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Herz und Wissen



Capitel XI.

Bei der Ankunft im zoologischen Garten führte Ovid seine Cousine sofort zu den Vogelhäusern. Miß Minerva, pflichtschuldigst von Maria begleitet, folgte ihnen; Teresa hielt sich etwas zurück und Zo schloß sich bald diesem, bald jenem der Gesellschaft an.

Vor den Vogelhäusern löste sich diese Ordnung auf, da die verschiedenen Vögel dem Geschmacke der Einzelnen verschieden zusagten. Die unersättlich nach nützlichen Kenntnissen strebende Musterschülerin Maria hielt ihre Gouvernante vor dem einen Käfige fest, während Zo auf einen anderen, außerhalb des Bereiches der Disciplin, zuschoß und die gute Teresa es freiwillig unternahm, sie zurückzuholen. So war Ovid auf eine Minute mit Carmina allein. Er hätte diese, wenn auch noch so kleine Gelegenheit benutzen können, aber Carmina hatte ihm etwas zu sagen und sprach zuerst.

»Ist Miß Minerva schon lange Gouvernante bei Ihrer Mutter?« fragte sie.

»Schon einige Jahre«, entgegnete Ovid. »Gestatten Sie mir auch eine Frage? Warum fragen Sie danach?«

Carmina zögerte einen Augenblick und antwortete dann im Flüstertone: »Sie sieht übellaunig aus.«

»Das ist sie auch«, gab Ovid zu. »Ich vermuthe«, setzte er mit einem Lächeln hinzu, »Sie mögen dieselbe nicht leiden.«

Carmina versuchte nicht, es zu leugnen; ihre Entschuldigung sah ganz und gar dem schönen Geschlechte ähnlich: »Sie mag mich nicht leiden.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe es ihr angesehen. Schlägt sie die Kinder?«

»Beste Carmina! glauben Sie, daß sie bei meiner Mutter Gouvernante sein würde, wenn sie die Kinder in solcher Weise behandeln? Nebenbei gesagt, ist Miß Minerva eine viel zu gut erzogene Dame, um sich durch Gewaltacte zu erniedrigen. Unglück in der Familie hat sie zu einer bedeutend niedrigeren Stellung in der Welt gezwungen.«

Er erinnerte sich dabei der Zeit, als Miß Minerva ihre jetzige Stellung angetreten hatte und der Gegenstand einer gewissen Neugier von seiner Seite gewesen war. Die Antwort, welche ihm Mrs. Gallilee gegeben hatte, als er sie einmal gefragt, weshalb sie eine so reizbare Person im Hause behalte, war gewesen: »Miß Minerva ist außerordentlich unterrichtet und ich habe sie billig bekommen.« Das sah seiner Mutter ganz ähnlich, ließ aber Miß Minerva’s Motive ganz im Dunkeln. Warum hatte sich diese hochgebildete Frau Jahre lang mit einem ihren Diensten durchaus nicht entsprechenden Lohne begnügt? Warum —— um den Vorgang an diesem Morgen als anderes Beispiel zu nehmen —— hatte sie, nachdem sie der Hausherrin offen ihr Mißvergnügen gezeigt, sich doch so bereitwillig und nachgiebig in die plötzliche Anordnung des Feiertages gefügt, der doch den ganzen Unterrichtsgang der Woche störte? Ovid ahnte nicht, daß der eine versöhnende Einfluß, der diese Widersprüche ausglich und jeden daraus entstehenden Zweifel beseitigte, in ihm selbst zu finden war. Für das eine unschätzbare Privilegium, in Ovid’s Gesellschaft zu sein, konnte Miß Minerva selbst das Opfer bringen, ihn im Interesse seiner Mutter zu beobachten und Zeuge der Huldigung zu sein, die er einer Anderen darbrachte.

Ehe Carmina noch weitere Fragen stellen konnte, rief sie die schrille, in den höchsten Tönen der Aufregung erklingende Stimme der kleinen Zo, die eben den interessantesten Vogel im ganzen Garten, den herabgekommenen Comödianten der Vogelwelt, die sogenannte Pfeifkrähe, entdeckt hatte, zu dem Käfige desselben; und als ob sie selbst noch ein Kind gewesen wäre, eilte sie dahin. Als die Gouvernante Ovid allein sah, ergriff sie die günstige Gelegenheit, um mit ihm zu sprechen, und die ersten Worte, welche jetzt über ihre Lippen kamen, erzählten ihre eigene Geschichte. Während Carmina die Gouvernante studiert hatte, hatte diese wiederum das junge Mädchen studiert, und das gleiche instinktive Bewußtsein der Nebenbuhlerschaft hatte bereits diese sich so ganz und vollständig unähnlichen beiden Frauen auf dem Boden eines gemeinsamen Gefühls zusammengebracht.

»Weiß Ihr Fräulein Cousine viel über Vögel?« begann Miß Minerva.

Wäre Ovid nicht im Punkte der Eitelkeit eine der Ausnahmen von der allgemeinen Regel gewesen, oder selbst, wäre seine Erfahrung von der Natur der Frauen etwas weniger dürftig gewesen, so hätte auch er Miß Minervas Geheimniß entdecken können. Denn in dem Augenblicke, als sie Carmina’s Platz einnahm, verließ sie alle Selbstbeherrschung; die steinernen schwarzen Augen, so hart und kalt, wenn sie jemand anders ansahen, flammten einen Moment in dem Alles verschlingenden Bewußtsein des Besitzes auf, als sie jetzt auf Ovid ruhten. »Er ist mein, mein für einen köstlichen Augenblick!« sprachen sie —— und dann fiel der gewöhnliche Vorhang plötzlich wieder herab, und es blieb nur die Frau von Erziehung, die mit zart bekundeter Achtung mit einem distinguierten Manne sprach.

»Bis soweit haben wir noch nicht von den Vögeln gesprochen«, war Ovid’s unschuldige Antwort.

»Und doch schienen Sie sich beide dieselben anzusehen!« Dieser unbedachte Ausbruch von Eifersucht wurde aber sofort unter die undurchdringliche Oberfläche eines Complimentes zurückgedrängt: »Miß Carmina ist vielleicht, streng genommen, nicht hübsch, aber ein eigen interessantes Mädchen.«

Ovid stimmte der Gouvernante die ihm ihr besseres Ich in einem sehr angenehmen Lichte gezeigt hatte, herzlich —— zu herzlich —— bei, so daß ihr trotz des verzweifelten Ringens mit sich selbst, den Anschein zu bewahren, der Dämon wieder die Herrschaft über ihre Zunge entriß. »Finden Sie die junge Dame geistreich?« fragte sie.

»Gewiß!«

Es war nur ein Wort —— vielleicht ein wenig zu scharf gesprochen, denn die Gouvernante zuckte unter ihm zusammen. »Es war nur eine müßige Frage meinerseits«, sagte sie mit jener pathetischen Unterwürfigkeit, die heiter und unbefangen erscheinen will; »und das ist wieder eine Warnung, Mr.Vere, nie nach dem Aeußeren zu urtheilen.« Damit sah sie ihn an und wandte sich wieder den Kindern zu.

»Arme Unglückliche!« dachte Ovid, ihr mitleidig mit den Augen folgend. »Welche Mühe sie sich giebt, ihr häßliches Temperament zu beherrschen!« Dann ging er wieder zu Carmina, von neuem Entzücken erfüllt, wieder in ihrer Nähe zu sein.

Zo war über die Pfeifkrähe noch ganz in Extase. »O, wie lustig sie ist! Sieh’ nur, wie sie den Kopf wirft! Sie macht es mir nach, wenn ich ihr etwas vorpfeife! Kaufe sie!« rief sie, Ovid in der Aufregung an den Rockschößen ziehend; »kaufe sie, und laß mich sie mit nach Hause nehmen!«

Einige Besucher, die sie hörten, fingen an zu lachen und Miß Minerva und Maria öffneten schon die Lippen, um ihr einen Verweis zu geben, als mit Zo plötzlich eine bei ihr ganz unbekannte Veränderung vorging: sie wurde auf einmal still und artig, so daß jeder Verweis überflüssig wurde —— und dies Wunder hatte Ovid bewirkt, ohne es selbst zu wissen. Zum ersten Male im Leben hatte er sich an den Rockschößen ziehen lassen, ohne sofort auf sie zu achten. Nach wem sah er? Es war nur zu leicht zu sehen, daß Carmina ihn ganz für sich in Anspruch genommen hatte. Der Kleinen schwoll das eifersüchtige kleine Herz im Busen an; in perplexem Schweigen starrte sie den Freund an, der sie bis jetzt noch nie enttäuscht hatte, und allmählich begann sie sich mit ihrer langsamen Fassungskraft die Entdeckung eines Etwas in seinem Gesichte zu verwirklichen, das ihn schöner als je erscheinen ließ und das sie noch nie darin gesehen hatte. Als sie sich von den Vogelhäusern ab den Gehegen zuwandten, welche die größeren Vögel enthielten, folgte Zo ihnen so ruhig, daß ihre ältere Schwester (die Gefahr lief, eine Rivalin in der guten Aufführung zu bekommen) sie voll unverhüllter Unruhe ansah.

Von Maria (welche die Nothwendigkeit einer Behauptung ihres Charakters fühlte) angeregt, begann Miß Minerva eine Vorlesung über Kraniche, welchen Stoff ihr die in Erwartung eines Leckerbissens an sie heran hüpfenden Vögel mit den zerbrechlich aussehenden Beinen eingaben. Ovid war ganz von der Aufmerksamkeit gegen seine Cousine in Anspruch genommen, der er beim Füttern der Vögel beistand, da er sich mit etwas Brod versehen hatte; Eine Person aber beobachtete Zo noch jetzt, nachdem deren sonderbares Verfallen in gutes Benehmen den Reiz der Neuheit verloren hatte —— das war die alte Teresa. Das Kind wurde ganz offenbar im Geheimen durch etwas beunruhigt, und sie glaubte zu wissen, was das war.

Die Kleine näherte sich Ovid wieder, entschlossen, der Veränderung in ihm auf den Grund zu kommen, wenn dies durch Beharrlichkeit erreicht werden konnte. Er sprach so vertraulich mit Carmina, daß er ihr beinahe in’s Ohr flüsterte, und Zo beobachtete ihn, ohne es zu wagen, seine Schöße wieder anzufassen. Miß Minerva bot Alles auf, um in ihrem Vortrage über Kraniche gelassen fortzufahren. »In Flügen ziehen diese Vögel periodisch über die südlichen und mittleren Länder Europa’s« —— Sie sah Ovid an, und der Athem verjagte ihr: sie konnte nicht weiter sprechen. Da unterbrach Zo diese wahnsinnig machenden Vertraulichkeiten, indem sie in verzweifeltem Verlangen nach Aufschluß diesmal Carmina kühn an den Taillenschößen zupfte.

»Was hast Du, liebe Zo?« fragte. diese, sich sofort umwendend.

»Höre!« flüsterte die Kleine, mit großen Thränen der Entrüstung in den Augen auf Ovid zeigend, »will er Dir die Pfeifkrähe kaufen?«

Zu Zo’s Verwirrung fingen beide an zu lachen. Sie trocknete sich die Augen mit den geballten Händen und wartete mürrisch auf Antwort. Dann beruhigte Carmina der Kleinen Gemüth in liebevollster und liebenswürdigster Weise und Ovid unterstützte sie dabei, indem er das Schwesterchen auf die Wange klopfte. Nachdem sie so endlich beachtet wurde und zu ihrer Befriedigung vernahm, daß der Vogel für Niemanden gekauft werden sollte, war Zo’s Empfindlichkeit besänftigt und damit schwand dann auch gleich darauf ihre Eifersucht, und nach einem geistige Anstrengung andeutenden, viel verkündenden Zusammenziehen der Augenbrauen zog sie plötzlich Carmina in ihr Vertrauen.

»Sage Ovid nichts davon«, begann sie. »Ich habe Jemanden gesehen, der gerade so aussah wie er.«

»Wann, liebe Zo?«

»Alls sein Gesicht dicht an dem Deinigen war«, antwortete die Kleine, die Frage auf die gegenwärtigen Umstände beziehend.

Ovid, der diese Antwort hörte und sein Halbschwesterchen zur Genüge kannte, um Verlegenheiten vorauszusehen, wenn er die Conversation nicht unterbräche, nahm Carmina’s Arm und führte sie weiter.

Die Gouvernante folgte ihnen hartnäckig und mit ihr Maria, die über die Wanderung der Kraniche erst unvollständig aufgeklärt war. Teresa hatte zugehört und trat jetzt zu der Kleinen, die sich nach einem anderen Zuhörer umsah. Die Alte war selbst, was die thörichte Menge eine »komische« Person nennt, und wurde von diesem drolligen Kinde angezogen. «Ihrer Ansicht nach war es ein viel höheres Vergnügen, Zo’s Gemüth zu erforschen, als sich die Thiere anzusehen. Sie nahm jetzt aus der Reisetasche, die sie immer bei sich hatte, eine Tafel Chokolade und bot dieselbe der Kleinen an. Diese sah sie groß an und that dann einen Probebiß in das verführerische, von Vanille duftende Gebäck, das ihr durch keinen Rath, nicht gierig zu sein und sich nicht krank zu machen, verbittert wurde. Und diesen günstigen Moment benutzte die schlaue Duenua.

»Wer war der Jemand, den Du gesehen hast und der geradeso wie Mr. Ovid aussah?« fragte sie in dem Tone der Gleichberechtigung, der Kindern im Verkehr mit älteren Leuten immer schmeichelt. Und Zo war so stolz darauf, ihr Gespräch durch eine erwachsene Fremde weiter bringen zu lassen, daß sie sogar die Chokolade vergaß. »Ich wollte noch mehr sagen«, erklärte sie. »Möchtest Du es gern hören?«

»Sehr gern.«

Zo zögerte, denn es war für den unreifen Geist, den Miß Minerva so unbarmherzig überladen hatte, keine leichte Aufgabe, ihrem Gedankengange durch Worte Ausdruck zu geben. Doch geleitet von der gütigen Mutter Natur (der besten aller Gouvernanten!) fand Zo mittels Fragen den Weg aus diesem Labyrinthe.

»Kennst Du Joseph?« begann sie.

Teresa hatte den Bedienten so nennen hören und bejahte.

»Kennst Du auch Mathilde?«

Die Alte hatte das Hausmädchen so nennen hören und bejahte wieder, ja sie half jetzt ihrer kleinen Freundin durch eine Vermuthung.

»Du hast Mr. Ovid ’s Gesicht dicht an dem Carmina’s gesehen.«

Zo nickte aufgeregt.

»Und früher hast Du Joseph’s Gesicht dicht an dem Mathilden’s gesehen.«

»Ich habe gesehen, daß Joseph sie geküßt hat!« platzte Zo mit einem Ausruf des Triumphes heraus. »Warum küßt denn Ovid Carmina nicht auch?«

»Weil die Gouvernante im Wege ist«, ertönte plötzlich eine tiefe Baßstimme zwischen ihnen und ein dickes Bambusrohr deutete über ihre Köpfe auf Miß Minerva. Zo erkannte den Stock sofort und ergriff ihn, und Teresa, die sich umwandte, sah sich einem merkwürdigen Manne gegenüber.


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