Die Frau in Weiß

Miß Halcombes Aussage

Aus ihrem Tagebuche1

– – – – – – – – – – –

Limmeridge House, den 7. November

Heute Morgen hat Mr. Gilmore uns verlassen. Seine Unterredung mit Laura hatte ihn offenbar mehr betrübt und erstaunt, als ihm zu bekennen lieb war. Ich fürchtete nach seinem Aussehen und Benehmen beim Abschiede, daß sie ihm unachtsamerweise das wahre Geheimniß ihrer Niedergeschlagenheit und meiner Besorgniß für sie verrathen habe. Dieser Zweifel wuchs in dem Grade in mir, daß ich es ausschlug, mit Sir Percival auszureiten, und statt dessen zu Laura auf ihr Zimmer ging.

Nachdem ich entdeckt, wie wenig ich die Stärke von Laura’s unglücklicher Neigung gekannt hatte, war ich in dieser schwierigen Sache sehr mißtrauisch gegen mich selbst geworden. Ich hätte wissen sollen, daß das Zartgefühl, Ehrgefühl und die Selbstverleugnung, durch welche mir der arme Hartright so werth wurde und die mich ihn so aufrichtig achten und bewundern ließen, gerade die Eigenschaften waren, die den unwiderstehlichsten Eindruck auf Laura’s fühlendes Gemüth und edle natürliche Großmuth machen mußten. Und doch ahnte ich nicht, daß dieses neue Gefühl so tief in ihrem Herzen Wurzel geschlagen habe, bis sie von selbst ihr Herz gegen mich öffnete. Ich glaubte erst, daß Zeit und Sorge es verwischen werde. Jetzt aber fürchte ich, daß es in ihr leben und sie auf immer verändern wird. Die Entdeckung, daß ich einen solchen Fehler in meinem Urtheile gemacht, macht mich in allem Andern zaghaft. Ich bin angesichts der klarsten Beweise zaghaft in Bezug auf Sir Percival. Ich bin sogar zaghaft, mit Laura zu sprechen. Diesen Morgen noch war ich, als ich schon die Hand auf der Thürklinke hatte, zweifelhaft, ob ich die Fragen, die ich an sie zu richten gekommen war, thun solle oder nicht.

Als ich in ihr Zimmer trat, ging sie in großer Ungeduld auf und ab. Sie sah erhitzt und aufgeregt aus und kam mir sogleich entgegen und sprach, ehe ich noch die Lippen öffnen konnte.

»Ich habe gewünscht, daß Du kämest,« sagte sie. »Komm, und setze Dich zu mir aufs Sopha. Marianne! ich kann dies nicht länger ertragen – ich muß und will es enden.«

Es war zu viel Farbe in ihren Wangen, zu viel Energie in ihrem Benehmen, zu viel Festigkeit in ihrer Stimme. Das kleine Heft mit Hartright’s Zeichnungen, das unglückselige Heft, über dem sie träumt, wenn sie allein ist – war in ihrer Hand. Ich nahm es sanft, aber fest von ihr und legte es auf einen Seitentisch, wo sie es nicht sah.

»Sage mir ruhig, was Du zu thun wünschest, mein Herz,« sagte ich. »Hat Mr. Gilmore Dir Rath ertheilt?«

Sie schüttelte das Haupt. »Nein, nicht über das, woran ich jetzt denke. Er war sehr freundlich und gut gegen mich, Marianne – und ich schäme mich, sagen zu müssen, daß ich ihn durch Thränen betrübte. Ich bin so hülflos; ich kann mich nicht beherrschen. Um meiner selbst willen und um unser Aller willen, muß ich Muth genug haben, es zu enden.«

»Meinst Du, Muth genug, um Deine Freilassung zu fordern?« fragte ich.

»Nein,« sagte sie einfach, »Muth, Liebe, um die Wahrheit zu sagen.«

Sie schlang ihre Arme um meinen Nacken und legte ihr Haupt ruhig auf meine Brust. An der gegenüberliegenden Wand hing das Miniaturgemälde ihres Vaters. Ich beugte mich über sie herab und sah, daß sie es anschaute, während ihr Kopf an meiner Brust ruhte.

»Ich kann niemals meine Freilassung fordern,« fuhr sie fort. »Wie es auch immer enden mag, für mich muß es traurig enden. Alles, was ich thun kann, Marianne, ist, mein Elend nicht noch durch das Bewußtsein, mein Versprechen gebrochen und meines sterbenden Vaters letzte Worte vergessen zu haben, zu vergrößern.«

»Was beabsichtigst Du da zu thun?« fragte ich.

»Sir Percival mit meinen eigenen Lippen von der Wahrheit zu unterrichten,« entgegnete sie, »und ihn mich freigeben lassen, wenn er will, nicht, weil ich ihn darum bitte, sondern weil er Alles weiß.«

»Was willst Du mit ›Alles‹ sagen, Laura? Sir Percival wird genug wissen (das hat er mir selbst gesagt), wenn er weiß, daß die Verbindung gegen Deine Wünsche ist.«

»Kann ich ihm das sagen, wenn mein Vater sie mit meiner Zustimmung einging? Ich hätte mein Versprechen gehalten, nicht sehr froh, wie ich fürchte, aber doch zufrieden« – sie schwieg, wandte ihr Gesicht mir zu und legte ihre Wange wieder fest an die meinige, »ich hätte mein Versprechen gehalten, Marianne, wenn in meinem Herzen nicht eine andere Liebe aufgewachsen wäre, die nicht da war, als ich versprach, Sir Percival zu heirathen.«

»Laura! Du wirst Dich doch nicht so erniedrigen, ihm ein Bekenntniß zu machen?«

»Ich würde mich in der That erniedrigen, wenn ich meine Freiheit von ihm erhielte, indem ich ihm das vorenthalte, was er ein Recht zu wissen hat.«

»Er hat nicht den Schatten eines Rechtes darauf, es zu wissen!«

»Falsch, Marianne, falsch! Ich sollte Niemanden täuschen – am allerwenigsten aber den Mann, dem mich mein Vater, dem ich selbst mich gab.« Sie küßte mich. »Meine herzige Schwester,« sagte sie leise, »Du hast mich so viel zu lieb, bist so viel zu stolz für mich, daß Du in meinem Falle vergissest, was Du in dem Deinigen wohl bedenken würdest. Lieber soll Sir Percival meine Beweggründe bezweifeln und mein Betragen mißdeuten, wenn er will, als daß ich erst in Gedanken falsch gegen ihn wäre und dann kleinlich genug, meinen eigenen Interessen zu dienen, indem ich meine Falschheit versteckte.«

Ich hielt sie voll Erstaunen von mir ab. Zum ersten Male in unserm Leben hatten wir die Rollen gewechselt; alle Entschlossenheit war auf ihrer Seite, alle Zaghaftigkeit auf der meinigen. Ich schaute in das blasse, ruhige, ergebene junge Gesicht; ich sah das reine, unschuldige Herz in den zärtlichen Augen, die in die meinigen blickten – und die armseligen, weltlichen Warnungen und Einwürfe, die zu meinen Lippen stiegen, schwanden und erstarben in ihrer eigenen Nichtigkeit. Ich senkte schweigend den Kopf. An ihrer Stelle wäre der verächtliche, kleinliche Stolz, der so viele Frauen falsch macht, mein Stolz gewesen, und hätte auch mich falsch gemacht.

»Sei nicht böse mit mir, Marianne,« sagte sie, mein Schweigen mißdeutend.

Ich konnte nur antworten, indem ich sie fester an mich drückte. Ich fürchtete zu weinen, wenn ich spräche. Meine Thränen fließen nicht so leicht, wie sie wohl sollten, sie kommen fast wie Männerthränen, mit einem Schluchzen, das mir die Brust zu zerreißen scheint und Alle, die um mich sind, erschreckt.

»Ich habe schon seit mehreren Tagen daran gedacht, Liebe,« fuhr sie fort, während sie mein Haar mit jener kindischen Unruhe um ihre Finger wand, welche die gute Mrs. Vesey noch immer so geduldige und so vergebene Versuche machte, ihr abzugewöhnen – »ich habe sehr ernstlich daran gedacht, und ich kann mich auf meinen Muth verlassen, wenn mein Gewissen mir sagt, daß ich recht thue. Laß mich morgen zu ihm sprechen, in Deiner Gegenwart, Marianne. Ich will Nichts sagen, das nicht recht wäre, Nichts, dessen Du oder ich uns zu schämen brauchten – aber, o, es wird mir das Herz so sehr erleichtern, dieser erbärmlichen Verheimlichung ein Ende zu machen! Laß mich nur wissen und fühlen, daß ich keinen Betrug zu verantworten habe; und dann, wenn er gehört, was ich zu sagen habe,  laß ihn in Bezug auf mich thun, was er will.« Sie seufzte und legte ihren Kopf wieder an seine alte Stelle an meiner Brust. In meinem Herzen erhoben sich trübe Ahnungen über das Ende von dem Allem; aber, da ich mir noch immer mißtraute, sagte ich ihr, ich wolle thun, was sie wünsche. Sie dankte mir, und wir sprachen dann allmälig von andern Dingen.

Sie kam heute zu Tische hinunter und war unbefangener und mehr dieselbe gegen Sir Percival, als ich sie noch gesehen habe. Nach Tische setzte sie sich ans Clavier, wählte aber von der neuen künstlichen, unmelodischen, brillanten Musik. Die lieblichen alten Melodien, die der arme Hartright so gern hörte, hat sie, seitdem er fort ist, noch nicht wieder gespielt. Das Heft liegt nicht mehr auf dem Notentischchen; sie selbst trug es fort, damit Niemand es finde und sie etwa bitte, daraus zu spielen.

Ich hatte keine Gelegenheit zu erfahren, ob ihre mir morgens mitgetheilte Absicht unverändert sei, bis sie Sir Percival gute Nacht wünschte; da aber gab sie es ausdrücklich« kund. Sie sagte sehr gefaßt, daß sie nach dem Frühstück mit ihm zu sprechen wünsche, und er sie dann mit mir in ihrem Wohnzimmer finden werde. Er wechselte die Farbe bei diesen Worten, und als ich an die Reihe kam, ihm gute Nacht zu wünschen, fühlte ich seine Hand leicht erzittern. Der folgende Morgen sollte über seine Zukunft entscheiden, und dies war ihm offenbar nicht unbekannt.

Ich ging, wie gewöhnlich, durch die Thür, welche unsere beiden Schlafzimmer trennte, hinein, um Laura, ehe sie einschliefe, gute Nacht zu wünschen. Als ich mich auf sie herabbeugte, um sie zu küssen, sah ich Hartright’s kleines Zeichenbuch halb unter dem Kissen verborgen, gerade an der Stelle, wo sie als Kind ihr liebstes Spielzeug zu verstecken pflegte. Ich konnte es nicht übers Herz bringen. Etwas darüber zu sagen;·aber ich deutete auf das Heft und schüttelte den Kopf. Sie schlang beide Hände um meinen Nacken und zog mein Gesicht zu sich herab, bis unsere Lippen sich begegneten.

»Laß es diese Nacht noch da,« flüsterte sie; »morgen mag ein grausamer Tag sein und mich zwingen, ihm auf immer Lebewohl zu sagen.«

Den 8. November.

Das erste Ereigniß des Morgens war nicht von einer Beschaffenheit, mich froh zu stimmen; es kam ein Brief für mich von dem armen Walter Hartright. Es ist die Antwort auf den meinigen, in welchem ich ihm schrieb, auf welche Weise Sir Percival Glyde den Argwohn beseitigte, den Anna Catherick’s Brief auf ihn geworfen. Er schreibt kurz und bitter über Sir Percival’s Erklärungen, indem er blos sagt, daß er nicht das Recht hat, eine Meinung über Diejenigen abzugeben, welche höher stehen als er. Dies ist traurig Aber seine gelegentlichen Bemerkungen über sich selbst betrüben mich noch mehr. Er sagt, daß die Anstrengung, seine alten Gewohnheiten und Beschäftigungen wieder aufzunehmen, ihm täglich, anstatt leichter zu werden, schwerer wird; und bittet mich dringend, falls ich irgendwie Einfluß habe, denselben dazu zu verwenden, daß ich ihm eine Anstellung verschaffe, die es nothwendig für ihn mache, England zu verlassen und unter ganz neuen Verhältnissen und Leuten zu leben. Ich werde diese Bitte um so bereitwilliger erfüllen, als mich eine Stelle am Schlusse seines Briefes fast beunruhigt hat.

Nachdem er gesagt, daß er von Anna Catherick weder Etwas gehört noch gesehen hat, bricht er plötzlich ab und spielt auf die unerwartetste, geheimnißvollste Weise darauf an, daß, seit er nach London zurückgekehrt ist, fremde Männer ihn fortwährend verfolgen und ihm aufpassen. Er bekennt, daß er für diesen sonderbaren Verdacht keine Beweise beibringen kann indem er bestimmte Personen bezeichnet; aber er erklärt, daß der Verdacht selbst ihn Tag und Nacht begleitet. Dies hat mich erschreckt, weil es fast aussieht, als ob seine fixe Idee in Bezug auf Laura seine Geisteskräfte wanken machte. Ich will sogleich nach London an einige von den einflußreichen ehemaligen Bekannten meiner Mutter schreiben und ihre Aufmerksamkeit für sein Ersuchen in Anspruch nehmen. Abwesenheit und neue Beschäftigung kann zu dieser Krisis seines Lebens wirklich seine Rettung sein.

Zu meiner großen Erleichterung ließ Sir Percival sich beim Frühstück entschuldigen. Er hatte schon bei Zeiten eine Tasse Kaffee auf seinem Zimmer getrunken und war dort noch mit Briefen beschäftigt. Um elf Uhr, falls diese Stunde uns bequem sei, werde er die Ehre haben, Miß Fairlie und Miß Halcombe seine Aufwartung zu machen.

Meine Augen ruhten auf Laura’s Gesicht, während diese Botschaft abgegeben wurde. Ich hatte sie unbegreiflich ruhig und gefaßt gefunden, als ich früh in ihr Zimmer kam und während des ganzen Frühstücks blieb sie dieselbe. Selbst, als wir auf dem Sopha in ihrer Stube saßen und auf Sir Percival warteten, blieb ihre Selbstbeherrschung unerschüttert.

»Sorge Du nicht um mich, Marianne,« war Alles, was sie sagte; »ich mag mich wohl einem alten Freunde, wie Mr. Gilmore, oder einer lieben Schwester, wie Du, gegenüber vergessen, aber Sir Percival Glyde gegenüber soll dies nicht geschehen.«

Ich sah und hörte sie mit schweigendem Erstaunen an. Während der langen Jahre unseres vertrauten Umganges war diese duldende Kraft ihres Charakters unentdeckt geblieben – selbst mir unbekannt geblieben, bis die Liebe sie fand – und das Leiden sie zur Thätigkeit rief.

Als die Wanduhr auf dem Kaminsims Elf schlug, klopfte Sir Percival an die Thür und trat herein. Unterdrückte Besorgniß und Aufregung drückte sich in allen seinen Zügen aus. Der trockne, schneidende Husten, der ihn gewöhnlich belästigt, schien ihn mehr denn je zu quälen. Er nahm uns gegenüber am Tische Platz, und Laura blieb neben mir sitzen. Ich betrachtete Beide aufmerksam und sah, daß er von Beiden am bleichsten war.

Er sagte ein paar unwesentliche Worte, in dem sichtbaren Bestreben, seine gewohnte Unbefangenheit zu bewahren. Aber seine Stimme war unsicher und die unstäte Besorgniß in seinen Augen nicht zu verbergen. Er mußte dies selbst fühlen, denn er hielt mitten in einem Satze inne, und gab den Versuch, seine Verwirrung zu verbergen auf.

Es trat ein einziger Augenblick der Todtenstille ein, den Laura endete.

»Ich wünsche über einen Gegenstand mit Ihnen zu sprechen, Sir Percival, der für uns Beide von der größten Wichtigkeit ist. Meine Schwester ist anwesend, weil ihre Gegenwart mir hilft und Muth macht. Aber übrigens hat sie mir mit keinem Worte in dem, was ich Ihnen zu sagen habe, Rath ertheilt: ich spreche meine eignen Gedanken aus, nicht die ihrigen. Ich bin überzeugt, daß Sie die Güte haben werden, dies wohl zu verstehen, ehe ich fortfahre?«

Sir Percival verbeugte sich. Sie hatte soweit mit vollkommener äußerer Ruhe und Fassung gesprochen. Sie blickte ihn an und er sie. Sie schienen zu Anfang wenigstens entschlossen, einander genau zu verstehen.

»Ich höre von Marianne,« fuhr sie fort, »daß ich nur meine Freiheit von Ihnen fordern darf, um sie zu erlangen. Es war nachsichtig und großmüthig von Ihnen, Sir Percival, mir das sagen zu lassen. Es ist nicht mehr, als gerecht gegen Sie, Ihnen meine Dankbarkeit für das Anerbieten auszudrücken; und ich hoffe und glaube, daß es nicht mehr als gerecht gegen mich ist, zu sagen, daß ich dasselbe nicht annehme.«

Sein gespannt aufmerksames Gesicht nahm einen Ausdruck der Erleichterung an, und er schien freier zu athmen. Aber ich sah, wie er leise und unaufhörlich mit einem Fuße auf den Teppich klopfte, und ich fühlte, daß er im Geheimen noch immer von derselben Besorgniß erfüllt war.

»Ich habe nicht vergessen, daß Sie sich der Erlaubniß meines Vaters versicherten, ehe Sie mich mit Ihrem Antrage beehrten. Vielleicht haben auch Sie nicht vergessen, was ich sagte, indem ich meine Einwilligung gab? Ich wagte, Ihnen zu sagen, daß hauptsächlich meines Vaters Einfluß und Rath mich bestimmt hatten, Ihnen mein Versprechen zu geben. Ich ließ mich von meinem Vater leiten, weil ich in ihm immer den treuesten aller Rathgeber, den besten und zärtlichsten Beschützer und Freund gefunden hatte. Ich habe ihn verloren und kann nur noch sein Andenken lieben; aber mein Vertrauen zu dem lieben todten Freunde hat noch nie gewankt. Ich glaube noch in diesem Augenblicke so fest, wie je vorher, daß er wußte, was am besten für mich sei, und daß seine Hoffnungen und Wünsche auch die meinigen sein sollten.«

Ihre Stimme bebte zum ersten Male, Ihre unruhigen Finger stahlen sich in meinen Schooß und klammerten sich in eine meiner Hände. Es trat eine augenblickliche Pause ein und dann sprach Sir Percival.

»Darf ich fragen,« sagte er, ob ich mich jemals des Vertrauens unwürdig bewiesen, dessen Besitz ich mir bisher zur größten Ehre und zum größten Glücke angerechnet habe?«

»Ich habe in Ihrem Betragen nichts entdeckt, das ich tadeln könnte;« entgegnete sie. »Sie sind mir immer mit gleichem Zartgefühl und gleicher Nachsicht begegnet. Sie haben mein Vertrauen verdient, und, was bei mir von weit größerer Wichtigkeit ist, Sie haben meines Vaters Vertrauen, aus welchem das meinige entstand, verdient. Sie haben mir keine Ursache gegeben, selbst wenn ich einer solchen bedurfte, um meine Freilassung fordern zu dürfen. Was ich bis jetzt gesagt, habe ich in dem Wunsche gesprochen, meine ganze Verpflichtung Ihnen gegenüber anzuerkennen. Meine Achtung für diese Verpflichtung, für meines Vaters Andenken und für mein eignes Versprechen verbietet mir, meinerseits das Beispiel zu geben, von unserm jetzigen Verhältnisse zu einander zurückzutreten. Die Auflösung desselben muß einzig und allein Ihr Wunsch, Ihr Thun sein, Sir Percival – nicht das meinige.«

Sein Fuß hielt plötzlich mit dem unruhigen Klopfen inne, und er lehnte sich begierig über den Tisch hinüber.

»Mein Thun?« sagte er. »Welchen Grund könnte ich möglicherweise haben, um mich zurückzuziehen?«

Ich hörte ihren Athem schneller gehen und fühlte ihre Hand kalt werden. Ungeachtet dessen, was sie zu mir gesagt hatte, als wir allein waren, begann ich für sie zu fürchten. Aber ich hatte unrecht.

»Einen Grund, Sir Percival, den Ihnen zu sagen mir sehr schwer fällt,« entgegnete sie. »Es hat eine Veränderung in mir stattgefunden, eine Veränderung, die von hinreichender Bedeutung ist, um Sie sich selbst und mir gegenüber zu rechtfertigen, indem Sie das bestehende Verhältniß auflösen.«

Er erbleichte wieder bis zu den Lippen. Er erhob den Arm, welcher auf dem Tische lag, wandte sich auf seinem Sessel ein wenig um und stützte den Kopf auf die Hand, so daß wir nur sein Profil noch sehen konnten.

»Was für eine Veränderung?« fragte er.

Sie seufzte tief und beugte sich etwas zu mir herüber, so daß ihre Schulter an der meinigen ruhte. Ich fühlte, wie sie zitterte, und suchte sie zu schonen, indem ich selbst das Wort nähme. Sie verhinderte mich aber durch einen warnenden Druck der Hand und wandte sich dann wieder zu Sir Percival; doch diesmal ohne ihn anzusehen.

»Ich habe gehört,« sagte sie, »und ich glaube, daß die tiefste und wahrste Zuneigung diejenige ist, welche eine Frau für einen Mann hegen sollte. Als ich mich Ihnen versprach, hatte ich eine solche Zuneigung zu vergeben, wenn ich es konnte, und sie blieb Ihnen zu gewinnen, falls es Ihnen gelingen sollte. Wollen Sie mir vergeben und Nachsicht mit mir haben, Sir Percival, wenn ich Ihnen sage, daß dies nicht länger der Fall ist?«

Ihre Augen füllten sich und einige wenige Thränen rannen langsam über ihre Wangen, als sie schwieg und seiner Antwort harrte. Er sprach kein Wort. Zu Anfange ihrer Erwiderung hatte er die Hand, auf welche er den Kopf stützte, so gelegt, daß sie uns sein Gesicht verbarg. Ich sah Nichts, als den oberen Theil seiner Gestalt am Tische. Die Finger der Hand, welche seinen Kopf stützte, faßten tief in sein Haar, aber es war kein Zittern bemerkbar an ihnen. Es war da Nichts, durchaus gar Nichts, das uns das Geheimniß seiner Gedanken in diesem Augenblicke hätte verrathen können – in diesem Augenblicke, welcher die Krisis seines Lebens und des ihrigen bildete. Ich war entschlossen, ihn um Laura’s Willen zu einer Erklärung zu zwingen.

»Sir Percival!« rief ich mit Strenge, »haben Sie gar Nichts zu sagen, wenn meine Schwester so Viel gesagt hat? Mehr, meiner Ansicht nach,« fügte ich hinzu, indem meine unglückselige Heftigkeit sich wieder meiner bemeisterte, »als irgend ein Mann in Ihrer Lage das Recht hat, von ihr zu hören.«

Diese letzte unüberlegte Rede öffnete ihm einen Weg, auf dem er mir ausweichen konnte falls er es wünschte, und er zog augenblicklich Vortheil daraus.

»Verzeihen Sie, Miß Halcombe,« sagte er, noch immer sein Gesicht mit der Hand bedeckend – »verzeihen Sie mir, wenn ich Sie daran erinnere, daß ich ein solches Recht durchaus nicht beansprucht habe.«

Die paar einfachen Worte, die ihn auf den Gegenstand zurückgeführt hätten, von dem er abgewichen, waren gerade auf meiner Zunge, als Laura mich wieder am Sprechen verhinderte, indem sie selbst das Wort ergriff.

»Ich hoffe, daß ich mein peinliches Bekenntniß nicht vergebens gemacht habe,« sagte sie. »Ich hoffe, daß es mir Ihr volles Vertrauen für Das erworben, was ich noch zu sagen habe?«

»Ich bitte Sie, dessen versichert zu sein.«

Er sprach diese kurze Antwort mit Wärme, wobei er seine Hand auf den Tisch sinken ließ und sich uns wieder zuwandte. Welche äußere Veränderung vorher auch mit ihm vorgegangen sein mochte, jetzt war sie verschwunden. Sein Gesicht war begierig und erwartungsvoll– es drückte nichts Anderes, als die gespannteste Erwartung auf ihre nächsten Worte aus.

»Ich hoffe, Sie verstehen, daß ich nicht aus irgend einem selbstsüchtigen Beweggrunde gesprochen habe,« sagte sie; »falls Sie mich nach Dem, was Sie soeben gehört haben, verlassen, Sir Percival, so wird das nicht meine Vermählung mit irgend einem anderen Manne zur Folge haben. Sie gestatten mir dadurch nur, mein Lebelang unverheirathet zu bleiben. Meine Schuld gegen Sie hat ihren Anfang und ihr Ende in meinen Gedanken gefunden. Sie kann niemals weiter gehen. Es ist kein Wort« – sie zögerte, zweifelhaft über den Ausdruck, den sie gebrauchen sollte, in einer kurzen Verwirrung, die etwas unaussprechlich Trauriges und Schmerzliches hatte. »Es ist kein Wort von mir und Demjenigen, dessen ich jetzt zum ersten und letzten Male in Ihrer Gegenwart erwähne, über unsere gegenseitigen Gefühle gewechselt worden, noch wird dies je der Fall sein, es ist nicht wahrscheinlich, daß wir einander je im Leben wieder begegnen werden. Ich bitte Sie ernstlich, es mir zu ersparen, noch mehr darüber zu sagen, und mir auf mein Wort in dem zu glauben, was ich Ihnen gesagt habe. Es ist die Wahrheit, Sir Percival, die Wahrheit, zu der ich meinen versprochenen Gemahl berechtigt halte, welche Opfer meiner Gefühle dies auch bedingen möge. Ich baue auf seine Großmuth, die mir vergeben, und auf seine Ehre, die mein Geheimniß bewahren wird.«

»Das Vertrauen soll mir in beiden Beziehungen heilig sein,« sagte er.

Dann schwieg er und sah sie an, als ob er erwarte, mehr zu hören.

»Ich habe Alles gesagt, was ich zu sagen wünschte,« fügte sie ruhig hinzu, – »ich habe mehr denn genug gesagt, um Sie zu rechtfertigen, indem Sie von dem Verlöbnisse zurücktreten.«

»Sie haben mehr denn genug gesagt,« entgegnete er, »um es zum höchsten Ziele meiner Wünsche zu machen, dasselbe vollzogen zu sehen.« Mit diesen Worten erhob er sich von seinem Sitze und that ein paar Schritte nach der Stelle zu, an der sie saß.

Sie zuckte heftig zusammen, und ein schwacher Schrei des Erstaunens entfuhr ihren Lippen. Mit jedem Worte, das sie gesprochen, hatte sie unschuldigerweise ihre Reinheit und Wahrhaftigkeit einem Manne verrathen, der vollkommen den unschätzbaren Werth eines reinen, wahren Weibes verstand. Ihr edles Benehmen war der verborgene Feind all der Hoffnungen gewesen, welche sie darauf gebaut hatte. Ich hatte dies von Anfang an befürchtet. Ich wollte es verhindert haben, wenn sie mir nur die kleinste Gelegenheit dazu gelassen hätte. Ich wartete und lauerte selbst jetzt noch, da das Unglück geschehen war, auf ein Wort von Sir Percival, das mir die Gelegenheit liefern würde, ihm Unrecht zu geben.

»Sie haben es mir überlassen, Sie aufzugeben, Miß Fairlie,« fuhr er fort. »Ich bin nicht herzlos genug, um einem Weibe zu entsagen, in der ich soeben die Edelste ihres Geschlechtes erkannt habe.«

Er sprach mit solcher Wärme, solchem Gefühle, solch leidenschaftlicher Begeisterung und dennoch so vollkommenem Zartgefühle, daß sie aufblickte, leicht erröthete und ihn mit plötzlicher Lebhaftigkeit ansah.

»Nein!« sagte sie fest. »Die Beklagenswertheste ihres Geschlechtes, wenn sie sich selbst geben muß, wo sie nicht ihr Herz geben kann.«

»Ist es nicht möglich, daß sie es noch in Zukunft giebt,« fragte er, »wenn ihres Mannes ganzes Streben dahin geht, es zu verdienen?«

»Niemals!« entgegnete sie. »Wenn Sie darauf bestehen, unser Verlöbniß anzuerkennen, Sir Percival, so mag ich Ihr treues und ergebenes Weib werden – aber Ihr liebendes Weib – falls ich mein eigen Herz kenne – nie!«

Sie sah so unwiderstehlich schön aus, als sie diese muthigen Worte sprach, daß kein Mann von der Welt sein Herz hätte gegen sie stählen können. Ich versuchte mit aller Gewalt, zu fühlen, daß Sir Percival zu tadeln sei, und versuchte dies auszusprechen, aber mein Frauenherz bemitleidete ihn wider Willen.

»Ich nehme Ihr Vertrauen und Ihre Treue dankbar an,« sagte er. »Das Geringste, was Sie mir zu bieten haben, ist mehr für mich, als das Aeußerste, das ich von irgend einem Weibe der Welt erwarten dürfte.«

Ihre linke Hand hielt noch immer die meinige umschlossen, aber ihre Rechte hing achtlos an ihrer Seite herab. Er führte sie sanft an seine Lippen, berührte sie eher damit, als daß er sie küßte, verbeugte sich gegen mich und verließ dann rücksichtsvoll und bescheiden schweigend das Zimmer.

Sie rührte sich nicht, noch sagte sie ein Wort, nachdem er das Zimmer verlassen – sie saß neben mir, kalt und still, die Augen auf den Boden geheftet. Ich sah, daß es hoffnunglos und nutzlos sein werde, zu sprechen und schlang daher nur meinen Arm um sie, um sie fester an mich zu drücken. So saßen wir, wie es schien, eine lange traurige Weile, so lang und so traurig, daß ich unruhig um sie wurde und leise zu ihr sprach, in der Hoffnung, eine Veränderung dadurch in ihr zu bewirken.

Der Klang meiner Stimme schien sie zum Bewußtsein zurückzurufen. Sie zog sich plötzlich von mir zurück und stand auf.

»Ich muß mich drein ergeben, Marianne, so gut ich kann,« sagte sie. »Mein neues Leben hat seine schweren Pflichten, und eine derselben beginnt heute.«

Während sie sprach, trat sie an den kleinen Tisch am Fenster, auf dem ihre Zeichenmaterialien lagen, sammelte sie sorgsam und legte sie in eine Schublade ihres Schränkchens. Sie verschloß es und brachte mir den Schlüssel.

»Ich muß von Allem scheiden, das mich an ihn erinnert,« sagte sie. Verwahre den Schlüssel, wo Du willst, ich werde ihn nie wieder gebrauchen.«

Ehe ich noch ein Wort sagen konnte, hatte sie sich zu ihrem Bücherschranke gewandt und das Album herausgenommen, welches Walter Hartright’s Zeichnungen enthielt. Sie stand einen Augenblick und hielt das kleine Heft liebend in beiden Händen, dann erhob sie es und küßte es.

»O Laura! Laura!« sagte ich, nicht erzürnt, nicht vorwurfsvoll – nur mit Kummer in der Stimme und Kummer im Herzen.

»Es ist das letzte Mal, Marianne,« sagte sie mit flehendem Tone; »ich nehme ja auf immer Abschied davon.«

Sie legte das Buch auf den Tisch und nahm den Kamm heraus, der ihr Haar festhielt, welches dann in seiner unvergleichlichen Pracht über ihre Schultern und bis weit unter ihre Taille um sie her wallte. Sie trennte eine lange, dünne Locke von den übrigen, schnitt sie ab und befestigte sie sorgfältig auf dem ersten leeren Blatte des Albums. Dann schloß sie eilig das Heft und legte es in meine Hände.

»Du schreibst an ihn, und er an Dich,« sagte sie. »So lange ich lebe, sage ihm immer, wenn er nach mir fragt, daß ich wohl, und nie, daß ich unglücklich bin. Betrübe ihn nicht, Marianne – wenn Du mich lieb hast, betrübe ihn nicht. Wenn ich sterbe, so versprich mir, daß Du ihm dies kleine Buch mit seinen Zeichnungen und meinem Haare geben willst. Es kann nicht Unrecht sein, wenn ich gestorben bin, ihm zu sagen, daß ich es mit eigner Hand hineingethan. Und sage ihm, o Marianne, sage ihm dann für mich, was ich selbst ihm niemals sagen kann – sage, daß ich ihn liebte!«

Sie schlang ihren Arm um meinen Nacken und flüsterte mir diese letzten Worte mit einer leidenschaftlichen Wonne ins Ohr, die zu hören mir fast das Herz gebrochen hätte. All der lange Zwang, den sie sich auferlegt hatte, wich unter diesem ersten und letzten Ausbruche der Liebe. Sie riß sich mit krampfhafter Heftigkeit von mir los und warf sich in einem Anfalle von Weinen und Schluchzen, der ihren ganzen Körper erschütterte, auf’s Sopha.

Ich suchte vergebens; sie zu beruhigen und mit ihr zu reden – sie konnte weder sich fassen, noch mit sich reden lassen. Es war dies für uns Beide das traurige, plötzliche Ende dieses denkwürdigen Tages. Als der Anfall vorüber, war sie zu erschöpft, um zu sprechen. Gegen Nachmittag schlummerte sie ein und ich legte das Album fort, damit sie es nicht mehr sehen möge, wenn sie erwachte.

Mein Gesicht war ruhig, was immer mein Herz sein mochte, als sie die Augen wieder öffnete und mich anschaute. Wir sprachen nicht weiter von der betrübenden Unterredung von heute Morgen. Weder Sir Percival, noch Walter Hartright wurden den ganzen Tag über wieder von uns Beiden genannt.

Den 9. November.

Da ich sie heute Morgen etwas beruhigter und gefaßter fand, nahm ich den peinlichen Gegenstand von gestern in der Absicht wieder auf, sie zu bitten, mich deutlicher und entschiedener über diese beklagenswerthe Heirath mit Sir Percival und Mr. Fairlie sprechen zu lassen, als sie selbst dies mit dem Einen oder dem Andern thun konnte. Sie unterbrach mich sanft aber fest mitten in meinen Vorstellungen.

»Ich ließ den gestrigen Tag entscheiden,« sagte sie, »und er hat entschieden. Es ist zu spät, um wieder umzukehren.«

Sir Percival sprach diesen Nachmittag voll Gefühl und ohne Rückhalt mit mir über das, was sich in Laura’s Zimmer zugetragen. Er versicherte mich, daß das beispiellose Vertrauen, welches sie in ihn gesetzt, eine so entsprechende Ueberzeugung von ihrer Unschuld und Reinheit in seinem Herzen erweckt, daß er weder in ihrer Gegenwart, noch, nachdem er sie verlassen, auch nur einen Augenblick sich einer unwürdigen Eifersucht schuldig gemacht habe. So sehr er auch die unglückliche Neigung beklagen müsse, welche dem Fortschritte Einhalt gethan, den er anders vielleicht in ihrer Achtung hätte machen können, eben so fest sei er auch wieder überzeugt, daß dieselbe in der Vergangenheit uneingestanden geblieben, und unter allen Verhältnißwechseln, die möglicherweise zu erwarten ständen, auch für die Zukunft uneingestanden bleiben werde. Dies sei seine feste Ueberzeugung, und der größte Beweis, den er davon geben könne, liege in der Versicherung, welche er hiermit ausspreche, daß er weder in Bezug auf den Zeitpunkt des Entstehens dieser Neigung, noch in Bezug auf den Gegenstand derselben irgend wie Neugierde fühle. Das unbedingte Vertrauen, das er in Miß Fairlie setze, lasse ihn sich mit dem begnügen, was ihr gut dünkte, ihm mitzutheilen, und er sei vollkommen unschuldig an selbst dem heimlichsten Wunsche, mehr zu erfahren.

Er wartete, nachdem er dies gesagt, und sah mich an. Ich war mir meines ungerechten Vorurtheils und eines unwürdigen Verdachtes, daß er wohl gar darauf spekulire, daß ich aus eignem Antriebe gerade jene Fragen beantworten werde, über die er sich den Anschein so vollkommener Gleichgültigkeit gegeben, so bewußt – daß ich aller ferneren Erwähnung dieses Gegenstandes wie mit Verwirrung auswich. Zugleich aber war ich entschlossen, jede, auch die kleinste Gelegenheit zu einem Versuche zu benutzen, Laura’s Sache zu führen; und ich gestand ihm geradezu, daß ich bedauere, daß seine Großmuth ihn nicht noch einen Schritt weiter geführt und bewogen habe, ganz von dem Verlöbnisse zurückzutreten.

Aber auch hier entwaffnete er mich dadurch, daß er sich nicht zu vertheidigen suchte. Er bitte mich nur, den Unterschied zu bedenken, der darin liege, daß er Miß Fairlie gestatte, ihn aufzugeben, was eine Sache bloßer Unterwerfung sei, und darin, daß er sich zwinge, Miß Fairlie aufzugeben, wodurch man mit andern Worten, von ihm verlange, Selbstmord an seinen eignen Hoffnungen zu begehen. Ihr Betragen am gestrigen Tage habe die unveränderliche Liebe und Bewunderung, die er seit zwei langen Jahren für sie gehegt, so befestigt, daß ein thätiger Kampf von seiner Seite gegen diese Gefühle hinfort nicht mehr in seiner Macht sei. Ich möge ihn für schwach, selbstsüchtig und gefühllos gegen gerade dasjenige Weib halten, das er anbete, und er müsse meine Meinung, so gut es ihm möglich sei, ertragen; doch bitte er mich zu gleicher Zeit, zu erwägen, ob die Zukunft eines unverheiratheten Weibes, das unter einer unglücklichen Neigung hinsiechte, eine frohere Aussicht biete, als die einer Frau, deren Mann schon den Boden, den ihre Füße betreten, anbetete. In letzterem Falle sei noch Etwas von der Zeit zu hoffen, wie geringe diese Hoffnung auch sei – im ersteren, wie sie selbst gesagt, gab es gar keine mehr für sie.

Ich antwortete ihm, mehr, weil ich eine Frauenzunge habe, als weil ich irgend etwas Ueberzeugendes zu sagen hatte. Es war nur zu klar, daß Laura’s Verfahren von gestern ihm einen Vortheil offen gelassen, falls er ihn benutzen wollte, und daß er ihn in der That benutzte. Ich fühlte dies damals und fühle es noch in diesem Augenblicke, wo ich auf meinem Zimmer diese Zeilen schreibe. Die einzige Hoffnung, die mir noch bleibt, ist die, daß seine Beweggründe wirklich, wie er es betheuert, aus der unwiderstehlichen Stärke seiner Zuneigung zu Laura entspringen.

Ehe ich mein Tagebuch für heute Abend schließe, muß ich berichten, daß ich heute in des armen Hartright’s Interesse an zwei alte Bekannte meiner Mutter in London schrieb, Beide Männer in hoher Stellung und denen viel Einfluß zu Gebote steht. Wenn sie irgend Etwas für ihn thun können, so bin ich überzeugt, daß sie mir’s nicht verweigern werden. Laura ausgenommen, war ich nie so besorgt, um irgend Jemanden, als ich es jetzt um Walter bin. Alles, was sich zugetragen, seitdem er uns verlassen, hat meine große Achtung und Theilnahme für ihn nur noch vergrößert. Ich hoffe, daß ich recht thue, indem ich ihm Beschäftigung im Auslande zu verschaffen suche, ich hoffe ernstlich und von ganzem Herzen, daß es gut enden möge.

Den 10. November.

Sir Percival hatte eine Unterredung mit Mr. Fairlie, und ich wurde dazu geladen.

Ich fand Mr. Fairlie’s Gemüth außerordentlich erleichtert durch die Aussicht, daß das »Familienärgerniß« (wie er die Vermählung seiner Nichte zu benennen beliebt) endlich beigelegt werden soll. Bis dahin fühlte ich mich nicht berufen, ihm irgend Etwas von meiner Ansicht zu sagen; als er aber auf seine allerwiderwärtigste, schmachtende Manier zunächst uns vorschlug, jetzt auch, Sir Percival’s Wünschen gemäß, den Zeitpunkt der Heirath zu bestimmen, verschaffte ich mir den Genuß, Mr. Fairlie’s Nerven mit einem so kräftigen Proteste, daß man Laura nimmer drängen dürfe, zu bestürmen, wie ich ihn nur durch Worte ausdrücken konnte. Sir Percival versicherte mich augenblicklich, daß er die Richtigkeit meines Einwurfes fühle, und bat mich zu glauben, daß der Vorschlag nicht auf sein Ersuchen gemacht worden. Mr. Fairlie lehnte sich in seinen Sessel zurück, schloß seine Augen, erklärte, daß wir Beide der menschlichen Natur Ehre machten, und wiederholte seinen Vorschlag dann so trocken, als ob weder Sir Percival, noch ich ein Wort dagegen gesagt hätten. Die Sache endete damit, daß ich es platterdings ausschlug, der Sache gegen Laura zu erwähnen, falls sie nicht von selbst davon anfinge; und nach dieser Erklärung verließ ich sofort das Zimmer. Sir Percival sah ernstlich verlegen und betrübt aus. Mr. Fairlie streckte seine trägen Beine auf seinem Sammetschemel aus und sagte: »Diese liebe Marianne! wie sehr ich Dich um Dein derbes Nervensystem beneide: Bitte, schlage die Thür nicht zu!«

Als ich nach Laura’s Zimmer ging, hörte ich, daß sie nach mir gefragt, und Mrs. Vesey ihr gesagt hatte, ich sei bei Mr. Fairlie. Sie frug mich sogleich, was man von mir gewollt habe, und ich erzählte ihr Alles, was sich zugetragen, ohne den Versuch zu machen, ihr meinen Verdruß darüber zu verbergen. Ihre Antwort erstaunte und betrübte mich unaussprechlich; es war die allerletzte Entgegnung, die ich von ihr erwartet hätte.

»Mein Onkel hat recht,« sagte sie; »ich habe Dir und meiner ganzen Umgebung bereits Kummer und Sorge genug verursacht. Laß mich nicht noch mehr verursachen, Marianne – laß Sir Percival entscheiden.«

Ich machte ihr warme Gegenvorstellungen, aber sie ließ sich durch Nichts, das ich sagen konnte, erschüttern.

»Man hält mich an mein Versprechen,« sagte sie, »ich bin mit meinem alten Leben fertig. Der schlimme Tag ist nicht weniger sicher in Aussicht für mich, weil ich ihn aufschiebe. Nein, Marianne! Ich wiederhole es, mein Onkel hat Recht. Ich habe Euch Allen Betrübniß und Sorge genug verursacht, und ich will Euch nicht noch mehr Betrübniß und Sorge machen.«

Sie pflegte die Fügsamkeit selbst zu sein, und war jetzt so unbeugsam in ihrer Ergebung – ich möchte fast sagen in ihrer Verzweiflung. So innig ich sie liebe, hätte es mich doch weniger geschmerzt, wenn ich sie heftig bewegt gesehen; diese Kälte und Fühllosigkeit war ihrem natürlichen Charakter so entsetzlich zuwider.

Den 11. November.

Sir Percival that beim Frühstücken einige Fragen über Laura an mich, die mir nichts weiter übrig ließen, als ihm mitzutheilen, was sie gesagt hatte.

Während wir sprachen, kam sie selbst zum Frühstück herunter. Sie war in Sir Percival’s Gegenwart ebenso unnatürlich gefaßt, wie sie es in der meinigen gewesen. Nach dem Frühstück hatte er Gelegenheit, ein paar Worte allein in einer Fensternische mit ihr zu sprechen. Sie standen dort nicht länger als zwei oder drei Minuten zusammen, und als sie sich trennten, verließ Laura das Zimmer mit Mrs. Vesey, und Sir Percival kam zu mir. Er sagte, er habe sie inständig gebeten, ihm die Gunst zu erweisen, von ihrem Privilegium Gebrauch zu machen, indem sie den Zeitpunkt für ihre Vermählung nach eignem Gefallen bestimme. In Erwiderung habe sie blos ihre Erkenntlichkeit ausgesprochen und ihn ersucht, seine Wünsche Miß Halcombe mitzutheilen.

Ich bin außer mir. Bei dieser Gelegenheit, wie bei jeder andern hat Sir Percival, ungeachtet alles dessen, was ich sagen oder thun kann, seinen Zweck auf die ehrenvollste Weise erreicht. Seine Wünsche sind dieselben jetzt, die sie waren, als er ankam; und Laura bleibt, nachdem sie sich in das unvermeidliche Opfer der Heirath ergeben, so kalt, hoffnungslos und duldend wie vorher. Indem sie von den kleinen Beschäftigungen und Reliquien schied, die sie an Hartright erinnerten, scheint sie auch von aller Zärtlichkeit und Empfänglichkeit geschieden zu sein. Es ist erst drei Uhr Nachmittags, während ich diese Zeilen schreibe, und schon hat uns Sir Percival in der frohen Eile eines Bräutigams verlassen, um sein Haus in Hampshire zu dem Empfange seiner jungen Frau vorzubereiten. Wenn sich nicht irgend etwas ganz Außerordentliches ereignet, um es zu verhindern, so wird ihre Vermählung genau zu der Zeit stattfinden, wo er es wünschte – vor Ablauf des Jahres. Meine Finger brennen indem ich es schreibe!

Den 12. November.

Eine schlaflose Nacht, aus Unruhe um Laura. Gegen Morgen kam ich zu dem Entschlusse zu versuchen, ob nicht eine Veränderung der–Umgebung günstig auf sie wirken werde. Sie kann doch unmöglich in ihrem jetzigen Zustande erstarrter Unempfindlichkeit bleiben, wenn ich sie von Limmeridge hinwegnehme und mit den lieben Gesichtern alter Bekannten umgebe? Nach einiger Ueberlegung entschied ich mich, an die Arnold’s in Yorkshire zu schreiben. Sie sind einfache, liebevolle, gastfreundliche Leute; und sie hat sie seit ihrer Kindheit gekannt. Als ich den Brief in die Posttasche gesteckt, sagte ich ihr, was ich gethan habe. Es wäre mir eine Beruhigung gewesen, wenn sie den Muth gezeigt hätte, Einwendungen zu machen und sich zu widersetzen. Aber nein, sie sagte blos: »Mit Dir, Marianne, will ich gehen, wohin Du willst. Du wirst gewiß Recht haben. Ich denke wohl, daß die Abwechselung gut für mich sein wird.«

Den 13. November.

Ich habe an Mr. Gilmore geschrieben und ihn benachrichtigt, daß wirklich Aussicht darauf vorhanden, diese elende Heirath vor sich gehen zu sehen, und erwähnte zugleich meiner Absicht, zu versuchen, was eine kleine Abwechselung für Laura zu thun im Stande sei. Ich hatte nicht das Herz dazu, in die Einzelheiten einzugehen. Dazu ist es noch Zeit genug, wenn wir dem Ende des Jahres näher kommen.

Den 14. November.

Drei Briefe für mich. Der erste von den Arnold’s voller Freude über die Aussicht, Laura und mich bei sich zu sehen. Der zweite von einem der Herren, an die ich in Walter Hartright’s Interesse schrieb und der mich benachrichtigt, daß er das Glück gehabt, eine Gelegenheit zu finden, mein Anliegen zu erfüllen. Der dritte von Walter selbst; er dankt mir, der arme Junge, in den wärmsten Ausdrücken dafür, daß ich ihm Gelegenheit verschafft, seine Heimath, sein Vaterland und alle seine Lieben zu verlassen. Es scheint, daß eine Privatexpedition von Liverpool absegeln soll, um in den verfallenen Städten von Centralamerika Nachgrabungen zu veranstalten. Der Zeichner, der bereits angestellt war, um sie zu begleiten, hat im letzten Augenblicke den Muth verloren und sich zurückgezogen, und Walter soll an seiner Stelle eintreten. Er ist, von dem Zeitpunkte an, wo sie in Honduras landen, auf sechs Monate fest angestellt und dann, falls die Nachgrabungen erfolgreich und die Mittel ausreichend sind, noch auf ein Jahr. Sein Brief schließt mit dem Versprechen, mir eine Abschiedszeile zu schreiben, wenn Alle an Bord gegangen sind und der Lootse sie verläßtIch kann nur hoffen und beten, daß er und ich in dieser Sache gehandelt haben, wie es am besten war. Es scheint ein so ernster Schritt für ihn zu sein, daß der bloße Gedanke daran mich schon erschreckt. Und doch, wie kann ich erwarten oder wünschen, daß er, in seiner unglücklichen Lage, zu Hause bliebe?

Den 15. November.

Der Wagen ist vor der Thür. Laura und ich reisen heute zu den Arnold’s ab.

– – – – – – – – – – –

Polesdean Lodge in Yorkshire. Den 23. November.

Eine Woche unter diesen neuen Umgebungen und freundlichen Leuten hat ihr gut gethan, obgleich nicht in den Grade, wie ich es gehofft hatte. Ich habe beschlossen, unsern Besuch noch wenigstens um eine Woche auszudehnen. Es ist unnöthig, früher nach Limmeridge zurückzukehren, als bis eine entschiedene Nothwendigkeit für unsere Rückkehr eintritt.

Den 24. November.

Traurige Nachrichten mit der heutigen Post. Die Expedition nach Centralamerika segelte am Einundzwanzigsten ab. Wir sind von einem wahren Manne geschieden, haben einen treuen Freund verloren. Walter Hartright hat England verlassen.

Den 25. November.

Gestern traurige, heute schlimme Nachrichten. Sir Percival Glyde hat an Mr. Fairlie geschrieben, und Mr. Fairlie hat an Laura und mich geschrieben, um uns augenblicklich nach Limmeridge zurückzurufen.

Was kann dies bedeuten? Ist der Tag der Vermählung in unsrer Abwesenheit bestimmt worden?

Limmeridge House. Den 27. November.

Meine schlimmen Ahnungen sind eingetroffen. Die Heirath ist auf den dreiundzwanzigsten December festgesetzt·

Am Tage nach unserer Abreise nach Polesdean Lodge, erhielt Mr. Fairlie, wie es scheint, einen Brief von Sir Percival, worin dieser ihm mittheilte, daß die nothwendigen Verbesserungen und Veränderungen in seinem Hause in Hampshire in ihrer Ausführung weit längere Zeit in Anspruch nehmen würden, »als er erwartet habe.« Die gehörigen Ueberschläge sollten ihm in kürzester Frist zugestellt werden, und es werde seine Anordnungen mit den Arbeitern sehr unterstützen, wenn er genau von dem Zeitpunkte unterrichtet werden könnte, an welchem die Hochzeit stattfinden dürfe. Er werde dann im Stande sein, alle seine Zeitberechnungen zu machen und zugleich seinen Freunden, die er eingeladen, ihn im Winter zu besuchen, und die natürlich nicht kommen konnten, so lange das Haus in den Händen der Arbeiter sei, die nöthigen Entschuldigungen zu schreiben.

Auf diesen Brief hatte Mr. Fairlie geantwortet, indem er Sir Percival bat, selbst einen Tag für die Hochzeit vorzuschlagen, der dann Miß Fairlie’s Billigung überlassen werden könne, welche zu erhalten ihr Vormund sein Möglichstes zu thun versprach. Sir Percival antwortete mit umgehender Post und schlug (in Uebereinstimmung mit seinen schon zu Anfang ausgesprochenen Absichten und Wünschen) die letzte Woche im December vor – etwa den dreiundzwanzigsten oder vierundzwanzigsten, oder irgend einen andern Tag, den die Dame und ihr Vormund vorziehen möchten. Da die Dame nicht zur Hand war, um ihren eigenen Wunsch auszusprechen, hatte ihr Vormund in ihrer Abwesenheit den erstgenannten Tag gewählt – den dreiundzwanzigsten December – und uns in Folge dessen nach Limmeridge zurückberufen.

Nachdem Mr. Fairlie mir diese Einzelheiten gestern in einer Privatunterredung mitgetheilt, schlug er mir auf seine liebenswürdigste Manier vor, die nothwendigen Unterhandlungen schon heute einzuleiten. Da ich fühlte, daß aller Widerstand nutzlos sei, wenn ich nicht erst Laura’s Erlaubniß dazu hatte, so willigte ich ein, mit ihr zu sprechen, erklärte aber zugleich, daß ich mich unter keiner Bedingung verpflichte, ihre Einwilligung zu Sir Percival’s Wünschen zu verlangen. Mr. Fairlie machte mir seine Complimente über mein »vortreffliches Gewissen,« ungefähr wie er mir, falls wir uns auf einem Spaziergange befunden hätten, sein Compliment über meine »vortreffliche Gesundheit« gemacht haben würde, und schien so weit vollkommen befriedigt, daß er wieder eine Familienverantwortlichkeit von seinen Schultern auf die meinigen gewälzt hatte.

Heute Morgen sprach ich meinem Versprechen gemäß zu Laura. Die Fassung – ich möchte fast sagen, die Unempfindlichkeit – die sie mit solcher Entschlossenheit, seit Sir Percival uns verlassen, bewahrt hat, war dem Schlage einer solchen Nachricht nicht gewachsen. Sie erblaßte und zitterte heftig.

»Noch nicht so bald!« flehte sie. »O, Marianne, nicht so bald!«

Der geringste Wink von ihr genügte mir. Ich stand auf, um das Zimmer zu verlassen, und sofort ihre Sache bei Mr. Fairlie zu vertreten.

Gerade, als meine Hand auf der Thürklinke war, ergriff sie mein Kleid und hielt mich fest.

»Laß mich gehen,« sagte ich; »mir brennt die Zunge, Deinem Onkel zu sagen, daß er und Sir Percival nicht in Allem ihren Willen haben können.«

Sie seufzte bitterlich und hielt noch immer mein Kleid fest.

»Nein!« sagte sie mit matter Stimme. »Es ist zu spät, Marianne – zu spät!«

»Nicht eine Minute zu spät,« entgegnete ich. »Die Frage über den Zeitpunkt ist unsere Frage – und glaube mir, Laura, daß ich meinen vollen Frauenvortheil daraus zu ziehen beabsichtige.«

Während ich sprach, machte ich ihre Hand von meinem Kleide los, aber in demselben Augenblicke schlang sie beide Arme um meine Taille und hielt mich so noch wirksamer gefangen, denn zuvor.

»Es wird uns nur noch mehr Sorge und Verwirrung bereiten,« sagte sie. »Es wird Dich mit meinem Onkel veruneinigen, und Sir Percival wieder mit neuen Klagegründen zu uns bringen«

»Desto besser!« rief ich mit Heftigkeit aus. »Wer kümmert sich um seine Klagegründe? Mußt Du Dir das Herz brechen, um sein Gemüth zu beruhigen? Kein Mann unter der Sonne ist solcher Opfer von uns Frauen würdig. Die Männer! Sie sind die Feinde unserer Unschuld und unseres Friedens – sie schleppen uns fort von der Liebe unserer Eltern und der Freundschaft unserer Schwestern – sie fesseln uns an sich mit Leib und Seele, und ketten unsere hülflosen Leben an die ihrigen, wie sie zwei Hunde zusammenkoppeln. Und was giebt uns der Beste dafür wieder? Laß mich los, Laura – es macht mich wahnsinnig, daran zu denken!«

Thränen – erbärmliche, schwache Weiberthränen des Verdrusses und Zornes füllten meine Augen. Sie lächelte traurig und hielt ihr Taschentuch vor mein Gesicht, um für mich meine Schwäche zu verbergen – die Schwäche, von der sie wußte, daß ich sie mehr als jede andere verachte.

»O Marianne!« sagte sie, »Du weinst! Bedenke, was Du sagen würdest, wenn Du an meiner Stelle, und diese Thränen die meinigen wären. All Deine Liebe, Dein Muth und Deine Aufopferung können nicht verhindern, was ja früher oder später doch geschehen muß. Laß meinen Onkel seinen Willen haben. Laß uns keine Sorgen und Herzschmerzen mehr haben, die irgend ein Opfer von mir verhindern kann. Sage, daß Du bei mir leben willst, Marianne, wenn ich verheirathet bin – und sage weiter Nichts«

Aber ich sagte dennoch noch mehr. Ich drängte die verächtlichen Thränen zurück, die mir keine Erleichterung waren, und sie nur betrübten, und redete und bat dann, so ruhig wie es mir nur möglich war. Es nützte Nichts. Sie ließ mich zweimal mein Versprechen, bei ihr zu leben, wenn sie verheirathet sei, wiederholen, und that dann plötzlich eine Frage, die meinem Kummer und meiner Theilnahme für sie eine neue Richtung gab.

»Als wir in Polesdean waren,« sagte sie, »hattest Du einen Brief, Marianne –«

Ihre veränderte Stimme; das plötzlich veränderte Wesen, mit dem sie das Gesicht abwandte und an meiner Schulter verbarg; die Zögerung, welche sie schweigen ließ, bevor sie noch ihre Frage beendet – Alles dies sagte mir nur zu deutlich, wohin ihre halb ausgesprochene Frage deutete.

»Ich dachte, Laura, daß wir Beide nie wieder von ihm sprechen wollten,« sagte ich, doch ohne Vorwurf.

»Du hattest einen Brief von ihm?« wiederholte sie.

»Ja,« entgegnete ich; »wenn Du darauf bestehst, es zu wissen.«

»Beabsichtigst Du, ihm wieder zu schreiben?«

Ich zögerte. Ich hatte mich gefürchtet, ihr von seiner Abreise zu erzählen oder inwiefern meine Bemühungen, seinen neuen Hoffnungen und Plänen zu Hülfe zu kommen, mit derselben zu thun gehabt. Was konnte ich ihr antworten. Er war hingegangen, wohin ihm auf Monate, vielleicht auf Jahre kein Brief folgen konnte.

»Gesetzt ich beabsichtigte es, Laura, was dann?« sagte ich.

Ihre Wange brannte an meinem Nacken, und ihre Arme zitterten und schlossen sich fester um mich.

»Sage ihm Nichts vom Dreiundzwanzigsten,« flüsterte sie. »Versprich mirs, Marianne – bitte, versprich mir, daß Du selbst meines Namens nicht erwähnen willst, wenn Du das nächste Mal an ihn schreibst.«

Ich gab ihr das Versprechen. Ich weiß keine Worte, um auszudrücken, mit wie kummervollem Herzen ich es gab. Sie nahm augenblicklich ihren Arm von meiner Taille hinweg, ging ans Fenster und schaute, den Rücken mir zugewendet, hinaus. Nach einer Minute sprach sie wieder, doch ohne sich umzuwenden oder mich nur im Geringsten ihr Gesicht sehen zu lassen.

»Gehst Du zu meinem Onkel?« frug sie. »Willst Du ihm sagen, daß ich in jede Anordnung willige, die ihm gut dünkt? Fürchte nicht, mich zu verlassen, Marianne; mir wird besser werden, wenn ich eine kleine Weile allein bleibe.«

Ich ging hinaus. Hätte ich, als ich in den Gang trat, Mr. Fairlie und Sir Percival dadurch, daß ich den kleinen Finger erhob, an die äußersten Enden der Welt versetzen können, so hätte ich ihn erhoben, ohne mich auch nur eine Sekunde lang zu besinnen. Dies eine Mal begünstigte mich mein unglückliches Temperament. Ich wäre gänzlich zusammen gesunken und in einen heftigen Thränenstrom ausgebrochen, wären nicht meine Thränen alle von der Gluth meines Zornes verzehrt worden. So aber trat ich ungestüm in Mr. Fairlie’s Zimmer – rief ihm so barsch wie möglich zu, »Laura willigt in den Dreiundzwanzigsten,« und fuhr wieder hinaus, ohne auf Antwort zu warten.

Ich schlug die Thür heftig hinter mir zu und hoffe, daß ich Mr. Fairlie’s Nervensystem für den heutigen Tag gründlich erschüttert habe.

Den 28. November.

Heute Morgen habe ich Walter’s Abschiedsbrief noch einmal durchgelesen, da sich mir gestern der Zweifel aufdrängte, ob ich auch recht daran thue, Laura seine Abreise zu verheimlichen.

Wenn ich es mir recht überlege, denke ich noch immer, daß ich recht daran gethan. Seine Andeutungen über die Vorbereitungen, welche für diese Expedition nach dem Innern von Amerika gemacht wurden, weisen alle darauf hin, daß die Leiter derselben sie für gefahrvoll hielten. Wenn diese Entdeckung mich schon beunruhigt, wie würde dieselbe da auf sie wirken? Es ist schlimm genug, zu fühlen, daß seine Abreise uns des Freundes beraubt hat, dessen Ergebenheit wir in der Stunde der Noth, wenn diese Stunde kommen und uns hülflos finden sollte, vor allen Andern vertrauen konnten. Aber noch weit schlimmer ist es, zu wissen, daß er den Gefahren eines bösen Climas, eines wilden Landes und einer unruhigen Bevölkerung entgegengegangen ist. Es wäre sicherlich eine grausame Offenheit, Laura ohne die dringendste Nothwendigkeit hiervon zu unterrichten?

Ich bin fast in Zweifel, ob ich nicht eigentlich noch einen Schritt weiter thun und den Brief, damit er nicht etwa eines Tages in unrechte Hände geräth, verbrennen sollte. Nicht allein, daß derselbe in Ausdrücken von Laura spricht, die auf immer ein Geheimniß zwischen mir und dem Schreiber bleiben müssen, sondern er wiederholt auch jenen Verdacht – der so eigensinnig, unbegreiflich und beunruhigend scheint – daß er, seitdem er Limmeridge verlassen, heimlich beobachtet worden. Er behauptet, daß er die Gesichter zweier Männer, die ihm in den Straßen von London wiederholt nachgingen, in der Menge erblickte, welche der Einschiffung der Expedition in Liverpool zusah, und versichert mit Entschiedenheit, daß er in dem Augenblicke, wo er ins Boot stieg, Anna Catherick’s Namen hinter sich aussprechen hörte. Seine eigenen Worte lauten folgendermaßen: »Diese Ereignisse haben eine Bedeutung, sie müssen zu irgend einem Resultate führen. Das Geheimniß, das Anna Catherick betrifft, ist noch nicht aufgeklärt. Ich mag ihr vielleicht auf meinem Pfade nie wieder begegnen, sollten aber Sie ihr begegnen, Miß Halcombe, da machen Sie bessern Gebrauch von der Gelegenheit, als ich von der meinigen machte. Ich spreche nach fester Ueberzeugung, und ich flehe Sie an, sich dessen, was ich sage, zu erinnern.« Dies sind seine eigenen Worte. Er braucht nicht zu befürchten, daß ich sie vergessen werde – meine Erinnerung verweilt nur zu bereitwillig bei jedem Worte Hartright’s, das sich auf Anna Catherick bezieht. Aber es ist gefährlich, den Brief aufzubewahren. Der kleinste Zufall könnte ihn in fremde Hände liefern. Ich kann krank werden, – sterben; es wird besser sein, ihn sogleich zu verbrennen, und so eine Befürchtung weniger zu haben.

Es ist geschehen! Die Asche seines Abschiedsbriefes – des letzten, den er vielleicht je an mich schreiben mag – liegt in wenigen schwarzen Flocken auf dem Kaminherde. Ist dies das traurige Ende jener ganzen traurigen Geschichte? O nein, nicht das Ende – gewiß, gewiß nicht schon das Ende!

Den 29. November.

Die Vorbereitungen zur Heirath haben begonnen. Die Schneiderin hat ihre Aufträge bekommen. Laura ist völlig gleichgültig, völlig unbekümmert um Dinge, die sonst von allen andern das Interesse der Frauen in Anspruch nehmen. Sie hat das Alles mir und der Schneiderin überlassen. Wie anders wäre dies gewesen, falls der arme Walter der Baronet und der ihr vom Vater bestimmte Gemahl gewesen! Wie peinlich und eigen sie da gewesen wäre, und welch’ eine Aufgabe für die beste der Schneiderinnen, sie zufrieden zu stellen.

Den 30. November.

Wir hören täglich von Sir Percival. Die letzte Neuigkeit, die er uns mittheilt, ist die, daß es wohl vier bis sechs Monate dauern wird, ehe die Veränderungen in seinem Hause vollständig beendet werden können. Falls Maler, Tapezierer und Möbelhändler sowohl Glück als Pracht herstellen könnten, so würde ich mich für ihre Fortschritte in Laura’s zukünftiger Häuslichkeit interessiren. So aber ist die einzige Stelle in Sir Percival’s Briefe, welche mich nicht so gleichgültig wie vorher läßt, die, in welcher er von der beabsichtigten Hochzeitsreise spricht. Er schlägt vor, da Laura augenblicklich nicht kräftig ist und der Winter ungewöhnlich strenge zu werden droht, sie nach Rom zu nehmen und bis zu Anfange nächsten Frühlings in Italien zu bleiben. Sollte sie diesen Plan nicht billigen, so sei er ebenso bereit, die Saison in London zuzubringen, und da er selbst kein Haus dort besitze, irgend ein passendes, möblirtes Haus zu dem Ende zu miethen.

Indem ich mich und meine eigenen Gefühle in Bezug hierauf gänzlich unberücksichtigt lasse (was meine Pflicht, zu thun ist), zweifle ich meinerseits nicht an der Schicklichkeit des ersteren dieser Vorschläge. In beiden Fällen ist eine Trennung zwischen Laura und mir unvermeidlich. Wenn sie ins Ausland reisen, wird es eine längere Trennung werden, als wenn sie in London blieben – aber dagegen müssen wir wieder den Vortheil erwägen, der aus einem Aufenthalte in einem milden Clima für Laura’s Gesundheit erwachsen würde, und noch mehr als das berücksichtigen, wie sehr die Ueberraschungen und die Aufregung einer ersten Reise in dem interessantesten Lande der Welt zu ihrer Aufheiterung und Aussöhnung mit ihrem neuen Leben beitragen würde. Sie ist nicht in der Stimmung, dies in den conventionellen Vergnügungen und Aufregungen von London zu finden. Dieselben würden sie den Druck dieser beklagenswerthen Heirath nur noch schwerer fühlen lassen. Ich fürchte den Anfang ihres neuen Lebens mehr, als ich Worte habe, es auszudrücken – aber ich hege einige Hoffnung für sie, wenn sie reist; keine, wenn sie zu Hause bleibt.

Es ist seltsam, wenn ich auf das eben Geschriebene zurückblicke, zu sehen, daß ich von der Heirath und dem Abschiede von Laura schreibe, wie man von einer ausgemachten Sache spricht. Es sieht so kalt und gefühllos aus, der Zukunft so gefaßt entgegenzublicken. Aber was ist zu machen, jetzt, da die Zeit so schnell herankommt? Ehe noch ein Monat verstreicht, wird sie schon seine Laura sein, anstatt die meinige! Seine Laura! Ich bin ebenso wenig im Stande, mir die Idee zu verwirklichen, welche jene beiden Worte enthalten, und ebenso sehr davon überwältigt, als ob ich, anstatt von ihrer Heirath, von ihrem Tode schriebe.

Den 1. December.

Ein sehr, sehr trauriger Tag; ein Tag, den ich ausführlich zu beschreiben nicht das Herz habe. Nachdem ich gestern Abend schwach genug war, es zu verschieben, war ich heute Morgen genöthigt, ihr von Sir Percival’s Vorschlage in Bezug auf die Hochzeitsreise zu sagen.

In der vollen Ueberzeugung, daß ich sie begleiten werde, wohin sie auch gehen möge, war das arme Kind – denn in vielen Dingen ist sie immer nur noch ein Kind – beinah froh über die Aussicht, die Wunder von Florenz, Rom und Neapel zu sehen. Es brach mir fast das Herz, sie hierüber zu enttäuschen und sie angesichts der bittern Wahrheit zu bringen. Ich mußte ihr sagen, daß kein Mann während der ersten Zeit nach seiner Vermählung einen Nebenbuhler – selbst nicht einen weiblichen – in der Zuneigung seiner Frau duldet, was er auch später thun möge. Ich mußte sie warnen, daß meine Aussicht auf dauernden Aufenthalt unter ihrem Dache einzig und allein davon abhänge, daß ich nicht Sir Percival’s Eifersucht errege, indem ich mich beim Beginne ihrer Heirath als Empfängerin der tiefsten Geheimnisse seiner Frau zwischen sie drängte. Tropfenweise mußte ich die entweihende Bitterkeit der Weisheit dieser Welt in dieses reine Herz und unschuldige Gemüth gießen, während sich jedes höhere und bessere Gefühl in mir meiner verhaßten Aufgabe widersetzte. Jetzt ist es vorbei. Sie hat ihre bitteren, unvermeidlichen Lehren empfangen; die Täuschungen ihrer Mädchenzeit sind dahin, und es war meine Hand, die sie ihr rauben mußte. Aber lieber meine Hand, als die seinige, das ist mein einziger Trost.

So ist denn der erste Vorschlag angenommen: sie gehen nach Italien; und ich soll, mit Sir Percival’s Genehmigung, meine Vorkehrungen treffen, bei ihrer Rückkehr nach England bei ihnen zu wohnen. Mit andern Worten, ich soll zum ersten Male in meinem Leben um eine persönliche Vergünstigung bitten, und zwar von dem Manne sie mir erbitten, dem ich von allen Andern am ungernsten wirklich verpflichtet zu sein wünsche. Nun gut! Ich glaube, für Laura könnte ich sogar noch mehr thun.

Den 2. December.

Da ich zurückblicke, finde ich, daß ich immer in herabsetzenden Ausdrücken von Sir Percival spreche. Nach der jetzigen Wendung der Dinge muß und will ich dieses Vorurtheil gegen ihn abwerfen. Ich kann mir nicht denken, wie es sich zuerst bei mir eingeschlichen haben kann; denn in früheren Zeiten war es doch nicht da.

Ob es Laura’s Widerstreben, seine Frau zu werden, war, das es in mir hervorrief? oder habe ich Hartright’s sehr begreifliche Vorurtheile auf mich wirken lassen? Läßt jener Brief von Anna Catherick noch immer ein lauerndes Mißtrauen gegen Sir Percival in meinem Gemüthe zurück, ungeachtet seiner Erklärung und ungeachtet des Beweises, den ich von der Wahrheit derselben in Händen habe? Ich kann mir meine eigenen Gefühle nicht erklären: aber das Eine, was mir ganz klar, ist, daß es meine Pflicht, jetzt doppelt meine Pflicht ist, Sir Percival nicht durch unbegründeten Argwohn Unrecht zu thun. Wenn es mir zur Gewohnheit geworden, immer noch auf ungünstige Weise von ihm zu schreiben, so muß und will ich es mir wieder abgewöhnen, und wenn ich deshalb dieses Tagebuch schließen müßte, bis die Heirath vorüber ist! Ich bin ernstlich unzufrieden mit mir – ich will heute nicht weiter schreiben.

– – – – – – – – – – –

Den 16. December.

Es sind volle vierzehn Tage vergangen, ohne daß ich diese Blätter geöffnet habe. Ich habe mein Tagebuch lange genug unberührt gelassen, um, wie ich hoffe, mit besseren, vorurtheilsfreieren Gesinnungen in Bezug auf Sir Percival zu ihm zurückzukehren.

Von den beiden letzverflossenen Wochen habe ich nicht viel zu berichten. Die Kleider sind fast alle fertig und die neuen Reisekoffer bereits aus London angekommen. Meine arme, liebe Laura verläßt mich den ganzen Tag kaum eine Minute; und gestern Abend, als wir Beide nicht schlafen konnten, kam sie zu mir in mein Bett, um mit mir zu plaudern. »Ich werde Dich bald verlieren, Marianne,« sagte sie; »ich muß Dich genießen, so lange ich Dich noch haben kann.«

Die Heirath wird in der Kirche zu Limmeridge stattfinden, und es ist, Gott sei Dank, Niemand aus der Nachbarschaft zu der Feierlichkeit eingeladen. Unser einziger Gast wird unser alter Freund Mr. Arnold sein, der von Polesdean kommen wird, um Vaterstelle bei der Braut zu vertreten, da ihr Onkel viel zu zarter Gesundheit ist, um sich in so unbarmherzigem Wetter, wie wir jetzt haben, hinauszuwagen. Wäre ich nicht fest entschlossen, von diesem Tage an nur die frohe Seite unserer Aussichten zu sehen, so würde mich die traurige Abwesenheit jedes männlichen Verwandten in Laura’s wichtigster Lebensstunde sehr verstimmt und argwöhnisch gegen die Zukunft machen. Aber ich bin mit aller Verstimmtheit und allem Argwohn fertig – das heißt in soweit ich weder über die eine, noch den andern ferner in diesen Tagen schreiben werde.

Sir Percival wird morgen erwartet. Er erbot sich, falls wir ihn nach der strengsten Etiquette zu behandeln wünschten, an unsern Geistlichen zu schreiben und ihn während seines kurzen Aufenthaltes in Limmeridge vor der Heirath um die Gastfreundschaft des Pfarrhauses zu bitten. Unter den Umständen hielten weder Mr. Fairlie, noch ich es für nöthig, uns mit kleinlichen Formen und Ceremonien zu befassen. In unserm wilden Marschlande und in diesem großen, einsamen Hause dürfen wir wohl beanspruchen, den alltäglichen Hergebrachtheiten, welche die Leute anderswo binden, enthoben zu sein. Ich schrieb an Sir Percival, um ihm für sein höfliches Erbieten zu danken und ihn zu bitten, seine alten Zimmer wie gewöhnlich in Limmeridge House zu beziehen.

Den 17. December.

Er langte heute an und sah, wie mir’s schien, etwas abgemagert und sorgenvoll aus, sprach und lachte indessen wie ein Mann in bester Laune. Er brachte einige wirklich schöne Kleinodien als Geschenke mit, welche Laura mit Freundlichkeit und wenigstens äußerlicher Fassung entgegennahm. Das einzige Anzeichen von dem Kampfe, den es sie kosten muß, in einer so schweren Zeit wenigstens, den Schein der Fassung zu bewahren, entdeckte ich in ihrem plötzlichen Widerwillen, allein gelassen zu werden. Anstatt sich wie sonst in ihr Zimmer zurückzuziehen, scheint sie nur mit Zagen hineinzugehen. Als ich heute nach dem Gabelfrühstück hinauf ging, um mich zu einem Spaziergange zu rüsten, erbot sie sich, mich zu begleiten. Und vor Tische wieder öffnete sie die Thür, die unsere Zimmer trennt, damit wir plaudern könnten, während wir Toilette machten.

»Laß mich fortwährend Etwas thun,« sagte sie, »laß mich immer in Gesellschaft sein. Laß mir keine Gelegenheit zum Denken, das ist Alles, warum ich Dich bitte, Marianne – laß mir keine Gelegenheit zum Denken.«

Diese traurige Veränderung in ihr machte sie nur um so anziehender für Sir Percival. Er beutet sie, wie ich sehen kann, zu seinem Vortheile aus. Es liegt eine fieberhafte Röthe auf ihren Wangen, ein fieberhafter Glanz in ihren Augen, die er als eine Rückkehr ihrer Schönheit und ihres Frohsinns willkommen heißt. Sie sprach heute bei Tische mit einer so falschen, so unpassenden Lustigkeit und Sorglosigkeit, daß ich mich heimlich sehnte, sie zum Schweigen zu bewegen oder fortzuführen. Sir Percival schien unbeschreiblich erfreut und überrascht darüber. Die Sorge, die ich bei seiner Ankunft auf seinem Gesichte bemerkt, verschwand gänzlich aus demselben, und er erschien selbst meinen Augen um wenigstens zehn Jahre jünger, als er wirklich ist.

Es ist kein Zweifel – obgleich ein sonderbarer Eigensinn mich verhindert, es zu sehen – es ist kein Zweifel, daß Laura’s künftiger Gemahl ein sehr schöner Mann ist. Erstens liegt ein großer Vortheil in regelmäßigen Zügen – und er hat sie. Glänzende braune Augen sind bei Männern sowohl, wie bei Frauen sehr anziehend, und auch die hat er. Selbst Kahlheit, wenn sie von der Stirn ausgeht (wie es bei ihm der Fall) ist bei einem Manne eher kleidsam, als nicht, denn sie erhöht die Stirn und den Ausdruck der Intelligenz im Gesichte. Anmuthige, unbefangene Bewegungen, feines Wesen, fließende Conversation – alles unstreitig Vorzüge, und er besitzt sie alle. Mr. Gilmore, in seiner Unkenntniß von Laura’s Geheimnissen, ist gewiß nicht zu tadeln, daß er sich über ihre Reue über dieses Verlöbniß verwunderte. Jeder Andere an seiner Stelle hätte, unseres guten alten Freundes Ansicht getheilt. Falls man mich in diesem Augenblicke früge, welche Fehler ich an Sir Percival entdeckt habe, so könnte ich nur zwei andeuten. Der eine: seine fortwährende Unruhe und Erregbarkeit, welche ganz begreiflicherweise aus seinem ungewöhnlich energischen Charakter entspringen mag. Der andere: seine kurze, scharfe, verächtliche Manier, wenn er mit Dienstboten spricht, was wahrscheinlich eine bloße Angewohnheit ist. Nein, ich kann’s nicht bestreiten, und ich will’s nicht bestreiten: Sir Percival ist ein sehr schöner und ein sehr angenehmer Mann. So! jetzt habe ich es endlich geschrieben,und freue mich, daß ich fertig damit bin

Den 18. December.

Da ich mich heute Morgen traurig und niedergeschlagen fühlte, ließ ich Laura bei Mrs. Vesey, um einen meiner schnellen Mittagsspaziergänge zu machen, die ich seit einiger Zeit zu oft ausgesetzt hatte. Ich schlug den trocknen, offenen Weg über die Haide, der nach Todd’s Ecke führt, ein. Nachdem ich ungefähr eine halbe Stunde gegangen, war ich unaussprechlich erstaunt, Sir Percival mir aus der Richtung des Gehöftes entgegenkommen zu sehen. Er ging sehr schnell und schwang seinen Stock, den Kopf hoch erhoben wie gewöhnlich, und mit offnem Jagdrocke, der im Winde flatterte. Als wir zusammenkamen, wartete er nicht ab, daß ich ihn befragte, sondern theilte mir sogleich mit, daß er nach dem Gehöfte gewesen, um sich zu erkundigen, ob Mr. und Mrs. Todd seit seinem letzten Besuche in Limmeridge nichts von Anna Catherick gehört hätten.

»Sie fanden natürlich, daß sie Nichts weiter von ihr wußten?« sagte ich.

»Nicht das Geringste,« entgegnete er. »Ich fange an, ernstlich zu befürchten, daß wir sie verloren haben. Wissen Sie vielleicht,« fuhr er fort, indem er mir sehr aufmerksam ins Gesicht sah, »ob der Maler – Mr. Hartright im Stande ist, uns weitere Auskunft zu geben?««

»Er hat weder von ihr gehört noch sie gesehen, seit er Cumberland verlassen hat,« sagte ich.

»Sehr traurig,« sagte Sir Percival, indem er sprach wie ein Mann, der sich unangenehm getäuscht sieht, und dabei aussah, wie ein Mann, der sich erleichtert fühlt. »Es ist unmöglich zu berechnen, welche Unfälle dem armen Geschöpfe zugestoßen sein mögen. Es verdrießt mich unaussprechlich, daß es allen meinen Bemühungen mißlungen, sie der Sorgfalt und dem Schutze zurückzugeben, dessen sie so dringend bedarf.«

Diesmal sah er wirklich verdrossen aus. Ich sagte ein paar theilnehmende Worte und dann sprachen wir auf dem Heimwege von anderen Dingen. Hat nicht mein zufälliges Begegnen mit ihm auf der Haide einen neuen günstigen Zug seines Charakters offenbart? War es nicht sehr rücksichtsvoll von ihm, so kurz vor seiner Heirath an Anna Catherick zu denken und den langen Weg nach Todd’s Ecke zu gehen, da er die Zeit in Laura’s Gesellschaft so viel angenehmer hätte zubringen können? Wenn man bedenkt, daß sein Beweggrund hierzu ein rein menschenfreundlicher sein mußte, so beweist sein Benehmen unter den Umständen viel Wohlwollen und verdient das größte Lob. Nun gut! ich gebe ihm das größte Lob – und damit Punktum.

Den 19. December.

Neue Entdeckungen in der unerschöpflichen Mine von Sir Percival’s Tugenden.

Ich spielte heute auf den in Vorschlag gebrachten Plan meines Aufenthaltes bei seiner Frau an, nachdem er sie nach England zurückgebracht habe. Ich hatte kaum den ersten Wink in dieser Richtung fallen lassen, als er mit Wärme meine Hand ergriff und sagte, ich habe gerade das ausgesprochen, was er von Herzen mir vorzuschlagen gewünscht habe. Ich sei die Gefährtin von allen Anderen, die er aufrichtig seiner Frau zu verschaffen wünsche, und er bitte mich, versichert zu sein, daß ich ihm eine ewige Gunst erwiesen, indem ich ihm den Vorschlag gemacht, nach ihrer Heirath meinen Aufenthalt bei Laura zu nehmen, gerade wie wir bisher zusammen gelebt hatten.

Als ich ihm in ihrem und meinem Namen für seine rücksichtsvolle Güte gegen uns Beide gedankt hatte, gingen wir zunächst auf den Gegenstand seiner Hochzeitsreise über, und sprachen von der englischen Gesellschaft in Rom, in die Laura eingeführt werden sollte. Er erwähnte mehrerer Namen von Bekannten, die er diesen Winter dort zu treffen erwartete. Sie waren, so viel ich mich entsinnen kann, alle englisch, mit einer Ausnahme. Diese eine Ausnahme war Graf Fosco.

Die Erwähnung Graf Fosco’s und die Entdeckung, daß er und seine Frau wahrscheinlich mit den Neuvermählten auf dem Festlande zusammentreffen werden, stellt Laura’s Heirath zum ersten Male in ein entschieden günstiges Licht. Es mag dies vielleicht eine Familienfehde enden. Bisher hat es die Gräfin Fosco beliebt, ihre Verpflichtungen als Laura’s Tante aus bloßem Grolle gegen den verstorbenen Mr. Fairlie wegen seines Verfahrens in Bezug auf das Legat zu vergessen. Jetzt aber kann sie bei diesem Betragen nicht länger bleiben. Sir Percival und der Graf sind alte und vertraute Freunde und ihre Frauen haben keine andere Wahl, als sich auf höflichem Fuße zu begegnen. Die Gräfin Fosco war zu ihrer Mädchenzeit eines der impertinentesten Frauenzimmer, die mir vorgekommen sind, launisch, anmaßend und eitel bis zur Albernheit. Falls es ihrem Gemahle gelungen, sie zu Verstande zu bringen, verdient er die Dankbarkeit jedes Mitgliedes der Familie, und er mag mit der meinigen den Anfang machen.

Ich werde neugierig, den Grafen kennen zu lernen. Er ist der vertrauteste Freund von Laura’s künftigem Gemahle, und erregt als solcher mein lebhaftestes Interesse. Weder Laura noch ich haben ihn jemals gesehen. Alles, was ich von ihm weiß, ist, daß seine zufällige Gegenwart eines Tages vor vielen Jahren auf den Stufen der Trinità del Monte zu Rom Sir Percival half, einem Raub- und Mordanfalle zu entgehen, gerade in dem kritischen Momente, wo er in der Hand verwundet worden und im nächsten im Herzen hätte getroffen sein können. Auch entsinne ich mich, daß der Graf bei Gelegenheit von Mr. Fairlie’s – des verstorbenen – lächerlichen Einwürfen gegen die Heirath seiner Schwester, ihm einen sehr gemäßigten und verständigen Brief über die Angelegenheit schrieb, der, wie ich mich fast zu sagen schäme, unbeantwortet blieb. Dies ist Alles, was ich von Sir Percival’s Freunde weiß. Ob er wohl je nach England kommen wird? Ob ich ihn wohl werde leiden können?

Meine Feder ergeht sich in bloßen Muthmaßungen. Um zu nüchternen Thatsachen zurückzukehren. Es ist eine Thatsache, daß Sir Percival’s Aufnahme meines gewagten Vorschlages, bei seiner Frau zu leben, mehr als gütig, daß sie beinah liebevoll war. Ich bin überzeugt, daß Laura’s Gemahl keine Ursache haben wird, sich über mich zu beklagen, wenn ich nur fortfahren kann, wie ich begonnen habe. Ich habe ihn bereits als schön, unterhaltend, rücksichtsvoll gegen Unglückliche und gütig gegen mich beschrieben. Ich erkenne mich selbst wirklich kaum wieder in meinem neuen Charakter als Sir Percival’s wärmste Freundin.

Den 20. December.

Ich hasse Sir Percival! Ich leugne entschieden, daß er schön ist. Ich finde ihn unbeschreiblich widerwärtig, durchaus rücksichtslos und ohne alle Herzensgüte. Gestern Abend kamen die Karten der Neuvermählten an. Laura öffnete das Paquet, und sah zum ersten Male ihren neuen Namen gedruckt. Sir Percival sah vertraulich über ihre Schulter auf die Karte, auf der Miß Fairlie bereits in Lady Glyde verwandelt war, lächelte mit der unerträglichsten Selbstgefälligkeit und flüsterte ihr Etwas ins Ohr. Ich weiß nicht, was es war, Laura wollte mir’s nicht sagen, aber ich sah sie so tödtlich erbleichen, daß ich sie ohnmächtig werden zu sehen erwartete. Er nahm keine Notiz von der Veränderung und schien sich auf barbarische Weise unbewußt, Etwas gesagt zu haben, daß ihr weh’ thun könne. Alle meine alten feindseligen Gefühle gegen ihn erwachten augenblicklich wieder, und die vielen Stunden, die seitdem vergangen sind, haben Nichts dazu beigetragen, den Eindruck wieder zu verwischen. Ich bin unbilliger und ungerechter denn je. In drei Worten – wie geläufig sie meiner Feder werden! – in drei Worten: ich hasse ihn.

Den 21. December.

Haben mich die Sorgen dieser ängstlichen Zeit endlich etwas verwirrt gemacht? Ich habe während der letzten paar Tage in einem Tone der Sorglosigkeit geschrieben, die ich, Gott weiß, weit entfernt bin zu fühlen, und die zu entdecken mir bei meinem Rückblicke in mein Tagebuch ein ziemlich unangenehmes Gefühl verursacht hat.

Vielleicht habe ich während der letzten Wochen Laura’s fieberhafte Aufregung angenommen. In dem Falle hat mich der Anfall bereits wieder verlassen und mich in einen sehr sonderbaren Gemüthszustand versetzt. Es hat sich mir seit gestern Abend die hartnäckige Idee aufgedrängt, daß sich noch Etwas ereignen wird, um die Heirath zu verhindern. Was hat diesen sonderbaren Gedanken in mir hervorgerufen? Ist es der indirekte Erfolg meiner Besorgnisse um Laura’s Zukunft? Oder entstand er etwa aus der wachsenden Unruhe und Aufregung, die ich allerdings, da der Hochzeitstag näher und näher rückt, an Sir Percival bemerkt habe? Ich kann’s nicht bestimmen. Ich weiß nur, daß ich die Idee habe; ist es nicht unter den Umständen die albernste Idee, die je einem Weibe in den Kopf kam? – aber, was ich auch thun mag, ich kann ihren Ursprung nicht entdecken.

Den 22. December.

Ein Tag solcher Verwirrung und solchen Jammers, wie ich ihn nie wieder zu erleben hoffe!

Die gute Mrs. Vesey, die wir in letzter Zeit Alle zu wenig beachtet und zu sehr vergessen haben, verursachte uns gleich zuerst einen traurigen Morgen. Sie hat sich seit vielen Monaten heimlich mit der Anfertigung eines warmen Shawls von Shetlandwolle für ihre liebe Schülerin beschäftigt, eine erstaunliche Arbeit für eine Frau in ihrem Alter und von ihren Gewohnheiten. Das Geschenk wurde heute Morgen überreicht, und meine arme, warmherzige Laura verlor alle Fassung, als die zärtliche alte Freundin und Hüterin ihrer mutterlosen Kindheit den Shawl stolz um ihre Schultern legte. Mir blieb kaum Zeit, sie Beide zu beruhigen oder meine eignen Thränen zu trocknen, als ich schon zu Mr. Fairlie berufen wurde, um von ihm eine lange Mittheilung über die Vorkehrungen zu hören, die er zur Bewahrung seiner Ruhe am Hochzeitstage getroffen hatte.

»Die liebe Laura« sollte sein Geschenk – einen armseligen Ring, mit ihres zärtlichen Onkels Haar statt eines kostbaren Steines geziert und inwendig eine herzlose französische Inschrift über verwandte Gefühle und ewige Freundschaft tragend, – »die liebe Laura« sollte diesen zärtlichen Tribut sofort aus meinen Händen empfangen, so daß sie Zeit haben möge, sich von der Gemüthsbewegung, die ihr das Geschenk verursachen würde, zu erholen, ehe sie sich in ihres Onkels Gegenwart begebe. »Die liebe Laura« sollte ihm heute Abend einen kleinen Besuch abstatten und die Güte haben, keine Scene zu machen. »Die liebe Laura« sollte ihm morgen früh in ihrem Brautkleide noch einen kleinen Besuch abstatten und abermals die Güte haben, keine Scene zu machen. »Die liebe Laura« sollte nochmals, zum dritten Male, zu ihm kommen, ehe sie abreise, aber ohne sein Gemüth dadurch aufzuregen, daß sie ihm sagte, wann sie reisen werde, und ohne Thränen – »im Namen der Barmherzigkeit, im Namen alles Dessen, liebe Marianne, was am zärtlichsten, entzückendsten und gefaßtesten ist, ohne Thränen!« Ich war so entrüstet über diese erbärmliche, selbstsüchtige Narrheit zu einer solchen Zeit, daß ich jedenfalls Mr. Fairlie’s Nerven durch einige der bittersten, rauhesten Wahrheiten zu erschüttern Lust gehabt hätte, die er je in seinem Leben gehört hat, wäre ich nicht in demselben Augenblicke durch Mr. Arnold’s Ankunft zu neuen Pflichten unten im Hause abgerufen worden.

Der Rest des Tages ist nicht zu beschreiben. Ich glaube, daß kein Mensch im ganzen Hause wirklich weiß, wie derselbe verging. Die Confusion kleiner, durcheinander geworfener Ereignisse verwirrte Alle. Es kamen Kleider an, welche vergessen worden waren; da gab es Koffer zu packen, auszupacken und wieder einzupacken; Geschenke kamen an von fernen und nahen Bekannten, hohen und niedrigen Freunden. Wir waren Alle in einer unnöthigen Hast, Alle voll aufgeregter Erwartung des morgenden Tages. Sir Percival namentlich war zu unruhig, um nur fünf Minuten an einer Stelle zu bleiben. Sein trockner, kurzer Husten quälte ihn mehr denn je. Er ging den ganzen Tag ein und aus und schien mit einemmale so neugierig zu werden, daß er sogar die Fremden ausfragte, die mit Botschaften zum Hause kamen. Man füge zu all Diesem den einen Gedanken in Laura’s und meinem Herzen hinzu, daß wir uns morgen trennen sollten, und die gespenstische Furcht, die Keine von uns aussprach, daß diese unselige Heirath sich als der eine verderbenbringende Fehler ihres Lebens und der hoffnungslose Schmerz des meinigen erweisen möge. Zum ersten Male während der vielen Jahre unseres vertrauten Umganges vermieden wir fast, einander anzusehen, und vermieden es auf stillschweigende Uebereinkunft, nur ein einziges Mal während des ganzen Abends mit einander allein zu sein. Ich kann nicht länger dabei verweilen. Welch künftige Leiden mir auch noch bestimmt sein mögen, auf diesen zweiundzwanzigsten December werde ich immer als auf den trostlosesten, kummervollsten Tag meines Lebens zurückblicken.

Ich schreibe diese Zeilen lange nach Mitternacht in der Einsamkeit meines Zimmers, nachdem ich eben heimlich Laura in ihrem hübschen weißen Bettchen betrachtet habe, dem Bettchen, in dem sie seit ihrer Kindheit geschlafen hat. Da lag sie, nicht ahnend, daß ich sie betrachtete, ganz ruhig, ruhiger als ich zu hoffen gewagt, aber nicht schlafend. Der Schimmer des Nachtlichtes zeigte mir, daß ihre Augen nur halb geschlossen waren und zwischen den Lidern glänzten Thränenspuren. Mein kleines Andenken, Nichts als eine kleine Broche, lag auf dem Tischchen neben ihrem Bett und daneben ihr Gebetbuch und ihres Vaters Miniaturbildchen, das sie mitnimmt, wohin sie auch gehen mag. Ich stand einen Augenblick hinter ihrem Kissen und blickte auf sie herab, wie sie dalag und der eine Arm so weiß auf der weißen Decke ruhte – so still, so sanft athmend, daß selbst die Spitzen an ihrem Nachtkleide nicht einmal zitterten, ich stand und schaute sie an, wie ich sie zu tausend Malen angeschaut, und wie ich sie niemals wiedersehen werde – und kehrte dann leise in mein Zimmer zurück. Mein einziges Lieb! wie verlassen Du bist trotz all Deines Reichthums und all Deiner Schönheit! Der eine Mann, der sein Herzblut hergeben würde, um Dir zu dienen, ist weit von Dir in dieser stürmischen Nacht umhergetrieben auf der wüthenden See. Wer bleibt Dir sonst noch? Kein Vater, kein Bruder, kein lebendes Wesen, außer einem hülflosen, nutzlosen Weibe, das diese traurigen Zeilen schreibt und für Dich den Morgen erwartet, voll Kummer, den sie nicht stillen, voll Zweifel, die sie nicht überwinden kann. O, welch ein Schatz soll morgen in jenes Mannes Hände gegeben werden! Wenn er es jemals vergißt; wenn er je ein Haar ihres Hauptes verletzt!

Den 23. December.

Sieben Uhr. Ein wilder, rauher Morgen. Sie ist soeben aufgestanden und ist wohler und gefaßter, da die Zeit gekommen ist, als sie gestern war.

Zehn Uhr. Sie ist angekleidet. Wir haben einander umarmt und versprochen, nicht den Muth zu verlieren. Ich bin einen Augenblick auf mein Zimmer gekommen. In dem Tumulte und der Verwirrung meiner Gedanken bleibt mir noch immer diese sonderbare Idee, daß sich Etwas ereignen wird, um die Heirath zu verhindern. Hat er etwa dasselbe Gefühl? Ich sah ihn durch’s Fenster unruhig zwischen den an der Thür haltenden Wagen hin und her gehen. – Wie kann ich nur so thöricht schreiben! Die Heirath ist gewiß. In weniger als einer halben Stunde brechen wir nach der Kirche auf.

Elf Uhr. Es ist Alles vorüber. Sie sind verheirathet.

Drei Uhr. Sie sind fort! Ich bin blind vom Weinen – ich kann nicht weiter schreiben. –

– – – – – – – – – – –

1 - Die Stellen, welche hier und anderswo in Miß Halcombe’s Tagebuche ausgelassen worden, sind nur solche, die auf keine Weise Miß Fairlie oder irgend eine andere Person, mit denen sie in dieser Erzählung in Berührung kommt, betreffen.


Nächstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis für diese Geschichte