Die Frau in Weiß

Die Aussage Walter Hartrights in Clement's Inn zu London.

V.

Als ich am nächsten Morgen aufstand und mein Fensterrouleau in die Höhe zog, lag die See freudig und leuchtend in dem breiten Augustsonnenlichte vor mir, und die ferne Küste von Schottland säumte den Horizont mit ihren schmelzend blauen Wellenlinien.

Der Anblick gewährte mir eine solche Ueberraschung und Veränderung nach meinen langweiligen Erfahrungen in den Kalk- und Ziegelsteinlandschaften Londons, daß ich, sowie ich ihn erschaute, in ein neues Leben und neue Ideenkreise einzutreten schien. Es kam mir ein verworrenes Gefühl, als ob ich plötzlich meine Bekanntschaft mit der Vergangenheit verloren hätte, ohne dabei eine größere Klarheit der Ideen in Bezug auf die Gegenwart oder die Zukunft zu gewinnen. Umstände, die nur wenige Tage alt waren, verblichen in meiner Erinnerung, als ob sie sich vor vielen Monaten ereignet hätten. Pesca’s drollige Erzählung von der Art und Weise, wie er mir meine gegenwärtige Beschäftigung verschafft hatte; der Abschiedsabend, den ich bei meiner Mutter und Schwester zugebracht hatte; selbst mein geheimnisvolles Abenteuer auf meinem Heimwege von Hampstead: das Alles waren Begebenheiten geworden, die sich möglicherweise zu einer früheren Epoche meines Lebens zugetragen haben konnten. Obgleich die Frau in Weiß noch in meiner Erinnerung war, schien doch ihr Bild bereits undeutlicher geworden zu sein. –

Kurz vor neun Uhr ging ich ins Erdgeschoß hinunter. Der feierliche Diener vom vorigen Abend begegnete mir, wie ich in den Gängen umherwandelte, und zeigte mir voll Menschenfreundlichkeit den Weg nach dem Frühstückszimmer.

Der erste Blick, den ich um mich warf, als der Mann die Thür wieder hinter mir schloß, zeigte mir einen wohl besetzten Frühstückstisch, der in der Mitte eines langen Zimmers mit vielen Fenstern stand. Ich blickte vom Tische nach dem am weitesten von mir entfernten Fenster und sah an demselben eine Dame stehen, mit dem Rücken mir zugewandt. Sowie ich sie erblickte, frappirten mich die seltene Schönheit ihrer Gestalt und die ungekünstelte Anmuth ihrer Haltung. Ihre Figur war groß, doch nicht zu groß, von hübsch und wohl entwickelten, doch nicht allzu starken Formen; ihr Kopf saß mit einer ungezwungenen, biegsamen Festigkeit auf ihren Schultern; ihre Taille, vollkommen in den Augen eines Mannes – denn sie nahm ihre natürliche Stelle ein – füllte ihren natürlichen Zirkel aus und – was deutlich und reizend sichtbar war – ward nicht durch ein Schnürleibchen entstellt. Sie hatte mein Eintreten ins Zimmer nicht gehört, und ich gewährte mir den Genuß, sie einige Augenblicke zu bewundern, ehe ich als das am wenigsten in Verlegenheit setzende Mittel, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, einen der mir zunächst stehenden Stühle rückte. Sie wandte sich augenblicklich zu mir um; die unbefangene Anmuth jeder Bewegung ihrer Glieder und ihres Körpers, als sie von dem anderen Ende des Zimmers zu mir kam, machte mich förmlich zittern vor Erwartung, ihr Gesicht deutlich zu sehen. Sie verließ das Fenster – und ich sagte zu mir selbst: die Dame ist brünett. Sie ging ein paar Schritte vorwärts – und ich bemerkte, daß sie jung war. Sie kam näher – und ich sagte zu mir (mit einem Gefühle der Ueberraschung, das ich nicht mit Worten zu beschreiben vermag): die Dame ist – häßlich!

Noch nie wurde die alte conventionelle Maxime, daß die Natur nicht irren kann, vollständiger widerlegt – noch nie das Versprechen einer reizenden Gestalt seltsamer und überraschender durch das dazu gehörende Haupt und Antlitz Lügen gestraft. Die Hautfarbe der Dame war beinahe braun und der dunkle Flaum auf ihrer Oberlippe beinahe ein andalusisches Bärtchen, sie hatte einen großen, festen, männlichen Mund und Unterkiefer; hervorstehende, scharfe, entschlossene, braune Augen und dickes kohlschwarzes Haar, das ihr ungewöhnlich tief in die Stirn wuchs. Der Ausdruck ihres Gesichtes, der klar, offen und intelligent war, schien, wenn sie schwieg, gänzlich jenes weiblichen Reizes der Sanftheit und Schmiegsamkeit zu entbehren, ohne welchen die Schönheit des schönsten Weibes der Welt eine unvollkommene ist. Ein solches Gesicht auf Schultern zu sehen, die ein Bildhauer sich gesehnt haben würde abzubilden – von der bescheidenen Anmuth der Glieder, die ihre durch Ebenmaß ausgezeichnete Schönheit in jeder Bewegung verriethen, bezaubert und dann von der männlichen Form und dem männlichen Ausdrucke der Züge, in welchen der vollkommen gebildete Körper endete, beinahe abgestoßen zu werden, verursachte ein Gefühl, das eine unheimliche Aehnlichkeit mit dem hilflosen Verdrusse hat, den wir Alle kennen, wenn wir im Schlafe die Anomalien und Widersprüche unserer Träume erkennen und doch nicht begreifen können.

»Mr. Hartright?« sagte die Dame in fragendem Tone, und sowie sie sprach, erhellte sich ihr dunkles Gesicht durch ein Lächeln und wurde sanft und weiblich. »Wir gaben gestern Abend alle Hoffnung auf, Sie noch zu sehen, und gingen daher zur gewöhnlichen Zeit schlafen. Entschuldigen Sie unseren scheinbaren Mangel an Aufmerksamkeit und erlauben Sie mir, mich Ihnen als eine Ihrer künftigen Schülerinnen vorzustellen. Wollen wir einander die Hände geben? Früher oder später wird es doch vermuthlich dahin kommen – und warum da nicht früher?«

Diese seltsamen Worte des Willkommens wurden mit einer klaren, wohlklingenden, angenehmen Stimme gesprochen. Die dargebotene Hand – ziemlich groß, aber wunderschön geformt – wurde mir mit dem unbefangenen, ungekünstelten Selbstvertrauen einer vornehmen Dame gegeben, wir setzten uns so herzlich und bekannt an den Frühstückstisch, als ob wir einander seit Jahren gekannt hätten und auf Verabredung in Limmeridge House zusammengetroffen seien, um uns von alten Zeiten zu unterhalten.

»Ich hoffe, Sie kommen mit dem freundlichen Entschlusse zu uns, mit Ihrer Lage vorlieb zu nehmen,« fuhr die Dame fort. »Sie werden heute Morgen den Anfang damit machen müssen, indem Sie sich es am Frühstückstische an meiner Gesellschaft allein genügen sollen. Meine Schwester ist auf ihrem Zimmer und pflegt sich in jener wesentlich weiblichen Krankheit, einem leichten Kopfweh, und ihre alte Gouvernante, Mrs. Vesey, leistet ihr darin mit belebendem Thee barmherzigen Beistand. Mein Onkel, Mr. Fairlie, nimmt keine der Mahlzeiten in unserer Gesellschaft ein; er ist ein Invalide und hält seinen Junggesellenhofstaat in seinen eigenen Gemächern. Sonst ist außer mir Niemand im Hause. Es waren zwei junge Damen zum Besuch hier, doch sie verließen uns gestern in Verzweiflung, und das ist nicht zum Verwundern. Während der ganzen Dauer ihres Besuches boten wir ihnen (in Folge Mr. Fairlie’s schwachen Gesundheitszustandes) nicht die Annehmlichkeit eines männlichen Wesens, mit dem sie hätten coquettiren, tanzen und plaudern können, und die Folge davon war, daß wir Nichts thaten als streiten, besonders bei Tische. Wie kann man verlangen, daß vier Frauenzimmer alle Tage zusammen zu Mittag speisen, ohne zu streiten. Wir sind solche einfältige Wesen, daß wir einander nicht bei Tisch unterhalten können. Sie sehen, daß ich nicht viel von meinem Geschlechte halte, Mr. Hartright – was wollen Sie trinken, Thee oder Kaffee? – kein weibliches Wesen hält viel vom eigenen Geschlechte, obgleich wenige dies so offen gestehen, wie ich … Ach Gott! Sie sehen verlegen aus. Warum? Ueberlegen Sie, was Sie zum Frühstück essen wollen? oder sind Sie über meine unbekümmerte Art zu sprechen erstaunt? Im ersteren Falle rathe ich Ihnen als Freundin, sich nicht mit dem kalten Schinken abzugeben, der neben Ihnen steht, und zu warten, bis die Omelette kommt. Im zweiten will ich Ihnen eine Tasse Thee geben, um Ihr Gemüth zu beruhigen, und Alles zu thun, was eine Frau nur immer kann (was, beiläufig gesagt, sehr wenig ist), um den Mund zu halten.«

Sie reichte mir mit fröhlichem Lachen eine Tasse Thee. Ihr leichter Redefluß wie ihre lebhafte Vertraulichkeit gegen einen völlig Fremden waren von einer ungekünstelten Natürlichkeit und einem angeborenen unbefangenen Selbstvertrauen zu sich und ihrer Stellung begleitet, die ihr die Achtung des verwegensten Mannes von der Welt gesichert hätten. Ebenso unmöglich wie es war, förmlich und zurückhaltend in ihrer Gesellschaft zu sein, ebenso unmöglich wäre es gewesen, sich auch nur in Gedanken den kleinsten Schatten einer Freiheit herauszunehmen. Ich empfand dies instinctmäßig, schon während ich mich durch ihre Munterkeit angesteckt fühlte – indem ich mein Möglichstes that, ihr auf ihre eigene offene, lebhafte Manier zu antworten.

»Ja, ja,« sagte sie, als ich ihr mein verblüfftes Aussehen auf die einzig mögliche Art erklärt hatte; »ich begreife, Sie sind so vollkommen fremd im Hause, daß meine familiären Anspielungen auf seine würdigen Bewohner Sie verwirren. Ganz natürlich – ich hätte das früher bedenken sollen. Jedenfalls kann ich die Sache jetzt wieder gutmachen. Wie wär’s, finge ich mit nur selbst an, um desto schneller mit dem Theile des Gegenstandes fertig zu werden? Ich heiße Marianne Halcombe und bin so ungenau, wie Frauen es gewöhnlich sind, wenn ich Mr. Fairlie meinen Onkel, und Miß Fairlie meine Schwester nenne. Meine Mutter war zweimal verheiratet: das erste Mal mit Mr. Halcombe, meinem Vater, das zweite Mal mit Mr. Fairlie, dem Vater meiner Halbschwester. Außer darin, daß wir beide Waisen sind, gleichen wir einander so wenig wie möglich. Mein Vater war ein armer, und Miß Fairlie’s Vater ein reicher Mann. Ich besitze gar Nichts, und sie ist eine Erbin. Ich bin brünett und häßlich, und sie ist blond und hübsch. Jedermann findet mich mit vollkommenem Rechte barsch und sonderbar und sie mit noch größerem Rechte freundlich und anmuthig. Kurz, sie ist ein Engel, und ich – kosten Sie doch diese Marmelade, Mr. Hartright, und beendigen Sie selbst meinen Satz im Namen weiblicher Schicklichkeit. Was soll ich Ihnen über Mr. Fairlie erzählen? Ich weiß es wahrhaftig kaum. Er wird Sie ganz sicher nach dem Frühstücke zu sich bitten lassen, und da können Sie ihn selbst studiren. Unterdessen kann ich Sie unterrichten, daß er erstens des verstorbenen Mr. Fairlie jüngerer Bruder, zweitens unverheiratet und drittens Miß Fairlie’s Vormund ist. Ich will nicht ohne sie, und sie kann ohne mich nicht leben, und das ist der Grund, weshalb ich dazu komme, in Limmeridge House zu leben. Meine Schwester und ich, wir haben einander ernstlich lieb, was, wie Sie sagen werden, unter solchen Verhältnissen ganz unerklärlich ist, und ich stimme darin mit Ihnen überein – aber es ist einmal so. Sie müssen uns entweder Beiden gefallen, Mr. Hartright, oder Keiner; und, was noch härter ist, Sie sind gänzlich auf unsere Gesellschaft angewiesen, Mrs. Vesey ist eine vortreffliche Frau, die alle Cardinaltugenden besitzt und nicht mitgerechnet wird; und Mr. Fairlie ist zu krank, um für irgend Jemanden ein Gesellschafter zu sein. Ich weiß nicht, was ihm fehlt, auch die Aerzte können es nicht ergründen, und er selbst ist darüber im Unklaren. Wir sagen Alle, es kommt von den Nerven her, und Keiner von uns weiß, was er damit meint, wenn er das sagt. Ich rathe Ihnen indessen, seinen kleinen Sonderbarkeiten zu willfahren, wenn Sie ihn heute sehen. Bewundern Sie seine Sammlungen von Münzen, Stahlstichen und Aquarellen, und Sie werden sein Herz gewinnen. Und wirklich, wenn Sie sich mit einem ruhigen Landleben begnügen können, so sehe ich nicht ein, warum es Ihnen hier nicht ganz gut gefallen sollte, vom Frühstück bis zum Gabelfrühstück werden Mr. Fairlie’s Zeichnungen Sie beschäftigen. Nach dem Gabelfrühstück schultern wir, Miß Fairlie und ich, unsere Skizzenbücher und gehen aus, um unter Ihrer Aufsicht die Natur auf Papier dar- oder entstellen zu lernen; Zeichnen ist ihre Lieblingsgrille, nicht die meinige, bitte ich zu bemerken. Frauen können nicht zeichnen – sie sind zu flüchtig und ihre Augen zu unaufmerksam. Einerlei – meine Schwester findet Vergnügen daran, und folglich verschwende ich ihr zu Gefallen Farbe und verderbe Papier mit Todesverachtung, wie andere Frauen in England. Was die Abende betrifft, so denke ich, daß wir Ihnen über dieselben hinweg helfen können. Miß Fairlie spielt wunderschön Clavier. Was mich betrifft, so kann ich nicht einen Ton von einem anderen unterscheiden, aber ich kann es im Schach, im Triktrak, Ecarté und (mit den unvermeidlichen weiblichen Nachtheilen) selbst im Billard mit Ihnen aufnehmen. Wie gefällt Ihnen das Programm? Können Sie sich mit unserem ruhigen, regelmäßigen Leben begnügen? oder beabsichtigen Sie, unruhig zu sein und in der Alltagsatmosphäre von Limmeridge House heimlich nach Abwechslung und Abenteuern zu dürsten?«

Auf diese ihre anmuthig scherzende Weise hatte sie weiter geplaudert ohne andere Unterbrechungen von meiner Seite, als die unwichtigen Antworten, welche die Höflichkeit von mir verlangte. Doch die Veränderung ihres Ausdrucks in der letzten Frage oder vielmehr das zufällige Wort »Abenteuer«, so leicht es von ihren Lippen gefallen war, erinnerte mich plötzlich an mein Begegnen mit der Frau in Weiß und trieb mich, die Verbindung zu erfahren, welche der Fremden Anspielung auf Mrs. Fairlie nach einst zwischen der aus der Irrenanstalt Entwichenen ohne Namen und der ehemaligen Gebieterin von Limmeridge House stattgefunden haben konnte.

»Selbst wenn ich der unruhigste Mensch von der Welt wäre,« sagte ich, »würde ich auf einige Zeit nicht in Gefahr sein, nach Abenteuern zu dürsten. Gerade in der Nacht vor meiner Ankunft in diesem Hause hatte ich ein Abenteuer, und an dem Erstaunen und der Aufregung, in die ich darüber gerieth, werde ich, kann ich Sie versichern, Miß Halcombe, während der ganzen Dauer meines Aufenthaltes in Cumberland, wo nicht noch darüber hinaus, vollauf genug haben.«

»Was Sie sagen, Mr. Hartright! Darf ich es hören?«

»Sie haben Anspruch darauf, es zu hören. Die Hauptperson war für mich eine Fremde und mag vielleicht für Sie ebenfalls eine solche sein; so viel ist aber gewiß, daß sie den Namen der verstorbenen Mrs. Fairlie mit dem Ausdrucke der aufrichtigsten Dankbarkeit und Liebe nannte.«

»Den Namen meiner Mutter! Dies interessirt mich unbeschreiblich. Bitte, fahren Sie fort.«

Ich erzählte ihr sofort die Umstände, unter welchen ich der Frau in Weiß begegnet war, genau wie sie sich zugetragen hatten, und wiederholte, was sie über Mrs. Fairlie und Limmeridge House gesagt hatte, Wort für Wort.

Miß Halcombe’s klare, entschlossene Augen schauten von Anfang bis zu Ende meiner Erzählung begierig in die meinigen. Ihr Gesicht drückte lebhaftes Interesse und Erstaunen aus, aber weiter Nichts. Sie war offenbar ebenso weit, wie ich selbst, von einem Schlüssel zu dem Geheimnisse entfernt.

»Sind Sie jener Worte in Bezug auf meine Mutter ganz gewiß?« frug sie.

»Ganz gewiß,« erwiderte ich. »wer die Frau auch sein mag, sie ging einst in Limmeridge in die Schule und wurde von Mrs. Fairlie mit besonderer Güte behandelt, und in dankbarer Erinnerung an jene Güte fühlt sie für alle noch lebenden Mitglieder der Familie ein zärtliches Interesse. Sie wußte, daß Mrs. Fairlie und ihr Gemahl todt seien, und sie sprach von Miß Fairlie, als ob sich Beide in ihrer Kindheit gekannt hätten.«

»Sie sagten, glaube ich, daß sie angab, nicht an diesen Ort zu gehören?«

»Ja, sie sagte mir, sie komme aus Hampshire.«

»Und es gelang Ihnen nicht, ihren Namen zu erfahren?«

»Es war mir unmöglich.«

»Höchst sonderbar. Ich bin der Ansicht, Mr. Hartright, daß Sie ganz recht darin thaten, daß Sie dem armen Geschöpfe zu ihrer Freiheit verhalfen, denn sie scheint in Ihrer Gegenwart Nichts gethan zu haben, was bewiesen hätte, daß sie zu dem Genusse derselben nicht berechtigt sei. Aber ich wollte doch, Sie wären ein wenig entschlossener in Ihren Versuchen, ihren Namen zu erfahren, gewesen. Wir müssen dieses Geheimniß wirklich auf die eine oder andere Art aufklären. Ich denke indessen, sie erwähnen die Sache lieber noch nicht gegenüber Mr. Fairlie oder meiner Schwester. Ich bin fest überzeugt, daß Beide ebenso wenig wie ich wissen, wer die Frau ist und in welcher Art ihre frühere Geschichte Bezug zu unserer Familie haben könnte. Beide aber sind auch freilich auf ganz verschiedene Weise nervenschwach und leicht erregbar, und Sie würden sie nur unnöthigerweise beunruhigen. Was mich selbst betrifft, so brenne ich vor Neugierde und werde von diesem Augenblicke an meine ganze Energie auf die Entdeckung der Sache richten.

Als meine Mutter bald nach ihrer zweiten Heirat hierher kam, errichtete sie allerdings die Dorfschule, gerade so wie sie noch jetzt besteht. Aber die alten Lehrer sind alle todt oder anderswohin gegangen, so daß von der Seite her keine Aufklärung zu erwarten ist. Die einzige andere Alternative, die mir einfällt –«

Hier wurden wir durch das Eintreten des Dieners unterbrochen, der mich benachrichtigte, daß Mr. Fairlie sich freuen werde, mich bei sich zu sehen, sobald ich mit dem Frühstück zu Ende sei.

»Warten Sie draußen,« sagte Miß Halcombe, indem sie auf ihre schnelle, lebhafte Weise statt meiner antwortete, »Mr. Hartright wird gleich hinauskommen. Was ich sagen wollte,« fuhr sie fort, indem sie sich zu mir wandte, »die einzige Alternative wäre, daß meine Schwester und ich eine große Sammlung von meiner Mutter Briefen besitzen, die sie an ihren und meinen Vater geschrieben hatte. In Ermangelung aller anderen Mittel, uns Aufklärung zu verschaffen, will ich den Morgen dazu verwenden, meiner Mutter Correspondenz mit Mr. Fairlie durchzusehen. Er liebte London und war sehr oft von seinem Landsitze abwesend, und sie war gewohnt, ihm bei solchen Gelegenheiten Berichte über Alles zu schreiben, was sich in Limmeridge zutrug. Ihre Briefe sind voll von ihrer Schule, für die sie ein großes Interesse fühlte, und ich denke, es ist mehr als wahrscheinlich, daß ich etwas entdeckt haben werde, sobald wir einander wiedersehen. Das Gabelfrühstück ist um zwei Uhr, Mr. Hartright. Ich werde dann das Vergnügen haben, Sie meiner Schwester vorzustellen, und den Nachmittag wollen wir dann dazu verwenden, in der Nachbarschaft spazieren zu fahren und Ihnen alle unsere Lieblingsaussichten zu zeigen. Also auf Wiedersehen um zwei Uhr.«

Sie nickte mir mit der lebhaften Grazie und der bezaubernden vornehmen Vertraulichkeit zu, die Alles, was sie that und sagte, charakterisirten, und verschwand durch eine Thür am unteren Ende des Zimmers. Sobald sie mich verlassen, ging ich in den Vorplatz hinaus und ließ mich von dem Diener zum ersten Male zu Mr. Fairlie führen.


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