Hause angekommen.

Die erste und Hauptfrage ist die nach Herrn Blake’s Gesundheit.

So weit ich es beurtheilen kann, verspricht er —— physisch gesprochen —— heute Abend ganz so empfänglich für die Wirkung des Opiums zu sein, wie er es im vorigen Jahre um diese Zeit war. Er ist diesen Nachmittag in einem Zustande nervöser Reizbarkeit, die an nervöse Aufregung grenzt. Er wechselt leicht die Farbe, seine Hand zittert ein wenig und er fährt bei zufällig entstehenden Geräuschen und bei dem Anblick unerwarteter Personen und Dinge zusammen. Das Alles ist das Resultat der Schlaflosigkeit, welche ihrerseits wieder die Folge eines plötzlichen Aufhörens des Rauchens ist, nachdem diese Gewohnheit vorher bis zum Extrem getrieben worden war. Hier haben wieder dieselben Ursachen, die voriges Jahr bei ihm thätig waren, augenscheinlich dieselben Wirkungen hervorgebracht Wird sich die Analogie auch auf die Schlußprobe erstrecken? Darüber muß die nächste Nacht entscheiden.

Während ich diese Zeilen schreibe, unterhält sich Herr Blake am Billard in der inneren Halle und versucht verschiedene Kunstbälle, wie er es im vorigen Juni, als er Gast im Hause war, zu thun pflegte. Ich habe mein Tagebuch mit hergebracht, theils zu dem Zweck, um müßige Stunden damit auszufüllen, an denen es mir bis morgen früh gewiß nicht fehlen wird, theils in der Hoffnung, daß sich etwas ereignen werde, was mir seiner Zeit der Aufzeichnung werth erscheinen wird.

Habe ich bis jetzt irgend etwas vergessen? Ein Blick auf meine Aufzeichnungen über den gestrigen Tag zeigt mir, daß ich unterlassen habe, der Ankunft der gestrigen Morgenpost Erwähnung zu thun. Ich will das noch nachholen, bevor ich für den Augenblick diese Blätter schließe und zu Herrn Blake gehe.

Ich habe also gestern ein paar Zeilen von Fräulein Verinder erhalten. Sie hat es so eingerichtet, daß sie mit dem Nachmittagszuge reisen wird, wie ich es ihr vorgeschlagen habe. Mrs. Merridew besteht darauf, sie zu begleiten. Sie giebt mir zu verstehen, daß die sonst so vortreffliche Laune der alten Dame etwas getrübt sei und bittet um alle ihrem Alter und ihren Gewohnheiten schuldige Nachsicht für sie. Ich werde mich in meinen Beziehungen zu Mrs. Merridew bemühen, der Mäßigung nachzueifern, welche Betteredge in seinen Beziehungen zu mir an den Tag legt. Er empfing uns heute in bedeutungsvoll feierlicher Gala in seinem besten schwarzen Anzug und seiner steifen weißen Cravatte. So oft sein Blick auf mich fällt, erinnert er sich, daß ich den Robinson Crusoe seit meiner Kindheit nicht wieder gelesen habe und betrachtet mich mit achtungsvollem Mitleid.

Gestern erhielt Herr Blake auch die Antwort des Advokaten. Herr Bruff nimmt die Einladung unter Protest an. Es scheint ihm klärlich nothwendig, daß ein im Besitz des gewöhnlichen Menschenverstandes befindlicher Herr Fräulein Verinder nach dem Schauplatz der, wie er es zu nennen sich erlauben will, beabsichtigten Vorstellung begleiten müsse. In Ermangelung einer besseren Begleitung will Herr Bruff selbst dieser Herr sein.

So muß das arme Fräulein Verinder sich zwei Begleiter gefallen lassen. Es ist ein tröstlicher Gedanke, daß das Urtheil der Welt dadurch gewiß besänftigt werden wird! Sergeant Cuff hat nichts von sich hören lassen. Er ist ohne Zweifel noch in Irland Wir dürfen ihn also heute Abend nicht erwarten.



~~~~~~~~~~~~~~~~~~

7 Uhr Abends. —— Wir haben nochmals alle Zimmer und Treppen in Augenschein genommen und haben den Gebüschweg, der bei seiner letzten Anwesenheit Herrn Blake’s Lieblingsspaziergang war, behaglich durchschlendert. Auf diese Weise hoffe ich, die alten Eindrücke der umgehenden Plätze und Dinge so lebhaft wie möglich wieder bei ihm aufzufrischen.

Wir wollen jetzt zu Mittag essen, genau zu derselben Stunde, wo im vorigen Jahr das Geburtstags-Diner stattfand. Mein Zweck ist in diesem Fall natürlich ein rein medicinischer. Das Opium muß den Körper so genau wie möglich in demselben Stadium des Verdauungs-Processes finden wie im vorigen Jahre.

Bald nach Tische beabsichtige ich, die Unterhaltung so zwanglos wie möglich wieder auf den Diamanten und auf die indische Verschwörung zu bringen. Wenn ich seinen Geist mit den durch diese Unterhaltung erweckten Vorstellungen erfüllt haben werde, so wird Alles geschehen sein, was bis zu der Stunde, wo ihm die zweite Dosis Verabreicht werden soll, zu thun in meiner Macht steht.



~~~~~~~~~~~~~~~~~~

8 1/2 Uhr. —— Ich habe erst eben Gelegenheit gefunden, der wichtigsten aller meiner Pflichten obzuliegen, nämlich der Pflicht, in der Familien-Medicinkiste nach dem Opium zu sehen, dessen sich Herr Candy im vorigen Jahre bediente.

Vor zehn Minuten faßte ich Betteredge in einem Augenblick, wo er unbeschäftigt war, ab, und sagte ihm was ich wolle. Ohne den geringsten Einwand, ja ohne auch nur den Versuch zu machen, sein Taschenbuch hervorzuziehen, führte er mich, unter vielen Entschuldigungen vorangehend, nach dem Vorrathszimmer, wo die Medicinkiste aufbewahrt wurde.

Ich fand die Flasche, sorgfältig mit einem mit Leder überzogenen Glasstöpsel verwahrt. Das Opiumpräparat, welches sie enthielt, war, wie ich vorausgesehen hatte, die gewöhnliche Opiumtinctur. Da ich die Flasche noch gut gefüllt fand, so habe ich beschlossen, mich ihres Inhalts lieber als eines der beiden Präparate zu bedienen, mit welchen ich mich auf alle Fälle versehen habe.

Die Frage nach der Quantität, in welcher ich das Opium zu verabreichen habe, ist nicht ohne Schwierigkeiten. Ich habe mir die Sache überlegt und bin zu dem Entschluß gelangt, die Dosis zu vergrößern.

Meine Aufzeichnungen belehren mich, daß Herr Candy nur 25 Tropfen verabreicht hat. Das ist in Betracht der später eingetretenen Wirkungen, selbst bei einer so nervös-reizbaren Person wie Herr Blake, eine sehr kleine Dosis. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß Herr Candy mehr gegeben hat, als er selbst glaubte, wenn ich bedenke, daß er immer äußerst empfänglich für die Freuden der Tafel war und daß er die Quantität Opium an dem Geburtstag nach Tische abgemessen hat. Auf jeden Fall will ich es riskiren, die Dosis auf 40 Tropfen zu vermehren. Herr Blake weiß dieses Mal im Voraus, daß er das Opium nehmen soll, was, physiologisch ausgedrückt, einer unbewußt in ihm schlummernden Widerstandskraft gegen die Wirkung des Opiums gleichkommt. Wenn diese meine Auffassung richtig ist, so ist dieses Mal eine größere Quantität unerläßlich, um dieselben Wirkungen hervorzurufen, welche die kleinere Quantität im vorigen Jahre bewirkt hat.



~~~~~~~~~~~~~~~~~~

10 Uhr Abends. —— Vor einer Stunde sind die Zeugen oder die Gesellschaft, —— wie soll ich sie nennen? —— eingetroffen.

Kurz vor 9 Uhr vermochte ich Herrn Blake, mit mir in sein Schlafzimmer zu gehen, unter dem Vorwande, daß ich wünsche, er möge zum letzten Mal einen Blick in dasselbe werfen, um sich zu vergewissern, daß bei der Wiederinstandsetzung des Zimmers nichts vergessen sei.

Ich hatte mit Betteredge verabredet, daß das anstoßende Zimmer zum Schlafzimmer für Herrn Bruff eingerichtet werde und daß ich durch Klopfen an der Thür von der Ankunft des Advokaten in Kenntniß gesetzt werden solle. Fünf Minuten nachdem die Uhr in der Halle neun geschlagen hatte, hörte ich das Klopfen, ging sofort hinaus und traf Herrn Bruff aus dem Corridor.

Meine persönliche Erscheinung brachte dieses Mal wie immer einen ungünstigen Eindruck hervor. Herr Bruff sah mich mißtrauisch an. Da ich an diese Art von Eindruck, den ich auf Fremde mache, gewöhnt bin, so konnte mich derselbe nicht einen Augenblick abhalten, das zu sagen, was ich sagen wollte, bevor der Advokat zu Herrn Blake hineinging.

»Sie sind in Begleitung von Fräulein Verinder und Mrs. Merridew hergereist, nicht wahr?« sagte ich.

»Ja,« antwortete Herr Bruff so trocken wie möglich.

»Fräulein Verinder hat Ihnen wahrscheinlich gesagt, daß ihre und selbstverständlich auch Mrs. Merridews Anwesenheit im Hause für Herrn Blake ein Geheimniß bleibe, bis ich das Experiment an ihm angestellt haben werde.«

»Ich weiß, daß ich den Mund halten soll, mein Herr!« sagte Herr Bruff ungeduldig. »Da ich überhaupt gewohnt bin, über die menschliche Thorheit zu schweigen, so bin ich nur um so geneigter, mich bei dieser Gelegenheit ganz stumm zu verhalten. Genügt Ihnen das?«

Ich verneigte mich und überließ es Betteredge, ihn auf sein Zimmer zu führen. Betteredge warf mir beim Fortgehen einen Blick zu, der so deutlich wie möglich sagte: »Da sind Sie an den unrechten Mann gekommen, Herr Jennings und sein Name ist Bruff.«

Jetzt hatte ich noch die Begegnung mit den beiden Damen zu überstehen. Ich ging die Treppe zu Fräulein Verinder’s Wohnzimmer, offen gestanden, nicht ohne eine gewisse nervöse Aufregung, hinunter.

Auf dem Corridor des ersten Stocks begegnete mir die Frau des Gärtners, die es übernommen hatte, die Zimmer der Damen in Ordnung zu halten. Diese vortreffliche Frau behandelt mich mit einer übertriebenen Höflichkeit, die offenbar der Ausfluß einer tödtlichen Angst vor mir ist. Sie starrt mich an, zittert und knixt, so oft ich mit ihr spreche. Auf meine Frage nach Fräulein Verinder starrte sie mich an, zitterte und —— würde ohne Zweifel im nächsten Augenblick geknixt haben, wenn nicht Fräulein Verinder selbst dieser Ceremonie dadurch zuvorgekommen wäre, daß sie plötzlich die Thür ihres Wohnzimmers öffnete.

»Ist das Herr Jennings?« fragte sie.

Noch ehe ich antworten konnte, kam sie hastig auf mich zu, um auf dem Corridor mit mir zu reden. Wir blieben bei dem Scheine eines Candelabers stehen. Bei meinem ersten Anblick wurde Fräulein Verinder ersichtlich befangen und stockte. Sie faßte sich aber auf der Stelle wieder, erröthete einen Augenblick und reichte mir dann mit anmuthiger Offenheit die Hand.

»Ich kann Sie nicht wie einen Fremden behandeln, Herr Jennings,« sagte sie. »O, wenn Sie wüßten, wie glücklich Sie mich durch Ihre Briefe gemacht haben!«

Sie blickte in mein häßliches runzliges Gesicht mit einem Ausdruck strahlender Dankbarkeit, der mir in meinem Verkehr mit meinen Nebenmenschen so neu war, daß ich wirklich nicht wußte, was ich antworten sollte. Ich war auf ihre Güte und Schönheit nicht vorbereitet gewesen. Das Elend vieler Jahre hat, Gott sei Dank, mein Herz nicht verhärtet. Ich fühlte mich ihr gegenüber so ungeschickt und so blöde, als wenn ich ein zehnjähriger Junge gewesen wäre.

«Wo ist er diesen Augenblick?« fragte sie in unverhohlener Kundgebung ihres einzigen sie ganz beherrschenden Interesses —— des Interesses an Herrn Blake. »Was thut er? Hat er von mir gesprochen? Ist er guter Laune? Wie erträgt er den Anblick des Hauses nach Dem, was im vorigen Jahre in demselben vorgefallen ist? Wann wollen Sie ihm das Opium geben? Darf ich zusehen, wenn Sie es eingießen? Es interessirt mich so sehr; ich bin so aufgeregt —— ich habe Ihnen zehntausend Sachen zu sagen und sie drängen sich alle so in mir, daß ich nicht weiß, was ich zuerst sagen soll. Können Sie sich über mein Interresse wundern?«

»Nein,« sagte ich. »ich glaube, ich darf sagen, daß ich dasselbe vollkommen begreife.«

Sie war erhaben darüber, sich mit jämmerlicher Affectation verwirrt zu stellen Sie antwortete mir wie sie einem Bruder oder einem Vater geantwortet haben würde:

»Sie haben mich aus unbeschreiblichem Elend errettet; Sie haben mir ein neues Leben geschenkt Wie könnte ich so undankbar sein, Ihnen irgend etwas verbergen zu wollen? Ich liebe ihn! Ich habe ihn vom ersten bis zum letzten Augenblick geliebt, selbst als ich ihm in meinen Gedanken Unrecht that; selbst als ich ihm die härtesten und grausamsten Dinge sagte. Liegt darin eine Entschuldigung für mich? Ich hoffe es —— und ich fürchte, es ist meine einzige Entschuldigung Und morgen, wenn er erfahren wird, daß ich im Hause bin, glauben Sie ——?«

Sie hielt wieder inne und sah mich sehr ernst an.

»Morgen,« sagte ich, »werden Sie ihm, glaube ich, nur zu sagen nöthig haben, was Sie eben mir gesagt haben.«

Ihr Gesicht leuchtete; sie trat mir einen Schritt näher. Ihre Finger spielten krampfhaft mit einer Blume, die ich im Garten gepflückt und die ich mir in’s Knopfloch gesteckt hatte.

»Sie haben ihn kürzlich viel gesehen,« sagte sie. »Haben Sie wirklich und wahrhaftig Grund zu Ihrer Zuversicht bei ihm gefunden?«

»Wirklich und wahrhaftig,« antwortete ich. »Ich bin des »morgen« ganz gewiß, ich wünschte nur, ich wäre der heutigen Nacht ganz eben so gewiß.«

In diesem Augenblick wurden wir durch Betteredge’s Erscheinen mit dem Thee unterbrochen. Er warf mir abermals einen bedeutungsvollen Blick im Vorübergehen auf dem Wege nach dem Wohnzimmer zu. Der Blick war so ausdrucksvoll, als hätte et gesagt: »Ho! ho! Schmieden Sie nur Ihr Eisen, so lange es heiß ist! Da aber ist einer, der Ihnen aufpaßt, Herr Jennings, —— da aber ist einer, der Ihnen aufpaßt!«

Wir folgten ihm in’s Wohnzimmer. Eine kleine, alte, sehr zierlich gekleidete Dame, die, in die Beschäftigung mit einer bunten Stickerei versenkt, in einer Ecke des Zimmers saß, ließ beim ersten Anblick meiner zigeunerhaften Hautfarbe und meines scheckigen Haars ihre Arbeit in den Schooß sinken und stieß einen schwachen Schrei aus.

»Mrs. Merridew,« sagte Fräulein Verinder, »das ist Herr Jennings.«

»Ich bitte Herrn Jennings um Verzeihung,« sagte die alte Dame, indem sie Fräulein Verinder ansah und mit mir sprach. »Das Fahren auf der Eisenbahn macht mich immer nervös. Ich versuche es, meine Nerven durch Vornahme meiner gewöhnlichen Beschäftigung wieder zu beruhigen. Ich weiß nicht, ob meine Stickerei bei dieser Gelegenheit hier nicht am Orte ist. Wenn sie zu den medicinischen Ansichten des Herrn Jennings nicht paßt, so werde ich sie natürlich mit Vergnügen bei Seite legen.«

Ich beeilte mich, mich mit der Gegenwart der Stickerei einverstanden zu erklären, grade wie ich mich mit der Abwesenheit des geplatzten Mäusefalken und des abgebrochenen Amorflügels einverstanden erklärt hatte. Mrs. Merridew machte im Gefühl der Dankbarkeit für diese Concession einen Versuch, mein Haar anzusehen. Aber nein! es war nicht möglich. Mrs. Merridew blickte wieder Fräulein Verinder an.

»Ich möchte Herrn Jennings,« fuhr die alte Dame fort, »um eine Gefälligkeit bitten. Herr Jennings ist im Begriff, heute Abend ein wissenschaftliches Experiment anzustellen. Als junges Mädchen in der Schule pflegte ich wissenschaftliche Experimente mit anzusehen, die immer mit einer Explosion endigten. Wenn Herr Jennings die große Güte haben wollte, so möchte ich ihn bitten, mir vorher zu sagen, ob eine solche Explosion stattfinden wird, damit ich mich wo möglich nicht eher zur Ruhe begebe, bis die Sache vorüber ist.«

Ich versuchte es Mrs. Merridew zu überzeugen, daß dieses Mal keine Explosion zum Programm gehöre.

»Nein,« sagte die alte Dame, »ich bin Herrn Jennings sehr verbunden, aber ich weiß daß er mich zu meinem eigenen Besten täuscht. Ich möchte lieber daß er offen gegen mich verführe. Ich bin ganz auf die Explosion gefaßt, aber ich möchte wo möglich gern, daß die Sache zu Ende wäre, bevor ich zu Bett gehe.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür und Mrs. Merridew stieß abermals einen kleinen Schrei aus. War es der Eintritt der Explosion? Nein, nur der Eintritt Betteredge’s.

»Ich bitte um Vergebung, Herr Jennings,« sagte Betteredge in dem studirtesten Ton geheimnißvoller Vertraulichkeit. »Herr Franklin wünscht zu wissen, wo Sie sind. Da ich von Ihnen die Ordre habe, ihn in Betreff der Anwesenheit meines gnädigen Fräuleins in dem Hause zu täuschen, so habe ich gesagt, ich wisse es nicht. Das war, wie Sie gefälligst bemerken wollen, eine Lüge. Da ich schon mit einem Fuß im Grabe stehe, Herr, so werde ich Ihnen im Hinblick auf die nahe Zeit, wo mein Stündlein schlagen und mein Gewissen mich mahnen wird, um so dankbarer sein, je weniger Sie mich zu lügen veranlassen.«

Hier war kein Augenblick mit der rein speculativen Frage über Betteredge’s Gewissen zu verlieren. Herr Blake konnte möglicherweise, wenn er mich suchte, hereinkommen, wenn ich nicht sofort zu ihm auf sein Zimmer ging. Fräulein Verinder folgte mir auf den Corridor.

»Es scheint ja hier eine förmliche Verschwörung gegen Sie im Gange zu sein,« sagte sie; »was bedeutet das?«

»Nichts, Fräulein Verinder, als in einem sehr kleinen Maßstabe den Protest der Welt gegen alles Neue«.

»Was sollen wir mit Mrs. Merridew anfangen?«

»Sagen Sie ihr, die Explosion werde morgen früh um 9 Uhr stattfinden.«

»Um sie so ins Bett zu bringen?«

»Jawohl.«

Fräulein Verinder ging in ihr Wohnzimmer zurück und ich ging zu Herrn Blake hinauf.

Zu meiner Ueberraschung fand ich ihn allein, unruhig in seinem Zimmer auf- und abgehend und etwas gereizt darüber, daß man ihn so allein gelassen habe.

»Wo ist Herr Bruff?« fragte ich.

Er deutete auf die verschlossene Thür, welche beide Zimmer verband. Herr Bruff hatte einen Augenblick bei ihm vorgesprochen; hatte es versucht, seinen Protest gegen unser Verfahren zu erneuern, und hatte abermals nicht den geringsten Eindruck auf Herrn Blake hervorgebracht. Darauf hatte der Advokat seine Zuflucht zu einem mit Arten bis oben angefüllten schwarzen Ledersack genommen. Die Wahrnehmung ernster Berufsarbeiten hatte er gesagt, sei, wie er zugeben müsse, leider bei einer Gelegenheit wie der vorliegenden, nicht am Platze; müsse aber nichtsdestoweniger ihren Fortgang nehmen. Vielleicht werde Herr Blake mit den altmodischen Gewohnheiten eines alten Mannes Nachsicht haben. Zeit sei Geld —— und, was Herrn Jennings anlange, so könne er sich darauf verlassen, daß Herr Bruff zur Hand sein werde, sobald man ihn rufe.

Mit dieser Entschuldigung war der Advokat wieder auf sein Zimmer gegangen und hatte sich eigensinnig in seinen schwarzen Ledersack versenkt.

Ich mußte an Mrs. Merridew mit ihrer Stickerei und an Betteredge mit seinem Gewissen denken. Die Unbeweglichkeit des englischen Charakters äußert sich mit derselben wunderbaren Uebereinstimmung die auch in der Unbeweglichkeit des englischen Gesichtsausdrucks herrscht.

»Wann bekomme ich das Opium?« fragte Herr Blake ungeduldig.

»Sie müssen noch ein wenig warten,« sagte ich, »ich will Ihnen aber so lange Gesellschaft leisten.«

Es war noch nicht zehn Uhr. Durch verschiedene zu wiederholten Malen an Betteredge und Herrn Blake gerichtete Fragen war ich zu der Ueberzeugung gelangt, daß das Verabreichen des Opiums durch Herrn Candy nicht vor 11 Uhr Abends stattgefunden haben könne. Ich war demnach entschlossen, auch die zweite Dosis nicht früher zu geben.

Wir plauderten ein wenig; wir waren Beide durch den Gedanken an das bevorstehende Gottesgericht präoccupirt. Die Unterhaltung fing bald an zu stocken, bis sie endlich ganz aufhörte. Herr Blake blätterte mechanisch in den Büchern auf seinem Tische. Ich hatte die Vorsicht gebraucht, einen Blick in dieselben zu werfen, als wir zum ersten Mal das Zimmer betraten. Lauter classische Zeitschriften und Romane aus dem vorigen Jahrhundert, die alle natürlich allem später Producirten unendlich überlegen waren, und das unter den obwaltenden Umstanden unschätzbare Verdienst hatten, Niemandes Interesse zu fesseln und Niemandes Phantasie aufzuregen.

Ich überließ Herrn Blake der beschwichtigenden Wirkung dieser klassischen Werke und beschäftigte mich selbst damit, das Vorstehende in mein Tagebuch zu tragen.

Meine Uhr sagt mir, daß es beinahe elf Uhr ist. Ich muß meine Aufzeichnungen abermals unterbrechen.




2 Uhr Morgens. —— Das Experiment ist vor sich gegangen. Mit welchem Erfolg, will ich hier beschreiben.

Um elf Uhr klingelte ich nach Betteredge und sagte Herrn Blake, daß er nun endlich werde zu Bett gehen können.

Ich sah zum Fenster hinaus. Das Wetter war milde und regnerisch, also ähnlich dem Wetter in der auf den Geburtstag, den 21. Juni, folgenden Nacht. Ohne an Vorzeichen zu glauben, machte ich doch gern die Beobachtung, daß die Atmosphäre keine direct auf die Nerven wirkenden Agentien, wie es Sturm und Electricität sind, enthalte. Betteredge trat zu mir ans Fenster und steckte mir geheimnißvoll einen kleinen Papierstreifen in die Hand. Derselbe enthielt die folgenden Zeilen:

»Mrs. Merridew ist auf die bestimmte Versicherung hin zu Bette gegangen, daß die Explosion morgen Vormittag um 9 Uhr stattfinden und daß ich mein Zimmer nicht wieder verlassen werde, bis sie selbst kommt und mir die Erlaubniß dazu giebt. Sie hat keine Idee davon, daß der Hauptschauplatz des Experiments mein Wohnzimmer ist, sonst würde sie die ganze Nacht nicht aus demselben gewichen sein! Ich bin allein und sehr unruhig. Bitte, lassen Sie mich dabei sein, wenn Sie das Opium eingießen; ich möchte so gern etwas damit zu thun haben, wäre es auch nur als müßiger Zuschauer. R. V.«

Ich ging mit Betteredge zum Zimmer hinaus und hieß ihn den Medicinkasten nach Fräulein Verinder’s Wohnzimmer bringen.

Diese Ordre schien ihn im höchsten Grade zu überraschen. Er sah aus, als ob er mich im Verdacht habe, irgend einen geheimen medicinischen Plan im Schilde zu führen. »Darf ich mir die Frage erlauben,« sagte er, »was mein junges Fräulein und der Medicinkasten mit einander zu thun haben?«

»Bleiben Sie nachher in Fräulein Verinder’s Wohnzimmer und Sie werden es sehen.«

Betteredge getraute sich offenbar nicht, mich allein bei einer Gelegenheit, wo ein Medicinkasten im Spiele war, hinreichend zu überwachen.

»Haben Sie etwas dagegen, Herr,« fragte er, »wenn auch Herr Bruff dabei ist?«

»Im Gegentheill Ich bin eben im Begriff, Herrn Bruff zu ersuchen, mich hinunter zu begleiten.«

Betteredge ging ohne weitere Bemerkung, den Medicinkasten zu holen. Ich ging wieder in Herrn Blake’s Zimmer und klopfte an die in Herrn Bruff’s Zimmer führende Verbindungsthür.

Herr Bruff öffnete dieselbe, eine Acte in der Hand, ganz in Jurisprudenz versenkt und unempfänglich für medicinische Interessen.

»Entschuldigen Sie, wenn ich störe,« sagte ich, »aber ich will eben jetzt das Opium für Herrn Blake bereiten und muß Sie bitten, dabei zugegen zu sein und zu sehen, was ich thue.«

»So?« sagte Herr Bruff, dessen Aufmerksamkeit noch zu neun Zehntel aus seine Acte concentrirt war, während er mir mit einem Zehntel derselben ein ungeneigtes Gehör schenkte, »und sonst noch Etwas?«

»Ich muß Sie dann weiter bitten, mich wieder hinauf zu begleiten und zugegen zu, sein, wenn ich die Dosis verabreiche.«

Und weiter?«

»Noch Eines. Ich muß Sie bitten, sich dann der Unbequemlichkeit zu unterziehen, in Herrn Blake’s Zimmer zu bleiben und abzuwarten, was sich dort ereignet.«

»O, sehr gern!« sagte Herr Bruff. »Mein Zimmer oder Herrn Blake’s Zimmer, das ist mir einerlei, ich kann meine Acten überall studiren, vorausgesetzt, daß Sie gegen eine solche Zufuhr von gesundem Menschenverstand Nichts einzuwenden haben, Herr Jennings.«

Noch ehe ich antworten konnte, redete Herr Blake den Advokaten von seinem Bett aus an.

»Interessiren Sie sich denn gar nicht für das, was wir hier vornehmen, Herr Bruff? Sie haben ja nicht mehr Phantasie als ein Heupferd!«

»Ein Heupferd ist ein sehr nützliches Thier, Herr Blake,« erwiderte der Advokat und ging dabei mit mir hinunter, seine Arten fortwährend in der Hand behaltend.

Wir fanden Fräulein Verinder blaß und aufgeregt, unruhig in ihrem Wohnzimmer auf und abgehend. Vor einem Tische in der Ecke stand Betteredge als Wache bei dem Medicinkasten. Herr Bruff setzte sich auf den ersten besten Stuhl und versenkte sich —— in rühmlicher Nacheiferung der Nützlichkeit der Heupferde —— wieder in seine Arten. Fräulein Verinder nahm mich bei Seite, um mit mir über den Gegenstand ihres ausschließlichen Interesses, über Herrn Blake zu sprechen.

»Wie geht es ihm jetzt?« fragte sie. »Ist er nervös? Ist er schlechter Laune? Glauben Sie, daß es gelingen wird? Sind Sie überzeugt, daß es ihm nicht schaden wird?«

»Vollkommen überzeugt. Geben Sie jetzt Acht, wie ich den Trank für ihn bereiten werde.«

»Einen Augenblick! Es ist jetzt 11 Uhr vorüber. Wie lange wird es dauern, bis irgend etwas erfolgen kann?«

»Das ist nicht leicht zu bestimmen. Vielleicht eine Stunde.«

»Das Zimmer muß doch wohl dunkel sein, wie im vorigen Jahre, nicht wahr?«

»Gewiß«

»Ich werde in meinem Schlafzimmer warten, gerade wie damals. Ich werde die Thür ein klein wenig geöffnet halten, ebenso wie voriges Jahr. Ich werde die Thür, die vom Corridor in das Wohnzimmer führt, genau beobachten und im Moment, wo ich eine Bewegung an derselben bemerke, mein Licht auslöschen. Genau so war es in der Nacht nach meinem Geburtstag, und es muß Alles wieder ebenso sein, nicht wahr?«

»Sind Sie Ihrer selbst gewiß, Fräulein Verinder? Werden Sie sich beherrschen können?«

»Für ihn vermag ich Alles zu thun!« antwortete sie feurig.

Ein Blick in ihr Antlitz sagte mir, daß ich mich auf sie verlassen könne. Ich wandte mich nun wieder an Herrn Bruff.

»Ich muß Sie bitten, Ihre Acten einen Augenblick bei Seite zu legen,« sagte ich.

»O, mit Vergnügen!« Er sprang plötzlich mit einer Miene auf, als ob ich ihn bei einer besonders interessanten Stelle gestört habe und folgte mir an den Tisch, auf welchem der Medicinkasten stand. Hier, wo er das spannende Interesse an seiner Beschäftigung entbehren mußte, fing er mit einem Blick aus Betteredge herzhaft zu gähnen an.

Fräulein Verinder trat mit einer Wasserflasche, die sie von einem Seitentische genommen hatte, zu mir heran.

»Lassen Sie mich das Wasser eingießen,« flüsterte sie mir zu, »ich muß etwas dabei zu thun haben!«

Ich maß die vierzig Tropfen behutsam ab und goß dieselben in ein Medicinglas. »Füllen Sie es zu drei Viertel mit Wasser,« sagte ich, indem ich ihr das Glas überreichte. Ich hieß dann Betteredge den Medicinkasten wieder zuschließen und sagte ihm, daß ich ihn jetzt nicht mehr brauche. Ein Ausdruck von unaussprechlicher Herzens-Erleichterung überflog das Gesicht des alten Dieners. Er hatte mich offenbar in Verdacht gehabt, es mit dem Medicinkasten auf sein junges Fräulein abgesehen zu haben.

Nachdem sie das Wasser, wie ich ihr geheißen, eingegossen hatte, hielt Fräulein Verinder einen Augenblick inne und küßte verstohlen den Rand des Medicinglases während Betteredge den Medicinkasten zuschloß und Herr Bruff wieder an seine Acten ging. »Wenn Sie es ihm geben,« flüsterte das liebliche Mädchen, »lassen Sie es ihn von dieser Seite nehmen!«

Ich zog das Stück Krystall, welches den Diamanten vorstellen sollte, aus meiner Tasche und gab es ihr.

»Hiermit sollen Sie auch etwas zu thun haben,« sagte ich. »Sie müssen es an dieselbe Stelle legen, an die Sie voriges Jahr den Mondstein legten.«

Sie trat damit an das indische Schränkchen und legte den falschen Diamanten in die Schublade, in welcher sich der echte Diamant in der Geburtstagsnacht befunden hatte. Herr Bruff protestirte gegen dieses Verfahren, wie er gegen alles Uebrige protestirt hatte. Betteredge’s Selbstbeherrschung vermochte aber, wie ich zu meinem größten Ergötzen bemerkte, dem starken dramatischen Interesse, welches das Experiment jetzt gewann, nicht zu widerstehen. Seine Hand zitterte, während er das Licht hielt, und er flüsterte ängstlich: »Wissen Sie gewiß, gnädiges Fräulein, daß es die rechte Schublade ist?«

Ich verließ nun wieder das Zimmer, das Medicinglas mit Opium und Wasser in der Hand. An der Thür blieb ich stehen, um Fräulein Verinder ein letztes Wort zu sagen.

»Löschen Sie bald die Lichter aus!« sagte ich.

»Ich werde sie sogleich auslöschen,« antwortete sie, und werde dann in meinem Schlafzimmer mit nur einem brennenden Lichte warten.«

Mit diesen Worten schloß sie die Thür des Wohnzimmers hinter uns, während ich, in Begleitung von Herrn Bruff und Betteredge, wieder zu Herrn Blake hinaufging.

Wir fanden ihn, sich unruhig im Bette umherwälzend. Er rief uns gereizt die Frage entgegen, ob er das Opium noch in dieser Nacht bekommen werde oder nicht. In Gegenwart der beiden Zeugen gab ich ihm die Dosis, legte seine Kissen zurecht und hieß ihn, sich ruhig hinlegen und zu warten. Sein mit hellen Cattun-Vorhängen versehenes Bett stand mit dem Kopfende gegen die Wand, so daß sich zu beiden Seiten desselben ein hinlänglich großer freier Raum befand. An der einen Seite zog ich die Vorhänge vollständig zusammen und ließ Herrn Bruff und Betteredge in dem so seinen Blicken entzogenen Theile des Zimmers niedersitzen, um das Resultat abzuwarten. Am Fußende des Bettes zog ich die Vorhänge halb zusammen und rückte meinen eigenen Stuhl in einer kleinen Entfernung davor, so daß er mich, je nach den Umständen, würde sehen und sprechen können oder nicht. Da ich schon wußte, daß er immer bei Licht zu schlafen pflegte. so stellte ich eine der beiden angezündeten Kerzen auf einen kleinen am Kopfende des Bettes stehenden Tisch, wo ihn das Licht der Kerze nicht blenden konnte. Die andere Kerze gab ich Herrn Bruff und hier entzog der Vorhang den im Bette Liegenden den Anblick des Lichtes völlig. Die oberen Fenster waren behufs der Ventilation des Zimmers geöffnet.

Der Regen fiel in leisen Tropfen, das Haus war ruhig. Es war zwanzig Minuten nach elf nach meiner Uhr, als die Vorbereitungen fertig waren und ich mich auf meinen am Fußende des Bettes stehenden Stuhl niedersetzte.

Herr Bruff hatte wieder nach seinen Acten gegriffen und sich in dieselben, allem Anscheine nach mit dem gleichen Interesse wie vorher, vertieft. Als ich aber jetzt einen Blick nach ihm hinüberwarf nahm ich gewisse Anzeichen wahr, welche mich überzeugten daß die Jurisprudenz ihr fesselndes Interesse doch endlich für ihn zu verlieren anfange. Das Spannende der Situation, in der wir uns befanden, bemächtigte sich allmälig selbst seines phantasielosen Geistes. Für Betteredge aber waren Consequenz und Würde des Benehmens bereits ein leerer Schall geworden. Er vergaß, daß ich ein »Zauberkunststück mit Herrn Franklin Blake« aufführe; er vergaß, daß ich das Haus von oben bis unten auf den Kopf gestellt und daß ich Robinson Crusoe seit meinen Kinderjahren nicht wieder gelesen hatte. »Um Gottes willen, Herr,« flüsterte er mir zu, »sagen Sie uns, wenn es zu wirken anfangt.«

»Nicht vor Mitternacht« flüsterte ich ihm wieder zu. »Bleiben Sie ruhig sitzen und reden Sie nicht.«

Betteredge ließ sich zu der gemeinsten Vertraulichkeit mit mir herab, ohne daß es ihn auch nur einen Kampf gekostet hätte. Er antwortete mir mit einem Kopfnicken.

Als ich mich nun wieder nach Herrn Blake umsah, fand ich ihn sich so unruhig wie bisher in seinem Bett umherwälzen. Verdrießlich fragte er mich, warum das Opium noch nicht zu wirken anfange. Ihm bei seiner jetzigen Stimmung zu sagen, daß er durch seine nervöse Unruhe und sein ungeduldiges Grübeln das Resultat, auf das wir warteten, nur immer weiter hinausschiebe, würde ganz nutzlos gewesen sein. Es schien mir richtiger, seine Gedanken von dem Opium ab und unmerklich auf andere Dinge zu lenken.

In dieser Absicht forderte ich ihn auf, sich mit mir zu unterhalten, und bemühte mich meinerseits, die Unterhaltung wieder auf den Gegenstand hinzulenken, der uns bereits am Abend beschäftigt hatte —— auf den Diamanten. Ich brachte gerade die Parthieen der Geschichte des Mondsteins aufs Tapet, die sich auf den Transport desselben von London nach Yorkshire, auf die Gefahr, welche Herr Blake durch die Entfernung desselben aus der Bank in Frinzinghall gelaufen habe und auf die unerwartete Erscheinung der Indier in dem Hause am Abend des Geburtstages bezogen und stellte mich absichtlich bei der Erwähnung dieser Ereignisse, als habe ich Vieles von dem, was mir Herr Blake einige Stunden früher erzählt hatte, mißverstanden. Auf diese Weise brachte ich ihn dazu, über den Gegenstand zu reden, mit welchem seinen Geist zu beschäftigen jetzt von der höchsten Wichtigkeit war, ohne daß er doch meine Absicht, ihn zum Reden zu veranlassen, merkte. Nach und nach fesselte die Berichtigung meiner angeblichen Mißverständnisse sein Interesse so sehr, daß er seine nervöse Unruhe vergaß und in dem Augenblick, wo mich der Anblick seiner Augen belehrte, daß das Opium auf sein Gehirn zu wirken anfange, dachte er an nichts weniger als an das Opium.

Ich sah auf meine Uhr. Es war fünf Minuten vor zwölf Uhr, als die vorläufigen Symptome der Wirkung des Opiums sich mir zuerst bemerklich machten.

Ju diesem Augenblick würde noch kein ungeübtes Auge irgend eine Veränderung an ihm entdeckt haben. Aber in dem Maße, wie die Minuten des neuen Tages verrannen, wurde die leise fortschreitende Wirkung erkennbarer. Der vergeistigende Opiumrausch leuchtete aus seinen Augen hervor; die Tropfen eines langsamen Schweißes fingen an auf seinem Gesichte zu perlen. Fünf Minuten später begann er, während er sich noch mit mir unterhielt, unzusammenhängend zu reden. Er blieb beharrlich bei dem Gegenstand des Diamanten, aber er fing an, seine Sätze nicht mehr zu vollenden. Ein wenig später wurden die Sätze zu abgerissenen Worten. Dann trat eine Pause ein. Dann richtete er sich im Bett auf. Dann fing er, noch immer mit dem Gegenstand des Diamanten beschäftigt, wieder zu reden an, aber dieses Mal nicht mit mir, sondern mit sich selber. Diese Veränderung überzeugte mich, daß das erste Stadium des Experiments erreicht sei. Der stimulirende Einfluß des Opiums hatte sich seiner zu bemächtigen angefangen.

Die Uhr war jetzt drei und zwanzig Minuten nach zwölf. In längstens einer halben Stunde mußte es sich entscheiden, ob er aus seinem Bette aufstehen und das Zimmer verlassen werde.

In der athemlosen Spannung, in die mich seine Beobachtung versetzte, in dem unaussprechlichen Gefühl des Triumphs darüber, daß das erste Resultat des Experiments sich in der Weise und fast genau in dem Zeitpunkt, wie ich es vorausgesagt hatte, kundgab, hatte ich die beiden Genossen meiner Nachtwache total vergessen. Als ich jetzt wieder nach ihnen umschaute, sah ich die durch Herrn Bruff’s Acten repräsentirte Jurisprudenz unbeachtet auf dem Boden liegen. Herr Bruff selbst blickte eifrig durch eine Spalte des nicht völlig zusammengezogenen Bettvorhangs Und Betteredge guckte aller Achtung vor dem socialen Rangunterschied, der ihn von Herrn Bruff trennte, uneingedenk, über dessen Schulter hinweg.

Als sie bemerkten, daß ich sie sähe, schreckten beide zurück wie ein paar von ihrem Schullehrer auf einem Streich ertappte Jungen. Ich bedeutete ihnen durch ein Zeichen, ihre Stiefel leise auszuziehen. wie ich es auch that. Wenn uns Herr Blake Veranlassung geben sollte, ihm nachzugehen, so war es von der höchsten Wichtigkeit, daß dies geräuschlos geschähe.

Zehn Minuten vergingen, ohne daß sich irgend etwas ereignete. Da warf er plötzlich die Decke von sich und stieg mit einem Fuß aus dem Bett. In dieser Stellung verharrte er und sagte zu sich selbst: »Ich wollte, ich hätte ihn nie aus der Bank genommen, in der Bank war er sicher.«

Mein Herz pochte heftig, die Pulse an meinen Schläfen klopften rasend. Also auch das war erreicht: Der Zweifel über die Sicherheit des Diamanten war wieder der ihn beherrschende Gedanke! Das war der Angelpunkt um den sich alle den Erfolg des Experiments verbürgende Vornahmen zu drehen hatten. Die Aussicht, die sich mir damit plötzlich eröffnete, war zu viel für meine erschütternden Nerven. Ich war genöthigt, meine Augen von ihm wegzuwenden, wenn ich nicht Gefahr laufen wollte, die Herrschaft über mich selbst zu verlieren.

Abermals entstand eine Pause.

Als ich wagen konnte, mich wieder nach ihm umzusehen, stand er aufrecht neben seinem Bett. Seine Pupillen waren jetzt zusammengezogen, seine Augen funkelten, während er den Kopf langsam hin und her bewegte. Er dachte nach, er schwankte, er fing wieder an zu reden.

»Wie kann ich wissen,« sagte er, »ob sich die Indier nicht im Hause versteckt haben?«

Dann hielt er inne und ging langsam an das andere Ende des Zimmers Er drehte sich um —— stand wieder still und —— ging wieder nach dem Bett.

»Er ist nicht einmal verschlossen,« fuhr er fort. »Er liegt in einer Schublade ihres Schränkchens und die Schubladen sind nicht verschließbar.«

Er setzte sich auf einen neben dem Bette stehenden Stuhl. »Jeder könnte ihn wegnehmen.«

Dann stand er wieder unruhig auf und wiederholte seine ersten Worte: »Wie kann ich wissen, ob sich die Indier nicht im Hause versteckt haben?«

Dann antwortete er wieder. Ich zog mich hinter den zusammengezogenen Bettvorhang zurück. Er ließ seine in’s Leere starrenden, unheimlich glänzenden Augen im Zimmer umherschweifen. Es war ein angstvoller Augenblick. Etwas stockte. War es die Wirkung des Opiums? oder war es die Thätigkeit des Gehirns? Wer konnte das bestimmen?! Alles kam jetzt darauf an, was er zunächst thun werde.

Er legte sich wieder aufs Bett.

Ein schrecklicher Zweifel überkam mich. War es möglich, daß die calmirende Wirkung des Opiums sich bereits fühlbar machte? Das würde meiner Erwartung nicht entsprochen haben. Aber wie wenig ausreichend ist alle Erfahrung den Wirkungen des Opiums gegenüber!

Es giebt vielleicht nicht zwei Menschen, auf welche das Opium in genau derselben Weise wirkt. War er so eigenthümlich organisirt, daß er den Einfluß dieses wunderbaren Mittels in einer neuen Weise empfand? Sollte unser Experiment an der Schwelle des Erfolges fehlschlagen?

Nein! Plötzlich erhob er sich rasch wieder.

»Zum Teufel, wie kann ich mit solchen Gedanken schlafen?« sagte er.

Er sah nach dem auf dem Tisch am Kopfende seines Bettes stehenden Licht. Einen Augenblick später ergriff er das Licht.

Ich löschte das zweite, hinter den Vorhängen brennende Licht aus und zog mich mit Herrn Bruff und Betteredge in die entfernteste Ecke neben dem Bett zurück. Ich gab ihnen ein Zeichen zu schweigen mit einer so drohenden Bewegung, als ob ihr Leben davon abgehangen hätte.

Wir warteten hinter dem geschlossenen Vorhang verborgen, und sahen und hörten nichts.

Plötzlich aber bewegte sich das Licht in seiner Hand. Im nächsten Augenblick ging er rasch und geräuschlos an uns vorüber auf die Thür zu, öffnete dieselbe und ging hinaus.

Wir folgten ihm längs des Corridors die Treppe hinunter und längs des zweiten Corridors; er hielt nicht an und sah sich nicht um.

Er öffnete die Thür des Wohnzimmers, trat ein und ließ die Thür hinter sich offen.

Die Thür hing, wie alle übrigen Thüren im Hause, in großen altmodischen Angeln. Wenn sie offen war, entstand zwischen Thür und Thürpfosten eine Spalte. Ich bedeutete meine beiden Begleiter, durch diese Spalte hindurchzusehen, so daß man sie nicht sehen konnte. Ich selbst stellte mich an die andere Seite vor die Thür, wo sich zu meiner Linken eine Wandnische befand, in der ich mich auf der Stelle würde verbergen können, wenn er sich anschicken sollte, in den Corridor zurückzukehren.

Er ging, das Licht noch immer in der Hand haltend, bis in die Mitte des Zimmers und sah umher, aber nicht rückwärts.

Ich sah, daß die Thür zu Fräulein Verinder’s Schlafzimmer halb geöffnet war. Sie hatte ihr Licht ausgelöscht. Sie nahm sich wunderbar zusammen. Der blaßweiße Umriß ihres Sommerkleides war Alles, was ich sehen konnte. Niemand, der es nicht gewußt hätte, würde geahnt haben, daß ein lebendes Wesen im Zimmer sei. Sie hielt sich still im Dunkeln: kein Wort, keine Bewegung entfuhr ihr.

Es war jetzt 10 Minuten nach 1 Uhr. Ich vernahm in der tiefen Stille der Nacht das sanfte Tröpfeln des Regens und das Rauschen des Nachtwindes durch die Blätter.

Nachdem er eine Minute oder länger unentschlossen in der Mitte des Zimmers stehen geblieben war, ging er in die Ecke neben dem Fenster, wo das indische Schränkchen stand.

Er setzte sein Licht auf das Schränkchen und öffnete und schloß dann eine Schublade nach der andern, bis er an die kam, in welcher der falsche Diamant lag. Er blickte einen Augenblick in die Schublade hinein, nahm dann den Diamanten mit der rechten Hand heraus, während er mit der andern Hand das auf dem Schränkchen stehende Licht ergriff; that darauf einige Schritte vorwärts nach der Mitte des Zimmers zu und stand wieder still.

Bisher hatte er Alles genau so wiederholt, wie er es in der Geburtstagsnacht gethan hatte. Jetzt fragte es sich, ob das Nächste, was er thun würde, wieder dem im vorigen Jahre Gethanen gleichen, ob er das Zimmer verlassen und wieder, wie er es nach meiner Annahme damals gethan hatte, auf sein Zimmer gehen und uns zeigen würde, was er, auf sein Zimmer zurückgekehrt, mit dem Diamanten vorgenommen hatte.

Der erste Schritt, den er jetzt wieder that, war ersichtlich ein anderer als der welchen er in dem entsprechenden Moment im vorigen Jahre gethan hatte. Er stellte das Licht auf den Tisch und that einige Schritte vorwärts. Da stand ein Sopha. Er lehnte sich mit der linken Hand schwer auf die Rücklehne, ermannte sich dann wieder und kehrte nach der Mitte des Zimmers zurück. Ich konnte jetzt seine Augen sehen. Ihr Ausdruck wurde stumpf und matt, ihr Glanz war im Verlöschen.

Die peinliche Ungewißheit dieses Augenblicks stellte Fräulein Verinder’s Selbstbeherrschung auf eine zu schwere Probe.

Sie trat einige Schritte vor und stand dann wieder still. Herr Bruff und Betteredge sahen durch die offene Thürspalte zum ersten Male nach mir. Die Voraussicht einer nahen Enttäuschung bedrängte sie wie mich.

So lange er an der Stelle, wo er jetzt stand, verharrte, war noch Hoffnung vorhanden. Wir erwarteten in athemloser Spannung, was nun geschehen werde. Und dieses Nächste war entscheidend: Er ließ den falschen Diamanten aus seiner Hand gleiten.

Dieser fiel auf den Fußboden vor die Thür, deutlich´sichtbar für ihn wie für uns Uebrigen. Er machte keine Anstrengung, ihn wieder aufzuheben; er sah mit starrem Blick auf den Stein herab und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Er schwankte —— ermannte sich wieder einen Augenblick —— ging unsicheren Schritts nach dem Sopha zurück —— und setzte sich auf dasselbe nieder. Er machte eine letzte Anstrengung und versuchte aufzustehen, sank aber wieder zurück. Sein Kopf fiel auf die Sophakissen. Die Uhr war 25 Minuten nach eins. Noch ehe ich meine Uhr wieder in die Tasche gesteckt hatte, war er eingeschlafen.

Jetzt war Alles vorbei. Die beruhigende Wirkung des Opiums hatte sich seiner bemächtigt; das Experiment war zu Ende.

Ich trat ins Zimmer und hieß Herrn Bruff und Betteredge mir folgen. Wir brauchten nicht zu fürchten, ihn zu stören. Wir konnten uns bewegen und sprechen.

»Die erst; Frage,« sagte ich, »ist jetzt, was wir mit ihm thun sollen. Er wird wahrscheinlich mindestens sechs bis sieben Stunden fort schlafen. Bis zu seinem Zimmer ist es eine ziemliche Strecke. In meinen jüngeren Jahren hätte ich ihn wohl allein dahin getragen, aber meine Gesundheit und meine Kraft haben abgenommen, ich fürchte, ich muß Sie bitten, mir zu helfen.«

Noch ehe sie mir antworten konnten, rief mich Fräulein Verinder in sanftem Ton. An der Schwelle ihrer Thür kam sie mir mit, einem leichten Shawl und ihrer Bettdecke entgegen.

»Werden Sie bei ihm wachen, so lange er schläft?« fragte sie.

»Ja, ich bin der Wirkung des Opiums auf ihn nicht gewiß genug, um ihn allein zu lassen.«

Sie gab mir den Shawl und die Decke.

»Warum wollen Sie ihn stören? « flüsterte sie.

»Machen Sie ihm ein Bett auf dem Sopha. Ich kann meine Thür verschließen und in meinem Zimmer bleiben.«

Unzweifelhaft war er auf diese einfache Weise am besten für den Rest der Nacht aufgehoben. Ich theilte Herrn Bruff und Betteredge den Vorschlag mit, und beide riethen mir ihn anzunehmen. In fünf Minuten hatte ich ihn bequem auf dem Sopha gebettet und ihn mit der Decke und dem Shawl leicht zugedeckt. Fräulein Verinder wünschte uns gute Nacht und schloß die Thür. Auf meine Bitte setzten wir drei uns an den Tisch in der Mitte des Zimmers, auf welchem das Licht noch brannte und auf welchem Schreibmaterialien lagen.

»Bevor wir uns trennen,« hub ich an, »habe ich noch ein Wort über das angestellte Experiment zu sagen. Zwei gesonderte Zwecke sollten durch dasselbe erreicht werden. Der erste bestand darin, zu beweisen, daß Herr Blake im vorigen Jahr in einem bewußtlosen und unzurechnungsfähigen Zustande, unter dem Einfluß des Opiums, dieses Zimmer betreten und den Diamanten fortgenommen habe. Ich frage Sie nun beide, ob Sie in dieser Beziehung durch das, was Sie gesehen haben, überzeugt worden sind?«

Beide bejahten anstandslos meine Frage.

»Der zweite Zweck« fuhr ich fort, »war, zu erfahren, was er mit dem Diamanten gethan habe, nachdem Fräulein Verinder in der Geburtstagsnacht gesehen hatte, daß er ihr Zimmer mit dem Diamanten in der Hand verließ. Die Erreichung dieses Zweckes hing natürlich davon ab, daß er auch nach dem Verlassen des Zimmers wieder genau thue, was er im vorigen Jahr gethan hatte. Das hat er nun aber nicht gethan und dieser Zweck des Experiments ist folgeweise verfehlt. Ich kann nicht sagen, daß ich dieses Resultat nicht beklage, aber ich kann in Wahrheit sagen, daß es mich nicht überrascht. Ich habe Herrn Blake von Anfang an gesagt, daß wir auf einen vollständigen Erfolg in dieser Angelegenheit nur rechnen dürften, wenn es uns gelänge, die physischen und moralischen Bedingungen, unter welchen er im vorigen Jahre handelte, vollständig wieder bei ihm herzustellen —— und ich habe ihn im Voraus darauf aufmerksam gemacht, daß die Erfüllung dieser Vorbedingung nahezu unmöglich sein werde. Wir haben jene Bedingungen nur theilweise wieder herstellen können und das Experiment ist in Folge dessen auch nur theilweise gelungen. Es ist auch möglich, daß ich ihm eine zu große Dosis verabreicht habe. Aber ich selbst betrachte die ersterwähnte Ursache als den wahren Grund, aus welchem wir sowohl ein Mißlingen zu beklagen, als uns über ein Gelingen zu freuen haben.«

Nachdem ich das gesagt hatte, legte ich die Schreibmaterialien vor Herrn Bruff hin und fragte ihn, ob er etwas dagegen habe, bevor wir jetzt auseinander gingen, einen klaren Bericht über das, was er gesehen habe, niederzuschreiben und zu unterzeichnen. Er ergriff sofort die Feder und schrieb den Bericht mit der fließenden Leichtigkeit eines gewandten Geschäftsmannes nieder.

»Ich bin Ihnen das schuldig,« « sagte er, indem er den Bericht unterzeichnete, »und hoffe damit einigermaßen wieder gut zu machen, was im Lauf des gestrigen Abends zwischen uns vorgefallen ist. Ich bitte Sie um Verzeihung, Herr Jennings, daß ich an Ihnen gezweifelt habe. Sie haben Franklin Blake einen unschätzbaren Dienst geleistet; juristisch ausgedrückt: Sie haben Ihren Beweis erbracht.«

Betteredge’s Entschuldigung war charakteristisch für ihn.

»Herr Jennings,« sagte er, »wenn Sie Robinson Crusoe wieder lesen, was ich Ihnen zu thun dringend empfehle, so werden Sie finden, daß er niemals Anstand nimmt, sein Unrecht zu bekennen. Bitte, nehmen Sie an, daß ich bei dieser Gelegenheit thue, was Robinson Crusoe zu thun pflegte.«

Mit diesen Worten unterzeichnete auch er das Document.

Als wir aufstanden nahm Herr Bruff mich bei Seite.

»Ein Wort in Betreff des Diamanten,« sagte er. »Sie nehmen an, daß Franklin Blake den Mondstein in seinem Zimmer versteckt hat; ich nehme an, daß der Mondstein sich im Besitz der Banquiers des Herrn Luker in London befindet. Wir wollen nicht darüber streiten, wer von uns beiden Recht hat. Wir wollen uns vielmehr nur fragen, wer von uns beiden in der Lage ist, zuerst die Probe von der Richtigkeit seiner Annahme zu machen.«

»Meine Probe,« antwortete ich, »ist heute Abend versucht worden und ist fehlgeschlagen«

»Meine Probe,« erwiderte Herr Bruff, »soll noch erst gemacht werden. Seit zwei Tagen habe ich eine Wache vor der Bank ausgestellt und werde diese Wache bis zum letzten Tage dieses Monats beibehalten. Ich weiß, daß Herr Luker den Diamanten in eigener Person aus den Händen seiner Banquiers entgegen nehmen muß und mein Verfahren gründet sich auf die Hoffnung, daß die Person, welche den Diamanten verpfändet hat, Herrn Luker durch Auslösung des Pfandes zu jener Entgegennahme nöthigen werde. Geschieht das, so kann ich vielleicht der Person des Verpfänders habhaft werden. Und so haben wir die Hoffnung, das Geheimniß gerade in dem Punkt aufzuklären, der uns jetzt noch räthselhaft ist! Geben Sie das zu?«

Ich that das bereitwillig.

»Ich werde mit dem 10 Uhr Zug diesen Morgen nach London zurückkehren,« fuhr der Advokat fort. »Vielleicht höre ich bei meiner Rückkehr, daß die Entdeckung gelungen ist und es könnte für mich von der größten Wichtigkeit sein, Franklin Blake bei der Hand zu haben, um mich nöthigenfalls auf ihn zu berufen. Ich beabsichtige ihm, sobald er aufwacht, zu sagen, daß er mit mir nach London zurück muß. Darf ich nach allem Vorgefallenen dabei auf Ihren Beistand rechnen?«

»Gewiß!« sagte ich.

Herr Bruff gab mir die Hand und verließ das Zimmer. Betteredge folgte ihm.

Ich ging nach dem Sopha, um nach Herrn Blake zu sehen. Seit ich sein Bett gemacht und ihn hingelegt hatte, hatte er sich nicht gerührt —— er lag in tiefem, ruhigen Schlaf.

Während ich ihn noch betrachtete, hörte ich die Schlafzimmerthür sich leise öffnen. Da stand Fräulein Verinder wieder an der Schwelle in ihrem leichten Kleide.

»Thun Sie mir einen letzten Gefallen« flüsterte sie, »lassen Sie mich mit Ihnen bei ihm wachen.«

Ich zauderte —— nicht ans Gründen der Schicklichkeit, sondern aus Besorgniß für ihre Nachtruhe Sie trat dicht an mich heran und ergriff meine Hand.

»Ich kann nicht schlafen; ich kann nicht einmal in meinem Zimmer ruhig sitzen,« sagte sie. »O! Herr Jennings, denken Sie doch, wie sehr Sie, wenn Sie an meiner Stelle wären, verlangen würden, bei ihm zu sitzen und ihn anzusehen. Sagen Sie ja! Bitte! Thun Sie es!«

Brauche ich zu sagen, daß ich nachgab? Gewiß nicht!

Sie rückte einen Stuhl an den Fuß des Sophas.

Sie betrachtete ihn mit dem Ausdruck stiller Glückseligkeit, bis Thränen ihre Augen füllten. Sie trocknete sie und sagte, sie wolle ihre Arbeit holen. Sie holte sie, that aber keinen Stich daran. Sie ließ sie auf ihrem Schoß liegen, sie konnte sich nicht entschließen, ihre Augen auch nur so lange von ihm abzuwenden, als nöthig war, um ihre Nadel einzufädeln. Ich dachte an meine eigene Jugend, ich dachte an die sanften Augen, die auch mich einst liebend angeblickt hatten. Als mir das Herz dabei allzu schwer wurde, suchte ich Trost bei meinem Tagebuch und schrieb das Vorstehende nieder.

So wachten wir schweigend mit einander, der Eine versenkt in seine Auszeichnungen —— die Andere versenkt in ihre Liebe.

Eine Stunde nach der andern verbrachte er in tiefem, festen Schlaf. Das Licht des neuen Tages drang heller und heller in das Zimmer, aber er rührte sich nicht.

Gegen sechs Uhr Morgens fühlte ich das Herannahen eines neuen Anfalles meiner Schmerzen. Ich war genöthigt, Fräulein Verinder kurze Zeit mit ihm allein zu lassen. Ich sagte, ich wolle hinaufgehen und ein anderes Kissen aus seinem Zimmer für ihn herunterholen. Der Anfall dauerte diesmal nicht lange. Nach kurzer Zeit konnte ich mich zurück wagen und mich wieder zu ihr setzen.

Als ich eintrat, stand sie am Kopfende des Sophas; sie drückte eben einen Kuß auf seine Stirn. Ich schüttelte so discret wie möglich mit dem Kopf und deutete auf ihren Stuhl hin. Sie sah mich mit einem strahlenden Lächeln und einem reizenden Erröthen ihres Antlitzes wieder an. »In meiner Stelle,« flüsterte sie, »hätten Sie das auch gethan.«




Es ist gerade 8 Uhr. Er fängt eben an, sich zu rühren.

Fräulein Verinder kniet an der Seite des Sopha’s so, daß seine Augen, wenn er sie öffnet, zuerst auf ihr Gesicht fallen müssen.

Soll ich sie allein lassen?

Ja!




11 Uhr Vormittags. —— Sie haben es mit einander abgemacht; um 10 Uhr sind alle nach London zurückgekehrt. Mein kurzer Glückstraum ist ausgeträumt. Ich bin wieder zu der kalten Wirklichkeit meines freudlosen und einsamen Lebens erwacht.

Ich kann mich nicht entschließen, die freundlichen Worte niederzuschreiben die mir, besonders von Fräulein Verinder und Herrn Blake, gesagt worden sind. Ueberdies wäre es unnütz. Diese Worte werden sich mir in meinen einsamen Stunden wiederholen und werden mir über das Stück Leben, das mir noch beschieden ist, hinweghelfen. Herr Blake wird mir schreiben, was in London geschieht. Fräulein Verinder wird ohne Zweifel im Herbst nach Yorkshire zurückkehren, um ihre Hochzeit zu feiern, und ich soll mir dann einen freien Tag machen und Gast im Hause sein. Was empfand ich, als mir das dankbare Glück aus ihren Augen entgegenblickte und ihr warmer Händedruck mir sagte: »Das ist Ihr Werk!«

Meine armen Patienten warten auf mich. Also wieder in das alte Geleise zurück! und heute Nacht wieder in die schreckliche Alternative zwischen Opium und Schmerzen!

Gott sei gelobt für seine Gnade! Ich habe mich eines kurzen Sonnenscheins erfreut —— ich habe eine glückliche Zeit gehabt.



Kapiteltrenner


Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte