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Der Mondstein



Dritte Erzählung.

Von Franklin Blake.

Erstes Capitel.

Im Frühjahr 1849 war ich auf einer Reise im Orient begriffen und hatte grade meine Reisepläne, wie ich sie einige Monate vorher gefaßt und meinem Advocaten und meinem Banquier in London mitgetheilt hatte, geändert.

Diese Veränderung nöthigte mich, einen meiner Diener abzusenden, um meine Rimessen bei dem englischen Consul in einer gewissen Stadt, welche nach meinem neuen Reiseplan nicht mehr zu einer meiner Stationen gehörte, in Empfang zu nehmen. Der Mann sollte mich in einem bestimmten Zeitpunkt an einem verabredeten Platz treffen.

Ein Unfall, an dem er unschuldig war, nöthigte ihn zu einem Aufschub seiner Rückreise. Eine Woche lang warteten ich und meine Leute in einem Lager am Rande einer Wüste. Nach Verlauf dieser Zeit trat der vermißte Mann mit dem Gelde und Briefen in mein Zelt.

»Ich fürchte, ich bringe Ihnen schlimme Nachrichten Herr,« sagte er, indem er auf einen Brief mit einem Trauerrande deutete, dessen Adresse von der Hand des Herrn Bruff herrührte.

Ich kenne in solchen Fällen nichts Unerträglicheres als Ungewißheit. Der Brief mit dem Trauerrand war der erste, den ich öffnete.

Derselbe benachrichtigte mich, daß mein Vater gestorben und daß ich der Erbe seines großen Vermögens sei. Der Reichthum, welcher mir so in den Schooß gefallen war, brachte seine Verantwortlichkeit mit sich und Herr Bruff bat mich dringend, ohne Zeitverlust nach England zurückzukehren.

Am nächsten Morgen mit Tagesanbruch war ich auf dem Heimwege nach meinem Vaterlande.

Das von meinem alten Freund Betteredge zur Zeit meiner Abreise von England von mir entworfene Bild ist, glaube ich, etwas karikirt. Er hat in seiner komischen Weise eine von den vielen satyrischen Aeußerungen seiner jungen Herrin über meine ausländische Erziehung ernsthaft genommen und hat sich selbst glauben gemacht, daß er jene verschiedenen Seiten meines Charakters, die französische, englische und deutsche, über deren Entdeckung meine geistreiche Cousine zu scherzen pflegte und die außer in der Phantasie unsers guten Betteredge gar nicht existirten, auch wirklich beobachtet habe.

Aber abgesehen davon muß ich gestehen, daß er nur die Wahrheit gesagt hat, indem er mich als durch Rachel’s Behandlung in’s Herz getroffen darstellte und erzählte, daß ich England in dem ersten furchtbaren Schmerz über die bitterste Enttäuschung meines Lebens verlassen habe.

Ich ging mit dem Entschluß auf Reisen, sie, wenn Veränderung und Abwesenheit mir helfen könnten, zu vergessen. Nach meiner Ueberzeugung beruht die Behauptung, daß Veränderung und Abwesenheit einem Menschen unter diesen Umständen nicht helfen, auf einer falschen Auffassung der menschlichen Natur; sie zwingen ihn, seine Aufmerksamkeit anderen Gegenständen als den ausschließlichen Betrachtungen seines eigenen Kummers zuzuwenden. Ich habe Rachel nie vergessen, aber der Schmerz der Erinnerung verlor nach und nach seinen bittersten Stachel in dem Verhältniß, wie Zeit, Entfernung und neue Eindrücke immer wirksamer zwischen Rachel und mich traten.

Von dem Augenblick aber, wo ich meine Schritte wieder der Heimath zu lenkte, fing das Heilmittel, das bis dahin so energisch gewirkt hatte, an, seine Kraft zu verlieren. Je mehr ich mich dem von ihr bewohnten Lande und der Aussicht näherte, sie wiederzusehen, desto unwiderstehlicher fing ihr Einfluß auf mich sich wieder geltend zu machen an. Als ich England verließ, war sie die letzte Person, deren Namen ich mich entschlossen haben würde, über die Lippen zu bringen. Bei meiner Rückkehr nach England war sie die Erste, nach welcher ich mich erkundigte, als ich Herrn Bruff wieder sah.

Er setzte mich natürlich von allem Dem, was während meiner Abwesenheit vorgefallen war, mit andern Worten von Allem in Kenntniß, was hier in Fortsetzung von Betteredge’s Erzählung berichtet worden ist, mit Ausnahme eines einzigen Umstandes. Herr Bruff hielt sich zu jener Zeit nicht für berechtigt, mir die Motive mitzutheilen, unter deren geheimer, Einfluß Rachel und Godfrey Ablewhite beiderseits ihr einander gegebenes Heirathsversprechen zurückgenommen hatten. Ich belästigte ihn nicht mit Fragen über diesen delicaten Gegenstand. Es war mir Trost genug, nachdem anfänglich meine Eifersucht durch die Nachricht erweckt worden war, daß sie daran gedacht habe, Godfrey’s Weib zu werden, zu hören, daß sie sich durch weiteres Nachdenken von der jähen Raschheit ihres Entschlusses überzeugt und sich selbst wieder von dieser Verbindung losgemacht hatte.

Nachdem ich von dem Vergangenen unterrichtet war, bezogen sich meine nächsten Erkundigungen nach Rachel natürlich auf die Gegenwart. Unter wessen Obhut war sie gestellt worden, nachdem sie Herrn Bruffs Haus verlassen hatte, und wo lebte sie jetzt?

Sie lebte unter der Obhut einer verwittweten Schwester des verstorbenen Sir Verinder, einer Miß Merridew, welche die Executoren ihrer Mutter ersucht hatten, als Vormünderin zu fungieren und welche dieses Amt übernommen hatte. Nach den mir gemachten Mittheilungen kamen sie vortrefflich mit einander aus und wohnten jetzt, während der Saison, in Mrs. Merridews Haus auf Portland-Place.

Eine halbe Stunde nach Empfang dieser Nachricht war ich aus dem Wege nach Portland-Place, ohne daß ich den Muth gehabt hätte, Herrn Bruff meine Absicht mitzutheilen!

Der Diener, welcher mir die Thür öffnete, war nicht sicher ob Fräulein Verinder zu Hause sei oder nicht. ich schickte ihn mit meiner Karte, als dem geeignetsten Mittel Gewißheit zu erlangen, hinauf. Der Diener kam zurück und meldete mir mit einem undurchdringlichen Ausdruck des Gesichts, daß Fräulein Verinder nicht zu Hause sei.

Bei anderen Menschen würde ich vielleicht eine absichtliche Verleugnung geargwöhnt haben, aber bei Rachel war es unmöglich. Ich hinterließ die Bestellung, daß ich um 6 Uhr Abends meinen Besuch wiederholen würde.

Um 6 Uhr wurde mir zum zweiten Mal die Antwort, daß Fräulein Verinder nicht zu Hause sei. Hatte sie irgend eine Bestellung für mich zurückgelassen? Nein. Hatte Fräulein Verinder meine Karte nicht bekommen? Allerdings.

Jetzt drängte sich der Schluß, daß Rachel mich nicht sehen wolle, zu entschieden auf, als daß ich ihn hätte zurückdrängen können.

Meinerseits konnte ich mich nicht entschließen, mich auf diese Weise behandeln zu lassen, ohne wenigstens den Versuch zu machen die Ursache dieses Benehmens zu entdecken. Ich schickte zu Mrs. Merridew hinauf und ließ sie um die Gefälligkeit bitten, mich zu irgend einer ihr convenirenden Zeit empfangen zu wollen.

Mrs. Merridew erklärte sich sofort bereit, meinen Wunsch zu gewähren. Ich wurde in ein behagliches kleines Wohnzimmer geführt und befand mich einer behaglichen kleinen ältlichen Dame gegenüber. Sie war freundlich genug, mir ihr großes Bedauern und ihre Ueberraschung über die mir von Rachel widerfahrene Behandlung auszusprechen. Gleichwohl war sie nicht in der Lage, mir irgend eine Erklärung zu geben oder eine Pression auf Rachel in einer Angelegenheit zu üben, welche mit einer Frage ganz persönlicher Gefühle zusammenzuhängen scheine, das sagte sie mit einer unermüdlich höflichen Geduld immer und immer wieder und das war Alles, was ich von Mrs.Merridews zu erlangen vermochte.

Meine letzte Chance war, Rachel zu schreiben. Am nächsten Tage brachte ihr mein Diener einen Brief mit der strikten Ordre, auf Antwort zu warten.

Die Antwort kam und bestand buchstäblich in einer Zeile.

»Fräulein Verinder bedauert, jede Correspondenz mit Herrn Franklin Blake ablehnen zu müssen.«

Je inniger ich sie liebte, mit desto tieferer Entrüstung fühlte ich die mir in dieser Antwort angethane Insulte. Noch ehe ich meine Fassung wiedergewonnen hatte, trat Herr Bruff zu mir ins Zimmer, um mit mir über Geschäfte zu reden. Ich lehnte die geschäftliche Besprechung sofort ab und legte ihm den ganzen Fall vor. Er zeigte sich eben so unfähig mir einen Aufschluß zu geben, wie Mrs. Merridew. Ich fragte ihn, ob etwa verläumderische Gerüchte über mich Rachel zu Ohren gekommen seien; ob sie, so lange sie unter Herrn Bruff’s Dach gewohnt hätte, je von mir gesprochen habe? Niemals. Ob sie sich während meiner langen Abwesenheit nicht einmal erkundigt habe, ob ich noch am Leben oder todt sei? Niemals war eine derartige Frage über ihre Lippen gekommen.

Ich zog den Brief aus meiner Brieftasche, welchen die arme Lady Verinder mir von Frizinghall aus an dem Tage geschrieben hatte, an welchem ich ihr Haus in Yorkshire verließ, und lenkte Herrn Bruffs Aufmerksamkeit auf die folgenden beiden Sätze in demselben:

»Der schätzbare Beistand, den Du bei der Untersuchung nach dem verlorenen Edelstein geleistet hast, erscheint Rachel in ihrem gegenwärtigen furchtbaren Gemüthszustand noch als eine unverzeihliche Beleidigung. Durch Dein ungestümes Vorgehen in dieser Angelegenheit hast Du die Last der Angst, die sie zu tragen gehabt, vermehrt, indem Du durch Deine Thätigkeit ihr Geheimniß mit einer Entdeckung bedroht hast.« ——

»Ist es möglich,« fragte ich, »daß die hier geschilderten Gefühle gegen mich noch jetzt in ihrer ganzen Bitterkeit fortdauern?«

Herr Bruff sah unabsichtlich zerstreut aus.

»Wenn Sie auf eine Antwort bestehen,« sagte er, »so muß ich bekennen, daß ich Ihnen keine andere Erklärung von Fräulein Rachel’s Benehmen zu geben weiß.«

Ich klingelte und beorderte meinen Diener, meinen Koffer zu packen und mir ein Coursbuch zu verschaffen Herr Bruff fragte mich erstaunt, was ich wolle.

»Ich will mit dem nächsten Zuge nach Yorkshire,« antwortete ich.

»Und zu welchem Zweck, wenn ich fragen darf?«

»Herr Bruff, der Beistand, den ich unschuldiger Weise bei der Untersuchung über den Verlust des Diamanten geleistet habe, war vor ungefähr einem Jahre in Rachel’s Augen eine unverzeihliche Beleidigung und erscheint ihr noch heute so. Das ist eine für mich unerträgliche Lage! Ich bin entschlossen, das Geheimnis, ihres gegen ihre Mutter beobachteten Schweigens und ihrer Feindschaft gegen mich aufzuklären. Wenn es mit Zeit, Mühe und Geld zu bewerkstelligen ist, so will ich den Dieb des Mondsteins herausbringen.«

«Der würdige alte Herr versuchte Einwendungen zu machen, mich zur Vernunft zu bringen, kurz seine Pflicht gegen mich zu thun. Ich war taub gegen alle seine Vorstellungen. Keine Gewalt auf Erden würde in jenem Augenblick meinen Entschluß haben erschüttern können.

»Ich werde,« fuhr ich fort, »die Untersuchung an dem Punkte wieder aufnehmen, wo ich sie habe fallen lassen; und ich werde sie Schritt für Schritt weiter verfolgen, bis ich an die Gegenwart gelange. In der Beweiskette, wie sie bei meiner Abreise vorlag, fehlen Glieder, welche Gabriel Betteredge liefern kann. Und zu ihm will ich gehen!«

Gegen Sonnen-Untergang stand ich an jenem Abend wieder auf der wohlbekannten Terrasse und blickte auf das friedliche alte Landhaus. Der Erste, der mir an dem verödeten Platze begegnete, war der Gärtner. Er hatte Betteredge vor einer Stunde verlassen, wo er sich in gewohnter Weise auf dem Hofe hinter dem Hause gesonnt hatte. Der Ort war mir wohlbekannt und ich erklärte, ihn selbst dort aufsuchen zu wollen.

Ich ging auf den altbekannten Wegen um das Haus und blickte durch das offene Thor auf den Hof.

Da saß er, der liebe alte Freund jener glücklichen Tage, die nie wiederkehren sollten, in dem alten Winke! in dem alten Lehnstuhl, seine Pfeife im Munde, seinen Robinson Crusoe auf dem Schooße, mit seinen beiden Hunden, die zu seinen beiden Seiten schlummerten!

So wie ich stand warfen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne meinen Schatten gerade vor mich hin. Sei es, daß die Hunde denselben erkannten, oder daß ihr scharfer Geruch sie meine Nähe spüren ließ: sie sprangen knurrend auf. Auch der Alte wurde aufmerksam, beruhigte die Thiere mit einem Wort und hielt dann die Hand vor seine schwachgewordenen Augen und blickte forschend nach der Gestalt am Thor.

Meine eigenen Augen waren voll Thränen ich mußte einen Augenblick warten, bevor ich es wagen konnte, mit ihm zu reden.



Kapiteltrenner

Zweites Capitel.

»Betteredge!« rief ich, indem ich auf das wohlbekannte Buch auf seinen Knieen hinwies, »hat Robinson Crusoe Ihnen diesen Abend vorausgesagt, daß Sie Franklin Blake zu erwarten hätten?«

»Bei dem Allmächtigem Herr Franklin!« rief der alte Mann, »gewiß und wahrhaftig hat Robinson Cruso das gethan!«

Mit meiner Hilfe stand er auf und blickte einen Augenblick abwechselnd aus mich und auf Robinson Crusoe, ersichtlich ungewiß darüber, wer von uns Beiden ihn am meisten überrascht habe. Seine Entscheidung fiel endlich zu Gunsten des Buches aus. Mit beiden Händen hielt er es offen vor sich in die Höhe und betrachtete das wundervolle Buch mit dem Ausdruck einer großen Erwartung, als ob er darauf gefaßt sei, Robinson Crusoe selbst aus den Seiten hervor und leibhaftig zwischen uns treten zu sehen.

»Da steht es, Herr Franklin!« sagte er, sobald er seine Sprache wiedergewonnen hatte. »So wahr ich lebe, Herr Franklin, hier steht die Stelle, die ich, einen Augenblick, ehe Sie hereinkamen, gelesen habe! Seite 156 wie folgt: »Ich stand wie vom Blitz gerührt oder als ob ich eine Erscheinung gesehen habe.« Wenn das nicht so viel heißt, als auf die plötzliche Erscheinung des Herrn Franklin Blake vorbereiten, so hat die englische Sprache gar keinen Sinn mehr,« sagte Betteredge, indem er das Buch zuschlug und endlich eine seiner Hände frei bekam, um damit meine dargebotene Rechte zu ergreifen.

Ich war natürlich unter den obwaltenden Umständen darauf gefaßt gewesen, von ihm mit Fragen überhäuft zu werden. Aber der mächtigste Antrieb bei dem alten Diener war doch der der alten Gastlichkeit, sobald ein Mitglied der Familie (gleichviel in welcher Veranlassung) als Besucher in dem Hause erschien.

»Treten Sie näher, Herr Franklin,« sagte er, indem er die Thür hinter sich mit einer sonderbaren altmodischen Verbeugung öffnete. »Was Sie herführt, sollen Sie mir später» erzählen, vor allen Dingen muß ich es Ihnen bequem machen. Die Dinge haben sich traurig verändert, seit Sie abgereist sind. Das Haus ist zugeschlossen und die Dienstboten sind fort. Aber einerlei! Ich will Ihnen Ihr Mittagessen. kochen; und die Gärtnersfrau wird Ihnen Ihr Zimmer in Ordnung halten —— und wenn noch eine Flasche von unserm famosen Latour im Keller liegt, so sollen Sie sie ausstechen, Herr Franklin. Ich heiße Sie willkommen Herr Franklin, herzlich willkommen!« sagte der gute Alte, der mannhaft darnach rang, den trüben Geist des verlassenen Hauses keine Gewalt über sich gewinnen zu lassen und mich mit der verbindlichen und gastfreien Ausnahme vergangener Tage zu empfangen.

Es that mir leid, ihm nicht zu Willen sein zu können, aber das Haus gehörte jetzt Rachel. Durfte ich nach dem, was in London vorgefallen war, darin essen oder schlafen? Das einfachste Gefühl der Selbstachtung machte es mir absolut unmöglich, die Schwelle zu betreten.

Ich ergriff Betteredge’s Arm und führte ihn in den Garten. Es half nichts, ich mußte ihm die Wahrheit sagen. Die Wendung der Dinge rief einen schweren Conflict zwischen seiner Anhänglichkeit für Rachel und seiner Anhänglichkeit für mich hervor. Seine Meinung sprach er dann in seiner gewöhnlichen geraden Weise aus, sie athmete den Geist der positivsten mir bekannten Philosophie — der Philosophie der Betteredge’sschen Schule.

»Fräulein Rachel hat ihre Fehler, das habe ich nie geleugnet,«« fing er an, »und einer ihrer Fehler besteht darin, daß sie sich zuweilen zu sehr auf’s hohe Pferd setzt. Sie hat es versucht, Sie zu überreiten, und Sie haben es sich gefallen lassen. Mein Gott, Herr Franklin, kennen Sie die Frauen noch nicht besser? Sie haben mich doch von meiner Seligen reden hören?«

Ich hatte ihn oft genug von seiner verstorbenen Frau reden hören, immer als von seinem mustergültigen Vorbild der eingeborenen Schwachheit und Verderbtheit des andern Geschlechts. In dieser Eigenschaft führte Er sie auch jetzt vor.

»Nun wohl, Herr Franklin, hören Sie mich! Verschiedene Frauenzimmer haben verschiedene Arten, sich auf’s hohe Pferd zu setzen. Meine Selig; pflegte dieses Lieblingsthier der Frauen zu reiten, so oft ich ihr irgend etwas versagt hatte, woran ihr Herz hing. So oft ich an diesen Tagen von meiner Arbeit nach Hause zurück kehrte, rief mir meine Frau von der Küche aus zu, daß sie nach der brutalen Behandlung, die ich ihr habe widerfahren lassen, nicht im Stande gewesen sei, mir mein Mittagessen zu kochen. Ich ertrug das eine Zeitlang, gerade wie Sie es jetzt von Fräulein Rachel ertragen. Endlich war meine Geduld erschöpft. Ich ging hinunter, nahm meine Frau, natürlich ganz freundschaftlich, auf den Arm, trug sie ohne Weiteres in das beste Zimmer, wo sie ihre Gesellschaften zu empfangen pflegte, und sagte: »Hier ist der rechte Platz für Dich, liebes Kind!« und ging dann in die Küche zurück, schloß mich dort ein, zog meinen Rock aus, krempelte meine Hemdsärmel auf und kochte mir selbst mein Mittagessen.

Als es fertig war, servirte ich es mir so gut ich es verstand und genoß es von ganzem Herzen. Dann steckte ich mir meine Pfeife an und trank mein Glas Grog; und dann räumte ich den Tisch wieder ab, wusch das Geschirr, reinigte Messer und Gabeln, legte die Sachen weg Und fegte den Heerd. Als die Sachen dann wieder so rein und glänzend waren, wie sie es nur sein konnten, öffnete ich die Thür und ließ Mrs. Betteredge wieder ein.

»Jetzt habe ich zu Mittag gegessen, liebes Kind,« sagte ich, »und ich hoffe, Du wirst zugeben, daß ich die Küche dabei so rein gehalten habe, wie Du es nur irgend wünschen kannst.« Darnach brauchte ich, so lange meine Frau lebte, mein Mittagessen nicht wieder selbst zu kochen, Herr Franklin. Moral: Sie haben« sich Fräulein Rachel in London gefügt, fügen Sie sich ihr nicht auch in Yorkshire Kommen Sie wieder in’s Haus!«

Vergebens! Ich konnte meinen alten Freund nur versichern, daß selbst seine Ueberredungskunst an mir in diesem Falle verloren sei.

»Es ist ein schöner Abend,« sagte ich, »ich werde nach Frizinghall gehen und dort im Hotel absteigen und Sie müssen morgen früh zu mir kommen und mit mir frühstücken. Ich habe Ihnen etwas zu sagen.«

Betteredge schüttelte bedenklich den Kopf.

»Das thut mir herzlich leid,« sagte er, »ich hatte gehofft, zu hören, das Alles zwischen Ihnen und Fräulein Rachel wieder in schönster Ordnung sei. Wenn Sie durchaus Ihren Willen haben müssen,« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »so brauchen Sie eines Bettes wegen heute Abend nicht nach Frizinghall zu gehen, das können Sie näher haben. Kaum zwei Meilen von hier ist die Hotherstone’sche Meierei. Gegen dieses Haus können Sie, in Rücksicht auf Fräulein Rachel, kaum etwas einzuwenden haben,« fügte der Alte schlau hinzu. »Hotherstone wohnt auf seinem eigenen Grund und Boden.«

Ich erinnerte mich des Hauses sofort. Es stand in einem geschützten Thal, an den Ufern des hübschesten Flusses in jenen Theilen Yorkshire’s, und der Eigenthümer hatte ein Fremden-Schlaf- und Wohnzimmer, welche er an Künstler, Angler und sonstige Touristen zu vermiethen pflegte. Eine angenehmere Wohnung während meines Aufenthalts in der Gegend hätte ich mir nicht wünschen können.

»Sind die Zimmer frei?« fragte ich.

»Mrs. Hotherstone selbst,« sagte er," »hat mich noch gestern gebeten, ihr Haus zu empfehlen.«

»Ich nehme die Zimmer mit dem größten Vergnügen, Betteredge.«

Wir gingen wieder nach dem Hof zurück, wo ich meinen Reisesack gelassen hatte. Nachdem er einen Stock durch den Griff gesteckt und den Sack über die Schulter genommen hatte, schien Betteredge wieder in das fassungslose Erstaunen zu verfallen, welches mein plötzliches Erscheinen, als ich ihn im Lehrstuhle überraschte, hervorgerufen hatte. Er blickte mit dem Ausdruck noch größerer Ungläubigkeit nach mir.

»Ich habe eine gute Anzahl Jahre in der Welt gelebt,« sagte dieser beste und theuerste aller alten Diener, »aber was ich jetzt erlebe, hofften meine Augen nie zu sehen. Da steht das Haus und hier steht Herr Franklin Blake —— hol mich der Teufel! —— kehrt der eine dem andern den Rücken und geht in eine gemiethete Wohnung!«

Er ging kopfschüttelnd und bedeutungsvoll murrend voran.

»Nun kann nur noch eine wunderbarere Sache passiren,« sagte er, indem er den Kopf über die Schulter umdrehte. »Das Nächste, was Sie thun werden, Herr Franklin, wird sein, daß Sie mir die 7 Shillinge 6 Pence zurückzahlen, die Sie als Knabe von mir geborgt haben.«

Dieser sarkastische Hieb brachte ihn in bessere Laune gegen sich selbst und gegen mich. Wir verließen das Haus und gingen am Pförtnerhause vorbei zum Gitter hinaus. Nachdem er Haus und Garten verschlossen hatte, legten die Pflichten der Gastfreundschaft Betteredge keinen Zwang mehr auf und konnte er seiner Neugierde freien Lauf lassen.

Er stand einen Augenblick still, bis ich neben ihm ging. »Schöner Abend für einen Spaziergang, Herr Franklin,« sagte er, als ob wir uns in diesem Augenblick zufällig begegnet wären, »angenommen, Sie wären nach dem Hotel in Frizinghall gegangen.«

»Ja?«

»So hätte ich die Ehre gehabt, morgen mit Ihnen zu frühstücken.«

»Nun, so frühstücken Sie jetzt mit mir in Hotherstone’s Meierei.«

»Sehr verbunden, Herr Franklin, für Ihre Güte. Aber es war nicht grade das Frühstück, worauf es mir ankam. Ich meine, Sie hätten vorhin bemerkt, daß Sie mir etwas zu sagen haben. Wenn es kein Geheimniß ist,« sagte Betteredge, indem er plötzlich den krummen Weg verließ und den graden betrat, »ich brenne vor Begierde, zu erfahren, was Sie so unvermuthet hierher geführt hat.«

»Was hat mich denn früher hierher geführt?« fragte ich.

»Der Mondstein, Herr Franklin Aber was führt Sie jetzt hierher?«

»Wieder der Mondstein, Betteredge.«

Der alte Mann stand plötzlich still und sah mich in dem grauen Dämmerlicht an, als ob er s« seinen eigenen Augen nicht traue.

»Wenn das ein Scherz sein soll,« sagte er, »so fürchte ich, ich bin auf meine alten Tage ein wenig stumpf geworden. Ich verstehe ihn nicht.«

»Es ist kein Scherz« antwortete ich; »ich bin hergekommen, um die Untersuchung wieder aufzunehmen, die man fallen gelassen hatte, als ich England verließ. Ich bin hergekommen, zu thun, was vor mir noch Keiner gethan hat —— herauszufinden, wer den Diamanten gestohlen hat.«

»Lassen Sie es mit dem Diamanten gut sein, Herr Franklin! Folgen Sie meinem Rath! Lassen Sie es damit gut sein! Dieser verwünschte indische Edelstein hat noch Jedermann, der ihm nahe gekommen ist, irre geleitet. Verschwenden Sie nicht Ihr Geld und Ihre Laune in Ihrer besten Lebenszeit damit, sich mit dem Mondstein zu befassen. Welchen Erfolg können Sie sich versprechen, wenn —— mit aller Achtung vor Ihrer Person sei es gesagt —— Sergeant Cuff selbst daran gescheitert ist? Sergeant Cuff!« wiederholte Betteredge, indem er den Zeigefinger bedeutungsvoll vor mir erhob, »der größte Polizei-Beamte in England!«

»Mein Entschluß ist gefaßt, mein alter Freund; selbst Sergeant Cuff kann mich nicht abschrecken Beiläufig, ich kann früher oder später in den Fall kommen, ihn sprechen zu müssen. Haben Sie kürzlich irgend etwas von ihm gehört?«

»Der Sergeant wird Ihnen zu nichts helfen, Herr Franklin.«

»Warum nichts«

»Seit Ihrer Abreise hat sich in der polizeilichen Welt etwas Merkwürdiges zugetragen. Der große Cuff hat sich von den Geschäften zurückgezogen Er hat sich ein kleines Landhaus in Dorking gekauft und lebt nur für die Rosenzucht. Das weiß ich von ihm selbst, Herr Franklin. Er hat die weiße Moosrose gezogen, ohne sie auf die wilde Rose zu pfropfen. Und der Gärtner Begbie soll nach Dorking kommen und sich endlich von dem Sergeanten für überwunden erklären.«

»Es kommt nicht viel darauf an,« sagte ich, »ich muß mich dann ohne Sergeant Cuff’s Beistand behelfen und damit beginnen, mich Ihnen anzuvertrauen.«

Vermuthlich hatte ich diese Worte etwas sorglos hingeworfen. Gewiß ist, daß Betteredge von der Antwort, die ich ihm eben gegeben hatte, etwas unangenehm berührt war.

»Sie könnten sich schlimmeren Leuten anvertrauen, Herr Franklin —— das kann ich Sie versichern,« sagte er etwas scharf.

Der Ton, in dem er dieses sprach, und eine gewisse Unsicherheit, die sich dabei in seinen Zügen malte, brachten mich dabei aus den Gedanken, daß er im Besitz einer Kunde sei, welche er mir mitzutheilen zaudere.

»Ich erwarte« sagte ich, »daß Sie mir behilflich sein werden, die Bruchstücke von Beweisen, welche Sergeant Cuff zurückgelassen hat, zusammenzulesen ich weiß, daß Sie das können. Können Sie nicht noch mehr thun?«

»Was können Sie noch mehr von mir erwarten?« fragte Betteredge mit dem Anschein der demüthigsten Ergebenheit.

»Ich halte mich durch das, was Sie eben selbst gesagt haben, zu mehr berechtigt.«

»Reine Renommage, Herr Franklin,« erwiderte der Alte eigensinnig »Manche Leute sind geborne Prahler und bleiben es bis an ihr Ende. Und so einer bin ich.«

Es gab nur ein Mittel, ihm beizukommen. ich appellirte an sein Interesse für Rachel und für mich.

»Betteredge, würde es Sie freuen zu hören, daß Rachel und ich wieder gute Freunde geworden seien?«

»Meine Dienste müssen Ihrer Familie von sehr geringem Nutzen gewesen sein, wenn Sie daran zweifeln können.«

»Erinnern Sie sich, wie Rachel mich behandelte, ehe ich England verließ?«

»So gut, als ob es gestern gewesen wäre.« Mylady, selbst schrieb Ihnen einen Brief darüber, und Sie hatten die Güte, mir den Brief zu zeigen. Er besagte, daß Fräulein Rachel sich durch den Antheil, welchen Sie an dem Versuch genommen, ihren Diamanten wieder ausfindig zu machen, tödtlich von Ihnen beleidigt glaube. Und weder Mylady noch Sie, noch sonst Jemand wußte, dieses Räthsel zu lösen.«

»Vollkommen richtig, Betteredge! Und nun kehre ich von meinen Reisen zurück und finde sie noch immer ebenso gegen mich gesonnen. Ich wußte im vorigen Jahr, daß der Diamant die Ursache dieses Grolls sei, und ich weiß, daß der Diamant auch jetzt noch die Ursache des fortdauernden Grolls ist. Ich habe versucht sie zu sprechen, aber sie will mich nicht sehen. Ich habe versucht ihr zu schreiben, aber sie will mir nicht antworten. Wie in aller Welt soll ich eine Aufklärung in dieser Angelegenheit erlangen? Die einzige Möglichkeit dazu, die Rachel selbst mir gelassen hat, ist, dem Verlust des Mondsteins weiter nachzuforschen.«

Mit diesen Worten hatte ich ihm augenscheinlich eine Ansicht über den Fall eröffnet, die ihm bis jetzt verschlossen gewesen war. Er that eine Frage, die mich überzeugt, daß ich nicht umsonst gesprochen hatte.

»Sie tragen keinen Groll mehr gegen Fräulein Rachel im Herzen, Herr Franklin?«

»Ich war etwas aufgebracht,« antwortete ich, »als ich London verließ. Aber das ist jetzt völlig vorüber. Alles, was ich jetzt wünsche, ist, zu einer Verständigung mit Rachel zu gelangen.«

»Sie fürchten auch nichts, Herr Franklin, von etwaigen Entdeckungen, die Sie in Betreff Fräulein Rachel’s machen könnten?«

Ich verstand den gegen jeden Zweifel eifersüchtigen Glauben an seine junge Herrin, welcher ihm diese Worte eingab.

»Ich habe einen so festen Glauben an Rachel, wie Sie,« antwortete ich. »Die vollste Enthüllung ihres Geheimnisses kann nichts an den Tag bringen, was ihren Platz in Ihrer oder meiner Achtung verrücken könnte.«

Bei diesen Worten verschwanden Betteredges letzte Scrupel.

»Wenn ich Unrecht thue, Ihnen zu helfen, Herr Franklin,« erklärte er sich, »so ist Alles, was ich zu meiner Rechtfertigung sagen kann, daß ich in der Erkenntniß dieses Unrechts so unschuldig wie ein neugebornes Kind bin. Ich kann Sie auf die Bahn der Entdeckung bringen, wenn Sie dann nur allein aus derselben weiter gehen können. Sie erinnern sich des armen Mädchens, das bei uns im Hause war, Rosanna Spearman?«

»Gewiß!«

»Sie glaubten immer, sie trage sich mit einem Bekenntniß über die Mondstein-Angelegenheit, das sie Ihnen habe ablegen wollen?«

»Ich wußte mir wenigstens ihr sonderbares Benehmen nicht anders zu erklären.«

»Diesen Zweifel können Sie heben, Herr Franklin, sobald Sie wollen.«

Jetzt war es an mir, stillzustehen Vergebens versuchte ich es, in der einbrechenden Dämmerung in seinen Zügen zu lesen. In meiner Ueberraschung fragte ich etwas ungeduldig, was er damit meine.

»Nur ruhig, Herr Franklin!« erwiderte Betteredge. »Ich meine, was ich sage. Rosanna Spearman hat einen versiegelten, an Sie adressirten Brief hinterlassen.«

»Wo ist der Brief?«

»In den Händen einer Freundin von ihr in Cobb’s Hole. Sie müssen bei Ihrem letzten Aufenthalt von der hinkenden Lucis, einem lahmen Mädchen mit einer Krücke, gehört haben.«

»Der Tochter des Fischers?«

»Eben der, Herr Franklin.«

»Warum wurde mir der Brief nicht nachgeschickt?«

»Die hinkende Lucy hat ihren eigenen Kopf, Herr Franklin, Sie wollte den Brief nur Ihnen selbst übergeben, und Sie hatten England verlassen, bevor ich Ihnen deshalb schreiben konnte.«

»Lassen Sie uns umkehren, Betteredge, und gleich den Brief holen!«

»Heute Abend ist es zu spät, Herr Franklin. Die Leute an unserer Küste sind sehr sparsam mit dem Verbrauch von Licht und in Cobb’s Hole gehen sie früh zu Bette.«

»Dummes Zeug! In einer halben Stunde können wir da sein!«

»Vielleicht aber würden Sie, wenn Sie hinkämen, die Thür verschlossen finden. Dabei deutete er auf ein unter uns flimmerndes Licht, und in demselben Augenblick hörte ich durch die Stille der Nacht das Murmeln eines Baches.

»Hier ist die Meierei, Herr Franklin! Machen Sie es sich für die Nacht bequem und kommen Sie gefälligst morgen früh zu mir.«

»Wollen Sie dann mit mir nach der Fischerhütte gehen?«

»Ja, Herr Franklin.«

»Und recht früh?«

»So früh Sie wollen.«

Wir stiegen den Pfad hinab, der zu der Meierei führte.



Kapiteltrenner

Drittes Capitel.

Von meinem Aufenthalt in der Hotherstone’schen Meierei habe ich nur eine höchst unbestimmte Vorstellung.

Ich erinnere mich nur noch eines herzlichen Willkommens; eines opulenten Abendessens welches zur Ernährung eines ganzen orientalischen Dorfes hingereicht haben würde; eines allerliebsten sauberen Schlafzimmers in welchem nichts vom Uebel war, als jenes abscheuliche Ueberbleibsel der Thorheit unserer Vorfahren, ein Federbett; einer schlaflosen Nacht mit starkem Verbrauch von Zündhölzern und häufigem Anzünden einer einzigen kleinen Kerze, und eines Gefühls außerordentlicher Erleichterung, als die Sonne aufging und sich die Aussicht eröffnete, bald aufstehen zu können.

Ich hatte, wie erwähnt, am Abend mit Betteredge verabredet, daß ich ihn nach Cobb’s Hole abholen solle, so früh ich wolle, was für meine Ungeduld, in den Besitz des Briefes zu gelangen, so viel sagen wollte wie so früh ich könne.

Ohne das Frühstück in der Meierei abzuwarten, steckte ich ein Stück Brot in die Tasche und machte mich auf den Weg, obgleich ich mir nicht verhehlen konnte, daß ich den vortrefflichen Betteredge vielleicht noch im Bette finden würde. Zu meinem großen Trost fand ich ihn in Betreff des bevorstehenden Ereignisses ebenso aufgeregt, wie ich selbst es war. Ich fand ihn fertig und mit einem Stock in der Hand auf mich wartend.

»Wie geht s Ihnen, Betteredge?«

»Schlecht, Herr Franklin.«

»Thut mir sehr leid. Was fehlt Ihnen?«

»Ich laborire an einer neuen Krankheit, Herr Franklin, die ich selbst erfunden habe. Ich möchte Sie nicht beunruhigen, aber Sie bekommen sicher dieselbe Krankheit noch ehe der Morgen vorüber ist.«

»Hol’ Sie der Teufel!«

»Fühlen Sie nicht eine unbehagliche Wärme im Magen, Herr Franklin, und ein fatales Klopfen im Kopf? Wie, noch nicht? Dann bekommen Sie es in Cobb’s Hole, Herr Franklin. Ich nenne die Krankheit das Entdeckungsfieber; ich bin zum ersten Mal in Sergeant Cuff’s Gesellschaft davon befallen worden.«

»Ho, ho! und das Heilmittel wird in diesem Fall wohl in dem Eröffnen von Rosanna Spearman’s Brief bestehen. Kommen Sie mit und lassen Sie uns ihn holen.«

Trotz der frühen Morgenstunde fanden wir doch die Fischerfrau schon in ihrer Küche beschäftigt. Nachdem mich Betteredge vorgestellt hatte, erwies mir die gute Frau Yolland die Ehre einer Höflichkeit, die, wie ich später erfuhr, nur für Fremde von Distinction bestimmt war. Sie setzte eine Flasche Genever und ein Paar reine Pfeifen auf den Tisch und eröffnete die Ueberraschung mit der Frage:

»Was giebt es Neues von London, Herr?«

Bevor ich noch eine Antwort auf diese viel umfassende Frage finden konnte, trat aus einem dunkeln Winkel der Küche eine Gestalt auf mich zu. Ein bleiches, hageres, verwegen aussehendes Mädchen mit auffallend schönem Haar und mit einem kühnen, wilden Blick im Auge hinkte an einer Krücke an den Tisch heran, an dem ich saß, und sah mich an, als ob ich für sie ein Gegenstand des Interesses und des Schauders zugleich sei, bei dessen Anblick sie wie von einem Zauber gebannt schien.

»Herr Betteredge,« sagte sie, ohne ihre Augen von mir abzuwenden, »sagen Sie, bitte, noch einmal seinen Namen.«

»Der Name dieses Herrn,« sagte Betteredge mit einer starken Betonung des »Herrn,« »ist Herr Franklin Blake.«

Bei diesen Worten kehrte mir das Mädchen den Rücken zu und verließ plötzlich das Zimmer. Die gute Frau Yolland brachte, glaub’ ich, einige Entschuldigungen über das sonderbare Benehmen ihrer Tochter vor und Betteredge übersetzte dieselben vermuthlich in höfliches Englisch. Ich weiß darüber nichts Bestimmtes mehr. Meine Aufmerksamkeit war durch das Aufhorchen nach dem Klang der Krücke des Mädchens ganz absorbiert. Bum, bum, die hölzerne Treppe hinauf; bum, bum, durch das Zimmer über unsern Köpfen; bum, bum, die Treppe wieder hinab —— da stand wieder Die Gestalt an der offenen Thür, einen Brief in der Hand, mich zu sich hinauswinkend.

Ich ließ die Entschuldigungen der Alten im Stich und folgte dem sonderbaren Geschöpf, das rasch und rascher vor mir herhinkte, an den Strand hinab. Sie führte mich hinter einige Böte, wo wir von den wenigen Menschen im Fischerdorf ungesehen und ungehört blieben, stand still und sah mir zum ersten Mal in’s Gesicht.

»Stehen Sie still,« sagte sie, »ich muß Sie ansehen.«

Der Ausdruck ihres Gesichts war nicht zu mißdeuten. Ich flößte ihr die tiefste Abneigung und den furchtbarsten Widerwillen ein. Es würde zu eitel klingen, wenn ich sagen wollte, daß mich noch nie in meinem Leben ein weibliches Wesen so angesehen hat. Ich will mich lieber bescheidener so ausdrücken, daß noch nie ein weibliches Wesen es mich hatte merken lassen. Die Dauer, während deren ein Mann es ertragen kann, sich unter gewissen Umständen betrachten zu lassen, hat ihre Grenzen. Ich versuchte es, die Aufmerksamkeit der hinkenden Lucy auf einen weniger widerwärtigen Gegenstand zu lenken, als mein Gesicht es für sie zu sein schien.

»Ich glaube, Sie haben mir einen Brief zu übergeben,« fing ich an, »ist es der Brief, den Sie da in der Hand haben?«

»Sagen Sie das noch einmal,« war die einzige Antwort, die ich erhielt.

Ich wiederholte die Worte wie ein artiges Kind, das seine Lection lernt.

»Nein,« sagte das Mädchen mit sich selbst redend, aber die Augen noch immer unbarmherzig auf mich gerichtet. »Ich begreife nicht, was sie in seinem Gesicht gefunden hat.« Auf einmal wandte sie den Blick von mir ab und stützte den Kopf matt auf den Griff ihrer Krücke »O, mein armes Kind« sagte sie zum ersten Mal, seit ich ihre Stimme gehört hatte, in einem sanfteren Ton. »O, mein geliebter Engel! Was hast Du an diesem Mann gefunden?« Sie erhob ihren Kopf wieder wild und sah mich an. »Können Sie essen und trinken?« fragte sie.

Ich gab mir die größte Mühe, ernsthaft zu bleiben und antwortete »Ja!«

»Können Sie schlafen?«

»Ja«

»Fühlen Sie keine Gewissensbisse, wenn Sie ein armes Dienstmädchen sehen?«

»Durchaus nicht! Warum sollte ich?«

Plötzlich warf sie mir den Brief in’s Gesicht.

»Da, nimm ihn!« rief sie wüthend. »In meinem Leben habe ich Dich nicht gesehen; Gott der Allmächtige behüte mich davor, daß ich Dich je wieder zu sehen bekomme.«

Mit diesen Abschiedsworten hinkte sie, so rasch sie konnte, fort. Die einzige Erklärung, die ihr Betragen für mich zuließ, hat sich jeder Leser ohne Zweifel bereits selbst gegeben. Ich konnte nur annehmen, daß sie verrückt sei.

Nachdem ich zu diesem unvermeidlichen Schluß gelangt war, wandte ich mich dem interessanteren Gegenstand der Erforschung zu, der sich nun in Rosanna Spearman’s Brief darbot. Die Adresse lautete wie folgt: »Für Herrn Franklin Blake. Ihm eigenhändig zu übergeben (und Niemandem andern anzuvertrauen) von Lucy Yolland.«

Ich erbrach das Siegel. Das Couvert enthielt einen Brief und dieser enthielt wieder einen Streifen Papier.

Ich las zuerst den Brief:

»Mein Herr! Wenn Sie mein Betragen gegen Sie, während Ihres Aufenthaltes in dem Hause meiner Herrin, Lady Verinder, verstehen wollen, so thun Sie, was Ihnen in dem einliegenden Memorandum zu thun geheißen wird und thun Sie es, ohne daß irgend Jemand dabei wäre, der Ihnen zusehen könnte. Ihre ergebene Dienerin Rosanna Spearman.«

Jetzt nahm ich den Papierstreifen in die Hand. Der Inhalt desselben lautet wörtlich wie folgt:

»Memorandum: Bei Eintritt der Fluth nach dem Zitterstrand gehen. Auf die Südspitze hinausgehen, bis ich an den.Punkt gelange, wo der Südspitzen-Leuchtthurm und die Flaggenstange aus der Küstenwacht-Station über Cobb’s Hole eine Linie bilden. Einen Stock oder irgend etwas Grades auf die Felsen legen, um meine Hand genau in der Richtung des Leuchtthurms und der Flaggenstange zu leiten. Dabei darauf achten, daß das eine Ende des Stocks sich an der scharfen Kante der Felsen an der Seite derselben befinde, welche den Zitterstrand überhängt. In der Richtung dieses Stocks, von dem Ende desselben her, welches dem Leuchtthurm zugekehrt ist, durch das Seegras hindurch nach der Kette fühlen. Mit der Hand, sobald ich die Kette gesunden habe, dieselbe verfolgen, bis ich an das Stück derselben gelange, welches über die Kante des Felsens in den Zitterstrand hinabgeht. Dann an der Kette ziehen.«

Äls ich eben die letzten im Original unterstrichenen Worte gelesen hatte, hörte ich Betteredge’s Stimme hinter mir. Der Erfinder des Entdeckungsfiebers war einmal wieder dieser Krankheit widerstandslos in die Hände gefallen.

»Ich kann es nicht länger aushalten, Herr Franklin Was steht in dem Brief? Um Gottes willen, sagen Sie uns, was steht in dem Brief?«

Ich überreichte ihm den Brief und das Memorandum. Den Ersteren las er anscheinend ohne besonderes Interesse. Einen umso größeren Eindruck brachte das Memorandum auf ihn hervor.

»Sergeant Cuff hat es vorausgesagt,« rief Betteredge. »Von Anfang an hat er behauptet, daß sie ein Memorandum über den Ort des Verstecks habe. Und hier haben wir es. So wahr mir Gott helfe, hier haben Sie den Schlüssel zu dem Räthsel in Händen, an dessen Lösung wir uns Alle, von dem großen Cuff an, vergebens abgearbeitet haben.«

»Wir haben eben jetzt Ebbe, wie Sie sehen. Wie lange wird es dauern, bis die Fluth wieder kommt?«

Er blickte um sich und sah in einiger Entfernung von uns einen Burschen mit dem Flicken eines Netzes beschäftigt sitzen: »Tommy Bright!« rief er so laut er konnte.

»Zu Befehl, Herr,« rief Tommy zurück.

»Wann kommt die Fluth?«

»In einer Stunde!«

Wir sahen Beide auf unsere Uhren.

»Wir können den Strand entlang nach dem Zittersand gehen, Herr Franklin,« sagte Betteredge, »und haben noch Zeit genug. Was meinen Sie dazu?«

»Kommen Sie.«

Auf unserem Wege nach dem Zitterstrand ließ ich mir von Betteredge mein Gedächtniß in Betreff der Umstände, welche sich auf Rosanna Spearman’s Verhalten bei der Untersuchung von Sergeant Cuff bezogen, auffrischen. Mit dem Beistand meines alten Freundes gelangte ich bald wieder zu einem völlig klaren Ueberblicke der Ereignisse in ihrer Folge: Rosanna’s Reise nach Frizinghall, als das ganze Haus sie krank auf ihrem Zimmer glaubte —— Rosanna’s mysteriöse Benutzung der Nachtzeit bei verschlossenen Thüren und dem während der ganzen Nacht brennenden Licht. Rosanna’s verdächtiger Kauf der lackierten Zinnbüchsen und der beiden Hundeketten von Frau Yolland. Die feste Ueberzeugung des Sergeanten, daß Rosanna etwas im Zittersand versteckt habe und die vollständige Ungewißheit des Sergeanten über die Natur des versteckten Gegenstandes —— alle diese sonderbaren Ergebnisse der verfehlten Nachforschung nach dem Verbleib des Mondsteins standen mir wieder vollkommen klar vor Augen, als wir den Zitterstrand erreichten und auf den die Südspitze genannten Felsriffen zusammen ins Meer hinaus gingen.

Mit Betteredge’s Hilfe stand ich bald so, wie es das Memorandum verlangte, daß ich den Leuchtthurm und die Flaggenstange auf der Küstenwacht-Station in einer Linie sah. Nach weiterer Anleitung des Memorandums gaben wir dann meinem Stock, so genau es der unebene Felsboden irgend zuließ, die rechte Richtung, und sahen dann wieder auf unsere Uhr.

Es waren noch ungefähr zwanzig Minuten. bis zum Eintritt der Fluth. Ich schlug vor, diese Zeit lieber am Strande, als auf dem schlüpfrigen Felsboden abzuwarten.

Am Strande angelangt, wollte ich mich eben niedersetzen, als Betteredge sich zu meiner großen Ueberraschung anschickte, mich zu verlassen.

»Warum wollen Sie fortgehen?« fragte ich.

»Sehen Sie sich den Brief noch einmal an, Herr Franklin,« sagte er, »und Sie werden wissen warum.«

Ein Blick in den Brief erinnerte mich, daß ich darin beauftragt wurde, meine Entdeckung ohne Zeugen vorzunehmen.

»Es wird mir schwer genug, Sie, Herr Franklin, in einem solchen Augenblick zu verlassen,« sagte Betteredge. »Aber das arme Mädchen ist eines schrecklichen Todes gestorben, und ich betrachte es als eine Art heiliger Pflicht, ihr darin zu Willen zu sein. Ueberdies,« fügte er vertraulich hinzu, »verbietet Ihnen der Brief ja nicht, das Geheimniß später mitzutheilen. Ich will da oben im Tannenholz warten, bis Sie mir nachkommen. Halten Sie sich bitte, nicht länger auf, als nöthig. Das Entdeckungsfieber ist bei Gott kein leichtes Uebel unter solchen Umständen.«

Mit dieser Abschiedsmahnung verließ er mich.

Die Frist der Erwartung, so kurz wie sie sich auch nach dem Zeitmaaß berechnete, erschien mir doch, nach dem Maaße aufregender Ungewißheit gemessen, von ungeheurer Dauer. Das war eine der Gelegenheiten, bei welchen sich die unschätzbare Gewohnheit des Rauchens als besonders werthvoll und tröstlich erwies. Ich steckte mir eine Cigarre an und setzte mich am Abhang des Strandes nieder.

Alle Gegenstände glänzten im klarsten Sonnenlicht. Die köstliche Reinheit der Luft machte das bloße Dasein und Athmen zum Genuß. Selbst die einsame kleine Bucht begrüßte den Morgen mit heiterem Antlitz und sogar die nackte, nasse Oberfläche des Zitterstrandes erglänzte in goldigem Schimmer und verbarg die Schrecken ihres falschen fahlen Angesichts unter einem vorübergehenden Lächeln.

Es war der schönste Tag, den ich seit meiner Rückkehr nach England erlebt hatte.

Die Fluth kam heran, bevor meine Cigarre aufgeraucht war. Ich sah, wie sich der Sand zu heben anfing und dann schauerlich erzitterte, als ob in der bodenlosen Tiefe desselben ein Geist des Schreckens lebe und sich schaudernd rege. Ich warf meine Cigarre fort und kehrte wieder nach den Felsen zurück.

Meine Vorschriften in dem Memorandum wiesen mich an, der durch den Stock gebildeten Linie entlang, von der Seite her, die dem Leuchtthurm zunächst lag, zu fühlen.

Ich ging in dieser Weise bis über die Hälfte des Stockes vor, ohne aus irgend etwas, als aus die Felskanten zu stoßen. »Ein oder »zwei Zoll weiter hin jedoch wurde endlich meine Geduld belohnt. In einer engen kleinen, meinem Zeigefinger erreichbaren Spalte fühlte ich die Kette. Bei dem Versuch, der Kette zunächst in der Richtung des Zittersandes nachzufühlen, wurde meine Hand durch einen dicken Büschel Seegras aufgehalten, der sich ohne Zweifel in der, seit dem Verstecken Rosanna’s verflossenen Zeit in die Spalte eingeklemmt hatte.

Es war mir ebenso unmöglich, das Seegras auszureißen, wie mit der Hand durch dasselbe hindurchzudringen. Nachdem ich die durch das Ende des Stocks angedeutete Stelle, welche dem Zittersand zunächst lag, markirt hatte, beschloß ich die fernere Hervorholung der Kette nach meinem eigenen Plan zu bewerkstelligen. Meine Idee war, die Stelle unmittelbar unter den Felsen in der Hoffnung zu sondiren, die verlorne Spur der Kette an der Stelle wiederzufinden, wo sie in den Sand hinab hing.

Ich nahm den Stock auf und kniete am Rande der Südspitze nieder.

In dieser Stellung befand sich mein Gesicht nur einige Fuß von der Oberfläche des Zittersandes entfernt. Der Anblick desselben, der noch von Zeit zu Zeit in schauerlicher Weise erzitterte, aus so großer Nähe, wirkte für einen Augenblick furchtbar aufregend auf meine Nerven. Eine schreckliche Vorstellung, daß das todte Weib auf dem Schauplatz ihres Selbstmordes erscheinen möchte, um mir bei meiner Nachsuchung behilflich zu sein, eine unaussprechliche Angst, sie aus der zitternden Oberfläche des Sandes hervortauchen und auf die Stelle hinweisen zu sehen, bemächtigte sich meiner Einbildungskraft und machte mich in dem warmen Sonnenschein starr vor Kälte. Ich gestehe, daß ich die Augen in dem Moment schließen mußte, wo die Spitze des Stocks den Zittersand zuerst berührte.

Ich nächsten Moment aber, bevor sich noch der Stock mehr als einige Zoll gesenkt haben konnte, war ich das Schreckbild meiner eigenen Vorstellungen wieder los und zitterte vor ungeduldiger Aufregung. Mein unternommener Versuch hatte auf’s Gerathewohl mich auf die rechte Fährte geführt! Der Stock stieß auf die Kette.

Indem ich die Seegraswurzeln fest mit meiner Linken packte, legte ich mich platt auf den Rand des Felsens und fühlte mit der Rechten unter die überhängenden Felskanten. Und meine Rechte faßte die Kette.

Ich zog sie ohne die mindeste Schwierigkeit in die Höhe, bis die an ihrem Ende befestigte lackierte Zinnbüchse zum Vorschein kam.

Die Wirkung des Wassers hatte die Kette derartig mit Rost bedeckt, daß es« mir unmöglich war, sie aus dem Haken, durch den sie an der Büchse befestigt war, loszumachen. Ich nahm die Büchse zwischen die Knie und gelangte mit dem Aufgebot meiner ganzen Kraft dahin, den Deckel zu öffnen. Das Innere war ganz mit einem weißen Stoff angefüllt Ich nahm ihn in die Hand und fand, daß es Leinen war.

Beim Herausziehen des Leinens zog ich auch einen mit demselben zusammengewickelten Brief hervor. Nachdem sich die Adresse angesehen und gefunden hatte, daß sie meinen Namen trug, steckte ich den Brief in die Tasche und nahm das Leinen völlig heraus. Es bildete eine dicke Rolle, die natürlich die Gestalt der Büchse angenommen hatte, in welcher sie so lange aufbewahrt, vor jeder Beschädigung durch Seewasser geschützt gewesen war. Ich trug das Leinen nach dem trocknen Sande des Strandes hin, rollte es hier auseinander und glättete es. Es war unzweifelhaft ein Kleidungsstück, ein Nachthemd. Der obere Theil zeigte beim Ausbreiten unzählige Falten und krause Stellen, weiter nichts. Ich untersuchte dann den untern Theil und entdeckte auf der Stelle den Farbenfleck von der Malerei an der Thür von Rachel’s Boudoir.

Meine Augen blieben wie gebannt aus den Fleck geheftet und mein Geist versetzte mich im Fluge in die vergangenen Tage zurück.

Die Worte Sergeant Cuffs traten mir wieder vor die Seele, als ob der Mann wieder neben mir gestanden und aus den unwidersprechlichen Schluß hingewiesen hätte, den er aus dem Fleck an der Thür gezogen hatte.

»Finden Sie heraus, ob sich irgend ein Kleidungsstück mit dem Farbenfleck hier im Hause befindet; finden Sie heraus, wem dieses Kleidungsstück gehört; finden Sie heraus, wie diese Person sich dafür verantworten kann, daß sie zwischen Mitternacht und drei Uhr Morgens hier im Zimmer gewesen ist und den Farbenfleck verursacht; wenn die Person sich nicht genügend verantworten kann, so haben Sie nicht weit nach der Hand zu suchen, die den Diamanten genommen hat.«

Eines nach dem andern traten mir diese Worte wieder vor die Seele und erklangen, wie ermüdend mechanisch wiederholt, immer und immer wieder in mir. Aus einer Ekstase, in der ich stundenlang verharrt zu haben glaubte, die aber in der That unzweifelhaft nur wenige Augenblicke gedauert hatte, wurde ich durch eine mich rufende Stimme aufgeschreckt Ich blickte auf und sah, daß Betteredge endlich die Geduld verloren hatte. Er stand zwischen den Sandhügeln, die sich am Strand herabziehen. Der Anblick des alten Mannes brachte mich wieder zu mir und erinnerte mich, daß die so weit von mir verfolgte Untersuchung noch unvollständig war. Ich hatte den Farbenfleck auf dem Nachthemd entdeckt. Aber wem gehörte das Nachthemd?

Mein erster Antrieb war, in dem Brief nachzusehen, den ich in der Büchse gefunden und in die Tasche gesteckt hatte.

Als ich aber eben die Hand ausstrecken wollte, um den Brief aus der Tasche zu nehmen, erinnerte ich mich, daß es noch einen kürzern Weg der Entdeckung gebe.

Das Nachthemd selbst mußte die Wahrheit offenbaren, denn aller Wahrscheinlichkeit nach trug doch dieses Nachthemd das Namenszeichen seines Eigenthümers.

Ich hob dasselbe vom Sande auf und sah nach dem Namen.

Ich fand denselben und las —— Meinen eigenen Namen.

Da standen die bekannten Buchstaben, welche mir sagten, daß das Nachthemd mir gehöre. Ich blickte wieder auf. Da stand die Sonne; da lag die Bucht mit ihren leuchtenden Fluthen, da war der alte Betteredge, der näher und näher auf mich zukam. Ich blickte wieder auf die Buchstaben. Mein eigener Name! Mir unabweislich vor die Augen gestellt —— mein eigener Name.

»Wenn Zeit, Muhe und Geld es bewerkstelligen können, so will ich den Dieb, der den Mondstein genommen hat, herausfinden.« Mit diesen Worten auf den Lippen hatte ich London verlassen. Ich hatte das Geheimniß enthüllt, welches der Zittersand vor jedem andern Wesen verborgen gehalten hatte. Und, nach dem unwiderleglichen Beweise des Farbenflecks, hatte ich mich selbst als den Dieb entdeckt.



Kapiteltrenner

Viertes Capitel.

Ich brauche über meine eigenen Empfindungen kein Wort zu verlieren.

Ich habe den Eindruck daß meine Erschütterung meine Fähigkeit zu denken und zu fühlen, völlig aufhob. Ich wußte nichts mehr von mir, als Betteredge zu mir trat, denn wie er mich versichert hat, lachte ich, als er mich fragte, wie es stehe, und forderte ihn, indem ich ihm das Nachthemd überreichte, auf, die Lösung des Räthsels selbst zu lesen.

Von dem was wir am Strande mit einander sprachen, habe ich nicht mehr die leiseste Erinnerung. Die erste Stelle, an welcher ich mich wieder deutlich sehe, ist die Tannenanpflanzung. Betteredge und ich gehen zusammen nach dem Hause zurück und Betteredge sagt mir, daß wir beide im Stande sein werden, der Sache gerade in’s Gesicht zu sehen, wenn wir ein Glas Grog getrunken haben werden.

Die Scene verwandelt sich aus der Tannenanpflanzung in Betteredge’s kleines Wohnzimmer. Mein Entschluß, Rachel’s Haus nicht zu betreten, ist vergessen. Ich empfinde dankbar die schattige Kühle und die Ruhe des Zimmers. Ich trinke den Grog, —— einen zu dieser Tageszeit unbekannter Luxus für mich, —— den mein guter alter Freund mit eiskaltem Quellwasser mischt. Unter anderen Umständen würde das Getränk mich einfach dumm gemacht haben. Unter den obwaltenden Umständen aber stählt es meine Nerven. Ich fange an, der Sache gerade in’s Gesicht zu sehen, wie Betteredge es vorausgesagt hat, und Betteredge seinerseits kommt gleichfalls wieder zur Besinnung.

Das Bild, welches ich hier von mir selbst entwerfe, muß, wie ich fürchte, gelinde gesagt, sonderbar erscheinen. Was ist mein erster Schritt in meiner Situation, die glaube ich, als ohne Gleichen bezeichnet werden kann? Schließe ich mich von jeder menschlichen Gesellschaft ab? Richte ich meine ganze Geistesthätigkeit darauf, die schauderhafte Unmöglichkeit zu analysiren, welche mir gleichwohl als eine unabweisliche Thatsache gegenüber steht? Eile ich mit dem ersten Zuge nach London zurück, um die ersten Autoritäten zu consultiren und auf der Stelle eine Untersuchung in’s Werk zu setzen? Nein. Ich nehme den Schutz eines Hauses an, durch dessen Betretung mich nie wieder herabzuwürdigen ich fest entschlossen war; und sitze da, in Gesellschaft eines alten Dieners, Morgens um zehn Uhr Cognac und Wasser schlürfend. Ist das das Benehmen, das man von einem Manne in meiner furchtbaren Situation erwarten durfte? Ich kann nur antworten, daß der Anblick der befreundeten Züge des alten Betteredge ein unaussprechlicher Trost für mich war und daß das Trinken des Grog’s des alten Betteredge’s mir in der vollständigen körperlichen und geistigen Abspannung in die ich verfallen war, half, wie mir wahrlich nichts anderes geholfen haben würde. Ich habe keine andere Entschuldigung für mich anzuführen und ich kann die nie versagende Beobachtung der eigenen Würde und die strenge Logik des Verhaltens, welche alle männlichen und weiblichen Leser dieser Zeilen in der Lage ihres Lebens auszeichnet, nur bewundern.

»Eines ist auf jeden Fall gewiß, Herr Franklin,« sagte der alte Betteredge, indem er das Nachthemd zwischen uns auf den Tisch warf und auf dasselbe hinwies, als ob es ein lebendes Wesen sei, das ihn hören könne, »vor allen Dingen, es lügt.«

Diese tröstliche Ansicht von der Sache vermochte ich nicht zu theilen.

»Ich bin mir,« sagte ich, »so wenig wie Sie bewußt, den Diamanten genommen zu haben. Aber dieser Zeuge spricht gegen mich! Der Farbenfleck auf dem Nachthemd und der Name auf dem Nachthemd sind Thatsachen.«

Betteredge nahm mein Glas und drückte es mir mit einer Bewegung des Zuredens in die Hand.

»Thatsachen?« wiederholte er. »Trinken Sie noch einen Schluck Grog, Herr Franklin, und Sie werden die Schwachheit, an Thatsachen zu glauben, überwinden! Dahinter steckt ein schlechter Streich, Herr Franklin,« fuhr er fort, die Stimme vertraulich senkend. »So erkläre ich mir das Räthsel. Ein schlechter Streich, und Sie und ich müssen herausfinden, wer Ihnen denselben gespielt hat. Haben Sie weiter nichts in der Zinnbüchse gefunden?«

Die Frage erinnerte mich sofort an den Brief in meiner Tasche. Ich zog ihn hervor und öffnete ihn. Es war ein seitenlanger, eng geschriebener Brief. Ich blickte ungeduldig nach der Unterschrift am Schluß: »Rosanna Spearman.«

Als ich den Namen las, fuhr mir plötzlich eine Erinnerung durch den Kopf und erleuchtete mich mit einem neuen Verdacht.

»Halt!« rief ich aus, »war nicht Rosanna Spearman aus einem Besserungshause zu meiner Tante gekommen? War nicht Rosanna Spearman früher eine Diebin gewesen?«

»Ohne Frage, Herr Franklin. Aber was folgt daraus, wenn ich fragen darf?«

»Was daraus folgt? Wie können wir wissen, ob sie nicht doch am Ende den Diamanten gestohlen? Ob sie nicht mein Nachthemd absichtlich mit dem Farbenfleck beschmiert hat?«

Betteredge legte seine Hand auf meinen Arm und hielt mich zurück, ehe ich ein Wort weiter sagen konnte.

»Sie werden sich ohne Zweifel von jedem Verdachte reinigen können, aber nicht auf diese Weise, wie ich hoffe. Sehen Sie zu, was in dem Brief steht. Im Namen der Gerechtigkeit für das Andenken des Mädchens! Sehen Sie zu, was in dem Brief steht.«

Ich empfand den Ernst seiner Worte fast wie einen Vorwurf gegen mich. »Sie sollen sich selbst auf Grund dieses Briefes Ihr Urtheil bilden,« sagte ich. »Ich will ihn Ihnen vorlesen.«

Ich fing an und las wie folgt:

»Mein Herr! Ich habe Ihnen etwas zu bekennen. Ein Bekenntniß tiefen Elends kann oft in wenigen Worten abgelegt werden. Mein Bekenntniß bedarf nur dreier Worte: Ich liebe Sie.«

Der Brief entsank meinen Händen. Ich blickte auf Betteredge »Ja des Himmels Namen,« sagte ich, »was soll das heißen?«

Er schien vor einer Beantwortung der Frage zurückzuschrecken.

»Sie sind diesen Morgen mit der hinkenden Lucy allein gewesen,« sagte er. »Hat sie Ihnen nichts über Rosanna Spearman gesagt?«

»Sie hat nicht einmal den Namen Rosanna’s genannt.«

»Bitte, lesen Sie weiter, Herr Franklin Ich gestehe Ihnen offen, ich kann es nicht über’s Herz bringen, Sie zu betrüben, nach dem, was Sie bereits haben ertragen müssen. Lassen Sie das Mädchen selbst reden und trinken Sie noch einmal! Um Ihrer» selbst willen trinken Sie noch einen Schluck Grog.«

Ich fuhr fort, den Brief zu lesen:

»Es würde mir schlecht anstehen, Ihnen dieses zu gestehen, wenn ich in dem Augenblick, wo Sie es lesen werden, noch am Leben wäre; aber ich werde nicht mehr sein, wenn Sie meinen Brief finden. Das giebt mir Muth. Nicht einmal die Stätte, wo ich begraben sein werde, wird von mir zeugen. Ich kann es wagen die Wahrheit zu sagen, denn der Zittersand wird mich in seinem Schoße bergen, wenn ich diese Worte geschrieben habe.

»Außerdem werden Sie in meinem Versteck Ihr Nachthemd mit dem Farbenfleck darauf finden; und Sie werden wissen wollen, wie ich dazu gekommen bin, dasselbe zu verstecken? und warum ich Ihnen bei meinen Lebzeiten nichts davon gesagt habe? Dafür habe ich nur einen Grund. Ich that diese sonderbaren Dinge, weil ich Sie liebte.

»Ich möchte Sie nicht mit langen Mittheilungen über mich selbst oder mein Leben, bevor ich in Mylady’s Haus kam, behelligen. Lady Verinder nahm mich aus einem Besserungshause zu sich. Vor dem Besserungshause war ich im Gefängniß gewesen. In’s Gefängniß kam ich weil ich eine Diebin war. Eine Diebin war ich, weil meine Mutter auf den Gassen umherzog, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war. Meine Mutter zog auf den Gassen umher weil der Herr, der mein Vater war, sie verlassen hatte. Ich brauche eine so gewöhnliche Geschichte wie diese nicht ausführlicher zu erzählen. Sie ist oft genug in den Zeitungen zu lesen.

»Lady Verinder war sehr gut gegen mich und auch Herr Betteredge war sehr gut gegen mich. Diese Beiden und die Hausmutter im Besserungshause sind die einzigen guten Menschen denen ich in meinem ganzen Leben begegnet bin. Ich hätte es vielleicht in meiner Stelle aushalten können, ohne glücklich zu sein, aber doch aushalten können, wenn —— Sie nicht gekommen wären. Ich tadle Sie nicht, mein Herr. Es ist meine Schuld —— Alles meine Schuld!

»Erinnern Sie sich jenes Morgens, an welchem Sie über die Sandhügel, nach Herr Betteredge suchend, zu uns herunterkamen? Sie erschienen mir wie ein Prinz in einem Feenmärchen, wie ein Geliebter im Traum. Sie waren für mich das anbetungswürdigste menschliche Wesen, das ich je gesehen habe. In dem Augenblick wo ich meine Augen zu Ihnen aufschlug, leuchtete etwas in mir auf, das mich berührte wie das glückliche Leben, das ich noch nie gelebt hatte. Verlachen Sie mich nicht. O, wenn ich Ihnen nur begreiflich machen könnte, wie ernst ich es damit meine!

»Ich ging in’s Haus zurück und kritzelte Ihren und meinen Namen in meinen Arbeitskasten und malte ein flammendes Herz darunter. Dann flüsterte mir ein Teufel —— nein, ich sollte sagen, ein guter Engel —— zu: »Geh und betrachte Dich im Spiegel!« Der Spiegel sagte mir —— gleichviel was. Ich war zu thöricht, dem Spiegel zu glauben. Immer stärker wurde meine Liebe zu Ihnen, grade als ob ich Ihres Gleichen und das reizendste Geschöpf gewesen wäre, das Sie je gesehen hätten. Ich bot Alles auf, o, was versuchte ich nicht, um Sie dahin zu bringen, mich anzusehen. Wenn Sie gewußt hätten, wie ich Nächtelang vor Schmerz und Unmuth darüber, daß Sie nicht die geringste Notiz von mir nahmen, Thränen vergoß, so hätten Sie vielleicht Mitleid mit mir gehabt und mir von Zeit zu Zeit einen Blick gegönnt, an dem ich hätte zehren können.

»Freilich wäre der Blick wohl kein sehr freundlicher gewesen, wenn Sie gewußt hätten, wie ich Fräulein Rachel haßte. Ich hatte es, glaube ich, schon herausgefunden, daß Sie sie liebten, noch ehe Sie selbst es wußten. Sie pflegte Ihnen Rosen zu geben, um sie ins Knopfloch zu tragen. Ach, Herr Franklin, öfter als Sie und Fräulein Rachel es ahnten, waren diese Rosen die Meinigen.

»Meinen einzigen Trost fand ich darin, im Geheimen meine Rose an die Stelle der Ihnen von Fräulein Rachel gegebenen in Ihr Glas Wasser zu setzen und jene wegzuwerfen.

»Wenn Sie wirklich so hübsch gewesen wäre, wie Sie sie fanden, so hätte ich die Sache vielleicht besser ertragen. Nein, ich glaube, ich würde sie noch mehr gehaßt haben. Denken Sie sich Fräulein Rachel ohne ihren Putz und in Dienstmädchenkleidern! Aber wozu schreibe ich das. Sie hatte doch gewiß einen schlechten Wuchs, sie war zu mager. Aber wer kann sagen, was Männern gefällt. Und junge Damen können sich ein Betragen erlauben, das einem Dienstmädchen seine Stelle kosten würde, doch das geht mich nichts an. Ich kann nicht erwarten, daß Sie diesen Brief zu Ende lesen, wenn ich solches Zeug schreibe. Aber es verdrießt Einen, Fräulein Rachel immer hübsch nennen zu hören, wenn man weiß, daß sie dieses Lob nur ihrer Toilette und ihrem Selbstvertrauen verdankt.

»Worauf es mir aber ankommt, daß Sie es wissen, ist Folgendes:

»Ich hatte kein schweres Leben, so lange ich eine Diebin war. Erst als sie mich in der Besserungs-Anstalt gelehrt hatten, mir meiner Selbsterniederung bewußt zu werden und an meiner Besserung zu arbeiten, wurden mir die Tage lang und mühselig. Jetzt fingen sich mir Gedanken an meine Zukunft aufzudrängen an.

»Ich fühlte den schrecklichen Vorwurf, der in dem bloßen Dasein rechtschaffener Menschen, selbst der gütigsten unter ihnen für mich lag. Ein herzbrechendes Gefühl der Vereinsamung verfolgte mich überall, bei jeder Beschäftigung, in der Gesellschaft aller Menschen. Ich wußte, daß es meine Pflicht sei, mit meinen Mitdienstboten freundlich zu verkehren, aber es wollte mir nicht gelingen; sie sahen mich an oder schienen mich wenigstens anzusehen, als kannten sie meine Vergangenheit. Ich bin weit davon entfernt, zu bereuen, daß ich gebessert worden bin, aber Gott weiß es, es war ein schweres Leben. In dieses Leben traten Sie plötzlich ein wie ein Sonnenstrahl; aber auch meine Hoffnung auf Sie erwies sich als eitel. Ich war unsinnig genug, Sie zu lieben und konnte nicht einmal Ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken. Das war ein großer Jammer, wahrlich ein großer Jammer für mich.

»Jetzt komme ich aber zu dem, was ich Ihnen sagen wollte. In jenen traurigen Tagen ging ich zwei oder dreimal, wenn die Reihe auszugehen an mir war, nach meinem Lieblingsplatze, dem Strande bei dem Zittersand und sagte mir, ich hoffe hier wird es enden. Wenn ich es nicht länger aushalten kann, so wird es hier enden. Sie müssen wissen, Herr Franklin, daß der Platz schon ehe Sie herkamen eine Art von Zauber auf mich ausübte. Es war mir immer wie eine Ahnung gewesen, daß mir bei dem Zittersand etwas begegnen werde. Aber niemals war es mir in den Sinn gekommen, daß ich an dieser Stätte einmal meinen Leiden selbst ein Ende machen könnte, bis die Zeit kam, von der ich jetzt rede. Jetzt fing ich an zu denken, daß hier eine Stelle sei, die in einem Augenblick alle meine Leiden enden und mich für immer verborgen halten würde.

»Das ist Alles, was ich Ihnen für die Zeit von dem Morgen an, wo ich Sie zuerst sah, bis zu jenem Morgen, wo sich die Kunde im Hause verbreitete, daß der Diamant verloren sei, in Betreff meiner Person zu sagen habe.

»Ich war so aufgebracht über das thörichte Gerede unter den weiblichen Dienstboten, die sich Alle daraus spitzten, auf wen wohl der Verdacht zuerst fallen würde, und so zornig gegen Sie (weil ich es damals nicht besser verstand) wegen Ihrer Bemühungen, dem Diamanten nachzuspüren und die Polizei herbeizuholen, daß ich mich so viel wie möglich für mich allein hielt, bis im Laufe des Tages der Beamte von Frizinghall erschien.

»Herr Seegrave fing, wie Sie sich vielleicht erinnern, damit an, eine Wache vor die Schlafzimmer der weiblichen Dienstboten zu stellen und diese stürzten ihm Alle wüthend nach, um ihn zu fragen, was diese beleidigende Maßregel bedeuten solle. Ich ging mit den übrigen, weil, wenn ich das nicht gethan hätte, Herr Seegrave sofort gegen mich Verdacht geschöpft haben würde. Wir fanden Herrn Seegrave in Fräulein Rachel’s Zimmer. Er sagte, er wolle keine Weiber da haben und wies auf den Farbenfleck an der gemalten Thür und sagte, wir hätten das mit unsern Kleidern angerichtet und wir sollten wieder hinunter gehen.

»Nachdem ich Fräulein Rachel’s Zimmer verlassen hatte, blieb ich auf einem Treppenabsatz einen Augenblick allein stehen, um nachzusehen, ob sich der Farbenfleck zufällig an meinem Kleide befände Penelope Betteredge, die einzige unter den weiblichen Dienstboten, mit der ich auf freundlichem Fuße stand, ging gerade an mir vorüber und sah, was ich that.

»Darauf brauchst Du nicht zusehen, Rosanna,« sagte sie, »die Malerei an Fräulein Rachel’s Thür ist schon seit vielen Stunden trocken. Hätte Herr Seegrave nicht eine Wache vor unserem Schlafzimmer aufgestellt, so hätte ich ihm das auch wohl gesagt. Ich weiß nicht, wie Du darüber denkst, ich habe in meinem ganzen Leben noch keine so empörende Behandlung erfahren.«

»Penelope war eine leicht aufbrausende Natur. Ich beruhigte sie und brachte das Gespräch wieder auf die Malerei an der Thür, von der Penelope eben behauptet hatte, daß sie schon so lange trocken sei.

»Woher weißt Du das?« fragte ich sie.

»Ich habe gestern Morgen dabei gestanden und die Farben gemischt, als Herr Franklin und Fräulein Rachel zuletzt bei der Thür beschäftigt waren,« antwortete Penelope. »Ich hörte, wie Fräulein Rachel fragte, ob die Malerei bis zum Abend zeitig genug trocken sein werde, um von der Geburtstags-Gesellschaft in Augenschein genommen zu werden, worauf Herr Franklin den Kopf schüttelte und sagte, die Thür werde nicht eher als in zwölf Stunden trocken sein. Es war lange nach dem zweiten Frühstück, es war drei Uhr bis sie fertig waren. Was folgerst Du daraus, Rosanna? Ich berechne, daß die Thür heute Morgen um drei Uhr trocken war.«

»Sind von den Damen welche gestern Abend hinaufgegangen, um die Malerei zu sehen?« fragte ich. »Ich meine, ich hätte gehört, wie Fräulein Rachel die Damen warnte, sich vor der Thür in Acht zu nehmen.«

»Von den Damen hat keine den Fleck gemacht,« erwiderte Penelope. »Ich verließ Fräulein Rachel um Mitternacht im Bett und sah beim Fortgehen, daß die Malerei an der Thür noch völlig unberührt war.«

»Mußtest Du das nicht Herrn Seegrave mittheilen, Penelope?«

»Nicht für Alles in der Welt würde ich diesem Menschen mit einem Wort auf die Spur helfen.«

»Dann gingen wir Beide an unsere Arbeit.

»Meine Arbeit bestand darin, Ihr Bett zu machen und Ihr Zimmer in Ordnung zu halten. Das war meine glücklichste Stunde am ganzen Tage. Ich pflegte einen Kuß auf das Kissen zu drücken, auf dem Sie die ganze Nacht geruht hatten. Wer es auch seitdem gethan haben mag, niemals hat Jemand Ihr Bett so sorgfältig gemacht wie ich. Auf keinem der vielen Dosen und Flaschen auf Ihrem Toilettentisch duldete ich auch nur das kleinste Fleckchen. Aber davon nahmen Sie so wenig Notiz, wie von mir selbst. Verzeihen Sie mir, daß ich mich so vergesse, ich will mich beeilen, zur Sache zu kommen.

»Ich ging also an jenem Morgen, meine Arbeit in Ihrem Zimmer zu thun. Da lag Ihr Nachthemd quer über dem Bett, wie Sie es beim Ausziehen hingeworfen hatten. Ich nahm es auf, um es zusammenzulegen, und fand darauf —— den Farbenfleck von der Malerei an Rachel’s Thür!

»Diese Entdeckung machte mich so bestürzt, daß ich mit dem Nachthemd in der Hand aus dem Zimmer und die Hintertreppe hinauf nach meiner Kammer lief und mich dort einschloß, um die Sache an einem Ort, wo mich Niemand überraschen oder unterbrechen konnte, näher zu untersuchen.

»Sobald ich wieder zu Athem gekommen war, erinnerte ich mich meiner Unterhaltung mit Penelope und mußte mir sagen: Hier ist der klare Beweis, daß er zwischen Mitternacht und drei Uhr Morgens in Fräulein Rachel’s Wohnzimmer gewesen ist.

»Ich werde Ihnen nicht sagen, welchen Verdacht ich im ersten Augenblick nach dieser Entdeckung hegte. Das würde Sie nur erzürnen und vielleicht veranlassen, meinen Brief zu zerreißen und nicht weiter zu lesen.

»Erlauben Sie mir nur noch das Folgende zu sagen. Nachdem ich mir die Sache so reiflich wie ich konnte überlegt hatte, kam ich zu der Ueberzeugung, daß die Sache nicht wahrscheinlich sei und zwar aus einem Grunde, den ich Ihnen sagen will. Wenn Sie mit Fräulein Rachel’s Wissen zu jener Nachtzeit aus ihrem Zimmer und thöricht genug gewesen wären, nicht an die nasse Thür zu denken, so würde sie selbst Sie gewarnt und nicht zugegeben haben, daß Sie ein solches redendes Zeugniß gegen sie mit sich fortnahmen, wie es eben vor mir lag! Aber doch muß ich bekennen, befriedigte mich dieser Gegenbeweis nicht völlig. Sie werden sich erinnern, daß ich Fräulein Rachel haßte und dieser Haß war bei allen jenen Ueberlegungen im Spiele. Sie endeten damit, daß ich beschloß, das Nachthemd zu behalten und meine Gelegenheit abzuwarten, wo und wie ich es gebrauchen könnte. Vergessen Sie, bitte, nicht, daß ich damals noch nicht den leisesten Verdacht hatte, daß Sie den Diamanten gestohlen haben konnten«

Hier unterbrach ich mich zum zweiten Male in der Lectüre des Briefes.

Ich hatte die Parthien der Bekenntnisse des unglücklichen Mädchens, die sich auf mich bezogen, mit unverstellter Ueberraschung, und wie ich ehrlich hinzufügen kann, mit aufrichtigem Bedauern gelesen. Ich hatte bereut, ernsthaft bereut, daß ich ihr Andenken gedankenlos befleckt habe, noch ehe ich eine Zeile ihres Briefes gelesen hatte. Als ich aber den Brief so weit wie vorstehend angegeben, gelesen hatte, war ich, offen gestanden, beim Lesen immer bitterer und bitterer gegen Rosanna Spearman geworden.

»Lesen Sie den Rest allein,« sagte ich, indem ich Betteredge den Brief über den Tisch hinüberreichte »Wenn Sie irgend etwas finden, was mir zu wissen nöthig ist, so können Sie es ja sagen.«

»Ich verstehe Sie, Herr Franklin,« antwortete er; »Ihre Empfindung ist höchst natürlich, und Gott steh’ mir bei,« fügte er leiser hinzu, »die Empfindung des Mädchens ist es nicht weniger.«

Ich schreibe hier den Rest des Briefes aus dem in meinem Besitz befindlichen Original ab.

»Nachdem ich so beschlossen hatte, das Nachthemd zu behalten und abzuwarten, welchen Gebrauch meine Lieb oder meine Rache künftig davon würde machen können, mußte mein nächstes Absehen darauf gerichtet sein, wie ich es behalten könnte ohne das; man mir auf die Spur käme.

»Dazu gab es nur ein sicheres Mittel, ein anderes dem Ihrigen ganz gleiches Nachthemd noch vor Sonnabend anzufertigen, wo die Waschfrau die reine Wäsche wiederbringen würde.

»Ich fand es gefährlich, die Sache bis zum nächsten Tage, Freitag, zu verschieben, denn ich besorgte, daß sich in der Zwischenzeit etwas ereignen könnte, und beschloß das neue Nachthemd noch an demselben Tage, dem Donnerstage, wo ich wenn ich die Sache richtig anfing, darauf rechnen konnte meine Zeit für mich zu haben, anzufertigen. Das Erste was ich that, nachdem ich Ihr Nachthemd in meine Commode verschlossen hatte, war, daß ich wieder in Ihr Schlafzimmer ging, nicht sowohl um es fertig zu machen, das würde Penelope wohl für mich gethan haben wenn ich sie gebeten hätte, als um nachzusehen, ob Sie mit dem Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd etwa auch Ihr Bett oder irgend ein Möbel im Zimmer befleckt hätten.

»Ich untersuchte Alles ganz genau und fand endlich ein paar schwache Farbenstreifen an der innern Seite Ihres Schlafrocks nicht des leinenen, den Sie gewöhnlich Sommer trugen, sondern eines wollenen, den Sie nich bei sich hatten. Ich vermuthe, Sie waren durch das in und Hergehen im Nachthemd kalt geworden und zogen dann das wärmste Kleidungsstück an, das Sie finden konnten. Gewiß ist, daß an der inneren Seite dieses Schlafrocks Farbenstreifen sichtbar waren. Ich konnte dieselben Farben leicht durch Reihen beseitigen. Und nun war also der einzige gegen Sie vorhandene Beweis das in meiner Commode verschlossene Nachthemd.

»Ich war eben mit Ihrem Zimmer fertig geworden, als ich gerufen wurde, um mit den übrigen Dienstboten vernommen zu werden. Dann folgte die Durchsuchung aller unserer Effecten und dann kam das für mich merkwürdigste Ereigniß dieses Tages, nachdem ich den Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd gefunden hatte. Dasselbe ergab sich bei der zweiten Vernehmung Penelope Betteredge’s durch den Oberbeamten Seegrave.

»Penelope kam, ganz außer sich vor Wuth über die Art, wie Herr Seegrave sie behandelt hatte, wieder zu uns. Er hatte in ganz unzweideutiger Weise zu verstehen gegeben, daß er sie in Verdacht habe die Diebin zu sein. Wir waren darüber Alle so erstaunt wie sie selbst und fragten. Alle, was ihn dazu bewogen habe.

»Weil der Diamant sich in Fräulein Rachel’s Wohnzimmer befunden hatte,« entgegnete Penelope, »und weil ich die Letzte war, die das Zimmer gestern Abend betreten hat.

»Kaum hatte Penelope diese Worte ausgesprochen, als ich mich erinnerte, daß später als Penelope noch eine andere Person in Fräulein Rachel’s Zimmer gewesen sei, und diese Person waren Sie. Bei diesem Gedanken drehte sich Alles mit mir herum und mein Kopf war in der schrecklichsten Verwirrung. Dabei flüsterte mir eine geheime Stimme zu, da? der Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd wohl eine ganz andere Bedeutung haben könne, als die ich ihm bis dahin beigelegt hatte.

»Wenn die letzte Person die im Zimmer war die ist, welche der Verdacht trifft, so dachte ich bei mir, so ist nicht Penelope, sondern Herr Franklin Blake der Dieb.«

»Bei jedem andern Herrn würde ich mich, glaube ich, in dem Augenblick wo der Verdacht in mir aufgestiegen wäre, auch schon geschämt haben, ihn eines Diebstahls für fähig zu halten.

»Aber der bloße Gedanke, daß Sie, Herr, mit diesem Diebstahl zu mir herabgestiegen seien und daß ich durch den Besitz Ihres Nachthemds auch das Mittel in Händen habe, Sie vor einer Entdeckung und einer ewigen Schmach zu schützen, —— dieser bloße Gedanke, sage ich, eröffnete mir eine solche Aussicht, Ihre Gunst zu gewinnen, daß ich mich so zu sagen blindlings von Verdacht zu festem Glauben hinreißen ließ. Ich hielt mich ohne Weiteres überzeugt, daß Sie sich nur deshalb am Beflissensten von allen Personen im Hause gezeigt hätten, die Polizei herbei zu holen, um uns Alle irre zu führen, und daß die Hand, welche Fräulein Rachel’s Edelstein genommen habe, keine andere sein könne, als die Ihrige.

»Die durch diese neue Entdeckung bei mir hervorgerufene Aufregung brachte mich, glaube ich, eine Zeitlang ganz außer mir. Ich fühlte ein so verzehrendes Verlangen, Sie zu sehen, Sie mit ein paar Worten in Betreff des Diamanten auf die Probe zu stellen und Sie auf diese Weise zu veranlassen, mich anzusehen und mit mir zu reden, daß ich mein Haar ordnete und mich so nett wie möglich machte und geradeswegs zu Ihnen in die Bibliothek ging, wo Sie, wie ich wußte, am Schreibtisch saßen.

»Sie hatten einen Ihrer Ringe oben im Zimmer liegen gelassen und mir damit einen so guten Vorwand für mein Erscheinen in der Bibliothek gegeben, wie ich ihn nur wünschen konnte. Aber, o Herr, wenn Sie je geliebt haben, so werden Sie verstehen, wie es kam, daß mir, als ich ins Zimmer trat und Ihnen gegenüber stand, der Muth völlig sank. Und dann sahen Sie mich so kalt an und dankten mir in einer so gleichgültigen Weise für Ihren Ring, daß mir die Kniee zu zittern anfingen und mir zu Muthe ward, als müßte ich mich Ihnen zu Füßen werfen. Als Sie mir gedankt hatten, fuhren Sie, wie Sie sich erinnern werden, fort zu schreiben. Dieses Benehmen kränkte mich so tief, daß ich mir ein Herz faßte und Sie anredete. Ich sagte: »Das ist eine sonderbare Geschichte mit dem Diamanten, Herr!« Und Sie sahen mich wieder an und antworteten: »Ja, eine sonderbare Geschichte!« Sie sprachen diese Worte, wie ich nicht anders sagen kann, in einem höflichen, aber doch in einem grausam abwehrenden Ton. In dem Glauben, daß Sie, während Sie mit mir sprachen, den verlorenen Diamanten bei sich verborgen hielten, reizte mich Ihre Kälte so sehr, daß ich in der Aufregung des Augenblicks kühn genug wurde, Ihnen einen Wink zu geben. Ich sagte: »Sie werden den Diamanten nie finden, Herr, nicht wahr? Nein, weder den Diamanten noch die Person, die ihn genommen hat, dafür möchte ich einstehen.« Ich nickte und lächelte Ihnen dabei zu, als wollte ich sagen: »Ich weiß Bescheid.« Dieses Mal sahen Sie mich mit einem Ausdruck von Interesse im Blick an, und ich fühlte, daß es nur noch weniger Worte zwischen uns bedürfen würde, um die Wahrheit herauszubringen. Aber gerade in diesem Augenblick verdarb mir Herr Betteredge das ganze Spiel, indem er sich vor der Thür hören ließ. Ich kannte seinen Tritt und wußte, daß es gegen die von ihm aufrecht erhaltene Hausordnung verstoße, daß ich um diese Tageszeit in der Bibliothek war —— gar nicht davon zu reden, daß ich dort mit Ihnen allein war. Ich hatte noch eben Zeit, aus freien Stücken hinauszugehen, bevor er herein kommen und mich fortgehen heißen konnte Ich war zornig und enttäuscht, aber bei alledem nicht ohne Hoffnung. Das Eis war, wie Sie sehen, zwischen uns gebrochen und ich nahm mir vor, das nächste Mal Acht zu geben, daß Herr Betteredge mir nicht im Wege sei.

»Als ich in das Domestikenzimmer zurückkam, wurde eben zum Mittagessen für uns geläutet. Schon Nachmittag und ich hatte noch nichts zur Anfertigung des neuen Nachthemds besorgt! Es gab nur eine Möglichkeit, mir die Zeit zu verschaffen, die nöthigen Dinge zu kaufen. Ich mußte mich bei Tische unwohl stellen, um bis zur Theestunde ungestört zu bleiben.

»Was ich that, während das Haus mich in meinem Zimmer krank zu Bette liegend glaubte, und wie ich die Nacht zubrachte nachdem ich mich beim Thee wieder unwohl gestellt hatte und auf mein Zimmer geschickt worden war, brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Sergeant Cuff hat, wenn nicht mehr, doch das wenigstens vollkommen richtig herausgefunden. Und ich kann mir auch sehr wohl denken wie. Ich wurde, obgleich ich meinen Schleier herabgelassen hatte, im Laden des Leinenhändlers in Frizinghall erkannt. Hinter dem Ladentisch, wo ich das Zeug kaufte, befand sich mir gegenüber ein Spiegel, und in diesem Spiegel sah ich wie einer der Ladendiener auf meine Schulter deutete und dabei einem andern etwas zuflüsterte. Und in der Nacht, wo ich in meinem Zimmer eingeschlossen, im Geheimen bei meiner Arbeit saß, hörte ich vor meiner Thür das Athmen der Mädchen, die mich belauerten.

»Es war mir schon damals einerlei und ist mir auch jetzt einerlei. Am Freitag Morgen, viele Stunden ehe Sergeant Cuff das Haus betrat, war das neue Nachthemd, das die Stelle des von mir fortgenommenen vertreten sollte, gewaschen, getrocknet, geplättet, gezeichnet und gefaltet, wie die Waschfrau alle übrigen zu falten pflegte, sicher in Ihrem Schrank. Ich brauchte nicht zu fürchten, daß, wenn die Wäsche im Hause untersucht würde, mich die Neuheit des Zeuges verrathen konnte. Alle Ihre Wäsche war, als Sie vermuthlich unmittelbar nach Ihren Reisen in’s Ausland zu uns in’s Haus kamen, neu angeschafft gewesen.

»Das nächste Ereigniß war die Ankunft des Sergeanten Cuff, und die nächste große Ueberraschung war die Ankündigung dessen, was er als seine Ansicht über den Farbenfleck an der Thür kundgegeben hatte.

»Ich hatte Sie, wie ich eben gestanden habe, für schuldig gehalten, mehr, weil ich wünschte, daß Sie schuldig sein möchten, als aus irgend einem andern Grunde. Und nun war der Sergeant auf einem ganz andern Wege zu demselben Schlusse gelangt, wie ich! Und ich war im Besitz des Kleidungsstückes welches den einzigen Beweis gegen Sie bildete, ohne daß ein Mensch, Sie selbst mit einbegriffen, eine Ahnung davon hatte! Ich scheue mich, Ihnen zu sagen, was ich empfand, als ich mir diese Umstände vergegenwärtigte —— Sie würden meinem Andenken später für immer fluchen!«

Bei dieser Stelle blickte Betteredge von dem Briefe auf.

»Nicht der kleinste Lichtschimmer bis jetzt, Herr Franklin,« sagte der alte Mann, indem er seine schwere Schildpatt-Brille abnahm und Rosanna Spearmann’s Bekenntniß mit der Hand ein wenig wegschob. »Haben Sie sich, während ich gelesen habe, irgend eine Ansicht gebildet, Herr Franklin?«

»Lesen Sie erst zu Ende, Betteredge, vielleicht kommt noch etwas, was uns auf die rechte Spur leiten kann Nachher werde ich Ihnen ein paar Worte zu sagen haben.«

»Sehr wohl, Herr Franklin Ich will nur meinen Augen einen Augenblick Ruhe gönnen und dann fortfahren. Inzwischen, Herr Franklin —— ich möchte Sie nicht drängen ——, aber haben Sie ein Bedenken, mir mit einem Wort zu sagen, ob Sie schon einen Ausweg aus diesem schrecklichen Wirrsal sehen?«

»Ich sehe meinen Rückweg nach London,« sagte ich, »um Herrn Bruff zu consultircn. Wenn der mir nicht helfen kann ——«

»Nun, dann?«

»Und wenn der Sergeant nicht aus seiner Zurückgezogenheit aus Dorking hervortreten will ——«

»Das will er nicht, Herr Franklin.«

»Dann, Betteredge, bin ich, so weit ich bis jetzt sehe, mit meinem Latein zu Ende. Außer Herrn Bruff und dem Sergeanten weiß ich kein lebendes Wesen, daß mir bei dieser Sache von dem geringsten Nutzen sein könnte.«

Als ich eben diese Worte gesprochen hatte, klopfte Jemand von außen an die Thür des Zimmers.

»Herein!« rief Betteredge verdrießlich, »wer es auch sein mag!«

Die Thür öffnete sich und herein trat geräuschlos der wunderlichst aussehende Mensch, den ich je gesehen habe. Nach seiner Gestalt und seinen Bewegungen zu schließen, war er noch jung. Nach seinem Gesicht schien er, verglichen mit Betteredge, der ältere zu sein. Seine Hautfarbe war von zigeunerhafter Dunkelheit, seine fleischlosen Backen bildeten tiefe Löcher, welche die Backenknochen wie ein Wetterdach überragten. Seine Nase war von der typisch feinen Art, wie sie so oft bei den alten Völkern des Orients und so selten bei den neueren westlichen Racen gefunden wird; seine Stirn erhob sich hoch und gerade über die Augenbrauen; sein Gesicht war mit unzähligen Runzeln bedeckt. Aus diesem sonderbaren Gesicht blickten Einen noch sonderbarere Augen vom sanftesten Braun, träumerisch und traurig, tief aus der Augenhöhle an und fesselten gebieterisch unsere Aufmerksamkeit. Dazu nehme man dickes, gelocktes Haar, welches durch ein eigenthümliches Spiel der Natur seine Farbe in der auffallendsten Weise an einigen Stellen verloren hatte. Oben auf dem Kopf war es noch von dem tiefen Schwarz welches seine natürliche Farbe zu sein schien, an den Seiten des Kopfes aber war es, ohne den leisesten, den außerordentlichen Contrast vermittelnden Uebergang, vollkommen weiß. Zwischen beiden Farben fand sich keine bestimmte Grenzlinie; an einigen Stellen verlor sich das weiße Haar in das schwarze, an andern das schwarze in das weiße. Ich sah den Mann mit einer Neugierde an, die ich —— ich schäme mich, es zu gestehen —— zu beherrschen ganz unfähig war. Seine sanften braunen Augen erwiderten milde meinen Blick und er begegnete der unfreiwilligen Indiscretion, mit der ich ihn anstarrte, mit einem Ausdruck gütiger Nachsicht, den ich nicht verdient zu haben mir vollkommen bewußt war.

»Ich bitte um Vergebung,« sagte er, »ich wußte nicht, daß Herr Betteredge beschäftigt sei.« Er nahm einen Streifen Papier aus der Tasche und überreichte ihn Betteredge. »Die Liste für nächste Woche,« sagte er. Seine Augen ruhten wieder auf mir und er verließ das Zimmer so ruhig wieder, als er es betreten hatte.

»Wer ist das?« fragte ich.

»Herrn Candy’s Assistent,« sagte Betteredge »Beiläufig, Herr Franklin, es wird Ihnen leid sein zu hören, daß der kleine Doctor sich von der Erkältung, die er sich bei dem Geburtstagsdiner zugezogen, nie wieder erholt hat. Es geht ihm soweit ganz gut, aber er hat im Fieber sein Gedächtniß verloren und nur die dürftigsten Reste davon übrig behalten. Sein Assistent hat die ganze Praxis zu versehen; aber es giebt jetzt, außer bei den Armen, eben nicht viel zu thun Die armen Leute, wissen Sie, haben keine Wahl, sie müssen sich den Mann mit dem scheckigen Haar und der Zigeunerhaut gefallen lassen oder jeder ärztlichen Hilfe entbehren.«

»Sie scheinen den Mann nicht zu mögen, Betteredge?«

»Kein Mensch mag ihn leiden, Herr Franklin.«

»Und warum?«

»Sehen Sie, Herr Franklin, schon sein Aussehen spricht gegen ihn. Und dann erzählen die Leute, daß er einen sehr zweifelhaften Ruf hatte, als er zu Herrn Candy kam. Kein Mensch weiß, wer er ist, und er hat keinen Freund in der ganzen Gegend. Wie kann man ihn da mögen?«

»Natürlich ganz unmöglich! Darf ich fragen, was er von Ihnen wollte, als er Ihnen das Stück Papier gab?«

»Mir nur die Wochenliste der Kranken hier in der Gegend bringen, die etwas Wein brauchen. Mylady hatte immer die Gewohnheit, guten alten Portwein und Sherry unter die kranken Armen vertheilen zu lassen, und Fräulein Rachel wünscht, daß diese Gewohnheit beibehalten werde. Die Zeiten haben sich geändert. Ja, ja, die Zeiten haben sich geändert! Ich erinnere mich der Zeit, wo Herr Candy meiner Herrin selbst die Liste brachte. Jetzt bringt mir Herrn Candy’s Assistent die Liste. Und nun will ich den Brief weiter lesen, wenn? Ihnen recht ist, Herr Franklin,« sagte Betteredge indem er Rosanna Spearmann’s Bekenntnisse wieder in die Hand nahm. »Er ist wahrhaftig nicht leicht zu lesen, aber er hält mir die trüben Gedanken an die Vergangenheit vom Leibe.« Betteredge setzte seine Brille wieder auf und schüttelte traurig mit dem Kopf. »Es hat seinen Grund, daß wir uns so ungebärdig gegen unsere Mütter betragen, wenn sie uns in die Welt setzen. Alle kommen wir mehr oder weniger ungern auf die Welt und wir haben Alle Recht.«

Herrn Candy’s Assistent hatte einen zu starken Eindruck auf mich hervorgebracht, als daß ich den Gedanken an ihn sogleich wieder hätte loswerden können. Ich ließ die letzte unwiderlegliche Aeußerung der Betteredge’schen Philosophie auf sich beruhen und brachte das Gespräch noch einmal auf den Mann mit dem scheckigen Haar.

»Wie heißt der Mann?« fragte ich.

»Sein Name ist so häßlich wie möglich,« antwortete Betteredge kurz. »Ezra Jennings!«



Kapiteltrenner

Fünftes Capitel.

Nachdem er mir den Namen von Herrn Candy’s Assistenten genannt hatte, schien Betteredge zu finden, daß er Zeit genug auf einen so uninteressanten Gegenstand verschwendet habe und schickte sich an, Rosanna Spearman’s Brief weiter zu lesen.

Ich saß am Fenster und wollte ruhig warten, bis er zu Ende sei. Nach und nach schwand der Eindruck, den Ezra Jennings auf mich hervorgebracht hatte —— es schien überhaupt unbegreiflich, daß in meiner Lage irgend ein menschliches Wesen einen Eindruck auf mich hervorbringen konnte —— schwand, sage ich, dieser Eindruck wieder. Meine Gedanken lenkten wieder auf ihre frühere Bahn zurück. Noch einmal zwang ich mich, meiner unglaublichen Situation gerade ins Gesicht zu sehen. Noch einmal überblickte ich im Geiste das in Zukunft von mir einzuschlagende Verfahren, über das mir klar zu werden ich endlich Fassung genug erlangte.

Noch an demselbe Tage nach London zurückkehren; den ganzen Fall Herrn Cuff vorlegen, und endlich das Wichtigste (gleichviel auf welche Weise oder mit welchen Opfern) eine Zusammenkunft mit Rachel erwirken —— das war mein Plan, so weit ich in jenem Augenblick im Stande war einen zu fassen. Ich hatte noch vor Abgang des Zuges über eine Stunde Zeit. Und ich hatte noch die Chance, daß Betteredge in dem noch ungelesenen Theil von Rosanna Spearmans Brief etwas finden möchte, was mir zu wissen nützlich sein könnte, bevor ich das Haus, in welchem der Diamant verloren gegangen war, wieder verließ. Diese Chance wollte ich jetzt noch wahrnehmen.

Der Schluß des Briefes lautete wie folgt:

»Sie brauchen nicht böse auf mich zu sein, Herr Franklin, selbst wenn ich einen kleinen Triumph bei dem Gedanken empfand, daß ich Ihr ganzes Schicksal in meinen Händen hielt. Bald überkam mich wieder Angst und Furcht. Bei der Ansicht, welche Sergeant Cuff sich über den Verlust des Diamanten gebildet hatte, mußte er schließlich nothwendig dazu schreiten, unsere Wäsche und unsere Kleider zu untersuchen. Es gab keine Stelle in meinem Zimmer, keine im Hause, welche ich vor ihm sicher glauben konnte. Wie sollte ich das Nachthemd verstecken, so daß selbst der Sergeant es nicht finden konnte? und wie sollte ich das anfangen, ohne einen einzigen Augenblick der kostbaren Zeit zu verlieren? Das waren nicht leicht zu beantwortende Fragen. Mein Schwanken endete mit dem Ergreifen eines Auskunftsmitte1s, das Sie vielleicht lachen machen wird. Ich entkleidete mich und zog das Nachthemd selbst an. Sie hatten es getragen und es gewährte mir abermals eine kleine Freude, es nach Ihnen zu tragen.

»Die nächste Nachricht, die in das Domestikenzimmer zu uns gelangte, zeigte mir, daß ich das Nachthemd nicht einen Augenblick zu früh in Sicherheit gebracht hatte. Sergeant Cuff verlangte das Wäschebuch zu sehen.

»Ich holte es und brachte es nach Mylady’s Wohnzimmer. Der Sergeant und ich waren uns in früheren Tagen schon mehr als einmal begegnet. Ich war sicher, daß er mich wiedererkennen würde und ich war nicht sicher, was er thun würde, wenn er mich als Dienstmädchen in einem Hause fände, in welchem ein kostbarer Edelstein verloren gegangen war. In dieser Ungewißheit fühlte ich, es würde eine Beruhigung für mich sein, wenn er mich erst einmal gesehen hätte und ich das Schlimmste, was daraus entstehen konnte, wüßte.

»Er sah mich an, als ob ich eine Fremde für ihn sei, als ich ihm das Wäschebuch übergab und er war besonders höflich, als er mir dafür dankte. Ich hielt Beides für schlimme Zeichen. Ich konnte nicht wissen, was er hinter meinem Rücken vielleicht von mir sagen würde; ich konnte nicht wissen, wie bald ich mich vielleicht als verdächtig in Haft befinden und an meinem Körper durchsucht finden würde. Es war gerade Zeit, daß Sie von der Eisenbahn, wohin Sie Herrn Godfrey Ablewhite begleitet hatten, zurückkommen mußten, und ich ging nach Ihrem Lieblingsspaziergang im Gebüsch, um noch einmal zu versuchen, ob ich Sie nicht sprechen könne; es war, so viel ich sehen konnte, die letzte Chance für mich.

»Sie kamen nicht; und, was noch schlimmer war, Herr Betteredge und Sergeant Cuff gingen an dem Platz, wo ich mich versteckt hatte, vorüber —— und der Sergeant sah mich.

»Danach hatte ich keine andere Wahl mehr als an meinen gewöhnlichen Aufenthaltsort und an meine gewöhnliche Arbeit zurückzukehren, bevor mir Schlimmes begegnen könnte. Als ich eben über den Weg gehen wollte, kamen Sie von der Eisenbahn zurück. Sie gingen gerade auf das Gebüsch los als Sie mich sahen und wandten sich von mir ab, als wenn ich die Pest hätte, und gingen in’s Haus.[Anmerkung von Franklin Blake. —— Das arme Mädchen ist vollständig im Irrthum. Ich hatte sie gar nicht bemerkt. Meine Absicht war gewiß, durch das Gebüsch zu gehen. Da ich mich aber in demselben Augenblick erinnerte, daß meine Tante mich vielleicht zu sehen wünschen werde, nachdem ich von der Eisenbahn zurückgekommen war, änderte ich meinen Sinn und ging in’s Haus.]

»Ich kehrte so rasch wie möglich durch den Eingang für die Domestiken in’s Haus zurück. Im Wäschezimmer war aber Niemand und ich setzte mich dort allein hin. Ich habe Ihnen schon gesagt, welche Gedanken bei mir der Zittersand erweckt hatte. Diese Gedanken bestürmten mich jetzt auf’s Neue. Ich fragte mich, was wohl besser sein möchte, wenn die Dinge so weiter gingen, Herrn Franklin Blakes Gleichgültigkeit gegen mich zu ertragen oder in den Zittersand zu springen und der Sache so für immer ein Ende zu machen?

»Vergebens versuchte ich es, mich vor mir selbst wegen meines damaligen Betragens zu verantworten; ich versuche es, aber ich verstehe mich selbst nicht.

»Warum trat ich Ihnen nicht entgegen, als Sie mir aus diese grausame Art aus dem Wege gingen? Warum rief ich Ihnen nicht zu: »Herr Franklin ich habe Ihnen etwas zu sagen; es betrifft Sie selbst und Sie müssen und sollen es hören?« Ich hatte Sie in Händen. Und mehr als das, ich besaß das Mittel, Ihnen —— wenn ich Sie nur dahin bringen konnte, mir zu vertrauen —— in Zukunft nützlich zu werden. Natürlich glaubte ich nie, daß ein Herr wie Sie den Diamanten nur um des Vergnügens am Diebstahl willen gestohlen habe. Nein, Penelope hatte Fräulein Rachel und ich hatte Herrn Betteredge von Ihrem extravaganten Leben und Ihren Schulden reden hören. Es war mir ganz klar, daß Sie den Diamanten genommen hatten, um ihn zu verkaufen oder zu verpfänden und sich so das Geld zu verschaffen, dessen Sie bedurften. Nun gut! Ich hätte Ihnen einen Mann in London nennen können, der Ihnen auf den Edelstein eine ordentliche Summe vorgestreckt haben und Ihnen dabei keine unbequeme Fragen über denselben vorgelegt haben würde.

»Warum habe ich nicht mit Ihnen gesprochen! warum habe ich nicht mit Ihnen gesprochen!

»Ich frage mich, ob etwa die Gefahren und Schwierigkeiten der Aufbewahrung des Nachthemds das Maß dessen, was ich zu ertragen vermochte, voll gemacht hatten, so daß ich andern Gefahren und Schwierigkeiten nicht mehr die Stirn zu bieten im Stande war. Das hätte vielleicht bei anderen Frauen der Fall sein können. aber unmöglich bei mir. In den Tagen, wo ich eine Diebin gewesen, war ich fünfzigmal größere Gefahren gelaufen und hatte mich unter Schwierigkeiten zurecht gefunden, gegen welche die hier vorliegende ein reines Kinderspiel war. Ich hatte so zu sagen eine Schule von Betrügereien und Täuschungen durchgemacht, von denen einige so großartig angelegt und so geschickt durchgeführt waren, daß sie als berühmte Fälle in den Zeitungen besprochen wurden. War es denkbar, daß eine Kleinigkeit, wie die Aufbewahrung eines Nachthemds, mein Gemüth belastete und mich den Muth verlieren ließ mit Ihnen zu reden? Wie thöricht, nur danach zu fragen; es war unmöglich!

»Aber wozu Verweile ich bei meiner eigenen Thorheit? Die einfache Wahrheit liegt ja klar genug am Tage. Hinter Ihrem Rücken liebte ich Sie von ganzem Herzen, und von ganzer Seele; vor Ihrem Angesicht fürchtete ich mich vor Ihnen, fürchtete ich mich, Sie böse auf mich zu machen, fürchtete ich mich vor dem, was Sie —— obgleich Sie den Diamanten genommen hatten —— sagen möchten, wenn ich mir herausnähme, Ihnen zu erklären, daß ich Ihren Diebstahl entdeckt habe. Ich war der Sache so nahe gekommen, wieich konnte, als ich in der Bibliothek mit Ihnen gesprochen hatte. Damals hatten Sie mir nicht den Rücken zugekehrt, waren Sie mir nicht ausgewichen, als ob ich die Pest hätte. Ich versuchte es, mich gegen Sie zu Erbittern und mir auf diese Weise Muth zu machen. Aber nein! ich vermochte keine anderen Gefühle darüber in mir rege werden zu lassen als die des Elends und der Kränkung. »Du bist ein häßliches Mädchen, Du hast eine verwachsene Schulter, Du bist nur ein Dienstmädchen, —— was fällt Dir ein, daß Du es wagst, mit mir zu reden?« Niemals haben Sie ein ähnliches Wort gegen mich ausgesprochen, Herr Franklin; und doch haben Sie das Alles zu mir gesagt! Kann man eine solche Tollheit erklären? Nein, man kann nichts dabei thun. als sie bekennen und auf sich beruhen lassen.

»Ich bitte Sie noch einmal wegen dieser Abirrung meiner Feder um Verzeihung. Fürchten Sie nicht, daß es noch länger dauert. Ich nähere mich dein Schluß.

»Die erste Person, die mich störte, indem sie das bis dahin leere Zimmer betrat, war Penelope Sie hatte mein Geheimnis; längst aufgefunden und hatte mit Freundlichkeit ihr Bestes gethan, mich wieder zur Besinnung zu bringen.

»O!« sagte sie, »ich weiß, warum Du hier sitzest und Dich in Gram verzehrest. Das Beste was Dir passiren könnte, Rosanna, wäre, daß Herrn Franklins Besuch hier bald zu Ende ginge. Ich glaube nicht, daß er noch lange hier bleibt.«

»Bei allen meinen Gedanken an Sie war es mir nicht eingefallen, daß Sie fortgehen könnten. Ich konnte Penelopen auf ihre Worte nichts antworten, ich konnte sie nur ansehen.

»Ich komme eben von Fräulein Rachel,« fuhr Penelope fort, »und es war keine leichte Sache, mit ihr auszukommen. Sie sagt, das Haus sei ihr unerträglich, so lange Polizei darin ist, und sie ist entschlossen, Mylady noch heute Abend zu erklären, daß sie morgen zu ihrer Tante Ablewhite gehen will. Wenn sie das thut, so wird es nicht lange dauern, bis auch Herr Franklin eine Veranlassung findet, fortzugehen. Darauf kannst Du Dich verlassen.«

»Bei diesen Worten fand ich meine Sprache wieder. »Meinst Du, daß Herr Franklin mit ihr fortgehen wird fragte ich.

»Nur zu gern, wenn sie ihn nur lassen wollte; aber sie will nicht. Sie hat ihn ihre Laune fühlen lassen; und er ist sehr schlecht bei ihr angeschrieben und das, nachdem er Alles gethan hat, ihr zu helfen, der arme Mensch! Nein, nein! Wenn sie sich nicht bis morgen wieder versöhnen, so wirst Du sehen, daß Fräulein Rachel links und Herr Franklin rechts geht. Wohin er seine Schritte wenden wird, kann ich nicht sagen. Aber hier bleibt er nicht, wenn Fräulein Rachel fortgeht.«

»Ich wußte die Verzweiflung, die sich meiner bei der Aussicht, Sie fortgehen zu sehen, bemächtigte, zu bemeistern. Die Wahrheit zu gestehen, erblickte ich einen schwachen Hoffnungsstrahl für mich in dem Vorhandensein einer ernsten Veruneinigung zwischen Fräulein Rachel und Ihnen.«

»Weißt Du,« fragte ich, »worüber sie in Streit gerathen sind?«

»Fräulein Rachel hat allein Schuld« sagte Penelope, »und so viel ich sehen kann, rührt Alles von ihrem Temperament her. Es thut mir schrecklich leid, Dich betrüben zu müssen, Rosanna, aber setze Dir nicht in den Kopf, daß Herr Franklin je auf sie böse sein wird. Dazu liebt er sie viel zu sehr.«

»Sie hatte eben diese grausamen Worte ausgesprochen, als wir von Herrn Betteredge gerufen wurden. Alle Domestiken im Hause sollten sich in der Halle versammeln und dann sollten wir, einer nach dem andern, nach Herrn Betteredge’s Zimmer gehen und daselbst von dem Sergeanten Cuff vernommen werden.

»Die Reihe kam an mich, hineinzugehen, nachdem Mylady’s Kammermädchen und das erste Hausmädchen zuerst vernommen waren. Aus Sergeant Cuffs Fragen merkte ich —— so schlau sie auch gestellt waren —— bald genug, daß jene beide Mädchen (meine bittersten Feindinnen im Hause) mich an meiner Thür sowohl am Donnerstag-Nachmittag als auch in der Donnerstag-Nacht belauscht hatten. Sie hatten dem Sergeanten genug erzählt, um ihn wenigstens theilweise die Wahrheit erkennen zu lassen. Er vermuthete mit Recht, daß ich im Geheimen ein neues Nachthemd gemacht habe, aber er vermuthete mit Unrecht, daß das farbenbefleckte Nachthemd mir gehöre. Aus dem, was er sagte, ging für mich noch etwas Anderes deutlich hervor, dem ich gern aus den Grund gekommen wäre. Er hatte mich natürlich im Verdacht, bei dem Verschwinden des Diamanten die Hand im Spiele zu haben. Zu gleicher Zeit aber ließ er mich, wie mir schien, absichtlich merken, daß er nicht mich als die für den Verlust des Edelsteins hauptsächlich verantwortliche Person betrachte, sondern daß er glaube, ich habe auf Antrieb einer andern Person gehandelt. Wen er aber mit dieser Person meinte, daß vermag ich jetzt so wenig wie damals zu errathen.

Bei dieser Ungewißheit war nur eines klar, daß Sergeant Cuff noch Meilen weit von der vollen Wahrheit entfernt war. Sie waren sicher, so lange das Nachthemd in einem sicheren Versteck war, aber nicht einen Augenblick länger.

»Ich verzweifele daran, Ihnen die ganze Tiefe des Jammers und des Schreckens begreiflich zu machen, die mich jetzt bedrängten. Es war unmöglich für mich, es noch länger zu wagen, Ihr Nachthemd am Leibe zu tragen. Ich mußte jeden Augenblick darauf gefaßt sein, mich nach dem Polizeigericht in Frizinghall abgeführt zu sehen, um dort auf dringenden Verdacht hin durchsucht zu werden. So lange mich Sergeant Cuff noch frei ließ, mußte ich mich und zwar unverzüglich entscheiden, ob ich das Nachthemd vernichten oder es an einer sicheren Stelle, in einer sicheren Entfernung vom Hause verstecken wolle.

»Wenn ich Sie nur ein» klein wenig weniger geliebt hätte, so würde ich das Nachthemd, glaube ich, zerstört haben. Aber, ach! Wie konnte ich die einzige in meinem Besitz befindliche Sache vernichten, welche den Beweis lieferte, daß ich Sie vor einer Entdeckung bewahrt hatte? Wenn es zu einer Erklärung zwischen uns kommen sollte und wenn Sie dann den Verdacht, daß ich Sie aus unreinen Motiven beschuldige, gegen mich aussprechen oder Ihre That ganz ableugnen würden: wie sollte ich mir Ihr Vertrauen erzwingen, wenn ich nicht im Besitz des Nachthemdes war.

»That ich Ihnen Unrecht, wenn ich glaubte und glaube, daß Sie vielleicht ungern ein armes Mädchen wie mich in Ihr Geheimniß eingeweiht sehen und als Ihre Mitschuldige bei dem Diebstahl betrachten würden, den zu begehen Ihre Geldverlegenheiten Sie veranlaßt hatten? Denken Sie an Ihr kaltes Benehmen gegen mich, Herr, und Sie werden sich kaum über meine Ungeneigtheit wundern können, den einzigen glücklicherweise in meinem Besitz befindlichen Gegenstand zu vernichten, der mir einen Anspruch auf Ihr Vertrauen und Ihre Dankbarkeit gewähren konnte.

»Ich beschloß, denselben zu verstecken; und zwar an dem mir wohlbekanntesten Ort, dem Zitterstrande.

»Sobald ich meinen Beschluß gefaßt hatte, erbat ich mir unter dem ersten besten Vorwand Erlaubniß, ein wenig auszugehen. Ich ging geradeswegs nach Cobb’s Hole, nach Yollands Fischerhütte. Seine Frau und seine Tochter waren meine besten Freundinnen. Aber denken Sie nicht, daß ich denselben Ihr Geheimniß anvertraut hätte —— kein Mensch hat es von mir erfahren. Alles, was ich wollte, war, die Möglichkeit, Ihnen diesen Brief zu schreiben und eine sichere Gelegenheit, mich des Nachthemds zu entledigen. Verdächtig wie ich war, konnte ich keines von beiden mit irgend welcher Sicherheit in unserm Hause thun.

»Und jetzt bin ich mit meinem langen Briefe beinahe zu Ende, den ich hier in Lucy Yollands Schlafzimmer schreibe. Wenn ich ihn geschlossen habe, werde ich mit dem ausgerollten und unter meinem Mantel versteckten Nachthemd hinuntergehen. Ich werde das Mittel, es sicher und trocken in seinem Versteck aufzubewahren, unter dem alten Gerümpel in Yollands Küche finden. Und dann werde ich nach dem Zittersande gehen —— fürchten Sie nicht, daß meine Fußtritte mich verrathen werden! —— und das Nachthemd im Sande verbergen, aus dem kein lebendes Wesen es wieder hervorholen kann, wenn es nicht zuvor von mir in das Geheimniß eingeweiht worden ist.

»Und nachdem ich das gethan haben werde, was dann?

»Dann, Herr Franklin, werde ich aus zwei Gründen noch einen Versuch machen, Ihnen die Worte zu sagen, die ich bis jetzt noch nicht« habe aussprechen können. Wenn Sie das Haus demnächst verlassen, wie Penelope vermuthet, ohne daß ich vorher mit Ihnen gesprochen habe, so werde ich die Gelegenheit dazu für immer verloren haben. Das ist der eine Grund. Und dann habe ich das tröstende Bewußtsein, daß, wenn meine Worte Sie erzürnen sollten, ich das Nachthemd in Bereitschaft habe, um meine Sache so gut zu vertreten, wie nichts anderes aus der Welt es vermöchte. Das ist mein zweiter Grund. Wenn diese beiden Gründe zusammen genommen nicht im Stande find, mein Herz gegen die Kälte, welche dasselbe bisher so eisig berührt hat (ich meine die Kälte Ihres Benehmens gegen mich), zu bewaffnen, so wird es mit meinen Versuchen und mit meinem Leben zu Ende sein.

»Ja. Wenn ich mir die nächste Gelegenheit wieder entgehen lasse; wenn Sie mir wieder so grausam entgegentreten wie bisher, und wenn diese Kälte wieder wie bisher auf mich wirkt: so sage ich der Welt lebewohl, welche mir das Glück, das sie Anderen gewährt, mißgönnt hat; sage ich dem Leben valet, welches nichts als ein wenig Freundlichkeit von Ihnen je wieder erfreulich für mich machen kann. Machen Sie sich keine Vorwürfe, Herr, wenn die Sache solches Ende nimmt. Aber versuchen Sie es, etwas wie vergebendes Bedauern für mich zu empfinden! Ich werde Vorsorge treffen, daß Sie erfahren, was ich für Sie gethan habe, wenn ich es Ihnen selbst nicht mehr werde sagen können. Werden Sie dann ein freundliches Wort für mich haben und es in jenem milden Tone sprechen, den Ihre Stimme hat, wenn Sie mit Fräulein Rachel reden? Wenn Sie das thun und wenn es wahr ist daß die Geister der Verstorbenen fortleben, so wird mein Geist es gewiß hören und vor Freude darüber erbeben.

Es ist Zeit, daß ich den Brief schließe, ich reize mich unöthiger Weise selbst zum Weinen. Wie soll ich meinen Weg nach dem Ort des Verstecks finden, wenn ich diesen unnützen Thränen gestatte, meinen Blick zu trüben.

»Ueberdies, warum soll ich die Sache von der schlimmsten Seite ansehen? Warum soll ich nicht, so lange ich kann, glauben, daß Alles doch noch ein gutes Ende nehmen wird? Vielleicht finde ich Sie heute Abend in guter Laune, oder —— wenn nicht, vielleicht gelingt es mir noch Morgen früh. Der Gram würde doch mein armes häßliches Gesicht nicht verschönern —— nicht wahr? Wer weiß, vielleicht habe ich diesen langen, langweiligen Brief ganz umsonst geschrieben. Aber der Sicherheit wegen soll er, wenn auch aus keinem andern Grunde, jetzt zusammen mit dem Nachthemd in sein Versteck wandern. Es war ein saures Stück Arbeit ihn zu schreiben. O! wenn es mir nur noch gelingt, mich mit Ihnen zu verständigen, wie gern will ich ihn zerreißen!

»Ich verbleibe Ihre Sie innig liebende ergebene Dienerin

Rosanna Spearman.«

Betteredge hatte den Brief für sich zu Ende gelesen. Nachdem er ihn sorgfältig wieder in’s Couvert gesteckt hatte, saß er gesenkten Hauptes, die Augen zu Boden geheftet, nachdenklich da.

»Betteredge«,« sagte ich, »enthält der Schluß des Briefes irgend etwas, was uns auf die rechte Spur führen könnte?«

Er blickte mit einem tiefen Seufzer langsam zu mir auf.

»Nichts, Herr Franklin!« antwortete er. »Wenn Sie meinem Rathe folgen, so lassen Sie den Brief jetzt in seinem Couvert, bis die angstvolle Aufregung, die Sie gegenwärtig bedrängt, vorüber ist. Der Brief wird Sie, wann Sie ihn auch lesen, tief betrüben. Lesen Sie ihn jetzt nicht!«

Ich legte den Brief in meine Brieftasche.

Ein Rückblick auf das 16. und 17. Capitel von Betteredge’s Erzählung wird dem Leser zeigen, daß in der That Grund genug vorhanden war, mich in dieser Weise in einem Augenblick zu schonen, wo meine Seelenstärke bereits auf eine so grausame Probe gestellt worden war. Noch zwei Mal hatte das unglückliche Mädchen noch einen letzten Versuch gemacht, mit mir zu reden; und beide Male hatte ich —— Gott weiß, wie unschuldigerweise —— das Mißgeschick gehabt, sie abzuschrecken. Am Freitag Abend hatte sie mich, wie Betteredge es treulich berichtet, allein am Billard gefunden. Ihr Benehmen und ihre Sprache hatten bei mir, wie sie es unter den obwaltenden Umständen bei jedem Andern gethan haben würden, die Vermuthung hervorgerufen, daß sie im Begriffe stehe, ein Schuldbekenntniß in Betreff des Verschwindens des Diamanten abzulegen. Um ihrer selbst willen hatte ich absichtlich kein besonderes Interesse für sie an den Tag gelegt; um ihrer selbst willen hatte ich absichtlich nur auf die Billardbälle geblickt, anstatt sie anzusehen; und was war die Folge gewesen? Sie war bis ins Herz getroffen von mir gegangen! Und endlich am Sonnabend —— an dem Tage, wo sie nach dem, was ihr Penelope gesagt hatte, meine Abreise als bevorstehend betrachten mußte —— verfolgte uns dasselbe Verhängniß. Noch einmal hatte sie es versucht, mich auf dem Wege im Gebüsch zu treffen und hatte mich dort in Gesellschaft von Betteredge und Sergeant Cuff gefunden. Sergeant Cuff hatte, seinen eigenen Nebenzweck im Auge, —— so laut, daß sie es hören konnte —— an mein Interesse für Rosanna Spearman appellirt. Abermals um des armen Geschöpfes selbst willen hatte ich die Frage des Polizeibeamten entschieden verneint und hatte —— so laut, daß sie auch meine Worte sollte hören können —— erklärt, daß ich nicht das geringste Interesse an Rosanna Spearman nehme. Bei diesen Worten, die lediglich dazu bestimmt waren, sie vor dem Versuch zu warum, mich zu ihrem Vertrauten Zu machen, war sie fortgegangen; auf die ihrer harrende Gefahr aufmerksam gemacht, wie ich damals glaubte —— entschlossen, sich selbst den Tod zu geben, wie ich jetzt weiß. Die aus jenen Moment folgenden Ereignisse habe ich bereits bis zu der merkwürdigen Entdeckung auf dem Zittersand fortgeführt Dem Leser ist jetzt ein vollständig zusammenhängender Rückblick möglich. Ich kann die unglückliche Geschichte Rosanna Spearman’s, an die ich auch jetzt noch nach so langer Zeit nicht ohne tiefe Betrübniß zurückdenken kann, hier in der Ueberzeugung abschließen, daß sich alles das, was hier absichtlich ungesagt geblieben ist, aus derselben von selbst ergeben wird.

Ich darf also wohl von diesem Selbstmord am Zittersand mit seinem sonderbaren und schrecklichen Einfluß auf meine gegenwärtige Lage und meine Aussichten für die Zukunft, zu Interessen, welche die lebenden Personen dieser Erzählung betreffen, und zu Ereignissen übergehen, welche mir bereits den Weg für meine langsame und mühselige Wanderung von Nacht zu Licht gebahnt hatten.



Kapiteltrenner

Sechstes Capitel.

Ich ging, wie ich wohl kaum zu sagen brauche, in Betteredge’s Begleitung nach der Eisenbahnstation. Ich hatte den Brief in meinem Taschenbuch und das Nachthemd in einem kleinen Sack bei mir, beide Gegenstände zu dem Zweck, um sie noch an diesem Abend, bevor ich mich zur Ruhe begab, dem forschenden Scharfsinn des Herrn Bruff vorzulegen.

Wir verließen das Haus schweigend. Zum ersten Male so lange ich denken konnte, befand ich mich in der Gesellschaft des alten Betteredge, ohne daß er mir ein Wort zu sagen gewußt hätte. Da ich aber ihm etwas zu sagen hatte, so fing ich eine Unterhaltung an, sobald wir aus dem Bereich der Pförtnerwohnung waren.

»Ehe ich nach London gehe,« begann ich, »habe ich zwei Fragen an Sie zu richten. Sie betreffen mich selbst und werden Sie, glaube ich, überraschen.«

»Wenn sie mir nur den Brief des armen Geschöpfes aus dem Sinn bringen, Herr Franklin, so mögen Sie übrigens mit mir thun, was Sie wollen. Bitte, fangen Sie nur an mich zu überraschen, so rasch Sie können.«

»Meine erste Frage, Betteredge, ist diese. War ich an dem Abend von Rachel’s Geburtstag betrunken?«

»Sie betrunken?« rief der Alte aus. »Es ist ja gerade ein großer Fehler an Ihnen, Herr Franklin, daß Sie nur bei Tische trinken und nach dem Mittagessen keinen Tropfen Flüssigkeit zu sich nehmen!«

»Aber der Geburtstag war eine besondere Gelegenheit. Ich hätte an jenem Abend vielleicht ausnahmsweise einmal von meiner Gewohnheit abweichen können.«

Betteredge dachte einen Augenblick nach.

»Sie sind von Ihrer Gewohnheit abgewichen,« sagte er, »und ich will Ihnen auch sagen, wieso. Sie sahen sehr elend aus und wir überredeten Sie, einen Schluck Cognac und Wasser zu trinken, um Ihre Lebensgeister ein wenig aufzufrischen.«

»Ich bin das Getränk nicht gewöhnt und es ist sehr möglich . . .«

»Warten Sie einen Augenblick, Herr Franklin. Ich wußte, daß Sie nicht daran gewöhnt seien. Ich goß Ihnen ein halbes Weinglas voll von unserm 50jährigen Cognac ein und —— zu meiner noch größeren Schande sei es gesagt! —— ertränkte diese edle Flüssigkeit nahezu in einem großen Glase Wasser. Das hätte ein Kind nicht betrunken machen können, geschweige denn einen erwachsenen Mann.«

Ich wußte, daß ich mich in einer derartigen Angelegenheit auf sein Gedächtniß vollkommen verlassen konnte. Es war rein unmöglich, daß mich jenes Getränk berauscht haben konnte. Ich ging zu meiner zweiten Frage über.

»Ehe ich auf Reisen geschickt wurde, Betteredge, hatten Sie mich als Knaben sehr gut gekannt. Nun sagen Sie mir, bitte, grade heraus, erinnern Sie sich je, nachdem ich Abends zu Bett gegangen war, irgend etwas Sonderbares an mir beobachtet zu haben? Haben Sie mich je nachtwandeln gesehen?«

Betteredge stand still, sah mich einen Augenblick an nickte mit dem Kopf und ging wieder weiter.

»Ich sehe, wo Sie hinauswollen, Herr Franklin,« sagte er, »Sie suchen nach einer Erklärung dafür, wie Sie zu dem Farbenfleck auf Ihrem Nachthemd gekommen sind, ohne etwas davon zu wissen. Aber das geht nicht. Sie sind noch meilenweit von der Wahrheit entfernt, Sie nachtwandeln? In Ihrem Leben haben Sie nichts dergleichen gethan.«

Abermals mußte ich mich überzeugt halten, daß Betteredge Recht habe. Weder im Ausland noch zu Hause hatte ich je ein einsames Leben geführt. Wenn ich ein Nachtwandler war, so gab es hunderte und aber hunderte von Leuten, die mich beobachten, mich warnen und Vorsichtsmaßregeln gegen die Folgen meiner Gewohnheit hätten ergreifen müssen.

Aber obgleich ich das Alles zugeben mußte, so klammerte ich mich doch mit einem Eigensinn der unter den obwaltenden Umständen gewiß natürlich und entschuldbar war, an eine oder die andere dieser beiden einzigen Erklärungen, welche, soweit ich sehen konnte, einen Aufschluß über die unerträgliche Lage, in der ich mich befand, zu geben im Stande waren. Als Betteredge bemerkte, daß ich noch nicht völlig überzeugt sei, spielte er schlau auf gewisse spätere Ereignisse in der Geschichte des Mondsteins an und erschütterte damit sofort und für immer meine beiden Hypothesen.

»Lassen Sie uns einen andern Weg versuchen,« sagte er. »Behalten Sie Ihre Ansicht für sich und sehen Sie zu, wie weit Sie damit auf dem Wege der Entdeckung der Wahrheit gelangen werden. Wenn wir dem Nachthemd glauben müssen —— was ich für meine Person nicht thue —— so haben Sie nicht blos die Malerei an der Thür übergewischt, ohne es zu wissen, sondern auch den Diamanten genommen, ohne etwas davon zu wissen. Ist das soweit richtig?«

»Vollkommen richtig. Fahren Sie fort!«

»Nun wohl, Herr Franklin "Wir wollen annehmen, Sie seien betrunken oder ein Nachtwandler gewesen, als Sie den Edelstein nahmen. Damit ließen sich allenfalls die Vorgänge in der Nacht und am Morgen nach dem Geburtstage erklären: aber wie wollen Sie damit erklären, was seitdem geschehen ist? Der Diamant ist seitdem nach London gewandert, der Diamant ist seitdem an Herrn Luker verpfändet worden. Haben Sie diese beiden Dinge auch gethan, ohne etwas davon zu wissen? Waren Sie auch betrunken, als Sie an jenem Abend in der Ponychaise fortfahren? Und sind Sie auch zu Herrn Luker hin genachtwandelt, als Sie mit der Eisenbahn am Ziel ihrer Reise ankamen? Nehmen Sie’s mir nicht übel, Herr Franklin, aber diese Geschichte hat Sie außer Fassung gebracht, daß Sie noch nicht im Stande sind, selbst zu urtheilen. Je eher Sie Ihren Kopf mit Herrn Bruff's Kopf zusammenstecken, desto eher werden Sie aus der Sackgasse, in die Sie sich jetzt verrannt haben, wieder herausfinden.«

Wir kamen nur eine oder zwei Minuten zu früh an der Station an.

Ich konnte Betteredge nur noch rasch meine Adresse in London geben, damit er mir nöthigenfalls schreiben könne und» ihm meinerseits versprechen, ihn Neuigkeiten, die ich etwa mitzutheilen haben könnte, wissen zu lassen. Als ich das gethan hatte und ihm eben noch Lebewohl sagte, warf ich zufällig einen Blick auf den Buch und Zeitungsladen an der Station. Da stand der wunderlich aussehende Assistent des Herrn Candy wieder im Gespräch mit dem Inhaber des Ladens. Unsere Blicke begegneten sich. Ezra Jennings nahm seinen Hut vor mir ab. Ich erwiderte seinen Gruß und hatte noch eben Zeit in einen Wagen zu steigen, ehe sich der Zug in Bewegung setzte. Es war vielleicht eine tröstliche Ablenkung meiner Gedanken, mich mit irgend einem Gedanken zu beschäftigen, der anscheinend keinerlei persönliches Interesse für mich hatte. Ich fing die wichtige Reise die mich zu Herrn Bruff zurückführen sollte, damit an, mich darüber zu wundern, daß ich den Mann mit dem scheckigen Haar zweimal an einem Tage gesehen hatte!

Die Stunde meiner Ankunft in London ließ den Versuch, Herrn Bruff noch auf seinem Bureau zu treffen, ganz hoffnungslos erscheinen. Ich fuhr von der Eisenbahn direct nach seiner Privatwohnung in Hampstead und störte den alten, Advocaten bei seinem einsamen Mittagsschläfchen, daß er, seinen Lieblingsmops auf dem Schooß und seine Flasche Wein vor sich in seinem Eßzimmer hielt.

Ich kann den Eindruck, den meine Geschichte auf Herrn Bruff’s Gemüth hervorbrachte, nicht besser schildern, als wenn ich erzähle was er vornahm, nachdem er sie zu Ende gehört hatte. Er beorderte Licht und starken Thee in sein Arbeitszimmer und ließ seinen Damen sagen, sie möchten uns unter keinem denkbaren Vorwand stören. Nach Erledigung dieser einleitenden Maßregeln prüfte er zuerst das Nachthemd und las dann Rosanna Spearman’s Brief.

Nach beendigter Lectüre redete mich Herr Bruff zum ersten Mal, seit wir uns in sein Zimmer eingeschlossen hatten, an.

»Franklin Blake,« sagte der alte Herr, das ist eine sehr ernste Geschichte in mehr als einer Beziehung. Nach meiner Ansicht geht sie Rachel ganz so nahe an, wie Sie. Ihr auffallendes Benehmen hat jetzt nichts Geheimnisvolles mehr, sie glaubt, daß Sie den Diamanten gestohlen haben.«

Ich war bis jetzt vor diesem naheliegenden Schluß zurückgeschreckt, aber er hatte sich nichtsdestoweniger auch mir bereits aufgedrängt. Mein Entschluß, eine persönliche Besprechung mit Rachel zu erlangen, beruhte gerade auf dem eben von Herrn Bruff angegebenen Grunde.

»Der erste Schritt, den wir bei unsern Nachforschungen zu thun haben,« fuhr der Advocat fort, »ist, uns an Rachel zu wenden. Sie hat diese ganze Zeit her aus Gründen geschwiegen, welche ich, der ich ihren Charakter kenne, sehr gut begreife. Jetzt aber ist es, nach dem was geschehen ist, unmöglich, sich noch länger in dieses Schweigen zu ergeben. Sie muß überredet oder nöthigenfalls gezwungen werden, uns zu sagen, worauf sich der Glaube, daß Sie den Diamanten gestohlen haben, stützt. Unsere Hoffnung beruht darauf, daß diese ganze Angelegenheit, ernst wie sie jetzt noch erscheint, in Nichts zerfallen wird, wenn wir nur Rachel’s eingewurzelte Zurückhaltung durchbrechen und sie bewegen können sich auszusprechen.«

»Das ist eine für mich sehr tröstliche Ansicht,« sagte ich, »ich gestehe, ich möchte wissen ——«.

»Sie möchten wissen, wie ich dieselbe begründen kann,« unterbrach mich Herr Bruff »Ich kann Ihnen das in zwei Minuten sagen. Vergegenwärtigen Sie sich zunächst, daß ich diese Angelegenheit von einem advokatischen Standpunkt aus betrachte. Für mich ist es eine Beweisfrage. Nun wohl! Der Beweis aber fällt sofort in einem bedeutenden Punkt zusammen.«

»In welchem Punkt?«

»Das sollen Sie hören. Ich gebe zu, daß das Namenszeichen beweist, daß das Nachthemd das Ihrige ist, ich gebe zu, daß der Farbenfleck beweist, daß das Nachthemd den Fleck an Rachel’s Thür verursacht hat, aber wo ist der Beweis für Sie oder für mich, daß Sie die Person sind, die das Nachthemd getragen hat?«

Dieser Einwand electrisirte mich. Das war mir bis jetzt nie in den Sinn gekommen!

»Was den Brief da betrifft,« fuhr der Advokat fort, indem er Rosanna Spearman’s Bekenntnisse in die Hand nahm, so begreife ich, daß sein Inhalt Sie betrübt. Ich begreife, daß Sie Anstand nehmen, denselben von einem ganz unpartheiischen Standpunkt aus zu analysiren. Aber Ihre Rücksichten sind nicht bindend für mich. Ich darf meine berufsmäßige Erfahrung bei diesem Document so gut zur Anwendung bringen, wie ich es bei jedem andern thun würde. Ohne die Vergangenheit des Mädchens, als einer Diebin, weiter in Betracht zu ziehen, will ich nur darauf aufmerksam machen, daß sie sich nach ihrem eigenen Brief als eine in alle Künste der Täuschung eingeweihte Person ausweist und ich folgere daraus meine Berechtigung zu dem Verdacht, daß sie nicht die ganze Wahrheit gesagt hat. Ich will für jetzt keine Vermuthungen über das aussprechen, was sie gethan oder nicht gethan haben kann. Ich will nur soviel sagen, wenn Rachel’s Verdacht sich nur auf den Beweis des Nachthemd gründet, so ist die Wahrscheinlichkeit neunundneunzig zu eins, daß Rosanna Spearman die Person war, die ihr das Nachthemd gezeigt hat. Dafür spricht in dem Brief das Bekenntniß des Mädchens daß sie eifersüchtig auf Rachel war, daß sie die Rosen vertauschte, daß sie einen Hoffnungsstrahl für sich in der Aussicht auf einen Zwist zwischen Rachel und Ihnen erblickte. Ich halte mich nicht bei der Frage auf, wer den Mondstein genommen hat (Rosanna Spearman würde, um einen bestimmten Zweck damit zu erreichen, fünfzig Mondsteine genommen haben), —— ich sage nur, daß das Verschwinden des Edelsteins dieser gebesserten Diebin, welche in Sie verliebt war, Gelegenheit gab, Sie und Rache! auf immer zu veruneinigen, und —— vergessen Sie nicht, daß sie damals noch nicht entschlossen war sich das Leben zu nehmen, —— ich behaupte fest, daß es ihrer Stellung und ihrem Charakter entsprach, die sich darbietende Gelegenheit zu ergreifen. Was sagen Sie dazu?«

»Ich selbst,« antwortete ich, »konnte mich eines ähnlichen Verdachtes nicht erwehren, sobald ich den Brief eröffnet hatte.«

»Da haben wir’s! Und als Sie den Brief zu Ende gelesen hatten, empfunden Sie Mitleid mit dem armen Geschöpf und konnten es nicht über sich gewinnen, sie zu verdächtigen. Gereicht Ihnen zur Ehre, mein lieber Herr, nur zur Ehre!«

»Aber angenommen, es ergäbe sich, daß ich doch das Nachthemd getragen habe, was dann?«

»Ich vermag nicht einzusehen, wie eine solche Thatsache zu beweisen sein soll,« sagte Herr Bruff, »aber angenommen der Beweis wäre möglich, so würde allerdings die Einbringung Ihrer Unschuld keine leichte Sache sein. Lassen Sie uns darauf jetzt nicht näher eingehen. Lassen Sie uns warten und zusehen, ob Rachel ihren Verdacht gegen Sie lediglich auf den Beweis des Nachthemds gegründet hat.«

»Guter Gott, wie kühl Sie von Rachel’s Verdacht gegen mich reden!« brach ich aus. »Welches Recht hatte sie, auf irgend welchen Beweis hin mich im Verdacht eines Diebstahls zu haben?«

»Eine sehr verständige Frage, mein lieber Freund. Etwas hitzig aufgeworfen, aber nichtsdestoweniger der Erwägung werth. Was Sie intriguirt, intriguirt mich auch. Besinnen Sie sich recht und sagen Sie mir: Ist während Ihres Aufenthalts im Hause irgend etwas vorgekommen, was geeignet gewesen wäre —— nicht, Rachel’s Glauben an Ihre Ehre, davon kann keine Rede sein ——, sondern sagen wir, einerlei mit wie großem Recht, ihren Glauben an Ihre Grundsätze im Allgemeinen zu erschüttern?«

Ich sprang, ganz außer mir vor Aufregung, auf. Die Frage des Advokaten erinnerte mich, zum ersten mal, seit ich England verlassen hatte, daß allerdings etwas der Art vorgekommen war.

In dem achten Capitel von Betteredge’s Erzählung wird man die kurze Erwähnung der Ankunft eines unbekannten Ausländers im Hause meiner Tante finden, welcher mich in Geschäften sprechen wollte. Die fragliche geschäftliche Angelegenheit war folgende:

Ich war thöricht genug gewesen, —— in einem Augenblick, wo ich mich, wie oft, in bedrängten finanziellen Umständen befand, —— ein Darlehn von dem Inhaber einer kleinen Restauration in Paris anzunehmen, dem ich als regelmäßiger Besucher seines Etablissements wohl bekannt war. Ich hatte eine bestimmte Frist für die Rückzahlung des Geldes mit ihm verabredet, und als die Frist abgelaufen war, fand ich es, wie es tausend andere ehrliche Leute in ähnlichen Lagen auch gefunden haben, unmöglich, meiner Verpflichtung nachzukommen Ich schickte dem Mann einen Wechsel. Mein Name war unglücklicherweise nur zu oft auf solchen Documenten gesehen worden: er konnte den Wechsel nicht begeben. Seine Verhältnisse waren, seit ich das Geld von ihm geborgt hatte, in Unordnung gerathen; er war dem Bankrott nahe, und ein Verwandter von ihm, ein französischer Advokat, kam nach England, um mich aufzusuchen und auf die Bezahlung meiner Schuld zu bestehen. Der Mann war sehr leidenschaftlicher Natur und schlug den verkehrten Weg bei mir ein. Es kam zu heftigen Worten auf beiden Seiten, und meine Tante, die mit Rachel unglücklicherweise in einem anstoßenden Zimmer war, wo sie uns hörten, kam herein und bestand darauf, zu erfahren, um was es sich handele. Der Franzose producirte seine Vollmacht und erklärte mich verantwortlich für den Ruin eines armen Mannes, der meiner Ehrenhaftigkeit vertraut habe. Meine Tante bezahlte ihm auf der Stelle das Geld und schickte ihn fort. Sie kannte mich natürlich zu gut, um die Auffassung des Franzosen über die Sache zu theilen. Aber sie war betroffen über meinen Leichtsinn und mit Recht auf mich erzürnt, daß ich mich in eine Lage gebracht habe, welche, wenn sie sich nicht in’s Mittel gelegt hätte, sehr unangenehm für mich hätte werden können. Ob Rachel von ihrer Mutter erfuhr oder selbst hörte, was im Nebenzimmer vorging, weiß ich nicht, aber sie faßte die Sache in ihrer romantisch hochfliegenden Weise auf. Ich war »herzlos«, ich war »unehrenhaft«, ich hatte »keine Grundsätze«, man könne nicht wissen, »was ich noch thun werde« —— kurz, sie sagte mir die stärksten Dinge, die ich jemals von den Lippen eines jungen Mädchens gehört hatte. Der Bruch zwischen uns dauerte den ganzen nächsten Tag. Schon am Abend dieses Tages aber gelang es mir, mich wieder mit ihr auszusöhnen, und ich dachte nicht mehr an die Sache. Hatte Rachel sich dieses unglücklichen Vorfalls in dem kritischen Augenblick erinnert, wo meine Stellung in ihrer Achtung abermals und zwar dieses Mal viel ernsthafter gefährdet war? Herr Bruff beantwortete diese Frage, als ich ihm die Umstände erzählt hatte, sofort bejahend.

»Ohne Zweifel hat ihr das einen tiefen Eindruck gemacht,« sagte er ernst, »und ich wünschte um Ihretwillen, die Sache wäre nicht passirt. Indessen haben wir doch damit die Gewißheit erlangt, daß eine ungünstige Voreingenommenheit gegen Sie vorhanden war und auf jeden Fall haben wir damit eine Ungewißheit aus dem Wege geräumt. Ich sehe nicht, was wir im Augenblick noch mehr thun könnten. Unser nächster Schritt in dieser Untersuchung muß der sein, der uns zu Rachel führt.«

Er erhob sich und fing an, nachdenklich im Zimmer aus und ab zu gehen. Zweimal stand ich auf dem Punkte ihm zu sagen, daß ich entschlossen sei, Rachel selbst zu sprechen, und zweimal zauderte ich mit Rücksicht auf sein Alter und seinen Charakter, ihn in einem ungünstigen Augenblick zu überraschen.

»Die große Schwierigkeit,« fing er wieder an, »besteht darin, Rachel dahin zu bringen, sich in dieser Angelegenheit rückhaltlos auszusprechen. Wissen Sie etwas vorzuschlagen?«

»Ich bin zu dem Entschluß gekommen, selbst mit Rachel zu reden, Herr Bruff.«

»Sie?« Er stand plötzlich still und sah mich an, als fürchte er, ich sei verrückt geworden. »Von allen Menschen in der Welt wären Sie ——« hier hielt er plötzlich inne und fing wieder an, im Zimmer und ab zu gehen. »Doch halt,« sagte er, »in so außerordentlichen Fällen sind rasche Entschlüsse oft die besten.« Er betrachtete die Sache einen Augenblick unter diesem neuen Gesichtspunkt und entschied sich dann kühn für meinen Vorschlag. »Wer wagt, gewinnt,« fing der alte Herr wieder an. »Zu Ihren Gunsten spricht etwas, dessen ich mich nicht rühmen kann —— und so mögen Sie den Versuch wagen.«

»Etwas zu meinen Gunsten?« wiederholte ich höchst überrascht.

Zum ersten Male zeigte sich ein Lächeln auf Herrn Bruff’s Antlitz.

»Die Sache steht so,« sagte er, »ich gestehe Ihnen offen, ich habe kein großes Vertrauen weder zu Ihrer Discretion, noch zu Ihrem Temperament. Aber ich rechne darauf, daß, Rachel in einem verborgenen Winkel ihres Herzens noch eine unvertilgbare Neigung für Sie bewahrt. Verstehen Sie es, diese Seite anzuschlagen und Sie sind sicher, weiblichen Lippen die umfassendsten Bekenntnisse zu entlocken. Es fragt sich nur, wie wollen Sie zu einer Besprechung mit ihr gelangen?«

»Sie ist längere Zeit Ihr Gast gewesen,« antwortete ich, »darf ich den Vorschlag machen, daß ich sie —— vorausgesetzt, daß sie vorher nichts von mir erfährt —— hier treffe?«

»Ein kühner Vorschlag.« Mit diesem einzigen Ausruf auf meine Erwiderung setzte er seine Wanderung durchs Zimmer fort.

»Mit andern Worten,« sagte er, »ich soll mein Haus zu einer Falle für Rachel hergeben und als Köder soll eine Einladung meiner Frau und meiner Töchter dienen. Wenn Sie nicht Franklin Blake wären und wenn diese Angelegenheit nicht eine so sehr ernste wäre, so würde ich Ihnen Ihre Bitte rund abschlagen. Wie die Sachen aber stehen, so glaube ich fest, daß Rachel es mir ihr Leben lang danken wird, wenn ich in meinen alten Tagen zum Verräther an ihr werde. Betrachten Sie mich als Ihren Complicen wir wollen Rachel einladen, einen Tag bei uns zuzubringen, und Sie sollen rechtzeitig davon in Kenntniß gesetzt werden!«

»Wann! morgen?«

»Bis morgen würden wir ihre Antwort nicht haben können, sagen wir übermorgen.«

»Wie, wollen Sie mich es wissen lassen?«

»Bleiben Sie den ganzen Vormittag zu Hause und erwarten Sie meinen Besuch.«

Ich dankte ihm von ganzem Herzen für den unschätzbaren Beistand, den er mir zu leisten bereit war und kehrte, indem ich seine gastliche Aufforderung, bei ihm zu übernachten, ablehnte, nach meiner Wohnung in London zurück.

Von dem folgenden Tage habe ich weiter nichts zu sagen, als daß es der längste meines Lebens war. So unschuldig ich mich fühlte, so gewiß ich war, daß der abscheuliche Verdacht, der auf mir ruhte, sich früher oder später aufklären müsse, war mein Gemüth doch in einer Weise belastet, die mich instinctiv abgeneigt machte, meine Freunde zu sehen. Wir hören oft (freilich meist von oberflächlichen Beobachtern) sagen, daß Schuld wie Unschuld aussehen kann, ich halte es für einen unendlich viel wahreren Satz, daß Unschuld wie Schuld ansehen kann. Ich ließ mich den ganzen Tag über vor allen Besuchern verleugnen und wagte mich erst nach Dunkelwerden auf die Straße.

Am nächsten Morgen überraschte mich Herr Bruff beim Frühstück. Er überreichte mir einen großen Schlüssel und erklärte, daß er sich zum ersten Mal in seinem Leben vor sich selbst schäme.

»Komm sie?«

»Sie kommt heute zum zweiten Frühstück und bleibt den Nachmittag bei uns.«

»Sind Ihre Damen eingeweiht?«

»Das wäre nicht zu vermeiden. Und Frauen haben, wie Sie wissen werden, keine Grundsätze meine Frauenzimmer fühlen nicht die Spur von der Gewissensangst, die mich bedrängt. Da es sich um den Zweck handelt, Sie und Rachel wieder zusammen zu bringen, setzen sich meine Frau und meine Töchter über die Mittel, diesen Zweck zu erreichen, mit einer Leichtigkeit hinweg, als ob sie Jesuiten wären.«

»Ich bin ihnen unendlich dankbar! Wozu ist dieser Schlüssel?«

»Es ist der Schlüssel zur Pforte meines Hintergartens. Stellen Sie sich heute Nachmittag um 3 Uhr ein. Gehen Sie durch den Garten und treten Sie durch die Treibhausthür in’s Haus. Gehen Sie durch das kleine Wohnzimmer und öffnen Sie die dem Eingang gegenüber befindliche Thüre, welche in das Musikzimmer führt. Da werden Sie Rachel allein finden«

»Wie soll ich Ihnen danken!«

»Das will ich Ihnen sagen: Indem Sie mich nicht für das verantwortlich machen, was daraus entstehen kann.«

Mit diesen Worten verließ er mich. Viele lange Stunden lagen noch vor mir. Um mir die Zeit zu vertreiben, sah ich die für mich eingetroffenen Briefe durch. Unter ihnen befand sich einer von Betteredge. Ich öffnete denselben hastig. Zu meiner Ueberraschung und Enttäuschung fing derselbe mit der entschuldigenden Ankündigung, daß er keine Nachrichten von Wichtigkeit enthalten werde, an. Im nächsten Satz erschien wieder der ewige Ezra Jennings! Er hatte Betteredge beim Verlassen der Station angehalten und ihn gefragt, wer ich sei. Darüber unterrichtet, hatte er seinem Prinzipal, Herrn Candy, erzählt, daß er mich gesehen habe. Auf diese Mittheilung war Herr Candy selbst zu Betteredge hinübergefahren, um sein Bedauern darüber auszudrücken, daß wir uns verfehlt hätten. Er habe aus einem besonderen Grunde gewünscht, mich zu sprechen und bat, ich möge das nächste Mal, wo ich in die Nähe von Frizinghall käme, es ihn wissen lassen. Abgesehen von ein Paar charakteristischen Aeußerungen der Betteredge’schen Philosophie, war die vorstehende Mittheilung die Quintessenz des Briefes. Der gutherzige, treue Alte gestand, daß er hauptsächlich nur um des Vergnügens willen, das ihm das Schreiben an mich gewähre, geschrieben habe.

ich steckte den Brief zerknittert in die Tasche und vergaß ihn im nächsten Augenblick über meiner Alles absorbierenden Spannung auf die bevorstehende Zusammenkunft mit Rachel. In dem Moment, wo die Uhr an der Kirche von Hampstead Drei schlug, steckte ich Herrn Bruff’s Schlüssel in das Schlüsselloch der Gartenpforte. Als ich den ersten Schritt in den Garten that und die Thür an der inneren Seite wieder verschloß, überkam mich, wie ich bekennen muß, ein gewisses Gefühl von schuldbewußter Unsicherheit, in Betreff dessen, was mir die nächste Stunde bringen werde. Ich ließ meine Blicke verstohlen nach rechts und links hinschweifen, in der Furcht irgendwo in einem unbekannten Winkel des Gartens einen unerwarteten Zeugen zu erblicken. Es zeigte sich nichts, was meine Besorgniß gerechtfertigt hätte. Die Gänge des Gartens standen leer und die Vögel und Bienen waren meine einzigen Zeugen.

Ich durchschritt den Garten, trat in das Treibhaus und ging durch das kleine Wohnzimmer. Als ich meine Hand auf den Drücker der gegenüberliegenden Thür legte, tönten mir ein Paar auf dem Clavier angeschlagene klagende Töne aus dem Musikzimmer entgegen. Oft hatte sie in dieser Weise aus dem Instrument phantasirt, als ich zum Besuch im Hause ihrer Mutter war. Ich mußte einen Augenblick warten, um mich zu fassen. Vergangenheit und Gegenwart traten mir in diesem entscheidenden Augenblick mit einem Schlage vor die Seele und drängten mir das Bewußtsein eines ungeheuren Contrastes auf.

Nach Verlauf einiger Minuten ermannte ich mich und öffnete die Thür.



Kapiteltrenner

Siebentes Capitel.

In dem Augenblick, wo ich in der Thür erschien, stand Rachel vom Clavier auf. Ich schloß die Thür hinter mir. Wir standen uns an den beiden entgegengesetzten Seiten des Zimmers schweigend gegenüber. Mein Anblick schien wie erstarrend auf sie zu wirken. Mich überkam die Besorgniß daß ich zu plötzlich erschienen sei. Ich trat einige Schritte ihr entgegen und sagte in sanftem Tone: »Rachel!«

Der Ton meiner Stimme schien ihre Glieder wieder zu beleben und ihre Wangen wieder zu färben. Sie trat ihrerseits vor, noch ohne zu reden. Langsam, als ob sie unter einem von ihrem Willen unabhängigen Einfluß handle, trat sie näher und näher auf mich zu mit tief gerötheten Wangen, und mit Blicken aus denen jeden Augenblick das Licht des wieder erwachten geistigen Bewußtseins aufleuchtete. Ich vergaß den Zweck, der mich zu ihr geführt hatte; ich vergaß den niedrigen Verdacht, der auf meinem guten Namen ruhte, —— ich vergaß jede auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bezügliche Erwägung, der ich hätte eingedenk sein sollen. Ich sah nichts, als daß das Weib, das ich liebte, näher und näher auf mich zukam. Sie zitterte und stand unentschlossen da.

Ich konnte nicht länger widerstehen, —— ich umschlang sie mit meinen Armen und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

Einen Augenblick glaubte ich, sie erwiedere meine Küsse, einen Augenblick schien es mir, auch sie habe Alles vergessen. Aber noch ehe ich diesen Gedanken recht zu fassen vermochte, ließ mich ihre erste bewußte Handlung fühlen, daß sie sich des Vergangenen noch erinnere. Mit einem Schrei, der wie ein Schrei des Entsetzens klang, mit einer Kraft, der ich schwerlich Widerstand zu leisten im Stande gewesen wäre, auch wenn ich es versucht hätte —— stieß sie mich von sich. Aus ihren Augen leuchtete erbarmungsloser Zorn; erbarmungslose Verachtung schwebte auf ihren Lippen. Sie musterte mich mit ihren Blicken vom Kopfe bis zu den Füßen, wie sie einen Fremden gemustert haben würde, der sie insultirt hätte.

»Du Feigling!« rief sie aus, »Du gemeiner, elender, herzloser Feigling!«

Das waren die ersten Worte. Der unerträglichste Vorwurf, den ein Weib einem Manne machen kann, war es, den sie mir entgegenschleuderte.

»Ich erinnere mich der Zeit, Rachel,« sagte ich, »wo Du mir in würdigeren Worten gesagt haben würdest, daß ich Dich beleidigt habe. Ich bitte Dich um Verzeihung.«

Der Ton meiner Stimme mochte etwas von der Bitterkeit, die ich empfand, verrathen haben. Bei den ersten Worten meiner Erwiederung blickten ihre Augen, die sich noch eben von mir abgewandt hatten, unwillkürlich wieder zu mir hin. Sie antwortete in leisem Ton mit dem Ausdruck einer matten Ergebung ihres ganzen Wesens, der mir an ihr ganz neu war:

»Vielleicht giebt es eine Entschuldigung für mich. Nach dem, was Du gethan hast, kommt es mir wie eine gemeine Handlung von Dir vor, daß Du Dich so bei mir einschleichst, wie eine gemeine Handlung daß Du versuchst, meine alte Neigung für Dich auch jetzt noch anzudeuten, mich durch Ueberrumpelung zu verleiten, Dich zu küssen. Aber das ist nur eine weibliche Auffassung. Ich hätte wissen sollen, daß Du die Sache anders, ansehen mußt. Ich hätte besser gethan, mich zu beherrschen und nichts zu sagen.«

Die Entschuldigung war mir noch unerträglicher als die Insulte. Ein noch so tief gesunkener Mensch hätte sich dadurch gedemüthigt fühlen müssen.

»Wenn meine Ehre nicht in Deinen Händen läge,« sagte ich, »so würde ich Dich in diesem Augenblick verlassen, um Dich nie wiederzusehen. Du hast von Dem gesprochen, was ich gethan habe. Was habe ich gethan?«

»Was Du gethan hast! Das fragst Du mich?«

»Das frage ich!«

»Ich, habe Deine Schande geheim gehalten,« antwortete sie, »und habe die Folgen dieser Geheimhaltung getragen. Kann ich nicht verlangen, mit der insultirenden Frage, was Du gethan hast, von Dir verschont zu werden? Ist jedes Gefühl der Dankbarkeit in Dir erstorben? Einst warst Du meiner Mutter theuer und mir noch theurer ——«

Ihre Stimme versagte ihr; sie sank in einen Sessel, wandte ihr Gesicht von mir ab und bedeckte es mit ihren Händen.

Ich wartete einige Augenblicke, bevor ich es wagte wieder das Wort zu ergreifen. Ich wüßte nicht zu sagen, was ich in diesen Augenblicken des Schweigens schmerzlicher empfand —— den Stich ins Herz, den ihre Verachtung mir versetzt hatte, oder die stolze Zurückweisung jedes Antheils an ihrem Kummer.

»Wenn Du nicht zuerst reden willst,« sagte ich, »so muß ich es thun. Ich bin hergekommen, um Dir ein ernstes Wort zu sagen. Willst Du mir die einfache Gerechtigkeit widerfahren lassen, zuzuhören, während ich rede?«

Sie gab keine Antwort und regte sich nicht. Ich versuchte es nicht zum zweiten Mal mit einem Appell an ihre Gefühle. Ich trat ihrem Sessel um keinen Zoll näher. Mit einem Stolz, der nicht weniger eigensinnig war als der ihrige, erzählte ich ihr meine Entdeckung am Zitterstrand und Alles was zu derselben geführt hatte. Die Erzählung nahm natürlich einige Zeit in Anspruch, aber während dieser ganzen Zeit blickte sie nicht zu mir auf, sprach sie keine Silbe.

Ich beherrschte mich. Meine ganze Zukunft hing aller Wahrscheinlichkeit nach davon ab, daß ich in diesem Augenblick nicht die Herrschaft über mich verlor. Der Moment war gekommen, Herrn Bruff’s Theorie auf die Probe zu stellen. In der furchtbaren Aufregung, in die mich dieses Unternehmen versetzte, trat ich dicht vor sie hin.

»Ich habe Dir eine Frage zu thun,« sagte ich, »die mich zwingt, wieder auf einen peinlichen Gegenstand zurückzukommen. Hat Rosanna Spearman Dir das Nachthemd gezeigt? Ja oder nein?«

Sie sprang auf und trat gerade auf mich zu. Ihre Augen blickten mir forschend in’s Gesicht, als ob sie etwas darin lesen wollten, was sie noch nie darin gesehen hätten.

»Bist Du verrückt?« fragte sie.

Ich nahm mich noch immer zusammen und sagte ruhig: »Rachel, willst Du mir meine Frage nicht beantworten?«

Ohne die geringste Notiz von meiner Frage zu nehmen, fuhr sie fort:

»Hast Du einen mir unbekannten Zweck im Auge, eine niedrige Furcht vor der Zukunft? Man sagt, der Tod Deines Vaters habe Dich zum reichen Mann gemacht. Bist Du hergekommen mich für den Verlust meines Diamanten zu entschädigen? Und hast Du noch das Herz, Dich dieses Zweckes zu schämen? Ist das das Geheimniß Deiner vorgeblichen Unschuld und Deiner Geschichte von Rosanna Spearman? Steckt hinter all’ Deiner Falschheit dieses Mal ein Rest von Scham?«

Hier fiel ich ihr in’s Wort. Meine Selbstbeherrschung hatte ihr Ende erreicht.

»Du hast mir schmähliches Unrecht gethan,« brach ich leidenschaftlich aus, »Du hast mich in Verdacht Deinen Diamanten gestohlen zu haben. Ich habe ein Recht, nach dem Grunde Deines Verdachts zu fragen, und ich will ihn wissen!«

»Im Verdacht?« rief sie in wachsendem Zorn aus.

»Nichtswürdiger, ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie Du den Diamanten genommen hast!«

Die Enthüllung, welche mich in diesen Worten traf, welche die ganze Auffassung des Falles, auf die Herr Bruff seine Hoffnungen gebaut hatte, über den Hausen warfen, schlug mich hilflos zu Boden. unschuldig wie ich war, blieb ich schweigend vor ihr stehen. In ihren Augen, in Jedermanns Augen mußte ich wie ein Mensch aussehen, der durch die Entdeckung seiner eigenen Schuld überwältigt ist.

Sie wandte dem Schauspiel meiner Demüthigung und ihres Triumphs den Rücken. Mein plötzliches Verstummen schien sie zu erschrecken. »Ich habe Dich damals geschont,« sagte sie, »und ich hätte Dich jetzt geschont, wenn Du mich nicht zum Reden gezwungen hättest.« Sie entfernte sich von mir, als wolle sie das Zimmer verlassen, aber bevor sie die Thür erreichte stand sie wieder still und fragte: »Warum bist Du hergekommen, Dich selbst zu demüthigen, mich zu demüthigen?« Dann ging sie wieder einige Schritte weiter und stand abermals still. »Um Gottes willen, sage etwas!« rief sie leidenschaftlich aus. »Wenn Du noch einen Funken Erbarmen für mich hast, laß mich nicht weiter erniedrigen! Sage etwas, das mich zum Zimmer hinaus treibt!«

Ich trat, meiner Sinne kaum mehr mächtig, auf sie zu. Vielleicht hatte ich den unklaren Gedanken, sie zurückzuhalten, bis sie noch mehr gesagt haben würde. Von dem Augenblick an, wo ich wußte, daß der Beweis, auf den sich Rachel’s Berurtheilung meiner stützte der Augenschein war, stand mir nichts mehr, selbst nicht die Ueberzeugung von meiner eigenen Unschuld fest. Ich ergriff ihre Hand und versuchte es, bestimmt und zur Sache zu reden, aber Alles, was ich herausbringen konnte, war: »Rachel, Du hast mich einst geliebt.«

Sie schauderte und wandte ihre Blicke von mir weg. Ihre Hand lag kraftlos und zitternd in der Meinigen.

»Laß mich los!« sagte sie matt.

Die Berührung meiner Hand schien ebenso auf sie gewirkt zu haben, wie der Ton meiner Stimme, als ich zuerst in’s Zimmer getreten war. Sie hatte mich einen Feigling genannt, sie hatte ausgesprochen, was mich als einen Dieb brandmarkte, —— und doch, so lange ihre Hand noch in der meinigen lag, beherrschte ich sie!

Ich zog sie sanft nach der Mitte des Zimmers zurück. Ich ließ sie neben mir nieder sitzen.

»Rachel,« sagte ich, »ich kann den Widerspruch, der in dem liegt, was ich Dir sagen will, nicht erklären. Ich kann nur die Wahrheit sagen, wie Du sie gesagt hast. Du hast mich mit Deinen eigenen Augen gesehen, Du hast gesehen, wie ich den Diamanten genommen habe. Bei den Allmächtigen, der uns hört, erkläre ich, daß ich bis zu diesem Augenblick keine Ahnung davon gehabt habe, daß ich es gewesen bin, der den Diamanten genommen hat! Zweifelst Du noch an der Wahrheit meiner Worte?«

Was ich that und sagte, ging unbemerkt an ihr vorüber.

»Laß meine Hand los!« wiederholte sie schwach.

Das war ihre einzige Antwort. Ihr Kopf sank auf meine Schulter und ihre Hand drückte unbewußt die meinige in demselben Augenblick wo sie mich bat, sie loszulassen.

Ich unterließ es, mit meiner Frage in sie zu dringen. Aber damit hatte auch meine Geduld ihr Ende erreicht. Die Möglichkeit, je wieder unter rechtschaffenen Männern meinen Kopf hochhalten zu können, hing davon ab, daß ich Rachel vermochte, ihre Enthüllung vollständig zu machen. Die einzige mir noch übrige Hoffnung bestand darin, daß sie in ihrer Beweiskette etwas übersehen haben könnte —— vielleicht eine Kleinigkeit, die sich nichtsdestoweniger bei sorgfältiger Nachforschung als das Mittel ergeben könnte, schließlich doch meine Unschuld darzuthun. Ich ließ ihre Hand in der Meinigen. Ich sprach zu ihr mit aller Macht der Beredsamkeit, welche mir die Erinnerung an ihr Vertrauen und ihre Sympathie in vergangenen Tagen verlieh.

»Ich möchte Dich um etwas bitten,« sagte ich. »Erzähle mir jeden Umstand, der sich von dem Augenblick an, wo wir uns gute Nacht wünschten, bis zu jenem ereignete, wo Du mich den Diamanten nehmen sahst.«

Sie erhob ihr Haupt von meiner Schulter und versuchte es, ihre Hand loszumachen »O! warum Das wiederholen,« sagte sie, »warum Das wiederholen!«

»Das will ich Dir sagen, Rachel, Du und ich, wir sind Beide die Opfer einer ungeheuerlichen Vorspiegelung, die sich in die Maske der Wahrheit zu kleiden gewußt hat. Wenn wir uns zusammen wieder in’s Gedächtniß rufen, was an dem Abende Deines Geburtstages geschah, so können wir uns doch vielleicht noch verständigen.«

Ihr Haupt sank auf meine Schulter. Thränen rollten ihr langsam über die Wangen herab. »O!« sagte sie, »habe ich denn nicht auch einmal diese Hoffnung genährt? Habe ich denn nicht versucht, die Sache so anzusehen, wie Du es jetzt versuchst?«

»Du hast es allein versucht,« antwortete ich, »Du hast es noch nicht mit mir zusammen versucht.«

Diese Worte schienen etwas von der Hoffnung in ihr zu erwecken, die ich selbst empfand, indem ich sie aussprach. Sie beantwortete meine Fragen nicht nur willig, sie strengte ihren Verstand an, sie öffnete mir bereitwillig ihr ganzes Gemüth.

»Laß uns,« sagte ich. »Mit Dem anfangen, was zuerst geschah, nachdem wir einander gute Nacht gewünscht hatten. Gingst Du zu Bett oder bliebst Du noch auf?«

»Ich ging zu Bett«

»Erinnerst Du Dich der Zeit? war es spät?«

»Nicht sehr. Ungefähr Mitternacht, glaube ich.

»Schliefst Du sofort ein?«

»Nein, ich konnte in jener Nacht gar nicht schlafen.

»Warst Du unruhig?«

»Ich dachte an Dich.«

Die Antwort brachte mich fast um meine Fassung. Etwas in ihrem Ton, noch mehr als in ihren Worten, traf mich in’s tiefste Herz. Erst nach einer kleinen Pause konnte ich fortfahren.

»Hattest Du Licht in Deinem Zimmer» fragte ich.

»Nein, nicht eher, bis ich wieder aufstand und mir ein Licht anzündete.«

Wie lange war das, nachdem Du zu Bett gegangen warst?«

»Ungefähr eine Stunde, vielleicht um 1 Uhr.«

»Verließest Du Dein Schlafzimmer?

»Ich war im Begriff, es zu verlassen. Ich hatte meinen Schlafrock angezogen und wollte in mein Wohnzimmer gehen, um mir ein Buch zu holen.«

»Hattest Du Deine Schlafstubenthür geöffnet?

»Ich hatte sie eben geöffnet.«

»Aber Du warst noch nicht in’s Wohnzimmer gegangen?«

»Nein. Ich wurde in dem Augenblick, wo ich hineingehen wollte, zurückgehalten.«

»Was hielt Dich zurück?«

»Ich sah ein Licht durch die Spalte der äußeren Thür schimmern und hörte Fußtritt, die sich derselben näherten.

»Erschrakst Du?«

»Da noch nicht. Ich wußte, daß meine arme Mutter schlecht zu schlafen pflegte und ich erinnerte mich, daß sie mich am Abend zuvor sehr gern hatte überreden wollen, ihr die Aufbewahrung des Diamanten zu überlassen Sie war, wie mir schien, übertrieben ängstlich in Betreff desselben, und ich dachte, sie käme zu sehen, ob ich zu Bette sei, um wieder über den Diamanten mit mir zu reden, wenn sie mich wach fände.«

»Was thatest Du?«

»Ich blies mein Licht aus, um sie glauben zu machen, ich schlafe. Ich war eigensinnig, ich war entschlossen, meinen Diamanten aufzubewahren, wie es mir gut dünkte.«

»Gingst Du, nachdem Du Dein Licht ausgelöscht hattest, wieder zu Bett?«

»Ich hatte keine Zeit dazu. In dem Augenblick, wo ich das Licht auslöschte, öffnete sich die Thür des Wohnzimmers und ich sah ——«

»Du sahst?«

»Dich!«

»Gekleidet wie gewöhnlich?«

»Nein«

»In meinem Nachthemd?«

»In Deinem Nachthemd mit Deinem Bettleuchter in Deiner Hand.«

»Allein?«

»Allein.«

»Konntest Du mein Gesicht sehen?«

»Ja.«

»Deutlich?«

»Ganz deutlich. Das Licht in Deiner Hand beleuchtete es.«

»Waren meine Augen geöffnet?«

»Ja.«

»Bemerktest Du irgend etwas Auffallendes an ihnen? Etwas wie ein Starren in’s Leere?«

»Nichts derart. Deine Augen glänzten, glänzten mehr als gewöhnlich. Du sahst Dich im Zimmer um, als ob Du wußtest, daß Du an einem verbotenen Ort seist und als ob Du fürchtetest, entdeckt zu werden.«

»Beachtetest Du bei meinem Eintritt in’s Zimmer die Art meines Ganges?«

»Du gingst wie gewöhnlich. Du gingst bis in die Mitte des Zimmers und dann standest Du still und sahest Dich um.«

»Was thatest Du, als Du mich zuerst sahst?«

»Ich konnte nichts thun; ich war wie versteinert, ich konnte nicht reden; ich konnte nicht rufen; ich konnte mich nicht rühren, um meine Thür zu schließen.«

»Konnte ich Dich sehn, wo Du standst?«

»Du hättest mich gewiß sehen können, aber Du blicktest nie in der Richtung nach mir hin. Wozu diese Frage? Ich bin gewiß, daß Du mich nicht gesehen hast.«

»Wieso bist Du gewiß?«

»Würdest Du den Diamanten genommen haben? würdest Du nachher gehandelt haben, wie Du es gethan hast? würdest Du jetzt hier sein, wenn Du gesehen hättest daß ich wachte und Dich ansah? Laß mich nicht davon reden! Ich möchte Dir ruhig antworten. Hilf mir, so gelassen wie möglich zu bleiben. Komm zu etwas Anderem.«

Sie hatte Recht, in jeder Weise Recht. Ich ging zu andern Fragen über.

»Was that ich, nachdem ich bis in die Mitte des Zimmers gelangt und dort stehen geblieben war?«

»Du wandest Dich seitwärts und gingst gerade auf die Ecke neben dem Fenster los, wo mein indisches Schränkchen steht.«

»Als ich vor dem Schränkchen stand, muß ich Dir den Rücken zugekehrt haben. Wie konntest Du sehen, was ich that?« »Ich änderte gleichzeitig mit Dir meine »Stellung.«

So daß Du sehen konntest, was meine Hände thaten?«

»In meinem Wohnzimmer sind drei Spiegel. Als Du da standest, konnte ich in einem derselben Alles beobachten, was Du thatest.«

»Und was sahst Du?«

Du setztest Dein Licht auf das Schränkchen Du öffnetest und schlossest eine Schublade nach der andern bis Du an die kamst, in die ich meinen Diamanten gelegt hatte. Du sahst einen Augenblick in die offene Schublade und dann griffst Du mit der Hand hinein und nahmst den Diamanten heraus.«

»Woher weißt Du, daß ich den Diamanten herausnahm?«

»Ich sah Deine Hand in die Schublade greifen und sah den Glanz des Steins zwischen Deinem Zeigefinger und Deinem Daumen, als Du die Hand herausnahmst.«

»Näherte sich meine Hand der Schublade wieder, um sie zu schließen?«

»Nein. Du hieltest den Diamanten mit Deiner rechten Hand und ergriffst das Licht auf dem Schränkchen mit Deiner linken.«

»Sah ich mich danach noch wieder um?«

»Nein.«

»Verließ ich das Zimmer sofort?«

»Nein. Du standest ganz still, lange Zeit, wie mir schien. Ich konnte Dein Gesicht von der Seite im Spiegel sehen. Du sahst aus wie ein Mensch, der nachdenkt und mit seinen eigenen Gedanken unzufrieden ist.«

»Was geschah dann?«

»Du ermanntest Dich plötzlich und gingst ohne Weiteres zum Zimmer hinaus.«

»Schloß ich die Thür hinter mir?«

»Nein, Du tratest rasch auf den Vorplatz hinaus und ließest die Thür offen.«

»Und dann?«

»Dann verschwand Dein Licht, verklangen Deine Tritte und ich blieb allein im Dunkeln.«

»Ereignete sich nichts von diesem Augenblick bis zu jenem, wo das ganze Haus erfuhr, daß der Diamant verloren sei?«

»Nichts.«

»Bist Du dessen gewiß? Könntest Du nicht einen Theil der Zeit geschlafen haben?«

»Ich habe nicht wieder geschlafen, ich ging nicht wieder ins Bett. Es geschah nichts, bis Penelope zu der gewohnten Stunde Morgens zu mir hineinkam.«

Ich ließ ihre Hand los, stand auf und ging im Zimmer auf und nieder. Jede von mir gestellte Frage hatte sie beantwortet. Jede Einzelheit, die ich zu wissen wünschen konnte, hatte sie mir mitgetheilt Ich hatte sogar wieder auf die Möglichkeit, daß ich damals im Schlafe gewandelt habe oder berauscht gewesen sei, angespielt und abermals war die Unhaltbarkeit bei der Annahme, und zwar dieses Mal durch die Aussage eines Augenzeugen, erwiesen. Was sollte ich jetzt sagen, was sollte ich thun?

Aus dem undurchdringlichen Dunkel, das sonst Alles umhüllte, starrte mir als das einzig Faßbare die fürchterliche Thatsache des Diebstahls entgegen. Kein Lichtstrahl hatte dieses Dunkel für mich erhellt, als ich am Zitterstrand in den Besitz von Rosanna Spearmans Geheimniß gelangt war, und kein Lichtstrahl erhellte es jetzt, nachdem ich an Rachel selbst appellirt und die grausige Erzählung des Vorganges in jener Nacht aus ihrem eigenen Munde vernommen hatte.

Dieses Mal war sie es, die das Schweigen zuerst brach.

»Nun,« sagte sie, »Du hast gefragt und ich habe geantwortet. Du hast durch Deine Hoffnung, daß sich aus allem Diesem ein Aufschluß ergeben möchte, auch in mir Hoffnungen erregt. Was hast Du jetzt zu sagen?«

Der Ton, in dem sie diese Worte sprach, mahnte mich, daß ich meine Gewalt über sie wieder verloren habe.

»Wir wollten uns,« fuhr sie fort, »die Vorgänge der auf meinen Geburtstag folgenden Nacht in der Hoffnung Vergegenwärtigen, dadurch zu einer Verständigung zu gelangen. Ist uns das gelungen?«

Sie schwieg wieder und wartete erbarmungslos aus meine Antwort. Diese Antwort war ein verhängnisvoller Fehler. Die verzweifelte Hilflosigkeit meiner Lage gewann die Oberhand über meine Selbstbeherrschung.

unbesonnener Weise warf ich ihr vor, daß sie mich bis zu diesem Augenblick über die Wahrheit völlig im Dunkeln gelassen habe.

»Wenn Du geredet hättest, wie Du es hättest müssen,« fing ich an, »wenn Du, wie die einfache Gerechtigkeit es gebietet, Dich erklärt hättest ——«

Sie unterbrach mich mit einem Wuthschrei. Die wenigen Worte, die ich gesprochen hatte, schienen sie in eine Raserei der Leidenschaft versetzt zu haben.

»Mich erklären?« wiederholte sie, »das konntest nur Du sagen. Ich schone Dich mit brechendem Herzen, ich schütze Dich, wo mein Ruf auf dem Spiele steht, und Du, von allen Menschen auf der Welt der letzte, der ein Recht dazu hätte, wirfst mir jetzt vor, ich hätte mich früher erklären sollen. Ich habe an Dich geglaubt, ich habe Dich geliebt, ich habe den Tag über an Dich gedacht und Nächte hindurch von Dir geträumt —— und Du wunderst Dich, daß ich Dir nicht das erste Mal, wo wir uns wiedersahen, Deine Schande vorhielt und Dir sagte: »Mein Engel, Du bist ein Dieb!« Ich hätte Dir sagen sollen: »Mein Held, den ich liebe und ehre. Du hast Dich nächtlicher Weile in mein Zimmer geschlichen und hast mir meinen Diamanten gestohlen!« Du Henker, Du nichtswürdiger, gemeiner Schuft, ich hätte lieber fünfzig Diamanten verlieren mögen, als es erleben müssen, daß Du mir so schamlos in’s Gesicht lügst!«

Ich nahm meinen Hut in die Hand, ging, in Wahrheit nur aus Schonung für sie, ohne ein Wort zu sagen auf die Thür zu, durch welche ich eingetreten war, und öffnete sie. Sie folgte mir, riß mir den Griff der Thür aus der Hand, schloß dieselbe wieder und wies auf den Platz hin, den ich eben verlassen hatte.

»Nein!« sagte sie, »noch nicht! Es scheint, daß ich Dir eine Rechtfertigung meines Benehmens schuldig bin. Du mußt bleiben und sie hören, wenn Du nicht das Maß Deiner Schmach voll machen und Dir den Ausweg erzwingen willst.«

Es zerriß mir das Herz, sie zu sehen. Ich gab durch ein Zeichen zu erkennen, daß ich mich ihrem Willen unterwerfen wolle.

Die glühende Zornesröthe wich wieder von ihrem Antlitz, als ich umkehrte und mich schweigend niedersetzte. Sie wartete eine kleine Weile, um sich zu fassen. Als sie wieder zu reden anfing, verriethen sich ihre Empfindungen in ihrem Aeußern nur dadurch, daß sie sprach ohne mich anzusehen, ihre Augen fest auf den Boden heftete und ihre Hände krampfhaft zusammengeballt auf dem Schoße hielt. »Ich hätte Dir die einfache Gerechtigkeit widerfahren lassen sollen, mich zu erklären,« sagte sie, meine eigenen Worte wiederholend. »Du sollst sehen, ob ich es versucht habe, Dir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, oder nicht. Ich habe Dir vorhin schon gesagt, daß ich, nachdem Du in jener Nacht mein Wohnzimmer verlassen hattest, nicht wieder zu Bette ging, und keinen Schlaf mehr fand. Es ist unnöthig, Dich mit dem zu behelligen, was zunächst meine Gedanken beschäftigte —— Du würdest es nicht verstehen —— ich will Dich nur von dem unterhalten, was ich that, nachdem ich mich so weit wieder erholt hatte, daß ich überhaupt etwas zu thun im Stande war. Ich konnte mich nicht entschließen, das Haus zu alarmiren und Jedermann mitzutheilen, was geschehen war, wie ich es hätte thun sollen. Trotzdem was meine Augen gesehen hatten, liebte ich Dich so sehr, daß ich lieber an Gott weiß welche Unmöglichkeit glauben als mir selbst zugestehen wollte, daß Du mit Bewußtsein einen Diebstahl begangen habest. Ich sann und sann und gelangte endlich zu dem Entschluß, Dir zu schreiben.«

»Ich habe niemals einen Brief von Dir erhalten.«

»Ich weiß, daß Du ihn niemals erhalten hast. Gedulde Dich ein wenig und Du wirst hören, warum. Mein Brief würde Dir nichts unumwunden gesagt, er würde Dich nicht ruinirt haben, wenn er einem Dritten in die Hände gefallen wäre; er würde Dir nur in einer Weise die Du unmöglich hättest mißdeuten können, zu verstehen gegeben haben, daß es mir bekannt sei, daß Du Schulden habest und daß Du in Betreff der Mittel, Dir Geld zu verschaffen, weder sehr heikel noch sehr gewissenhaft seist. Du würdest Dich dabei des Besuchs des französischen Advokaten erinnert und gewußt haben, worauf ich anspiele. Wenn Du dann weiter gelesen hättest, würdest Du gefunden haben, daß ich Dir das Anerbieten einer so großen Summe Geldes mache, wie ich sie mir verschaffen könnte, ohne daß von diesem Anerbieten je zwischen uns die Rede sein sollte. Und ich würde mir die Summe zu verschaffen gewußt haben!« rief sie, mit gerötheten Wangen wieder zu mir aufblickend. »Ich würde den Diamanten selbst verpfändet haben, wenn ich mir das Geld nicht anders hätte verschaffen können. In diesem Sinne schrieb ich Dir. Ja, ich that noch mehr als das. Ich verabredete mit Penelope, daß sie Dir den Brief übergeben solle, wenn Niemand in der Nähe sei. Ich nahm mir vor, mich in meinem Schlafzimmer einzuschließen und mein Wohnzimmer den ganzen Vormittag leer und offen zu lassen und hoffte, hoffte von ganzer Seele und ganzem Herzen, daß Du die Gelegenheit ergreifen und den Diamanten unbemerkt wieder in seine Schublade legen würdest.«

Ich versuchte zu reden. Aber sie wehrte mir mit einer ungeduldigen Handbewegung. In dem rapiden Wechsel ihrer Stimmungen fing der Zorn wieder an sich ihrer zu bemächtigen. Sie stand von ihrem Sitze auf und trat mir näher.

»Ich weiß, was Du sagen willst,« fuhr sie fort. »Du willst mich wieder daran erinnern, daß Du meinen Brief nie erhalten« hast. Ich kann Dir auch sagen warum. Ich zerriß ihn.«

»Und warum das?« fragte ich.

»Aus dem triftigsten Grunde. Ich wollte ihn lieber zerreißen, als ihn an einen solchen Menschen wegwerfen! Denn was war die erste Kunde, die am Morgen zu mir gelangte? Was kam mir gerade in dem Augenblick, als mein kleiner Plan fertig war, zu Ohren? Ich hörte, daß Du —— Du!! —— Dich von allen Personen im Hause am beflissensten gezeigt habest, die Polizei herbeizuholen. Du warst der Leiter, Du warst die Seele alles Dessen, was zur Wiederlangung des Edelsteins in’s Werk gesetzt wurde. Du gingst in Deiner Frechheit sogar so weit, mit mir über den Verlust des Diamanten reden zu wollen, des Diamanten, den Du selbst gestohlen hattest, der sich während der ganzen Zeit in Deinen Händen befand! Nach diesem Beweis Deiner abscheulichen Falschheit und Verstellung zerriß ich meinen Brief. Aber selbst da noch selbst als mich schon die Fragen und Nachforschungen des Polizeibeamten, den Du herbeigeholt hattest, toll gemacht hatten, selbst da war ich noch thöricht.genug, Dich nicht ganz fallen zu lassen. Ich sagte mir: »Er hat seine elende Farce vor allen andern Hausgenossen gespielt, ich will doch sehen, ob er sie auch vor mir zu spielen wagt.« Jemand hatte mir gesagt, daß Du auf der Terrasse seiest. Ich ging auf die Terrasse hinunter. Ich zwang mich, Dich anzusehen; ich zwang mich, mit Dir zu reden. Hast Du vergessen, was ich zu Dir sagte?«

»Ich hätte antworten können, daß ich mich jedes Wortes erinnere. Aber was hätte die Antwort in diesem Augenblick nützen können?

Wie konnte ich ihr sagen, daß ihre Worte mich damals erstaunt, betrübt, und Besorgniß in mir erweckt hätten, daß sie sich in einem Zustand gefährlicher Nervenaufregung befinde; ja, daß diese Worte sogar einen Augenblick den Zweifel, ob der Verlust des Edelsteins für sie in demselben Grade wie für uns Uebrige ein Geheimniß sei, bei mir erregt, —— aber auch nicht die leiseste Ahnung der Wahrheit in mir hätten aufdämmen lassen? Wie konnte ich, ohne den Schatten eines Beweises für meine Unschuld, hoffen sie zu überreden, daß der wahre Sinn der Worte, die sie auf der Terrasse mit mir gesprochen, für mich nicht deutlicher gewesen sei, als er es für den entferntesten Fremden hätte sein können?

»Es mag Dir conveniren, zu vergessen, mir convenirt es, mich zu erinnern,« fuhrt sie fort, »ich weiß, was ich damals sagte, denn ich hatte meine Wortes wohl erwogen, bevor ich sie sprach. Ich gab Dir eine Gelegenheit nach der andern, die Wahrheit zu bekennen. Ich ließ nichts ungesagt, was ich sagen konnte, bis auf das eine Wort, daß ich wisse daß Du den Diebstahl begangen habest. Und alles was Du darauf zu erwidern hattest, war der Ausdruck eines elend erheuchelten Erstaunens und der falsche Blick der Unschuld, mit dem Du mich auch heute angesehen hast, mit dem Du mich noch in diesem Augenblick ansiehst! Als ich an jenem Morgen mit Dir gesprochen, hatte ich Dich endlich als den erkannt, der Du warst und der Du bist —— als den jämmerlichsten Wicht, der je das Licht der Welt erblickt hat.«

»Wenn Du Dich zu jener Zeit ausgesprochen hättest, Rachel, so hätte ich wissen können, daß Du einem unschuldigen Mann das grausamste Unrecht anthatest.«

»Wenn ich mich vor Andern ausgesprochen hätte,« entgegnete sie mit einem neuen Ausbruch der Entrüstung »so wärst Du für Deine Lebenszeit gebrandmarkt gewesen! Wenn ich mich nur gegen Dich allein ausgesprochen hätte, so würdest Du es geleugnet haben, wie Du es jetzt leugnest! Meinst Du, ich hätte Dir geglaubt? Würde ein Mann vor einer Lüge zurückschrecken, der gethan was ich Dich thun gesehen, und der sich nachher so wie Du benommen hätte? Ich sage es Dir noch einmal, ich schreckte vor dem Greuel zurück, Dich lügen zuhören, nachdem ich Dich hatte stehlen sehen. Du sprichst, als ob hier ein Mißverständniß vorliege, über welches wenige Worte eine Verständigung hätten herbeiführen können. Nun! das Mißverständniß hat nun ein Ende. Ist die Verständigung erreicht? Nein, wir sind nicht um einen Schritt weiter gekommen. Ich glaube Dir auch jetz auch nicht! Ich glaube nicht, daß Du das Nachthemd gefunden hast, ich glaube nicht an Rosanna Spearman's Brief, ich glaube kein Wort von alle dem was Du mir gesagt hast. Ich habe gesehen wie Du den Diamanten gestohlen hast. Ich habe gehört wie Du Dich beflissen stelltest, der Polizei behilflich zu sein. Ich bin fest überzeugt, daß Du den Diamanten an den Geldverleiher in London verpfändet hast. Du konntest —— Dank meinem erbärmlichen Schweigen! —— den Verdacht auf einen unschuldigen Menschen wälzen. Am nächsten Tage flohst Du mit Deinem Raub nach dem Continent! Nach all’ dieser Jämmerlichkeit blieb Dir nur noch Eines übrig: mit einer letzten Lüge auf den Lippen hierher zurückzukehren und mir zu sagen, daß ich Dir Unrecht gethan habe!«

Wäre ich noch einen Augenblick länger geblieben, so weiß ich nicht, was für Ausdrücke mir vielleicht entschlüpft wären, die ich nachher zu spät bedauert und bereut haben würde. Ich ging an ihr vorüber und öffnete die Thür zum zweiten Male. Aber zum zweiten Male ergriff sie mit der wahnsinnigen Hartnäckigkeit eines wüthenden Weibes meinen Arm und versperrte mir den Ausweg.

»Laß mich gehen, Rachel,« sagte ich. »Es ist besser für uns Beide. Laß mich gehen!«

Die Leidenschaft schwellte ihren Busen, sie athmete hörbar mit krampfhafter Geschwindigkeit, als sie mich an der Thür zurückhielt.

»Wozu bist Du hergekommen?« rief sie mit verzweifelter Beharrlichkeit. »Ich frage Dich noch einmal: wozu bist Du hergekommen? Fürchtest Du, ich möchte Dich verrathen? Fürchtest Du, daß ich jetzt, wo Du ein reicher Mann geworden bist, wo Du eine Stellung in der Welt erlangt hast, wo Du das erste Mädchen im Lande heirathen kannst, zu irgend Jemand das Wort sagen könnte, das ich noch zu Niemandem außer Dir gesagt habe? Ich kann das Wort nicht sagen. ich kann Dich nicht verrathen! Ich bin wo möglich noch schlechter als Du selbst« Bei diesen Worten brach sie in Thränen aus. Sie rang wild mit diesen Thränen; sie hielt mich fester und fester. »Ich kann Dich nicht aus meinem Herzen reißen,« sagte sie, selbst jetzt nicht. Du kannst Dich auf diese schmachvolle Schwachheit verlassen, die nicht anders als so mit Dir zu reden weißt!« Plötzlich ließ sie mich los, sie rang ihre Hände wie wahnsinnig in der Luft. »Jedes andere lebende Weib würde davor zurückschrecken, ihn zu berühren!« rief sie aus. »O Gott, ich verachte mich selbst noch tiefer, als ihn!«

Auch ich vermochte meine Thränen nicht mehr zu wehren, ich konnte das Furchtbare meiner Lage nicht länger ertragen.

»Du sollst erfahren, daß Du mir dennoch Unrecht gethan hast,« sagte ich, »oder Du sollst mich niemals wiedersehen!«

Mit diesen Worten verließ ich sie. Sie sprang von dem Stuhl auf, auf den sie einen Augenblick vorher niedergesunken war und folgte mit einem großmüthigen Antrieb durch das anstoßende Zimmer, um mir noch ein barmherziges Abschiedswort nachzurufen

»Franklin!« sagte sie, »ich vergebe Dir! O, Franklin, Franklin, wir werden uns nie wiedersehen. Sag’, daß Du auch mir vergiebst!«

Ich wandte mich nach ihr um, damit sie an meinem Gesicht erkennen möge, daß ich nicht reden könne —— ich wandte mich um, winkte mit der Hand, und sah sie durch den Schleier von Thränen, die mich endlich überwältigt hatten, hindurch, verschwommen wie eine Vision.

Im nächsten Augenblick hatte ich die Bitterkeit meiner Empfindungen überwunden. Ich war wieder im Garten. Ich sah und hörte sie nicht mehr.



Kapiteltrenner

Achtes Capitel.

Noch spät am Abend wurde ich in meiner Wohnung durch einen Besuch des Herrn Bruff überrascht.

Das Benehmen des Advocaten war merklich verändert. Seine gewöhnliche zutrauliche Lebhaftigkeit war verschwunden. Zum ersten Male in seinem Leben gab er mir schweigend die Hand.

»Gehen Sie jetzt nach Hampstead hinaus?« fragte ich, um nur etwas zu sagen.

»Ich komme eben von Hampstead her,« antwortete er. »Ich weiß, Herr Franklin, daß Sie endlich die Wahrheit erfahren haben. Aber, ich sage Ihnen gradeheraus, daß ich, wenn ich den Preis hätte voraussehen können, um den Sie diese Kunde würden zu erkaufen haben, es vorgezogen haben würde, Sie im Dunkeln zu lassen.«

»Haben Sie Rachel gesehen?«

»Ich habe sie eben nach Portland-Place zurückbegleitet; es war unmöglich, sie allein in ihrem Wagen nach Hause fahren zu lassen. Ich kann Sie, wenn ich bedenke, daß Sie sie in meinem Hause und mit meiner Erlaubniß gesehen haben, für die Erschwerung, welche diese unglückliche Zusammenkunft bei ihr bewirkt hat, kaum verantwortlich machen. Alles was ich thun kann, ist, einer Wiederholung dieses Unheils vorzubeugen. Sie ist jung, sie hat einen entschlossenen Geist, sie wird es mit Hilfe der Zeit überwinden. Ich möchte mich aber überzeugt halten können, daß Sie nichts thun werden, ihre Wiederherstellung zu verzögern. Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie ohne meine Genehmigung keinen zweiten Versuch machen werden, sie zu sehen?«

»Nach dem was sie gelitten hat und was ich gelitten habe,« sagte ich, »können Sie sich darauf verlassen.«

»Sie geben mir Ihr Wort?«

»Ich gebe es Ihnen.«

Herr Bruff schien sich durch diese Auseinandersetzung erleichtert zu fühlen. Er stellte seinen Hut bei Seite und rückte seinen Stuhl näher zu mir heran.

»Das wäre abgemacht!« sagte er. »Reden wir jetzt von der Zukunft, von Ihrer Zukunft meine ich. Nach meiner Ansicht muß die Folge der unerwarteten Wendung, welche die Angelegenheit jetzt genommen hat, kurz die sein. Vor allen Dingen sind wir sicher, daß Rachel Ihnen, so vollständig wie es in Worten geschehen kann, die volle Wahrheit gesagt hat. Zweitens können wir, obgleich wir wissen, daß irgend ein schreckliches Mißverständniß hier obwalten muß, doch Rachel kaum tadeln, daß sie Sie auf das Zeugniß ihrer eigenen Augen hin für schuldig hält, um so mehr als dieses Zeugniß durch Umstände unterstützt wird, welche Sie auf den ersten Blick unbedingt zu verurtheilen scheinen.«

Hier unterbrach ich Herrn Bruff.

»Ich tadle Rachel nicht,« sagte ich. »Ich bedauere nur, daß sie es nicht über sich vermocht hat, sich seiner Zeit deutlicher gegen mich auszusprechen.«

»Sie könnten eben so gut bedauern, daß Rachel nicht eine andere Person ist,« erwiderte Herr Bruff. »Und selbst dann —— ich zweifle, ob irgend ein Mädchen von einigem Zartgefühl, das Sie geliebt und Ihnen gern die Hand gereicht hätte, es über sich vermocht haben würde, Sie in Ihr Angesicht des Diebstahls zu beschuldigen. Wie dem aber auch sei, für Rachel war es vermöge ihrer Natur unmöglich, das zu thun. In einer von der Ihrigen sehr verschiedenen Angelegenheit, welche Rachel gleichwohl in eine Lage brachte, die ihrer Lage Ihnen gegenüber nicht ganz unähnlich war, ließ sie sich, wie ich zufällig erfahren habe, von einem ähnlichen Motiv leiten, wie das ist, welches ihr Benehmen gegen Sie bestimmt hat. Ueberdies würde sie, wie sie mir diesen Abend auf unserem Wege in die Stadt selbst gesagt hat, auch wenn sie sich früher gegen Sie ausgesprochen hätte, Ihrem Leugnen damals nicht mehr Glauben geschenkt haben, als sie es jetzt thut. Was können Sie darauf erwiedern? Es giebt keine Antwort darauf. Sehen Sie lieber Freund, meine Ansicht von dem Fall hat sich zwar, wie ich zugeben muß, als durchaus falsch erwiesen, aber wie die Dinge stehen, kann Ihnen mein Rath, glaube ich, trotzdem von Nutzen sein. Ich sage Ihnen gerade heraus, wir vergeuden unsere Zeit und zerbrechen uns unnützerweise den Kopf, wenn wir den Versuch, diese schreckliche Complication zu entwirren, wiederholen wollen. Lassen Sie uns entschlossen allem Dem, was im vorigen Jahr in Lady Verinder’s Landhaus vorgefallen ist, den Rücken kehren; und anstatt in der Vergangenheit nach dem zu forschen, was wir nicht aufhellen können, sehen, was für Entdeckungen wir etwa dem Schoß der Zukunft entlocken können.«

»Aber Sie vergessen« sagte ich, »daß die ganze Angelegenheit, soweit sie mich betrifft, wesentlich in der Vergangenheit wurzelt.«

»Beantworten Sie mir folgende Frage,« entgegnete Herr Bruff. »Ist der Mondstein die Wurzel alles Unheils oder nicht?«

»Gewiß ist er es!«

»Nun wohl! Was ist nach unserer Ansicht mit dem Mondstein geschehen, als er nach London gebracht wurde?«

»Er ist an Herrn Luker verpfändet worden.«

»Wir wissen, daß Sie nicht die Person gewesen sind, die ihn verpfändet hat. Aber wissen wir, wer diese Person war?«

»Nein«

»Wo, glauben wir, daß sich der Mondstein jetzt befindet?«

»Wir glauben ihn in dem Gewölbe des Bankiers Herrn Luker deponiert.«

»Vollkommen richtig. Nun geben Sie Acht! Wir sind bereits im Monat Juni. Gegen Ende des Monats, —— ich vermag den Tag nicht genau anzugeben, —— wird ein Jahr seit der Zeit verflossen sein, zu welcher nach unserer Annahme der Edelstein verpfändet worden ist. Es ist also mindestens eine Aussicht vorhanden, daß die Person, welche den Diamanten verpfändete, die Absicht hat, ihn nach Verlauf eines Jahres wieder auszulösen. Wenn das geschieht, so muß Herr Luker, den von ihm selbst getroffenen Bestimmungen gemäß, in eigener Person den Diamanten aus den Händen seines Bankiers wieder entgegennehmen. Unter diesen Umständen mache ich den Vorschlag, gegen Ende dieses Monats eine Wache vor der Bank aufzustellen und so zu erfahren, wer die Person ist, welcher Herr Luker den Mondstein wieder einhändigen wird. Verstehen Sie mich jetzt?«

Ich mußte, wenn auch etwas widerwillig, zugeben, daß die Idee auf alle Fälle neu sei.

»An dieser Idee hat Herr Murthwaite einen ganz so großen Antheil, wie ich,« sagte Herr Bruff. »Vielleicht wäre ich nie darauf verfallen, wenn ich nicht vor einiger Zeit Gelegenheit gehabt hätte, mich mit dem genannten Herrn zu unterhalten. Wenn Herr Murthwaite Recht hat, so werden wahrscheinlich auch die Indier gegen Ende des Monats vor der Bank Posto fassen und die Sache kann eine ernste Wendung nehmen. Was aber auch daraus entstehen mag, Ihnen und mir kann es einerlei sein, wenn es uns nur gelingt der mysteriösen Person dabei habhaft zu werden, welche den Diamanten verpfändet hat. Und ich behaupte fest, wenn ich auch den Zusammenhang der Sache nicht zu durchschauen vermag, daß diese Person für Ihre augenblickliche Lage verantwortlich ist und daß die Auffindung dieser Person allein Ihnen Rachel’s Achtung wiederverschaffen kann.«

»Ich kann nicht leugnen,« sagte ich, »daß Ihr Plan sehr kühn, sehr sinnreich und sehr neu ist. Aber ——«

»Aber Sie haben doch etwas dagegen einzuwenden?«

»Ja. Mein Einwand ist der, daß Ihr Vorschlag uns zu warten zwingt.«

»Zugegeben. Aber nach meiner Rechnung haben Sie ungefähr vierzehn Tage zu warten. Ist das so lang?«

»Für Jemand, der sich in meiner Lage befindet, eine Ewigkeit, Herr Bruff. Mein Dasein wird mir vollkommen unerträglich sein, wenn ich nicht auf der Stelle etwas unternehmen kann, meinen Ruf zu reinigen.«

»Das kann ich Ihnen wohl nachfühlen Aber haben Sie schon etwas erdacht, was Sie thun könnten?«

»Ich habe daran gedacht, Sergeant Cuff zu consultiren.«

»Er hat sich von seinen Berufsgeschäften ganz zurückgezogen. Es wäre daher vergeblich, auf die Unterstützung des Sergeanten zu rechnen.«

»Ich weiß ihn zu finden und es gilt doch immer einen Versuch.«

»Versuchen Sie es,« sagte Herr Bruff, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte. »Der Fall hat sich seit der Zeit, wo Sergeant Cuff sich mit demselben befaßte, so merkwürdig gestaltet, daß es Ihnen vielleicht gelingt, sein Interesse an der Untersuchung wieder zu erwecken. Versuchen Sie es und lassen Sie mich das Resultat erfahren. Wollen Sie mich inzwischen,« fuhr er aufstehend fort, »wenn Sie bis zu Ende des Monats zu keiner Entdeckung gelangen, autorisiren, meinerseits zu versuchen, was mit der Aufstellung einer Wache vor der Bank zu erreichen ist?«

»Gewiß,« antwortete ich, »wenn es mir nicht in der Zwischenzeit gelingt, Sie der Notwendigkeit, das Experiment zu machen, ganz zu überheben.«

Herr Bruff lächelte und nahm seinen Hut.

»Sagen Sie Sergeant Cuff,« erwiderte er, »daß ich behaupte, die Entdeckung der Wahrheit hänge von der Entdeckung der Person ab, welche den Diamanten verpfändet hat. Und lassen Sie mich wissen, was Sergeant Cuff mit seiner reichen Erfahrung dazu sagt.«

So trennten wir uns an diesem Abend.

In der Frühe des nächsten Tages machte ich mich nach der kleinen Stadt Dorking aus den Weg, wohin sich, nach Betteredge’s Mittheilung, Segeant Cuff zurückgezogen hatte.

Auf meine Erkundigung im Hotel wurde mir das Landhaus des Sergeanten genau bezeichnet. Es lag in einer kleinen Entfernung von der Stadt, in der Nähe eines einsamen Feldweges freundlich inmitten eines Gartens, welcher von hinten und an den Seiten von einer Backsteinmauer und vorn von einer lebendigen Hecke um geben war. Die Pforte, deren oberen Theil sauber bemaltes Gitterwerk verzierte, war verschlossen. Nachdem ich geklingelt hatte blickte ich durch das Gitterwerk und sah die Lieblingsblume des großen Cuff überall; Rosen blühten in seinem Garten, hingen über seiner Thür, rankten sich an seinen Fenstern empor. Entfernt von den Verbrechen und den Mysterien der großen Stadt, verlebte der berühmte Diebsfänger seine letzten Lebensjahre in einer stillen sybaritischen Zurückgezogenheit, auf Rosen gebettet!

Eine anständig gekleidete ältliche Frau öffnete mir die Pforte und vernichtete sofort alle meine Hoffnungen, mir Sergeant Cuff’s Beistand zu sichern. Gerade Tags zuvor war er nach Irland abgereist.

»Ist Herr Cuff in Geschäften dahin gereist?« fragte ich.

Die Frau lächelte. »Er kennt nur noch ein Geschäft, Herr,« sagte sie, »und das sind die Rosen. Der Gärtner eines großen Herrn in Irland hat eine neue Erfindung in Betreff der Rosenzucht gemacht und Herr Cuff ist nach Irland gereist, um steh näher darnach zu erkundigen.«

»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«

»Das ist ganz ungewiß, Herr. Herr Cuff sagte, die Dauer seiner Abwesenheit werde ganz von dem Werth der neuen Erfindung abhängen. Wenn sie ihm irgend eine Bestellung zu machen haben, so werde ich sie sicher ausrichten.«

Ich gab ihr meine Karte, nachdem ich mit Bleistift Folgendes auf dieselbe geschrieben hatte: »Ich habe Ihnen etwas in Betreff des Mondsteins mitzutheilen. Lassen Sie mich von Ihnen hören, sobald Sie zurückgekehrt sind.« Darnach war für mich weiter nichts zu thun, als mithin das Unvermeidliche zu ergeben und nach London zurückzukehren.

In der reizbaren Stimmung, in der ich mich zu jener Zeit befand, war das Fehlschlagen meiner Reise nach dem Landsitze des Sergeanten nur dazu geeignet, den ruhelosen Trieb, irgend etwas zu thun, in mir zu steigern. Noch an demselben Tage, wo ich von Dorking zurückkehrte, beschloß ich, schon am nächsten Morgen einen Versuch zu wagen, mir durch alle Hindernisse hindurch einen Weg aus dem Dunkel zum Licht zu bahnen.

Aber worin sollte dieser Versuch bestehen?

Wenn der vortreffliche Betteredge bei mir und in das Geheimniß meiner Gedanken eingeweiht gewesen wäre, als ich diese Frage erwog, so würde er ohne Zweifel erklärt haben, daß die deutsche Seite meines Charakters einmal wieder die Oberhand bei mir gewonnen habe. Im Ernst, vielleicht trug meine deutsche Erziehung theilweise die Schuld an dem Labyrinth unnützer Speculationen, in dem ich jetzt umherirrte. Den größeren Theil der Nacht saß ich rauchend auf und sann über Lösungen des Problems nach, von denen eine immer unwahrscheinlicher war als die andere. Als ich endlich einschlief, verfolgten mich meine Hirngespinste im Traum. Als ich am andern Morgen aufstand, war ich in einer unentwirrten Verknüpfung des Objectiv-Subjcctiven und Subjectiv-Objectiven begriffen, und ich fing den Tag, der Zeuge meines nächsten Versuchs irgend einer Art von praktischem Handeln sein sollte, damit an, zu zweifeln, ob ich von einem rein philosophischen Standpunkte aus ein Recht habe, irgend etwas, den Diamanten mit einbegriffen, als überhaupt existent zu betrachten.

Wie lange ich in dem Nebel dieser metaphysischen Betrachtungen verharrt haben würde, wenn ich mir selbst überlassen geblieben wäre, vermag ich nicht zu sagen. Glücklicher Weise erlöste mich der Zufall. Ich trug an jenem Morgen gerade denselben Rock, den ich an dem Tage meiner Zusammenkunft mit Rachel getragen hatte. Indem ich in einer der Taschen nach etwas suchte, stieß ich auf ein zerknittertes Stück Papier und fand, als ich näher zusah, Betteredge’s vergessenen Brief in meiner Hand.

Es schien mir hart, meinen guten alten Freund ohne Antwort zu lassen. Ich ging an meinen Schreibtisch und überlas seinen Brief noch einmal. Ein ganz unwichtiger Brief ist oft nicht ganz leicht zu beantworten.

Betteredge’s Brief an mich gehörte in diese Kategorie. Herrn Candy’s Assistent, alias Ezra Jennings, hatte seinem Principal erzählt, daß er mich gesehen habe, und Herr Candy seinerseits wünschte mich zu sehen und mir etwas mitzutheilen, sobald ich wieder in die Nähe von Frizinghall kommen würde. Was sollte ich darauf antworten, was auch nur das Papier werth gewesen wäre? Müßig dasitzend, zeichnete ich aus dem Gedächtnis; Portraits des merkwürdig aussehenden Assistenten des Herrn Candy auf das Blatt Papier, welches der Correspondenz mit Betteredge gewidmet sein sollte, bis mir endlich einfiel, daß sich mir hier wieder der unvermeidliche Ezra Jennings in den Weg dränge! Ich warf gewiß ein Dutzend Potraits des Mannes mit dem scheckigen Haar, an deren jedem wenigstens das Haar außerordentlich ähnlich war, in den Papierkorb und schrieb dann sofort meine Antwort an Betteredge Es war ein ganz gewöhnlicher Brief, der aber in einer Beziehung eine vortreffliche Wirkung aus mich übte. Die Anstrengung, die es erforderte, ein paar klare Sätze niederzuschreiben, befreite meinen Geist vollständig von dem trüben Unsinn, mit dem derselbe seit dem vorhergehenden Tage angefüllt gewesen war.

Indem ich mich aufs Neue mit der Lösung des undurchdringlichen Räthsels beschäftigte, welches meine eigne Lage für mich darbot, versuchte ich es jetzt, der Sache durch eine Betrachtung von einem rein praktischen Gesichtspunkte aus näher zu kommen. Da die Ereignisse der merkwürdigen Nacht mir noch immer unerklärlich waren, ging ich noch etwas weiter in der Zeit zurück und durchstöberte meine Erinnerungen an die früheren Stunden des Geburtstages nach irgend einem Umstande, der mir bei der Lösung des Räthsels behilflich sein könnte.

War irgend etwas Bemerkenswerthes vorgefallen, während Rachel und ich die Malerei an der Thür beendeten? oder später, als ich nach Frizinghall hinüberritt? oder noch später, als ich mit Godfrey Ablewhite und seinen Schwestern zurückkam? oder wieder später, als ich den Mondstein in Rachel’s Hand legte? oder noch später endlich, als die Gesellschaft sich versammelte und wir uns Alle zu Tisch setzten? Mein Gedächtniß wußte mir alle diese Fragen noch klar genug zu beantworten, bis ich an die letzte kam. Bei meinem Rückblick auf das Geburtstags-Diner befand ich mich meiner eigenen Frage gegenüber in Verlegenheit. Ich konnte mich nicht einmal der Zahl der Gäste, die an demselben Tisch mit mir gesessen hatten, genau mehr erinnern.

Mich hier von meinem Gedächtniß verlassen finden und daraus den Schluß ziehen, daß der Hergang dieses Diners eine besonders genaue Untersuchung verdiene, war das Werk eines Augenblicks für meinen geschäftig arbeitenden Geist. Wenn die Verfolgung unserer Zwecke uns selbst zu Gegenständen unserer Untersuchung macht, so sind wir mit Recht mißtrauisch gegen unsere eigenen Beobachtungen. Ich beschloß, nachdem ich mir zuerst die Namen der bei dem Diner anwesenden Personen wieder verschafft haben würde, um die Lücken meines eigenen Gedächtnisses zn ergänzen, an das Gedächtniß der übrigen Gäste mit der Bitte zu appelliren, alle ihre Erinnerungen der Hergänge in der Geburtstagsgesellschaft niederzuschreiben: und das Ergebniß dieser Auszeichnungen in dem Licht der Vorgänge nach dem Auseinandergehen der Gesellschaft zu prüfen.

Dieses letzte und neueste meiner vielen in Aussicht genommenen Experimente in der Kunst der Untersuchung, welche Betteredge vermuthlich der klaren oder französischen Seite meines Wesens, die augenblicklich in mir überwog, zugeschrieben haben würde, hat wohl Anspruch daraus, seines inneren Werthes wegen hier erwähnt zu werden. So unglaublich er scheinen mag, hier hatte ich endlich tappend den Weg gefunden, der Sache aus den Grund zu kommen. Alles was ich noch brauchte, war ein Wink, um mir die rechte Richtung auf meinem Wege an die Hand zu geben. Und, ehe noch ein weiterer Tag vergangen war, erhielt ich diesen Wink von einem Mitgliede der Gesellschaft, die zur Feier des Geburtstags versammelt gewesen war!

Für meinen jetzigen Plan mußte ich mich vor allen Dingen in den Besitz der Liste der Gäste setzen. Diese Liste konnte ich leicht von Gabriel Betteredge erhalten. Ich beschloß, noch selbigen Tages nach Yorkshire zurückzugehen und am nächsten Morgen mit meiner Nachforschung zu beginnen.

Die Abgangszeit des Vormittagszuges war eben vorüber. Ich hatte also fast drei Stunden auf den Abgang des nächsten Zuges zu warten. Konnte ich diese Zeit in London noch mit irgend etwas Nützlichem ausfüllen?

Meine Gedanken wandten sich hartnäckig wieder dem Geburtstags-Diner zu. Obgleich ich die Zahl und vielfach die Namen der Gäste vergessen hatte, erinnerte ich mich doch deutlich genug, daß weitaus die meisten derselben von Frizinghall oder dessen Umgebung gekommen waren. Aber nicht Alle. Einige Wenige gehörten zu den Bewohnern der Grafschaft. Zu diesen Letzteren zählten, außer mir selbst, Herr Murthwaite und Herr Ablewhite. Herr Bruff, —— nein. Ich erinnerte mich, daß Geschäfte diesen daran verhindert hatten, von der Partie zu sein. Waren Damen zugegen gewesen, die gewöhnlich in London wohnten? Als zu diesen gehörig wollte mir nur Miß Clack einfallen. Jedenfalls waren aber hier doch drei von den damaligen Gästen, die, bevor ich London verließ, aufzusuchen mir unbedingt räthlich erscheinen mußte. Ich fuhr auf der Stelle nach Herrn Bruff’s Bureau, da mir die Adressen der Personen, die ich aufsuchen wollte, nicht bekannt waren und da ich es für wahrscheinlich hielt, daß er mir dieselben würde nachweisen können.

Herr Bruff war zu beschäftigt, um mir mehr als eine Minute seiner kostbaren Zeit schenken zu können. Diese eine Minute war jedoch hinreichend für ihn, mir auf alle an ihn gerichteten Fragen die entmuthigendsten Antworten zu geben.

Vor allen Dingen betrachtete er meine neu entdeckte Methode, einen Schlüssel zu dem Räthsel zu finden, als etwas zu haltlos Phantastisches als daß man es nur einer ernsten Erwägung werth halten könne. Zweitens, drittens und viertens war Herr Murthwaite bereits wieder auf dem Wege nach dem Schauplatz seiner früheren Abenteuer; war Miß Clack in Folge von Geldverlusten nach Frankreich übergesiedelt; und war endlich Herr Godfrey Ablewhite vielleicht in London aufzufinden, vielleicht aber auch nicht. Ob ich nicht in seinem Club nachfragen und Herrn Bruff entschuldigen wolle, wenn er wieder zu seinen Geschäften zurückkehre und mir »Guten Morgen« wünsche?

Da das Feld meiner Nachforschungen in London nunmehr so eingeengt war, daß sich seine Ausbeute auf die Nothwendigkeit beschränkte, Godfrey’s Adresse aufzufinden, folgte ich der Weisung des Advokaten und fuhr nach seinem Club

In der Vorhalle begegnete ich einem der Mitglieder des Clubs, der ein alter Freund meines Vaters und auch ein Bekannter von mir war. Nachdem dieser Herr mir Godfrey’s Adresse mitgetheilt, erfuhr ich von ihm von zwei neuerlichen nicht uninteressanten Ereignissen in dem Leben desselben, von denen ich noch nichts gehört hatte.

Einmal erzählte man, daß Godfrey, weit entfernt, durch die Aufhebung seiner Verlobung mit Rache! entmuthigt zu sein, bald nachher einer andern jungen Dame, die für eine reiche Erbin galt, den Hof gemacht habe.

Seine Werbung war erfolgreich gewesen und die Heirath galt bereits für eine abgemachte Sache. Aber wiederum war die Verlobung unerwarteter Weise plötzlich aufgehoben worden, und zwar dieses Mal, wie es hieß, in Veranlassung einer ernsten Differenz zwischen dem Bräutigam und dem Vater des Mädchens über pecuniäre Fragen.

Für dieses abermalige Scheitern eines Heirathsprojects hatte Godfrey bald nachher einen Ersatz in einem Vermächtniß von einer seiner vielen Anbeterinnen gefunden. »Eine reiche alte Dame, die bei dem »mütterlichen Hosenverein« in hohem Ansehen stand und eine große Freundin von Miß Clack war (der sie aber nichts hinterlassen hatte, als einen Trauring), hatte dem bewundernswerthen und verdienstvollen Godfrey ein Legat von 5000 Lstr. vermacht.

Nachdem er in den Besitz dieser Vermehrung seiner eigenen bescheidenen Hilfsquellen gelangt war, hatte man ihn sagen hören, daß er das Bedürfniß einer kleinen Erholung von seinem anstrengenden mildthätigen Wirken fühle und daß sein Arzt ihm eine Reise nach dem Continent als sehr wünschenswerth für seine Gesundheit verordnet habe. Wenn ich ihn daher zu sehen wünsche, so dürfe ich keine Zeit verlieren.

Ich ging auf der Stelle, ihm meinen Besuch abzustatten, aber dasselbe Verhängniß, welches mich gerade einen Tag zu spät bei Sergeant Cuff hatte eintreffen lassen, ließ mich auch meinen Besuch bei Godfrey einen Tag zu spät machen.

Er hatte London Tags zuvor mit dem nach Dover gehenden Frühzug verlassen. Von hier wollte er nach Ostende und, wie sein Diener glaubte, weiter nach Brüssel gehen. Die Zeit seiner Rückkehr sei nicht ganz bestimmt, aber seine Abwesenheit werde mindestens drei Monate dauern.

Ich kehrte etwas desappointirt in meine Wohnung zurück. Drei von den Gästen bei dem Geburtstagsdiner und zwar alle drei besonders intelligente Leute, waren unerreichbar für mich gerade in dem Augenblick wo es von der höchsten Wichtigkeit für mich gewesen wäre, mit ihnen zu verkehren. Meine letzten Hoffnungen beruhten jetzt auf Betteredge und auf den Freunden der verstorbenen Lady Verinder, die ich etwa noch in der Nähe von Rachel’s Landhaus lebend antreffen möchte.

Ich reiste daher direct nach Frizinghall, das jetzt der Centralpunkt meines Erforschungsgebietes war. Ich kam zu spät am Abend an, um mich noch mit Betteredge in Verbindung setzen zu können. Am nächsten Morgen schickte ich einen Boten mit einem Billet an ihn ab, in welchem ich ihn bat, mich so bald als möglich im Hotel zu besuchen.

Da ich, theils um Zeit zu sparen, theils zu Betteredge’s Bequemlichkeit meinen Boten in einem Einspänner abgesandt hatte, so durfte ich, wenn nichts Besonderes dazwischen kam, den Alten in zwei Stunden erwarten.

Während dieser Zeit schickte ich mich an, meine beabsichtigte Nachforschung bei den Geburtstagsgästen, die mir persönlich bekannt und leicht erreichbar waren zu eröffnen.

Dies waren meine Verwandten, die Ablewhite’s, und Herr Candy. Der Doctor hatte, wie erwähnt, den besonderen Wunsch ausgesprochen, mich zu sehen, und da ich in der nächsten Straße wohnte, so ging ich zuerst zu ihm.

Nach dem, was Betteredge mir erzählt hatte, mußte ich erwarten, in dem Aussehen des Doctors Spuren der schweren Krankheit zu finden, an der er gelitten hatte; aber ich war durchaus nicht auf eine Veränderung seines ganzen Wesens gefaßt, wie sie mir entgegentrat, als er in’s Zimmer kam und mir die Hand gab. Seine Augen waren trübe, seine Haare ganz grau geworden, sein Gesicht war voll Runzeln, seine Gestalt zusammengeschrumpft. Ich betrachtete den einst so lebendigen, geschwätzigem gut gelaunten kleinen Docter, der in meiner Erinnerung mit der unverbesserlichen Vollführung gesellschaftlicher Indiscretionen und unzähliger knabenhafter Scherze unzertrennlich verknüpft war, und ich fand von dem Mann, wie er in meiner Vorstellung lebte, nichts mehr übrig als die alte Neigung zu einer geschmacklos barocken Toilette. Der Mann war eine Ruine; aber seine Kleider und sein Schmuck an Ringen, Tuchnadeln und Ketten waren so bunt und glänzend wie immer und erschienen wie eine grausame Ironie aus die mit ihm vorgegangene Veränderung.

»Ich habe oft an Sie gedacht, Herr Blake,« sagte er, »und ich freue mich herzlich, Sie endlich einmal wieder zu sehen. Wenn ich irgend etwas für Sie thun kann, bitte, disponiren Sie über mich —— disponiren Sie ganz über mich!«

Er sagte diese höflichen Redensarten mit einer ganz unmotivirten Eile und Beflissenheit und mit einem Ausdruck der Neugierde, zu erfahren, was mich nach Yorkshire geführt habe, die er zu verbergen vollkommen unfähig war.

Bei dem Zweck, den ich verfolgte, hatte ich natürlich die Nothwendigkeit vorausgesehen, eine Art persönlicher Erklärung voran zuschicken, bevor ich Leute, die meistentheils Freunde für mich waren, für eine eifrige Unterstützung meiner Untersuchung würde gewinnen können. Auf meiner Reise nach Frizinghall hatte ich mich auf eine solche Erklärung vorbereitet und ergriff die sich mir darbietende Gelegenheit, ihre Wirkung an Herrn Candy zu erproben.

»Es ist eine ziemlich romantische Geschichte,« sagte ich, »die mich kürzlich nach Yorksfhire geführt hat und die mich jetzt wieder herführt. Es ist eine Angelegenheit, Herr Candy, für die sich alle Freunde der verstorbenen Lady Verinder interessiren. Erinnern Sie sich des geheimnißvollen Verschwindens des indischen Diamanten vor ungefähr einem Jahr? Gewisse neuerdings eingetretene Umstände berechtigen zu der Hoffnung, daß derselbe noch wiedergefunden werten könnte, und ich interessire mich als Mitglied der Familie für die Wiederauffindung. Unter den Schwierigkeiten, die sieh mir bei meinen Bemühungen zu diesem Zweck entgegenstellen, besteht eine darin, daß ich mir nothwendiger Weise alle ihrer Zeit angesammelten Zeugenaussagen verschaffen muß. Gewisse Umstände machen es mir wünschenswerth meine Erinnerungen an alles Das, was an dem Abend von Fräulein Verinder’s Geburtstage vorging, wieder aufzufrischen, und ich wage es nun, mich an die damals anwesenden Freunde der verstorbenen Lady Verinder mit der Bitte zu wenden, mir dabei mit ihrem Gedächtniß behilflich zu sein.«

Soweit war ich mit der Probe meiner erklärenden Phrasen gekommen, als ich bei einem Blick auf Herrn Candy plötzlich inne ward, däß mein Experiment bei ihm total fehlgeschlagen war.

Der kleine Doctor saß, während ich sprach, unruhig und fortwährend an seinen Nägeln kauend da. Seine trüben wässerigen Augen heftete er mit einem starren fragenden Ausdruck, der sehr peinlich anzusehen war, auf mich. Woran er dachte, war unmöglich zu errathen. Nur so viel war klar ersichtlich, daß ich nach den ersten zwei oder drei Worten seine Aufmerksamkeit nicht mehr zu concentriren vermocht hatte. Die einzige Möglichkeit, ihn wieder zur Besinnung zu bringen, schien in einer Veränderung des Gegenstandes der Unterhaltung zu liegen. Ich versuchte es sofort damit.

»Soviel,« sagte ich leichthin, »von dem was mich nach Frizinghall führt! Jetzt aber ist die Reihe an Ihnen, Herr Candy. Sie haben mir durch Gabriel Betteredge etwas bestellen lassen ——«

Auf einmal ließ er seine Nägel los und wurde wieder aufmerksam.

»Ja! ja! ja!« rief er eifrig aus. »Jawohl! ich habe Ihnen etwas bestellen lassen!«

»Und Betteredge hat es mir pflichtschuldigst brieflich mitgetheilt,« fuhr ich fort, »Sie wünschten mich zu sprechen, sobald ich wieder in Ihre Nähe käme. Nun, Herr Candy, da bin ich!«

»Da sind Sie!« sprach mir der Doctor nach, »und Betteredge hatte ganz recht, ich« wünschte Sie zu sprechen, das war meine Bestellung Betteredge ist ein merkwürdiger Mann! Dieses Gedächtniß in seinem Alter!«

Er verstummte wieder und fing wieder an, an seinen Nägeln zu kauen. Ich erinnerte mich dessen, was ich von Betteredge über die Wirkung des Fiebers auf das Gedächtniß des Doctors gehört hatte und fuhr daher in der Hoffnung, seine Erinnerungen wieder allmälig auffrischen zu können, in der Unterhaltung fort.

»Es ist lange her, daß wir uns nicht gesehen haben,« sagte ich. »Das letzte Mal war bei dem letzten Geburtstagsdiner, das meiner armen Tante zu geben beschieden sein sollte.«

»Richtig« rief Herr Candy aus, »das Geburtstagsdiner!«

Er sprang unwillkürlich auf und sah mich an. Ein tiefes Roth überflog plötzlich sein blasses Gesicht und er setzte sich rasch wieder nieder, als ob er sich bewußt war, eine Schwäche verrathen zu haben, die er gern verbergen wollte. »Es war klar, zum Erbarmen klar, daß er seine eigene Gedächtnißschwäche wohl kannte und daß er sich bemühte, diesen Mangel der Beobachtung seiner Freunde zu entziehen.

Bisher hatte er nur mein Mitleid rege gemacht. Aber die wenigen Worte, die er eben ausgesprochen, reizten meine Neugierde auf’s Höchste. Das Geburtstagsdiner war bereits für mich das einzige Ereigniß der Vergangenheit geworden, aus welches ich mit einer eigenthümlichen Mischung von Hoffnung und Mißtrauen zurückblickte. Und jetzt gab sich dieses Diner unzweideutiger Weise als den Gegenstand kund. in Betreff dessen Herr Candy mir etwas Wichtiges zu sagen hatte!«

Ich versuchte es, seinem Gedächtniß noch einmal aufzuhelfen. Aber dieses Mal war meine mitleidige Theilnahme der Ausfluß meines eigenen Interesses, das mich für den Zweck, den ich im Auge hatte, etwas zu rasch vorgehen ließ.

»Es ist fast ein Jahr her,« sagte ich,« »daß wir bei jenem heiteren Mittagsmahl versammelt waren. Haben Sie sich in Ihrem Tagebuch oder sonst über das, was Sie mir sagen wollten, irgend eine Notiz gemacht?«

Herr Candy verstand diese Andeutung und zeigte mir, daß er sie als eine Insulte auffasse.

»Ich bedarf keiner Notizen,« sagte er in sehr scharfem Ton. »Ich bin noch nicht so alt und kann mich, Gott sei Dank, durchaus auf mein Gedächtniß verlassen.«

Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich mich stellte, als ob ich seine Empfindlichkeit nicht sehe.

»Ich wollte, ich könnte dasselbe von meinem Gedächtnisse sagen,« antwortete ich. »Wenn ich an Dinge zurückdenke, die vor einem Jahre geschehen sind, so finde ich meine Erinnerungen selten so frisch, wie ich es möchte. So geht es mir zum Beispiel mit dem Diner bei Lady Verinder.«

Diese Anspielung heiterte Herrn Candy sofort wieder auf.

»Ja, das Diner —— das Diner bei Lady Verinder!« rief er noch eifriger als vorher aus. »Ich habe Ihnen in Betreff desselben etwas zu sagen.«

Seine Augen sahen mich wieder mit dem starren, suchenden Ausdruck an, der mir so peinlich war. Er bemühte sich offenbar eifrigst, aber vergebens, die verlorene Erinnerung wieder zu finden. »Es war ein sehr heiteres Diner,« brach er plötzlich mit einer Miene aus, als ob es das sei, was er habe sagen wollen. »Ein sehr heiteres Diner, Herr Blake, nicht wahr? Das arme Männchen nickte und lächelte und schien zu glauben, daß es ihm durch eine rechtzeitige Anstrengung seines Geistes gelungen sei, das gänzliche Versagen seines Gedächtnisses zu verbergen.

Die Sache war so betrübend, daß ich trotz meines lebhaften Interesses, seine Erinnerungen wieder wach werden zu sehen, die Unterhaltung sofort auf Gegenstände von localem Interesse brachte.

Hier ging es ganz gut. Elende kleine Scandalgeschichten und Zänkereien in der Stadt, von denen einige schon Wochen alt waren, schienen ihm rasch genug wieder einzufallen. Er plauderte mit einem Rest der fließenden Geschwätzigkeit früherer Tage. Aber selbst mitten in diesem Strom seiner plappernden Beredtsamkeit gab es Momente, wo er plötzlich stockte und mich wieder mit dem starren Ausdruck des Suchens ansah, sich dann wieder zusammennahm und fortfuhr. Ich ergab mich geduldig in mein Märtyrerthum, —— denn so darf man es wohl nennen, wenn ein Mann von kosmopolitischen Interessen sich dazu verurtheilt sieht, sich in schweigender Resignation die Neuigkeiten einer Landstadt erzählen zu lassen ——, bis die Uhr auf dem Kamin mir zeigte, daß mein Besuch schon über eine halbe Stunde gedauert habe. Jetzt durfte ich mein Opfer als vollendet betrachten und stand auf, um mich zu verabschieden. Als ich ihm die Hand reichte, spielte Herr Candy unaufgefordert wieder auf das Geburtstagsfest an.

»Es freut mich sehr, daß wir uns wieder gesehen haben,« sagte er, »es lag mir am Herzen, es lag mir wirklich am Herzen, Herr Blake, Sie zu sprechen. Ueber das Diner bei Lady Verinder, wissen Sie! Ein heiteres Diner! Wirklich, ein sehr heiteres Diner! Nicht wahr?«

Bei der Wiederholung dieser Frage schien er jetzt nicht mehr so ganz sicher, daß es ihm gelungen sei, seine Gedächtnißschwäche vor mir zu verbergen, wie er es vorher gewesen war. Der starre Blick umwölkte sein Auge wieder, und, nachdem er anfänglich anscheinend beabsichtigt hatte, mich bis an die Hausthür zu begleiten, änderte er plötzlich seinen Sinn, klingelte nach dem Diener und blieb im Wohnzimmer zurück.

Ich ging die Treppe des Doctors in der peinlichen Ueberzeugung langsam hinunter, daß er mir wirklich etwas von für mich entscheidender Wichtigkeit zu sagen habe, und daß er unfähig sei, es auszusprechen. Die Anstrengung der Erinnerung an die Thatsache, daß er mir etwas zu sagen habe, war nur zu ersichtlich die einzige Anstrengung, deren sein geschwächtes Gedächtniß noch fähig war.

Gerade als ich am Fuß der Treppe angelangt und eben um die Ecke gebogen war, um in den äußeren Vorplatz zu treten, öffnete sich leise eine Thür zur ebenen Erde, aus der eine sanfte Stimme hinter mir hervorklang und die Worte sprach:

»Ich fürchte, mein Herr, Sie haben Herrn Candy traurig verändert gefunden?«

Ich drehte mich um und fand mich von Angesicht zu Angesicht Ezra Jennings gegenüber.



Kapiteltrenner

Neuntes Capitel.

Des Doktors niedliches Hausmädchen stand, die offene Hausthür in der Hand, auf mich wartend da. Die Morgensonne beleuchtete das Gesicht von Herrn Candy’s Assisstenten hell, als ich mich umdrehte und ihn ansah.

Es war unmöglich, Betteredge’s Behauptung zu bestreiten, daß die Erscheinung Ezra Jennings für das Auge der Menge gegen ihn sprechen mußte. Seine zigeunerhafte Hautfarbe, seine eingefallenen Wangen, seine dürren Backenknochen, seine träumerischen Augen, sein wunderbar doppelfarbiges Haar, der merkwürdige Widerspruch zwischen seinem Gesichte und seiner Gestalt, der ihn zu gleicher Zeit alt und jung aussehen machte, das Alles war dazu angethan, auf einen Fremden einen ungünstigen Eindruck hervorzubringen. Und doch! —— obgleich ich mich dieses Eindrucks nicht zu Erwehren vermochte —— kann ich nicht leugnen, daß Ezra Jennings ein unwiderstehliches Gefühl der Sympathie in mir erweckte. Während meine Welterfahrung mich mahnte, seine Frage bejahend zu beantworten und dann meines Weges zu gehen —— hielt mich doch mein Interesse für Ezra Jennings zurück und gab ihm die Gelegenheit, vertraulich mit mir über seinen Prinzipal zu reden, auf den er augenscheinlich gewartet hatte.

»Gehen Sie desselben Weges mit mir, Herr Jennings?« sagte ich, da ich bemerkte, daß er seinen Hut in der Hand hielt, »ich will meiner Tante Ablewhite einen Besuch machen.«

Ezra Jennings erwiderte, daß er einen Patienten zu besuchen habe und daß er denselben Weg gehe.

Wir verließen das Haus zusammen. Es fiel mir auf, daß das hübsche Dienstmädchen, das ganz Lächeln und Liebenswürdigkeit war, als ich ihr beim Hinausgehen »guten Morgen« wünschte, eine kleine einfache Bestellung von Ezra Jennings, die sich auf die wahrscheinliche Zeit seiner Rückkehr bezog, mit zusammengekniffenen Lippen und mit Augen entgegennahm, die kein Hehl daraus machten, daß sie alles Andere lieber ansehen wollten, als sein Gesicht. Der arme Kerl war offenbar im Hause nicht beliebt. Außer dem Hause war er, wie ich von Betteredge wußte, überall unpopulär.

Ezra Jennings schien entschlossen, nachdem er seinerseits einmal auf Herrn Candy’s Krankheit angespielt hatte, es mir zu überlassen, den Gegenstand wieder aufzunehmen. Sein bedeutungsvolles Schweigen sagte mir: »Jetzt ist die Reihe an Ihnen!« Ich hatte meine Gründe, auf die Krankheit des Doctors zurückzukommen, und übernahm bereitwillig die Verantwortlichkeit, zuerst wieder das Wort zu ergreifen.

»Nach der Veränderung zu schließen, die ich an Herrn Candy beobachtet habe,« fing ich an, muß seine Krankheit viel ernster gewesen sein, als ich vermuthet hatte.«

»Es ist beinahe ein Wunden« sagte Ezra Jennings, »daß er es überlebt hat.«

»Ist sein Gedächtniß nie besser, als ich es heute gefunden habe? Er hat es versucht, mit mir über etwas zu reden ——«

»Das in die Zeit vor seiner Krankheit fällt?« fragte der Assistent, als er bemerkte, daß ich zauderte, den Satz zu vollenden.

»Ja.«

»Seine Erinnerungen an Ereignisse jener Zeit sind hoffnungslos geschwächt,« sagte Ezra Jennings »Man möchte fast die dürftigen Ueberreste beklagen, die dem armen Mann noch davon verblieben sind. Er erinnert sich dann und wann dunkel gewisser Pläne, gewisser Dinge, die er vor seiner Krankheit sagen oder thun wollte, —— aber er ist vollkommen unfähig, sich diese Absichten oder diese Dinge wieder in’s Gedächtniß zu rufen. Er ist sich seiner Schwäche schmerzlich bewußt und wie Sie bemerkt haben werden, peinlich bemüht, dieselbe der Beachtung Anderer zu entziehen. Wenn er in einen Zustand völliger Vergessenheit des Vergangenen hätte verfallen können, so würde er glücklicher sein. Vielleicht wären wir Alle glücklicher,« fügte er mit einem trüben Lächeln hinzu, »wenn wir die Vergangenheit völlig vergessen könnten«

»Aber doch trägt jeder Mensch Erinnerungen aus seinem Leben mit sich,« erwiderte ich, »die er ungern entbehren würde.«

»Das trifft gewiß für die meisten Menschen zu, Herr Blake, aber ich fürchte, nicht für Alle. Haben Sie irgendwelchen Grund anzunehmen, daß die Erinnerung, welche Herr Candy, während Sie sich eben mit ihm unterhielten, wieder in sich wach zu rufen bemüht war, von Wichtigkeit für Sie sein würde?«

Mit diesen Worten hatte er unaufgefordert den Punkt berührt, über den ich ihn um Rath zu fragen lebhaft wünschte. Das Interesse, welches mir dieser sonderbare Mann einflößte, war für mich der erste Antrieb gewesen, ihm eine Gelegenheit zu geben mit mir zu reden. Indem ich mit dem, was ich meinerseits über seinen Prinzipal zu sagen haben möchte, zurückhielt, bis ich mich zuvor überzeugt haben würde, daß er ein Mann sei, auf dessen Delicatesse und Discretion ich mich verlassen könne, war ich schon nach dem Wenigen, was er bis jetzt gesagt hatte, sicher, daß ich mit einem Gentleman zu thun habe. Er hatte, was ich als eine zur zweiten Natur gewordene Selbstbeherrschung bezeichnen möchte, die nicht nur in England, sondern überall in der civilisirten Welt das Zeichen einer guten Erziehung ist. Was er auch bei seiner eben an mich gerichteten Frage für einen Zweck im Auge gehabt haben mochte, so trug ich doch schon jetzt kein Bedenken, ihm seine Frage rückhaltlos zu beantworten.

»Ich glaube, ich habe ein sehr dringendes Interesse,« sagte ich, »die Spur der verlorenen Erinnerung, welche Herr Candy nicht wieder aufzufrischen im Stande ist, zu verfolgen. Darf ich mir die Frage erlauben; ob Sie mir irgend ein Mittel, seinem Gedächtniß zu Hilfe zu kommen, an die Hand geben können?«

Ezra Jennings blickte mich mit einem plötzlich aufblitzenden Interesse in seinen träumerisch - braunen Augen an.

»Dem Gedächtnis; des Herrn Candy,« sagte er, »ist auf keine Weise aufzuhelfen. Ich habe seit seiner Wiederherstellung oft genug vergebliche Versuche dieser Art gemacht und kann mich über diesen Punkt ganz positiv aussprechen.

Diese Bemerkung desappointirte mich und ich hatte daraus kein Hehl.

»Ich gestehe« sagte ich, »daß Sie die Hoffnung auf eine weniger entmuthigende Antwort in mir rege gemacht hatten.«

Ezra Jennings lächelte. »Vielleicht ist es nicht mein letztes Wort, Herr Blake, vielleicht ist es möglich, die Spur der verlorenen Erinnerung des Herrn Candy zu verfolgen, ohne an Herrn Candy selbst appelliren zu müssen.«

»Wirklich? Ist es nicht indiscret, zu fragen, wie das möglich wäre?«

Durchaus nicht. Die einzige Schwierigkeit bei Beantwortung Ihrer Frage besteht für mich in der Schwierigkeit, mich zu erklären. Wird es keine zu harte Geduldsprobe für Sie sein, wenn ich noch einmal auf Herrn Candy’s Krankheit zurückkomme und wenn ich Ihnen dabei dieses Mal einige technische Details nicht erspare?«

»Bitte, fahren Sie fort. Sie haben mich schon auf diese Details begierig gemacht« Mein Eifer schien ihn zu ergötzen Er lächelte wieder. Wir hatten eben die letzten Häuser der Stadt hinter uns gelassen. Ezra Jennings stand einen Augenblick still und pflückte einige wildwachsende Blumen von der Hecke am Wege. »Wie schön die Blumen sind,« sagte er, indem er mir sein kleines Bouquet zeigte. »Und wie wenige Leute in England den rechten Sinn für die Schönheit solcher Blumen haben!«

»Sie sind kein geborener Engländer?« fragte ich.

»Nein. Ich bin in einer unserer Colonien geboren und theilweise erzogen. Mein Vater war ein Engländer, aber meine Mutter . . . Aber wir kommen von unserem Gegenstande ab, Herr Blake, und zwar durch meine Schuld. Ich habe ein eigenes Verhältniß zu diesen bescheidenen kleinen Blumen. Aber lassen wir das; wir sprachen von Herrn Candy, kommen wir aus ihn zurück.«

Indem ich die wenigen Worte über ihn selbst, die ihm so widerwillig entschlüpft waren, mit der melancholischen Weltanschauung welche ihn das menschliche Glück in einem vollständigen Vergessen der Vergangenheit finden ließ, in Verbindung brachte, gewann ich die Ueberzeugung, daß die Geschichte, welche ich in seinem Gesicht zu lesen glaubte, in zwei Punkten wenigstens der Wahrheit entsprach. Er hatte gelitten wie wenige Menschen und sein englisches Blut war mit dem einer fremden Race gemischt.

»Sie haben vermuthlich von der ursprünglichen Veranlassung von Herrn Candy’s Krankheit gehört?« fing er wieder an. »An dem Abend nach Lady Verinder’s Mittags-Gesellschaft regnete es heftig. Mein Principal fuhr in seinem offenen Wägelchen im Regen nach Hause und wurde bis aus die Haut durchnäßt.

In seiner Wohnung fand er eine dringende Bestellung eines Patienten vor, der ihn sehnsüchtig erwartete und fuhr unvernünftiger Weise sofort zu diesem Kranken, ohne sich die Zeit zu lassen, seine Kleider zu wechseln. Ich selbst war an jenem Abend durch einen Fall in einiger Entfernung von Frizinghall in Anspruch genommen.

Als ich am nächsten Morgen zurückkehrte, fand ich Herrn Candy’s Diener in großer Unruhe auf mich wartend, um mich nach dem Zimmer seines Herrn zu führen. Das Unheil war bereits geschehen. Die Krankheit war ausgebrochen.«

»Ich habe bis jetzt nur in ganz allgemeinen Ausdrücken von der Krankheit als von einem Fieber reden hören,« sagte ich.

»Ich kann nichts zur genaueren Bezeichnung hinzufügen,« antwortete Ezra Jennings. »Vom ersten bis zum letzten Augenblick nahm das Fieber keine spezifische Form an. Ich schickte auf der Stelle zu zwei von Herrn Candy’s Collegen in die Stadt, mit der Bitte, mich bei diesem Fall mit ihrem Rath zu unterstützen. Sie stimmten mit mir darin überein, daß die Sache sehr ernst sei, wichen aber Beide in Betreff der anzuwendenden Behandlung wesentlich von meiner Ansicht ab. Wir waren ganz verschiedener Meinung über die Schlüsse, die aus dem Pulsschlag des Patienten zu ziehen seien. Die beiden Doctoren folgerten aus der Raschheit des Pulsschlags, daß eine herabstimmende Behandlung die einzig angezeigte sei, während ich meinerseits zwar die Raschheit des Pulsschlags zugab, aber gleichzeitig in der beunruhigenden Schwäche desselben ein Symptom der Erschöpfung des ganzen Systems erblickte, welches die Anwendung von stimulirenden Mitteln gebieterisch fordere. Die beiden Doktoren wollten ihn auf eine Diät von Limonade, Hafer und Gerstenschleim u. s. w. setzen. Ich hingegen erklärte mich dafür, ihm Champagner oder Cognac, und Chinin zu geben. Eine sehr ernste Meinungsverschiedenheit, wie Sie sehen, zwischen zwei selbstständig etablirten Aerzten von bewährtem localen Ruf auf der einen und einem Fremden, der nur der Assistent des Patienten war, auf der anderen Seite. In den ersten paar Tagen hatte ich keine Wahl, als den älteren und angeseheneren Männern nachzugeben. Als aber die Kräfte des Patienten fortwährend abnahmen, machte ich einen zweiten Versuch, die unwiderleglich klare Beweiskraft des Pulses für mich anzurufen. Seine Raschheit war dieselbe und seine Schwäche hatte zugenommen.

Die beiden Doctoren nahmen meine eigensinnige Beharrlichkeit übel und sagten mir: »Herr Jennings, wir behandeln diesen Fall oder Sie behandeln ihn! Wählen Sie!«" worauf ich erwiderte: »Meine Herren, lassen Sie mir fünf Minuten Zeit zur Ueberlegung und ich will Ihnen auf Ihre entschiedene Frage eine entschiedene Antwort geben. Nach Verlauf der erbetenen Bedenkzeit hatte ich meine Antwort bereit. Ich sagte: »Weigern Sie sich positiv, es mit einer stimulirenden Behandlung zu versuchen?« Sie sprachen diese Weigerung in der positivsten Weise aus. »Dann werde ich diese Behandlung auf meine eigene Hand versuchen, meine Herren.« —— »Versuchen Sie es, Herr Jennings, und wir räumen Ihnen das Feld.« —— Ich ließ eine Flasche Champagner aus dem Keller holen und gab dem Patienten mit eigener Hand ein halbes Wasserglas voll zu trinken. Die beiden Aerzte setzten schweigend ihre Hüte auf und verließen das Haus.

»Sie hatten damit eine sehr ernste Verantwortlichkeit auf sich genommen,« sagte ich. »Ich an Ihrer Stelle würde, fürchte ich, davor zurückgeschreckt sein.«

»An meiner Stelle würden Sie sich erinnert haben, daß Herr Candy Sie unter Umständen engagirt habe, die Sie für Ihre Lebenszeit zu seinem Schuldner machten. An meiner Stelle würden Sie gesehen haben wie er stündlich schwächer wurde, und würden lieber Alles gewagt haben, als den einzigen Menschen, der sich Ihnen freundlich erwiesen hatte, vor Ihren Augen sterben zu lassen. Denken Sie nicht, daß ich für das Schreckliche der Lage, in die ich mich selber gebracht hatte, unempfindlich gewesen wäre! Es gab Momente, in denen ich das ganze Elend meiner Freudlosigkeit, die ganze Gefahr meiner furchtbaren Verantwortlichkeit fühlte.

Wenn ich ein glücklicher Mensch gewesen wäre, wenn ich ein heiteres Leben hinter mir gehabt hätte, so würde ich, glaube ich, der Last der Ausgabe, die ich mir selbst aufgebürdet hatte, unterlegen sein. Aber für mich gab es keine vergangenen glücklichen Tage auf die ich hätte zurückblicken können; ich hatte nie den Seelenfrieden gekannt, dessen Contrast mit meiner gegenwärtigen Angst und Ungewißheit sich mir hätte aufdrängen können und ich ließ mich in meinem Entschluß durch nichts irre machen. Nur in den Tagesstunden, in denen sich mein Patient am erträglichsten befand, gönnte ich mir etwas Ruhe, den übrigen Theil der vierundzwanzig Stunden des Tages wich ich, so lange sein Leben in Gefahr war, nicht von seinem Bette. Gegen Sonnenuntergang trat, wie gewöhnlich in solchen Fällen, das Delirium, das mit dem Fieber verbunden zu sein pflegt, ein. Dasselbe dauerte mehr oder weniger die ganze Nacht hindurch und ließ dann in jener schrecklichen Zeit zwischen 2 und 5 Uhr, wo die Lebensgeister selbst der Gesündesten unter uns am tiefsten gesunken sind, nach. Das ist die Zeit, wo der Tod seine reichste Ernte unter den Menschen hält. In diesen Stunden bestand ich am Krankenbette einen furchtbaren Kampf mit dem Tode, dem ich seine Beute abzuringen suchte. Keinen Augenblick wurde ich an dem Spiel irre, das ich mit meiner Behandlungsart gewagt hatte. Wenn der Wein seine Dienste versagte, versuchte ich es mit Cognac. Wenn alle Stimulanzen ihre Wirkung verfehlten, verdoppelte ich die Dosis. Nach einer Zeit schrecklicher Ungewißheit, —— deren gleichen ich Gott bitte, mich nicht wieder erleben zu lassen, —— kam ein Tag, wo die Rapidität des Pulsschlags unbedeutend aber doch merklich abnahm und, was noch besser war, auch die Art des Pulsschlags sich in ganz unzweideutiger Weise veränderte und der Puls fester und stärker wurde. Da wußte ich, daß ich ihn gerettet hatte und da brach ich zusammen. Ich legte die abgezehrte Hand des armen Mannes wieder aufs Bett und brach in Thränen aus. Eine Erleichterung durch hysterische Thränen, Herr Blake, weiter nichts! Die Physiologie behauptet, und zwar mit Recht, daß es weiblich organisirte Männer giebt —— und zu diesen gehöre ich!«

Er sprach diese bittere ärztliche Entschuldigung für seine Thränen in derselben ruhigen und schmucklosen Weise aus, in der er auch alles Vorhergehende gesagt hatte. In seinem Ton und ganzen Wesen äußerte sieh von Anfang bis zu Ende eine ängstliche, fast krankhafte Beflissenheit, sich mir gegenüber nicht interessant zu machen.

»Sie werden mich gewiß fragen,« fuhr er fort, »Warum ich Sie mit diesem ermüdenden Detail behelligt habe. Aber ich weiß keine andere Art, Herr Blake, Sie passend auf das vorzubereiten, was ich Ihnen demnächst zu sagen habe. Sie kennen jetzt genau meine Lage zur Zeit von Herrn Candrys Krankheit, um so eher werden Sie es begreifen, daß ich ein schmerzliches Bedürfniß empfand, mir von Zeit zu Zeit eine Erleichterung der auf meinem Gemüth lastenden Sorge zu verschaffen. Seit einigen Jahren habe ich meine Mußestunden mit dem Versuch ausgefüllt, ein den Mitgliedern meines Berufs gewidmetes Buch über den intricaten und delicaten Gegenstand des Gehirns und der Nerven zu schreiben. Meine Arbeit wird wahrscheinlich nie vollendet und gewiß nie veröffentlicht werden. Nichtsdestoweniger ist sie mir in mancher einsamen Stunde ein Freund gewesen und hat mir geholfen, die angstvollen Stunden ungewissen Wartens an Herrn Candy’s Bett zu überstehen. Ich habe Ihnen, glaube ich, schon gesagt, daß er heftig phantasirte und auch die Stunden genannt, wo dieses Delirium einzutreten pflegte, nicht wahr?«

»Ja.«

»Nun hatte ich gerade zu jener Zeit einen Abschnitt meines Buches beendet, welcher diese Frage des Deliriums berührte. Ich will Sie mit meiner Theorie über den Gegenstand nicht aufhalten. Ich will mich vielmehr darauf beschränken, Ihnen nur das davon mitzutheilen, was Sie in diesem Augenblick interessiren kann. Es ist mir im Laufe meiner ärztlichen Praxis oft ein Zweifel darüber aufgestiegen, ob wir in Fällen des Deliriums aus dem Verlust der Fähigkeit, zusammenhängend zu reden, mit Recht auf den Verlust der Fähigkeit, zusammenhängend zu denken, als eine nothwendige Folge schließen dürfen. Die Krankheit des armen Herrn Candy gab mir eine Gelegenheit, die Berechtigung meines Zweifels zu erproben. Ich bin des Stenographirens kundig und konnte vermöge dieser Fertigkeit die irren Reden des Kranken wörtlich wie er sie aussprach, zu Papier bringen. —— Sehen Sie nun endlich, Herr Blake, wo ich hinaus will?«

Ich sah es vollkommen deutlich und horchte mit gespanntester Aufmerksamkeit athemlos auf.

»Gelegentlich, wie sich die Zeit dazu fand,« fuhr Ezra Jennings fort, »übertrug ich dann meine stenogrophischen Aufzeichnungen in gewöhnliche Schrift, indem ich zwischen den abgebrochenen Sätzen und selbst zwischen den einzelnen Worten, wie sie Herrn Candy zusammenhangslos entfallen waren, leere Stellen ließ. Ich behandelte dann das so erlangte Resultat nach einer ähnlichen Methode, wie man sie bei der Zusammensetzung eines Geduldspiels für Kinder anzuwenden pflegt. Anfänglich erscheint Alles Verwirrung, aber wenn man nur den rechten Schlüssel dazu findet, kann man Alles in seine gehörige Ordnung bringen. Ich wandte dieses Verfahren an, indem ich die leeren Stellen auf dem Papier mit dem ausfüllte, was mir die Sätze und Worte an beiden Enden des leeren Raums als die wirkliche Meinung des Sprechenden an die Hand gaben, indem ich dabei fort und fort änderte, bis meine Zusätze sich den vorangehenden Worten natürlich anzuschließen und die folgenden Worte einzuleiten schienen. Das Ergebniß war, daß ich mir in dieser Weise nicht nur über viele angstvolle und müßige Stunden hinweghalf, sondern daß ich zu etwas gelangte, was mir eine Bestätigung meiner Theorie zu sein schien. Deutlicher gesprochen, nachdem ich die abgebrochenen Sätze zusammengefügt hatte, fand ich, daß das höhere Vermögen, mehr oder weniger zusammenhängend zu denken, in dem Geiste meines Patienten fortwirke, während das niedrigere Vermögen des Ausdrucks sich in einem Zustande fast völliger Unfähigkeit und Verwirrung befand.«

»Ein Wort!« unterbrach ich eifrig, »Kam in seinen irren Reden je mein Name vor?«

»Das sollen Sie gleich hören, Herr Blake. Unter den schriftlichen Beweisen meiner eben aufgestellten Behauptung oder richtiger, unter den schriftlichen Experimenten, welche ich zu dem Zweck angestellt habe, um meine Behauptung zu beweisen, befindet sich eines, in welchem Ihr Name vorkommt. Fast während einer ganzen Nacht war Herrn Candy’s Geist mit etwas beschäftigt, was zwischen ihm und Ihnen vorgegangen war. Ich habe seine abgebrochenen Worte, wie sie ihm entfuhren, auf einem Blatt Papier und die von mir aufgefundenen Ringe, welche zwischen jenen Worten eine Kette herzustellen bestimmt sind, auf einem andern Blatt Papier. Das Product, wie man in der Arithmetik sagt, ist die verständliche Angabe erstens: von etwas in der Vergangenheit wirklich Geschehenem, und zweitens von etwas, was Herr Candy künftig zu thun beabsichtigte, und an dessen Ausführung ihn seine Krankheit vermuthlich verhindert hat. Die Frage ist nun, ob das die verlorene Erinnerung ist, welche wieder aufzufrischen er sich diesen Morgen bei Ihrem Besuch vergeblich abmühte oder nicht.«

»Ganz unzweifelhaft« antwortete ich. »Lassen Sie uns auf der Stelle umkehren und die Papiere in Augenschein nehmen!«

»Das ist unmöglich, Herr Blake!«

»Warum?«

»Versetzen Sie sich einen Augenblick in meine Lage,« entgegnete Ezra Jennings. »Würden Sie einer andern Person das, was Ihrem leidenden Patienten und hilflosen Freunde in bewußtlosem Zustande entfahren ist, enthüllen, wenn Sie sich nicht vorher vergewissert hätten, daß Ihre Mittheilung durch eine dringende Nothwendigkeit gerechtfertigt erscheine?

Ich fühlte sehr wohl, daß darauf nichts zu erwidern sei, versuchte es aber nichtsdestoweniger, die Frage mit ihm zu discutiren.

»Mein Benehmen in einer so delicaten Situation, wie Sie sie bezeichnen,« erwiderte ich, »würde größtentheils davon abhängen, ob die Enthüllung geeignet wäre, einen Freund zu compromittiren oder nicht.«

»Ich habe diese Seite der Frage bereits seit langer Zeit erwogen,« sagte Ezra Jennings. »Wo immer meine Aufzeichnungen irgend etwas enthielten, wovon ich annehmen mußte, daß Herr Candy dasselbe geheim zu halten gewünscht haben würde, habe ich diese Aufzeichnungen vernichtet. Die von mir an dem Krankenbette meines Freundes angestellten schriftlichen Experimente enthalten jetzt nichts mehr, was er Anstand genommen haben würde, Andern mitzutheilen, wenn er den Gebrauch seines Gedächtnisses wieder erlangt hätte. In Ihrem Fall habe ich sogar Ursache zu glauben, daß meine Aufzeichnungen Etwas enthalten, was er Ihnen selbst mitzutheilen wünschte.«

»Und doch nehmen Sie Anstand?«

»Und doch nehme ich Anstand. Vergegenwärtigen Sie sich die Umstände, unter welchen ich die Kunde, in deren Besitz ich mich befinde, erlangt habe. So harmlos deren Besitz an und für sich ist, so kann ich es doch nicht über mich gewinnen, Ihnen dieselbe mitzutheilen, bevor Sie mich nicht überzeugt haben, daß dazu ein besonderer Grund vorliegt. Er war so entsetzlich krank, Herr Blake, und so hilflos in meiner Gewalt, —— können Sie es mir unter diesen Umständen verdenken, wenn ich Sie nur um eine Andeutung darüber bitte, worin Ihr Interesse an jener entschwundenen Erinnerung besteht, oder was Sie für den Inhalt jener entschwundenen Erinnerung halten?

Um ihm mit der Offenheit zu antworten, auf welche seine Sprache und sein Wesen ihm beide einen gleich berechtigten Anspruch gaben, würde ich mich zu dem Geständniß haben herbeilassen müssen, daß der Verdacht des Diebstahls des Diamanten auf mir laste. So sehr sich auch mein erstes impulsives Interesse an Ezra Jenning’s Person im Verlaufe unserer Unterhaltung gesteigert hatte, so hatte er doch meine unüberwindliche Abneigung, mich über meine entwürdigende Situation auszusprechen, nicht ganz beseitigen können. Ich nahm abermals zu den erklärenden Phrasen meine Zuflucht, mit welchen ich mich gegen die Neugierde Fremder gewaffnet hatte.

Dieses Mal hatte ich mich nicht über Mangel an Aufmerksamkeit von Seiten der Person, an die ich mich wandte, zu beklagen. Ezra Jennings hörte geduldig, ja ängstlich aufmerksam zu, bis ich geendet hatte.

»Ich bedaure, Herr Blake,« sagte er, »daß ich Ihre Erwartungen gespannt habe, nur um Sie enttäuschen zu müssen. Während der ganzen Dauer der Krankheit des Herrn Candy vom ersten bis zum letzten Augenblick ist ihm kein Wort über den Diamanten entfahren Die Angelegenheit, im Zusammenhang mit welcher ich ihn Ihren Namen habe aussprechen hören, steht, wie ich Sie versichern kann, in keiner noch so entfernten Beziehung zu dem Verlust oder der Wiederauffindung von Fräulein Verinder’s Juwel.«

Als er diese Worte sagte, waren wir gerade an einer Stelle der Landstraße angelangt, wo sich dieselbe in zwei Wege theilte. Der eine derselben führte nach dem Hause meines Onke1s Ablewhite und der andere nach einem zwei bis drei Meilen entfernten Dorfe in der Haide. Ezra Jennings stand hier still.

»Mein Weg führt dorthin,« sagte er, nach der Richtung des Dorfes hindeutend. »Es thut mir herzlich leid, Herr Blake, daß ich Ihnen nicht habe dienen können.«

Der Ton seiner Stimme bürgte für die Aufrichtigkeit seiner Worte. Seine sanften braunen Augen ruhten einen Augenblick mit einem Ausdruck melancholischen Interesses auf mir. Er verneigte sich gegen mich und ging, ohne ein Wort weiter zu sagen, seines Weges nach dem Dorfe hin. Eine Zeit lang blieb ich stehen und sah ihm nach, während er sich weiter und weiter von mir entfernte und weiter und weiter Das mit sich forttrug, was nach meiner festen Ueberzeugung der Schlüssel war, den ich suchte. Nachdem er eine Strecke Weges gegangen war, sah er sich wieder nach mir um. Als er sah, daß ich noch an der Stelle, an der wir uns getrennt hatten, stillstand, blieb auch er stehen, als ob er vermuthe, daß ich ihn vielleicht noch ein Mal zu sprechen wünsche Ich hatte keine Zeit, meine Situation zu überdenken, keine Zeit, mich zu erinnern, daß ich im Begriff stehe, mir die Gelegenheit, vielleicht eine entscheidende Wendung meines Lebens herbei zu führen, entschlüpfen zu lassen, und das nur, um meiner eitlen Selbstachtung zu schmeicheln. Ich hatte nur Zeit ihn zurückzurufen. Ich rief ihn zurück und sagte mir dann: »Jetzt hilft nichts mehr, ich muß ihm die Wahrheit sagen.«

Er kehrte auf der Stelle um und ich ich ging ihm eine längere Strecke entgegen. »Herr Jennings,« sagte ich, »ich bin nicht ganz offen gegen Sie zu Werke gegangen. Das Interesse, welches ich habe, die Spur der verlorenen Erinnerung des Herrn Candy zu verfolgen, ist nicht das Interesse an der Wiederauffindung des Mondsteins, sondern meinem Besuch in Yorkshire liegt ein sehr ernstes persönliches Motiv zu Grunde. Ich habe nur eine Entschuldigung dafür, daß ich in dieser Angelegenheit nicht offener gegen Sie gewesen bin. Es ist mir peinlicher, als ich es sagen kann, mich gegen irgend Jemanden über meine wirkliche Situation rückhaltlos auszusprechen.«

Ezra Jennings sah mich mit einem Ausdruck anscheinender Verlegenheit an, den ich bisher noch nicht an ihm beobachtet hatte.

»Herr Blake,« sagte er, »ich habe weder das Recht, noch den Wunsch, mich in Ihre Privat-Angelegenheiten zu mischen. Erlauben Sie, daß ich Sie meinerseits um Verzeihung bitte, wenn ich Sie höchst unabsichtlich veranlaßt habe, ein Ihnen peinliches Geständniß zu machen.«

»Sie haben das vollste Recht,« erwiderte ich, »die Bedingungen zu« bestimmen, unter welchen allein Sie sich für berechtigt halten, mir mitzutheilen, was Sie an Herrn Candy’s Krankenlager gehört haben. Ich begreife und achte das Zartgefühl, welches Sie in dieser Angelegenheit leitet. Welchen Anspruch auf Ihr Vertrauen kann ich geltend machen, wenn ich Ihnen nicht zuvor das meinige schenke? Sie müssen und sollen wissen, welches Interesse ich daran habe, zu erfahren, was mir Herr Candy sagen wollte. Wenn es sich ergeben sollte, daß ich von einer irrigen Voraussetzung ausgehe und daß Sie, nachdem Sie mein wirkliches Interesse an der Sache kennen gelernt haben werden, mir doch nicht helfen können, so werde ich in Ihrer Ehre eine Gewähr für die Bewahrung meines Geheimnisses finden und mich, wie mir eine innere Stimme sagt, in meinem Vertrauen nicht getäuscht finden.«

»Halt, Herr Blake, Bevor Sie fortfahren, muß ich Ihnen ein Wort sagen.«

Ich sah ihn erstaunt an. Eine furchtbare Aufregung schien sich seiner bemächtigt zu haben und ihn auf’s Tiefste zu erschüttern. Seine zigeunerhafte Hautfarbe hatte sich in ein fahles blasses Grau verwandelt, seine Augen erglänzten plötzlich von wilder Gluth, seine Stimme hatte einen leisen, finsteren, entschlossenen Ton angenommen, den ich noch nicht bei ihm gehört hatte. Die in der Seele dieses Mannes schlummernden Kräfte —— ob guter oder böser Natur war in diesem Augenblick schwer zu sagen leuchteten mir auf einmal mit der Plötzlichkeit eines Blitzstrahls entgegen.

»Bevor Sie mir Ihr Vertrauen schenken,« fuhr er fort, »müssen und sollen Sie erfahren, unter welchen Umständen ich in dem Hause des Herrn Candy Aufnahme gefunden habe. Es bedarf dazu nicht vieler Worte. Meine Geschichte wird Niemand von mir erfahren, Herr Blake, meine Geschichte wird mit mir begraben werden. Alles, was ich mir von Ihnen erbitte, ist die Erlaubniß, Ihnen zu erzählen, was ich Herrn Candy erzählt habe. Wenn Sie, nachdem Sie das gehört haben werden, bei Ihrem Entschluß beharren, mir Ihre beabsichtigte Mittheilung zu machen, so werde ich Ihnen meine ganze Aufmerksamkeit und meine Dienste zur Verfügung stellen. Sollen wir weiter gehen?«

Der Ausdruck eines gewaltsam niedergehaltenen Jammers in seinem Gesicht machte mich stumm. Ich bejahte seine Frage durch ein Zeichen und wir gingen weiter.

Nachdem wir einige hundert Schritte gegangen waren, blieb Ezra Jennings vor einer Oeffnung in der Felswand stehen, welche sich an dieser Stelle des Weges aus dem Haideboden erhob.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir hier ein wenig ausruhen?« fragte er. »Ich bin nicht mehr der Alte und gewisse Dinge erschüttern mich.«

Ich willigte natürlich ein. Er führte mich durch die Oeffnung zu einem Rasenfleck auf dem Haideboden, der nach der Seite der Landstraße hin durch Gebüsch und verkrüppelte Bäume geschützt war und nach der andern Seite hin eine trostlose Aussicht über die weite braune Oede der Haide gewährte. Schwere Wolken hatten sich seit einer halben Stunde am Himmel zusammengeballt. Die Beleuchtung war matt, die Aussicht getrübt. Das liebliche Antlitz der Natur blickte uns sanft und ruhig, aber farblos und ohne Lächeln an. Wir setzten uns schweigend nieder. Ezra Jennings legte seinen Hut bei Seite und fuhr sich mit der Hand matt über die Stirn und durch sein wunderlich weiß und schwarzes Haar. Er warf sein kleines Bouquet von wildwachsenden Blumen weg, als ob ihm die Erinnerungen, die dasselbe in ihm wachgerufen, jetzt peinlich seien.

»Herr Blake!« sagte er plötzlich. »Sie sind in schlechter Gesellschaft. Eine furchtbare Anklage hat Jahre lang auf mir gelastet. Ich sage Ihnen gleich das Schlimmste, ich bin ein Mann, dessen Leben ein Wrack und dessen guter Ruf verloren ist.«

Ich versuchte zu reden, aber er wehrte mir.

»Nein,« sagte er, »verzeihen Sie mir noch nicht. Lassen Sie sich nicht zu Ausdrücken der Theilnahme hinreißen, die Sie später vielleicht bereuen würden. Ich sprach von einer Anklage, die Jahre lang auf mir gelastet hat Gewisse Umstände sprechen bei dieser Anklage sehr entschieden gegen mich. Ich kann mich nicht entschließen, Ihnen den Gegenstand derselben mitzutheilen, da ich völlig außer Stande bin, meine Unschuld zu erweisen, ich kann dieselbe vielmehr nur betheuern und ich betheuere sie, Herr Franklin, auf meinen Eid als Christ, —— mich auf meine Ehre als Mann zu berufen, steht mir nicht zu.«

Er hielt wieder inne. Ich sah ihn an, während er unausgesetzt seine Blicke von mir abwandte. Sein ganzes Wesen schien in dem Schmerz der Erinnerung und in das peinliche Ringen nach Worten auszugehen.

»Ich könnte,« begann er wieder, »viel über die mir von meiner eigenen Familie widerfahrene erbarmungslose Behandlung und die erbarmungslose Feindschaft, der ich zum Opfer gefallen bin, sagen. Aber das Uebel ist einmal geschehen, das Unrecht kann nicht wieder gut gemacht werden, und ich will Sie nicht unnöthiger Weise langweilen oder betrüben. Gleich beim Betreten meiner Laufbahn in diesem Lande trat mir die niedrige Verleumdung, von der ich gesprochen habe, sofort vernichtend entgegen. Ich verzichtete darauf, es in meinem Beruf zu etwas zu bringen, dunkle Zurückgezogenheit war das Einzige, was mir zu wählen übrig blieb. Ich trennte mich von dem Weibe, das ich liebte, wie konnte ich sie dazu verdammen, meine Schande zu theilen. In einem Winkel Englands bot sich mir die Stelle eines ärztlichen Assistenten, ich nahm sie an. Ich hoffte in derselben Ruhe und Verborgenheit zu finden, ich täuschte mich. Böse Nachrede weiß langsam und sicher überall hin ihren Weg zu finden. Die Anklage, vor der ich geflohen war, verfolgte mich. Ich wurde vor ihrem Herannahen gewarnt. Ich konnte noch rechtzeitig meine Stelle mit guten Zeugnissen über mein Verhalten freiwillig verlassen. Dieselben verschafften mir eine andere Stelle in einer andern noch entfernteren Gegend. Wieder verging die Zeit und wieder wußte mich die Verleumdung, die meinem Rufe so verderblich war, zu finden; dieses Mal traf sie mich unvorbereitet. Mein Principal erklärte mir eines Tages: Herr Jennings, ich habe Ihnen nichts vorzuwerfen, aber Sie müssen sich rechtfertigen oder mich verlassen. Ich hatte keine andere Wahl als meine Stelle aufzugeben. Ich will nicht bei dem verweilen, was ich damals litt. Ich bin erst vierzig Jahr alt! und sehen Sie mein Gesicht an, Sie werden in demselben die Geschichte jammervoller Jahre lesen. Endlich kam ich hierher und lernte Herrn Candy kennen. Er brauchte gerade einen Assistenten. In Betreff meiner Fähigkeit verwies ich ihn an meinen letzten Principal, blieb noch die nöthige Auskunft über meinen Charakter übrig. Ich theilte ihm das, was ich Ihnen erzählt habe, und noch mehr mit. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß selbst wenn er meinem Bericht Glauben schenke, Unannehmlichkeiten nicht ausbleiben würden. Hier wie überall sagte ich ihm, verschmähe ich die schuldbewußte Ausflucht, einen fremden Namen anzunehmen. Ich bin in Frizinghall nicht sicherer vor der Wolke, die mich aus allen meinen Wegen verfolgt als anderswo.« Er antwortete mir: »Ich Pflege nichts halb zu thun, ich glaube Ihnen und ich beklage Sie; wenn Sie die möglichen Gefahren Ihrer Lage nicht scheuen, so will auch ich mich denselben aussetzen. Der Allmächtige lohne es ihm. Er hat mir Obdach, Beschäftigung, Gemüthsruhe wieder gegeben und seit einigen Monaten habe ich die feste Ueberzeugung gewonnen, daß er keine Ursache mehr haben wird es zu bereuen.«

»Hat die Verleumdung nachgelassen?« fragte ich.

»Die Verleumdung ist so thätig wie immer, aber bis sie mich hier erreicht, wird es zu spät sein.«

»Wollen Sie von hier fort?«

»Nein, Herr Blake, ich werde todt sein. Seit zehn Jahren leide ich an einem unheilbaren inneren Uebel. Ich mache kein Hehl vor Ihnen daraus, daß ich mich schon lange an diesem Uebel würde haben sterben lassen, wenn mich nicht noch ein einziges Interesse, das mir das Leben noch von Werth erscheinen läßt, an das Dasein fesselte. Ich muß noch für ein mir theures Wesen sorgen, das ich niemals wiedersehen werde. Mein eigenes kleines Vermögen dürfte kaum hinreichen, je unabhängig von der Welt zu machen. Die Hoffnung, dieses Vermögen durch längeres Leben zu vermehren, ist der Antrieb für mich gewesen, mein Leiden mit allen mir zu Gebote stehenden Palliativen zu bekämpfen. Das einzige wirksame Palliativ in meinem Fall ist —— Opium. Dieser allmächtigen und allbarmherzigen Arznei verdanke ich eine jahrelange Frist bis zur Ausführung des über mich verhängten Todes-Urtheils. Aber selbst die Wirkung des Opiums hat ihre Grenzen. Der Fortschritt des Leidens hat mich allmälig genöthigt, den Gebrauch des Opiums in einen Mißbrauch desselben zu verwandeln. Ich fange an die Folgen zu verspüren. Mein Nervensystem ist erschüttert; ich verlebe schreckliche Nächte. Das Ende kann nicht mehr fern sein. Mag es kommen. ich habe nicht umsonst gelebt und gearbeitet. Ich habe die mir nöthige kleine Summe fast beisammen und ich würde sie zu vervollständigen wissen, wenn meine letzten Lebenskräfte mir früher versagen sollten, als ich es erwarte. Ich weiß kaum wie ich dazu gekommen bin, Ihnen alles Das mitzuteilen; ich glaube nicht, daß mich das niedrige Motiv, Ihr Mitleid zu erregen, dabei geleitet hat. Vielleicht war es unbewußt der Wunsch, Sie bereiter zu finden, mir Glauben zu schenken, wenn Sie wüßten, daß ich zu Ihnen als ein Sterbender rede. Ich mache kein Hehl daraus, Herr Blake, daß ich mich für Sie interessire. Ich habe es versucht, die Gedächtnißschwäche meines armen Freundes zu einer Annäherung an Sie zu benutzen. Ich habe darauf speculirt, daß Sie ein vorübergehendes Interesse an Dem, was er Ihnen zu sagen wünschte, und an meiner Fähigkeit, Ihnen darüber Auskunft zu ertheilen, nehmen würden. Vielleicht läßt es sich entschuldigen, daß ich mich Ihnen aufgedrängt habe. Ein Mann der erlebt hat, was ich erlebt habe, hat bitttere Momente, in denen er über das menschliche Schicksal brütet. Sie haben Jugend, Gesundheit, Reichthum, eine Stellung, —— die ganze Welt steht Ihnen offen. Sie und Ihresgleichen zeigen mir die sonnige Seite des Lebens und versöhnen mich mit der Welt, die ich verlassen im Begriff stehe. Wozu auch diese unsere Unterhaltung führen mag, ich werde nie vergessen, daß Sie mir durch Ihre Gegenwart wohlgethan haben. Es steht jetzt bei Ihnen, Herr Blake, auszusprechen, was Sie mir zu sagen beabsichtigen oder von dannen zu gehen.«

Ich hatte nur eine Antwort auf diese Worte» Ohne mich einen Augenblick zu bedenken, erzählte ich ihm die Wahrheit so rückhaltlos, wie ich sie in diesen Blättern verzeichnet habe.

Er sprang auf und sah mich mit athemloser Spannung an, als ich mich der Erzählung des entscheidenden Vorgangs meiner Geschichte näherte.

»Es ist unzweifelhaft, daß ich das Zimmer betrat,« sagte ich, »es ist unzweifelhaft, daß ich den Diamanten fortnahm. Ich kann diesen beiden unbestreitbaren Thatsachen nichts entgegensetzen, als die Versicherung, daß ich, was ich auch gethan haben mag, ohne Bewußtsein gethan habe. Sie werden glauben, daß ich die Wahrheit gesagt habe.«

Ezra Jennings ergriff in großer Aufregung meinen Arm.

»Halt!« sagte er. »Sie haben mir mehr gesagt, als Sie selbst vermuthen. Haben Sie je die Gewohnheit gehabt, Opium zu nehmen?«

»In meinem ganzen Leben habe ich es nicht gekostet.«

»Waren Ihre Nerven im vorigen Jahr angegriffen? Waren Sie ungewöhnlich unruhig und reizbar?«

»Ja.«

»Schliefen Sie schlecht?«

»Seht schlecht. Viele Nächte verbrachte ich wachend.«

»War es in der auf den Geburtstag folgenden Nacht anders? Suchen Sie doch sich zu erinnern. Schliefen Sie in jener Nacht ausnahmsweise gut?«

»Ich kann mich sehr wohl erinnern, —— ich erfreute mich in jener Nacht eines sehr festen Schlafe.«

Er ließ meinen Arm eben so plötzlich wieder los, wie er ihn ergriffen hatte, und sah mich an wie Jemand, der sich von einem letzten auf seinem Gemüth lastenden Zweifel befreit sieht.

»Dies ist ein merkwürdiger Tag in Ihrem wie in meinem Leben,« sagte er feierlich; »ich bin jetzt Einer Sache völlig gewiß, Herr Blake. Meine Aufzeichnungen enthalten, was Herr Candy Ihnen diesen Morgen sagen wollte. Warten Sie! das ist noch nicht Alles. Ich bin fest überzeugt, daß ich beweisen kann, daß Sie kein Bewußtsein von dem hatten, was Sie thaten, als Sie das Zimmer betraten und den Diamanten fortnahmen. Lassen Sie mir Zeit, nachzudenken und Sie zu befragen. Ich glaube den Beweis Ihrer Unschuld in meinen Händen zu haben.«

»«Erklären Sie sich näher! Um Gotteswillen, was wollen Sie damit sagen?«

In der Aufregung unseres Gesprächs hatten wir einige Schritte vorwärts über das Gestrüpp hinaus gethan, welche uns bis jetzt den Augen Vorübergehender entzogen hatte.

Noch ehe Ezra Jennings mir antworten konnte, wurde er von der Landstraße her von einem Manne angerufen, der ersichtlich in großer Aufregung war und offenbar nach ihm ausgeschaut hatte.

»Ich komme schon,« rief er zurück, »ich komme, so rasch ich kann!«

Er wandte sich wieder zu mir.

»In dem Dorfe da drüben wartet ein Schwerkranker auf mich; ich hätte schon vor einer halben Stunde dort sein sollen, ich muß jetzt sofort hingeben. », Lassen Sie mir zwei Stunden Zeit und kommen Sie dann wieder nach Herrn Candy’s Hause, und ich verspreche Ihnen, für Sie bereit zu sein.«

»Wie soll ich es ertragen, so lange zu warten!« rief ich ungeduldig aus. Können Sie mein Gemüth nicht durch Wort der Erklärung beruhigen, bevor wir uns trennen?«

»Unsere Angelegenheit ist viel zu ernst, als daß sie eine eilige Erklärung irgend zuließe, Herr Blake. Ich stelle wahrlich Ihre Geduld nicht muthwillig aus die Probe, aber ich würde Ihre Ungewißheit nur vermehren, wenn ich es versuchen wollte, dieselbe durch ein eiliges Wort zu heben. Also aus Wiedersehen in zwei Stunden in Frizinghall!«

Der Mann aus der Landstraße rief wieder nach ihm, er eilte fort und ließ mich allein.



Kapiteltrenner

Zehntes Capitel.

Wie die mehrstündige Ungewißheit, zu welcher ich mich jetzt verurtheilt sah, auf andere Menschen in meiner Lage gewirkt haben würde, vermag ich nicht zu sagen. Die Wirkung dieser Prüfung auf mein Temperament war folgende: Ich fühlte mich physisch unfähig an irgend einer Stelle auszuharren, und moralisch unfähig mit irgend einem menschlichen Wesen zu reden, bis ich Alles gehört haben würde, was Ezra Jennings mir zu sagen hatte.

In dieser Gemüthsfassung gab ich nicht nur meinen beabsichtigten Besuch bei meiner Tante Ablewhite auf, sondern suchte sogar einer Begegnung mit Gabriel Betteredge aus dem Wege zu gehen.

Ich kehrte nach meinem Hotel in Frizinghall zurück und verließ dasselbe wieder unter Zurücklassung eines Billets an Betteredge, in welchem ich ihm sagte, ich sei unerwarteter Weise aus einige Stunden abgerufen worden, er könne mich aber gegen drei Uhr Nachmittags mit Sicherheit zurück erwarten. Ich bat ihn, inzwischen zu seiner gewohnten Stunde im Hotel zu speisen und sich so gut er könne die Zeit zu vertreiben. Er hatte, wie ich wußte. eine Menge Freunde in Frizinghall und konnte um die Ausfüllung seiner Zeit bis zu meiner Rückkehr nicht verlegen sein.

Dann ging ich wieder zur Stadt hinaus und durchstreifte das einsame Haideland, welches Frizinghall umgiebt, bis meine Uhr mich belehrte, daß endlich die Zeit meiner verabredeten Rückkehr nach Herrn Candy’s Hause gekommen sei.

Ich fand Ezra Jennings bereit und meiner wartend. Er saß allein in einem dürftig möblirten kleinen Zimmer, welches durch eine Glasthür mit dem Laboratorium in Verbindung stand. Widerliche Abbildungen von den Verwüstungen widerlicher Krankheiten bedeckten die häßlich braun bemalten Wände; ein mit verräucherten medicinischen Werken gefüllter Bücherschrank, auf dem statt der gebräuchlichen Büste ein Todtenkopf stand; ein großer hölzerner, von Tintenflecken starrender Tisch; hölzerne Stühle, wie man sie sonst nur in Küchen und Bauerhütten findet; ein fadenscheiniges Stück groben Teppichs, das nur die Mitte des Fußbodens bedeckte, und ein roh in die Wand eingelassener Handguß mit Becken und Ablauf, der die widerlichsten Vorstellungen an seinen Gebrauch bei chirurgischen Operationen erweckte, machten das ganze Mobiliar des Zimmers aus. Die Bienen summten um ein Paar vor dem Fenster stehende Blumentöpfe herum; die Vögel sangen im Garten und von Zeit zu Zeit vernahm man das schwache Geklimper aus einem abgenutzten Clavier in einem Nachbarhause. An jedem andern Orte würden diese alltäglichen Klänge vielleicht gut zu der alltäglichen Außenwelt gestimmt haben. Hier erklangen sie wie Eindringlinge in eine Stille, die zu unterbrechen nur menschliche Leiden das Recht zu haben schienen. Mein Blick fiel auf den Mahagoni-Kasten mit chirurgischen Instrumenten und die große Rolle Charpie, die ihren eignen Platz auf den Bücherbrettern hatten, und ich schauderte innerlich bei dem Gedanken an die Laute, die in Ezra Jennings’ Zimmer die gewohnten und alltäglichen waren.

»Ich entschuldige mich nicht wegen des Orts, an dem ich Sie empfange, Herr Blake,« sagte er; »es ist das einzige Zimmer des Hauses, in welchem wir zu dieser Tageszeit sicher sein können, ungestört zu bleiben. Hier habe ich meine Aufzeichnungen für Sie bereit und hier sind zwei Bücher, in welchen wir vielleicht nachzuschlagen Veranlassung haben werden, bevor wir mit unserm Geschäft zu Ende sind. Rücken Sie Ihren Stuhl an den Tisch und wir werden mit einander arbeiten können.«

Ich setzte mich an den Tisch und Ezra Jennings überreichte mir seine Aufzeichnungen. Sie bestanden aus zwei großen Foliobogen. Der eine derselben war nur an einzelnen Stellen, der andere aber mit rother und schwarzer Tinte von oben bis unten dicht beschrieben. In meinem durch die gespannteste Neugierde aufgeregten Zustand legte ich das zweite Blatt verzweifelt wieder aus der Hand.

»Haben Sie Erbarmen mit mir!« sagte ich. »Sagen Sie mir, was ich zu erwarten habe, bevor ich es es versuche, dies zu lesen.«

»Gern, Herr Blake! Aber darf ich noch ein Paar Fragen an Sie richten?«

»Fragen Sie, was Sie wollen!«

Er sah mich mit einem trüben Lächeln auf den Lippen und dem Ausdruck einer freundlichen Theilnahme in seinen sanften braunen Augen an.

»Sie haben mir bereits gesagt,« fing er an, »daß Sie, Ihres Wissens, noch nie in Ihrem Leben Opium gekostet haben.«

»Meines Wissens?« wiederholte ich.

»Sie werden sogleich verstehen, warum ich mich dieses Vorbehalts bediene. Lassen Sie uns weiter gehen. Sie wissen nicht, daß Sie jemals Opium genommen haben. Im vorigen Jahr um diese Zeit litten Sie an nervöser Aufregung und hatten sehr schlechte Nächte. Die Nacht nach dem Geburtstage bildete aber eine Ausnahme von der Regel —— Sie schliefen gut. Verhält sich das so?«

»Vollkommen!«

»Sind Sie sich irgend einer Ursache Ihrer nervösen Leiden und Ihrer Schlaflosigkeit bewußt?«

»Ich bin mir keiner solchen Ursache bewußt. Ich erinnere mich nur, daß der alte Betteredge eine Ursache gefunden zu haben glaubte, doch die verdient wohl kaum eine Erwähnung.«

»Um Vergebung. Alles verdient Erwähnung in einem Fall wie dieser. Worin glaubte Betteredge die Ursache Ihrer Schlaflosigkeit gefunden zu haben?«

»Darin, daß ich das Rauchen ausgegeben hatte.«

»Waren Sie gewohnt gewesen, regelmäßig zu rauchen?«

»Ja.«

»Gaben Sie die Gewohnheit plötzlich auf?«

»So hatte Betteredge vollkommen Recht, Herr Blake. Wer zu rauchen gewöhnt ist, muß eine ungewöhnlich starke Constitution haben, wenn er es plötzlich aufgeben kann, ohne davon zeitweilig unangenehme Folgen für sein Nervensystem zu verspüren. Ihre schlaflosen Nächte sind also für mich erklärt. Meine nächste Frage betrifft Herrn Candy. Erinnern Sie sich, an dem Geburtstag oder später mit ihm eine Art von Disput über seinen Beruf gehabt zu haben?«

Die Frage erweckte in mir auf der Stelle eine meiner schlummernden Erinnerungen an das Geburtstagsfest. Man wird die Schilderung meiner kindischen Zänkerei mit Herrn Candy bei jenem Diner viel ausführlicher, als sie es verdient, im zehnten Capitel von Betteredge’s Erzählung finden. Die Einzelheiten des Disputs wie sie dort berichtet sind, waren mir gänzlich entfallen, —— so wenig hatte ich später wieder daran gedacht. Alles, dessen ich mich jetzt erinnern, und Alles, was ich Ezra Jennings mittheilen konnte, war, daß ich die ärztliche Kunst bei Tische so hartnäckig und so heftig angegriffen habe, daß selbst Herr Candy für den Augenblick darüber seinen Gleichmuth verloren habe. Ich erinnerte mich auch, daß Lady Verinder sich in’s Mittel gelegt hatte, um dem Streit ein Ende zu machen, und daß der Doktor und ich »uns wieder gut wurden«, wie die Kinder sagen, und so gute Freunde waren, wie je zuvor, als wir uns zum Abschied die Hände gaben.

»Noch Eines« sagte Ezra Jennings, »wäre für mich sehr wichtig zu wissen. Hatten Sie irgend einen Grund, im vorigen Jahr um diese Zeit wegen des Diamanten besonders besorgt zu sein?«

»Ich hatte dazu die aller stärksten Gründe; ich wußte, daß der Diamant der Gegenstand einer Verschwörung sei, und ich war gewarnt, Maßregeln zum Schutz von Fräulein Verinder, als der Besitzerin des Edelsteins, zu treffen.«

»War die Sicherheit des Diamanten der Gegenstand der Unterhaltung zwischen Ihnen und Jemand Anderem, unmittelbar bevor Sie sich am Abend des Geburtstages zur Ruhe begaben?«

»Das war der Gegenstand einer Unterhaltung zwischen Lady Verinder und ihrer Tochter ——«

»Die in Ihrer Gegenwart stattfand?«

»Ja«

Ezra Jennings nahm seine Aufzeichnungen vom Tische auf und überreichte sie mir.

»Herr Blake,« sagte er, »wenn Sie diese Auszeichnungen jetzt in dem Lichte lesen, welches meine Fragen und Ihre Antworten aus dieselben geworfen haben, so werden Sie zwei merkwürdige Entdeckungen in Betreff Ihrer selbst machen. Sie werden finden: —— Erstens, daß Sie, als Sie Fräulein Verinders Wohnziminer betraten und den Diamanten fortnahmen, sich in einem durch Opium hervorgerufenen Zustand der Extase befanden; zweitens, daß Ihnen das Opium ohne Ihr Wissen von Herrn Candy als eine praktische Widerlegung der Ansichten, welche Sie bei dem Geburtstagsdiner gegen ihn geäußert hatten, verabreicht worden war.«

Ich saß, die Papiere noch in der Hand, ganz versteinert da.

»Versuchen Sie es, dem armen Herrn Candy zu vergeben,« sagte der Assistent »Er hat schreckliches Unheil angerichtet, das muß ich zugeben, aber er hat es ohne böse Absicht gethan. Wenn Sie die Auszeichnungen ansehen wollen, werden Sie finden, daß er, wenn ihn seine Krankheit nicht daran verhindert hätte, am Morgen nach der Gsellschaft wieder zu Lady Verinder gekommen sein und sich zudem Streich bekannt haben würde, den er Ihnen gespielt hatte. Fräulein Verinder würde davon gehört und ihn näher befragt haben, und die Wahrheit, welche ein Jahr lang verborgen geblieben ist, würde in einem Tage entdeckt worden sein.«

Ich fing an, meine Fassung wieder zu gewinnen.

»Herr Candy ist für meine Rache unerreichbar,« sagte ich zornig, »aber der Streich, den er mir gespielt hat, bleibt darum doch ein Act der Verrätherei. Ich kann ihm vergeben, aber ich werde es nie vergessen.«

»Jeder Arzt begeht solche Acte der Verrätherei in seiner Praxis, Herr Blake. Das aus Unwissenheit hervorgehende Mißtrauen gegen Opium beschränkt sich in England keineswegs auf die unteren und ungebildeten Klassen. Jeder vielbeschäftigte Arzt sieht sich dann und wann genöthigt, seine Patienten zu betrügen, wie Herr Candy Sie betrogen hat. Ich will den thörichten Einfall, Ihnen unter den damaligen Umständen einen solchen Streich zu spielen, gewiß nicht vertheidigen. Ich möchte Sie nur zu einer genaueren und milderen Beurtheilung der Motive veranlassen.«

»Wie geschah es?« fragte ich, »wer gab mir das Opium ein, ohne daß ich etwas davon wußte?«

»Das vermag ich Ihnen nicht zu sagen. Während der ganzen Krankheit des Herrn Candy ist ihm kein Wort in Betreff dieses Umstandes entfahren. Vielleicht kann Ihnen Ihr eigenes Gedächtniß auf die Spur der fraglichen Person helfen.«

»Nein«

»In dem Fall ist es unnütz, weiter nachzuforschen. Irgendwie wurde Ihnen das Opium im Geheimen beigebracht. Lassen Sie uns für’s Erste uns dabei beruhigen und zu Dingen von größerer unmittelbarer Wichtigkeit übergehen. Lesen Sie meine Aufzeichnungen, wenn Sie können. Machen Sie sich mit dem Geschehenen vertraut; ich habe Ihnen in Betreff des zu Geschehenden einen sehr kühnen und verwegenen Vorschlag zu machen.«

Diese letzten Worte brachten mich wieder völlig zur Besinnung.

Ich sah die Aufzeichnungen eine nach der andern, wie sie mir Ezra Jennings in die Hand gegeben hatte, durch. Das Blatt, welches die abgebrochenen Sätze und Worte enthielt, lag oben auf. Dieselben lauteten wie folgt:

—— Herr Franklin Blake —— und angenehmer —— Eins darauf —— Medicin —— bekennt —— Schlaflosigkeit —— sage ihm —— Unordnung —— Medicin —— Er sagt —— Dunkeln tappen dasselbe —— ganzen Mittagsgesellschaft —— Ich sagte —— tappen nach Schlaf —— nichts als, Medicin —— Er sagt —— einen Blinden führt —— weiß ich, was damit gemeint ist —— witzig —— gegen seinen eigenen Willen —— ruhige Nacht —— braucht wirklich Schlaf —— Lady Verinder’s Medicinkasten —— ohne sein Wissen —— fünfundzwanzig Tropfen Opium —— morgen früh —— Nun, Herr Blake —— heute —— Medicin —— Ohne das —— keinen —— Herr Candy —— ohne Medicin —— vortreffliche —— Wahrheit sagen —— etwas anderes —— vortrefflichen —— Dosis Opium —— lieber Herr —— Bett —— Was —— jetzt —— ärztlichen Kunst.

Das war der ganze Inhalt des ersten Bogens. Ich gab denselben Ezra Jennings zurück.

»Das ist es, was Sie an seinem Krankenlager gehört?« sagte ich.

»Buchstäblich sind genau« antwortete er, »nur daß ich die Wiederholungen, wie ste sich in meinen stenographischen Auszeichnungen finden, nicht mit übertragen habe. Gewisse Worte und Sätze wiederholte er wohl zehn, zwanzig, fünfzig Mal, je nachdem er auf die Ideen, die ihm dabei vorschwebten, größeres oder geringeres Gewicht legte. So aufgefaßt, waren mir die Wiederholungen bei der Zusammensetzung der Bruchstücke von Nutzen. Denken Sie nicht,« fügte er hinzu, indem er auf das zweite Blatt Papier hinwies, »daß ich mir einbilde, die Ausdrücke wieder gegeben zu haben, deren Herr Candy sich selbst bedient haben würde, wenn er im Stande gewesen wäre, zusammenhängend zu reden. Ich behaupte nur, daß es mir gelungen ist, das Hinderniß der unzusammenhängenden Ausdrucksweise zu überwinden und zu dem zusammenhängenden Sinn der derselben zu Grunde lag, vorzudringen. Urtheilen Sie selbst.«

Ich nahm das zweite Blatt Papier in die Hand, von dem ich jetzt wußte, daß es den Schlüssel zu dem ersten enthalte.

Abermals waren hier die irren Reden des Herrn Candy mit schwarzer Tinte wortgetreu wiedergegeben, während die Zwischenräume zwischen den abgebrochenen Sätzen von Ezra Jennings mit rother Tinte ausgefüllt waren. Ich gebe das Resultat hier in einer Gestalt wieder, da ja die ursprünglichen Ausdrücke und die zu ihrer Erklärung hinzugefügten Worte in diesen Blättern nahe genug bei einander stehen um leicht verglichen und verificirt werden zu können.

» —— Herr Franklin Blake ist ein gescheidter und angenehmer Mann, aber er muß Eins darauf haben, wenn er von Medicin spricht. Er bekennt, daß er an Schlaflosigkeit gelitten hat. Ich sage ihm, daß seine Nerven in Unordnung sind und daß er Medicin nehmen müßte. Er sagt mir, daß Medicin nehmen und im Dunkeln tappen dasselbe sei, und das vor der ganzen Mittagsgesellschaft. Ich sagte ihm, Sie tappen nach Schlaf und nichts als Medicin kann Ihnen dazu verhelfen, denselben zu finden. Er sagt mir, ich habe sagen gehört, daß ein Blinder einen Blinden führt und jetzt weiß ich, was damit gemeint ist. Das ist ganz witzig, aber ich kann ihm doch gegen seinen eigenen Willen eine ruhige Nacht verschaffen; er braucht wirklich Schlaf und Lady Verinder’s Medicinkasten steht zu meiner Verfügung. Ihm ohne sein Wissen heute Abend fünfundzwanzig Tropfen Opium eingeben und ihn dann morgen früh besuchen. »Nun, Herr Blake, haben Sie nicht heute Lust, etwas Medicin zu nehmen? Ohne das finden Sie doch keinen Schlaf.« —— »Da irren Sie sich, Herr Candy, ich habe ohne Medicin eine vortreffliche Nacht gehabt« —— Dann ihm die Wahrheit sagen. —— »Sie haben noch etwas anderes außer einer vortrefflichen Nacht gehabt; Sie haben eine Dosis Opium zu sich genommen, lieber Herr, ehe Sie zu Bett gegangen sind. Was sagen Sie jetzt zu der ärztlichen Kunst?«

Meine erste Empfindung, als ich Ezra Jennings die durchgelesenen Blätter wieder überreichte, war natürlich Bewunderung des Scharfsinns, welcher dieses glatte und seine Gewebe aus einem so verwickelten Knäuel von Fäden hergestellt hatte. Bescheiden unterbrach er den anerkennenden Ausdruck meiner Ueberraschung mit der Frage, ob mir die Schlüsse die er aus seinen Aufzeichnungen gezogen habe, gerechtfertigt erschienen.

»Glauben Sie mit mir,« fragte er, »daß Sie Alles, was Sie in der Geburtstags-Nacht in Fräulein Verinders Hause vernahmen, unter dem Einflusse des Opiums thaten?«

»Ich weiß zu wenig von den Wirkungen des Opiums, um darüber ein eigenes Urtheil abgeben zu können,« antwortete ich. »Ich kann mich nur Ihrer Ansicht anschließen und mich überzeugt fühlen, daß Sie Recht haben.«

»Nun wohl. Jetzt aber fragt es sich: Wie sollen wir andern Leuten unsere Ueberzeugung beibringen?«

Ich deutete auf die beiden Bogen Papier, die vor uns auf dem Tische lagen. Ezra Jennings schüttelte den Kopf.

»Diese Aufzeichnungen, wie sie da sind, würden uns gar nichts nützen, Herr Blake, und zwar aus drei unwiderleglichen Gründen. Erstens sind diese Aufzeichnungen unter Umständen gemacht worden, wie die wenigsten Menschen sie erlebt haben. Das würde der erste Einwand gegen sie sein! Zweitens sind die Aufzeichnungen der Ausfluß einer physiologischen und psychologischen Theorie. Das wäre der zweite Einwand. Drittens habe ich diese Aufzeichnungen gemacht —— der etwaigen Behauptung, daß sie rein erfunden seien, würden wir nichts als meine Versicherung entgegen zu setzen haben. Erinnern Sie sich an das, was ich Ihnen auf der Haide erzählt habe und fragen Sie sich selbst, welchen Werth man auf meine Versicherung legen würde. Nein, dem Urtheil der Menge gegenüber haben meine Aufzeichnungen nur einen Werth. Sie zeigen den Weg. auf welchem der Beweis Ihrer Unschuld erbracht werden kann. Wir müssen unsere Ueberzeugung durch einen Beweis erhärten und Sie sind der Mann,

diesen Beweis zu liefern.«

»Wie das?«

In seinem Eifer lehnte er sich, um mir näher zu sein, weit über den Tisch, der zwischen uns stand.

»Sind Sie bereit ein kühnes Experiment zu versuchen?«

»Ich bin bereit Alles zu thun, was dazu dienen kann mich von dem auf mir lastenden Verdacht zu reinigen.«

»Würden Sie Ihre Person auf einige Zeit einiger Unbequemlichkeit unterziehen?«

»Jeder, gleichviel welcher.«

»Wollen Sie sich ganz meiner Leitung anvertrauen? Das Experiment wird Sie vielleicht in den Augen der Thoren lächerlich machen; das Unternehmen wird Ihnen vielleicht Vorstellungen von Freunden zuziehen, deren Ansichten Sie sich zu respectiren verpflichtet fühlen ——«

»Sagen Sie mir was ich zu thun habe,« brach ich ungeduldig aus, »und ich will es thun, entstehe daraus was da wolle.«

»Was Sie thun sollen, Herr Blake, ist Folgendes: Sie sollen in Gegenwart von Zeugen, deren Aussage unanfechtbar sein wird, den Diamanten zum zweiten Mal in bewußtlosem Zustande stehlen.«

Ich sprang auf, ich versuchte zu reden, aber die Zunge versagte mir, ich konnte ihn nur ansehen.

»Ich glaube, die Sache ist ausführbar,« fuhr er fort, »und sie soll ausgeführt werden, wenn Sie mir nur dabei helfen wollen. Suchen Sie sich zu fassen, setzen Sie sich und hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe. Sie haben die Gewohnheit des Rauchens wieder aufgenommen, wie ich mich selbst überzeugt habe. Seit wann rauchen Sie wieder?«

»Seit ungefähr einem Jahre.«

»Rauchen Sie jetzt mehr oder weniger als früher?«

»Mehr.«

»Sind Sie bereit die Gewohnheit wieder aufzugeben, wohlgemerkt, ganz plötzlich, wie Sie es schon einmal gethan haben?«

Ich fing an zu ahnen, worauf er hinauswollte und antwortete: »Ich bin bereit, es auf der Stelle aufzugeben.«

»Wenn Sie,« sagte Ezra Jennings, »wieder dieselben Folgen wie im vorigen Juni verspüren, wenn Sie wieder an schlaflosen Nächten leiden, wie Sie es damals thaten, so werden wir unsern ersten Schritt gethan, wir werden etwas dem Zustand Ihrer Nerven an dem Geburtstags-Abend Aehnliches bei Ihnen hervorgerufen haben.

Wenn wir demnächst die häuslichen Verhältnisse, in welchen Sie sich damals befanden, völlig oder annähernd wieder herstellen und Ihren Geist wieder mit den verschiedenen Fragen in Betreff des Diamanten erfüllen können, so werden wir Sie der Situation, in welcher Sie das Opium im vorigen Jahre nahmen, physisch und moralisch wieder so nahe wie möglich gebracht haben. In diesem Falle dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, daß eine gleiche Dosis Opium zu einem mehr oder weniger entsprechenden Resultat führen wird. Da haben Sie meinen Vorschlag in wenigen eiligen Worten. Jetzt sollen Sie hören, wie ich mich für denselben verantworten kann.«

Er schlug eines der neben ihm liegenden Bücher an einer durch einen schmalen Papierstreifen bezeichneten Stelle auf.

»Fürchten Sie nichts« fuhr er fort, »daß ich Sie mit einer physiologischen Vorlesung ermüden werde, aber ich halte mich in Ihrem wie in meinem eigenen Interesse verpflichtet, Ihnen zu zeigen, daß es nicht meine Autorität allein ist, auf welche hin Sie sich dem fraglichen Experiment unterziehen sollen. Unbestrittene Grundsätze und anerkannte Autoritäten rechtfertigen meine Ansicht. Leihen Sie mir fünf Minuten ein aufmerksames Ohr und ich will es unternehmen Ihnen zu beweisen, daß ich meinen so abenteuerlich klingenden Vorschlag wissenschaftlich begründen kann. Hier sehen Sie erstens das physiologische Princip, auf das hin ich agire, von keinem Geringeren als von Dr. Carpenter aufgestellt. Lesen Sie selbst.«

Er überreichte mir den Papierstreifen, durch welchen die Stelle in dem Buche bezeichnet gewesen war. Derselbe enthielt einige geschriebene Zeilen folgenden Inhalts:

»Es scheint hinlänglicher Grund zu der Annahme vorhanden, daß jeder Eindruck auf das Empfindungsvermögen, der jemals in das Bewußtsein eines Individuums aufgenommen ist, so zu sagen in das Gehirn einregistrirt wird und in einem künftigen Zeitpunkt reproducirt werden kann, wenn auch in der ganzen seit der Aufnahme des Eindrucks verflossenen Zeit kein Bewußtsein desselben vorhanden gewesen ist.«

»Ist Ihnen das klar?« fragte Ezra Jennings.

»Vollkommen.«

Er schob das offene Buch über den Tisch zu mir hinüber und deutete auf eine mit Bleistift unterstrichene Stelle.

»Jetzt,« sagte er, »lesen Sie diesen Bericht über einen Fall, der, wie ich glaube, eine Analogie mit Ihrer eigenen Situation und mit dem Experiment bietet, zu dessen Anstellung ich Sie auffordere. Bemerken Sie, Herr Blake, ehe Sie anfangen, daß ich Sie jetzt an einen der größten englischen Physiologen verweise. Das Buch, das Sie in der Hand halten, ist Dr. Elliotson’s Physiologie des Menschen, und der Fall, welchen der Verfasser citirt, wird durch die Autorität des bekannten Dr. Combe verbürgt.«

Die betreffende Stelle lautete wie folgt:

»Dr.» Abel, sagt Herr Combe, erzählte mir von einem irischen Arbeitsmanne in einem Magazin, der, wenn er nüchtern war, vergaß, was er betrunken gethan hatte, sobald er aber wieder betrunken war sich seiner in seinem früheren Zustande der Trunkenheit vorgenommenen Handlungen wieder erinnerte. Einmal hatte er in der Trunkenheit ein Packet von einigem Werthe verloren und konnte, wieder ernüchtert, Nichts über den Verbleib sagen. Das nächste Mal aber, wo er wieder betrunken war, erinnerte er sich, daß er das Packet in einem bestimmten Hause gelassen habe. Da sich auf demselben keine Adresse befand, so war es dort ruhig liegen geblieben und wurde ihm, als er darnach fragte, wieder eingehändigt.«

»Ist Ihnen das auch klar?« fragte Ezra Jennings,

»So klar wie möglich.«

Er legte den Papierstreifen wieder an seinen Platz und schloß das Buch.

»Haben Sie sich überzeugt, daß ich nicht ohne den Rückhalt guter Autoritäten gesprochen habe?« fragte er. »Ich kann Ihnen auch noch eine Fülle von anderen Autoritäten für meine Behauptungen vorführen.«

»Ich bin durch Ihre Ausführungen und Belege schon vollkommen überzeugt« erwiderte ich.

»Nun, so können wir auf Ihr persönliches Interesse an dieser Angelegenheit zurückkommen Es ist meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß sich sowohl gegen als für das Experiment etwas sagen läßt. Wenn wir in Ihrem Fall die Umstände, wie sie im vorigen Jahre vorhanden waren, ganz genau wieder herstellen könnten, so würden wir, das steht physiologisch fest, zu genau demselben Resultat gelangen.

Aber das ist, wie sich nicht leugnen läßt, völlig unmöglich. Wir können nur hoffen, jenen Umständen nahe zu kommen und wenn es uns nicht gelingt, Sie in einen dem früheren hinreichend ähnlichen Zustand zu versetzen, so wird unser Wagniß fehlschlagen Wenn es uns aber gelingt, —— und ich für meine Person hege diese Hoffnung, —— so werden Sie doch mindestens das, was Sie in der Geburtstagsnacht vorgenommen haben, genau genug wiederholen, um jeden vernünftigen Menschen zu überzeugen, daß Sie an dem Diebstahl des Diamanten moralisch unschuldig sind. Ich glaube, Herr Blake, ich habe Ihnen jetzt innerhalb der Grenzen, die ich mir selbst gezogen habe, beide Seiten der Fragen so offen wie möglich dargelegt. Wenn Ihnen noch irgend etwas unklar geblieben ist, so sagen Sie es mir, und ich will Sie, so weit es mir möglich ist, darüber aufklären.«

»Alles was Sie mir erklärt haben,« sagte ich, »verstehe ich vollkommen. Aber ich muß bekennen, daß mich ein Punkt, den Sie mir noch nicht klar gemacht haben, beunruhigt.«

»Und der wäre?«

»Ich begreife die Wirkung des Opiums auf mich nicht. Ich begreife nicht, warum ich die Treppe hinunter durch lange Corridore gegangen bin, die Schubladen eines Schränkchens geöffnet und geschlossen habe und wieder nach meinem Zimmer zurückgegangen bin. Das sind Alles thätige Vornahmen; bis jetzt habe ich geglaubt, daß die Wirkung des Opiums nur darin besteht, erst zu betäuben und dann einzuschläfern.«

»Der gewöhnliche Irrthum in Betreff des Opiums, Herr Blake! Ich selbst, wie ich hier vor Ihnen stehe und nach meinen Kräften in Ihrem Interesse thätig bin, wirke unter dem Einfluß einer mehr als zehn Mal größeren Dosis Opium als die war, welche Herr Candy Ihnen verabreichte. Aber Sie sollen sich selbst in einer Frage, in der ich mich auf meine eigene Erfahrung berufen kann, nicht auf meine Autorität verlassen. Ich habe den Einwand, den Sie mir eben gemacht haben, vorausgesehen, und ich habe mich abermals mit einem unanfechtbaren Zeugniß versehen, das sowohl in Ihren Augen, als in denen Ihrer Freunde für sich selbst reden wird.«

Er überreichte mir das zweite von den beiden Büchern, die er vor sich auf dem Tisch liegen hatte.

»Hier,« sagte er, »sind die weltberühmten Bekenntnisse eines englischen Opiumessers. Nehmen Sie das Buch mit sich nach Hause und lesen Sie es. An der Stelle, die ich für Sie angestrichen habe, werden Sie finden, daß, wenn de Quincey sich einem ausschweifenden Genuß des Opiums ergeben hatte, er entweder in die Oper auf die Gallerie ging, um sich an der Musik zu erfreuen, oder am Sonnabend Abend die Londoner Märkte durchschlenderte und sich an all den kleinen Einkäufen der Armen für ihre Sonntagsmahlzeit ergötzte. So viel über die Fähigkeit des Menschem sich unter dem Einfluß des Opiums thätig zu beschäftigen und von der Stelle zu bewegen.«

»Ueber diesen Punkt,« sagte ich, »bin ich jetzt allerdings aufgeklärt, aber in Betreff der Wirkung des Opiums auch mich selbst genügt mir die Antwort noch nicht.«

»Auch darauf will ich Ihnen in wenigen Worten zu antworten versuchen,« sagte Ezra Jennings. »In der Mehrzahl der Fälle begreift die Wirkung des Opiums zwei Einflüsse in sich, zuerst einen stimulirenden und dann einen besänftigenden. Unter dem stimulirenden Einfluß werden die neuesten und lebhaftesten von Ihrem Geist aufgenommenen Eindrücke, nämlich die Eindrücke in Betreff des Diamanten, bei der krankhaften Reizbarkeit Ihrer Nerven in Ihrem Gehirn wahrscheinlich eine derartige Intensität erlangt haben, daß sie Ihr Urtheil und Ihren Willen beherrschtem ganz wie schon ein gewöhnlicher Traum unser Urtheil und unsern Willen beherrscht. Unter diesem Einfluß werden sich nach und nach die Besorgnisse in Betreff der Sicherheit des Diamanten, welche Sie vielleicht im Laufe des Tages beschäftigt hatten, aus Zweifeln zu voller Gewißheit gesteigert haben. Und diese Gewißheit wird Sie zu einem thätigen Handeln zur Sicherung des Diamanten angestachelt und Sie dazu bestimmt haben, mit diesem Zweck im Auge Ihre Schritte nach dem fraglichen Zimmer zu lenken und Ihre Hand nach dem Schubladen auszustrecken, bis Sie die Schublade gefunden hatten, welche den Edelstein enthielt. Das Alles werden Sie in Ihrem geistigen Opiumrausch gethan haben. Später, als die beruhigende Wirkung über die stimulirende die Oberhand zu gewinnen anfing, werden »Sie allmälig von einer betäubenden Trägheit ergriffen worden, noch später werden Sie in einen tiefen Schlaf verfallen sein und mußten dann am nächsten Morgen, nachdem der Schlaf die ganze Wirkung des Opiums absorbiert hatte, sich dessen, was Sie während der Nacht gethan, so vollkommen unbewußt erwachen, als ob Sie die ganze Nacht hindurch ruhig in Ihrem Bette geschlafen hätten. Habe ich mich Ihnen bis jetzt einigermaßen deutlich gemacht?«

»So deutlich« sagte ich, »daß ich nur wünschte, Sie gingen noch einen Schritt weiter. Sie haben mir klar gezeigt, wie ich dazu kam, das Zimmer zu betreten und den Diamanten fortzunehmen. Aber Fräulein Verinder hat gesehen, wie ich das Zimmer mit dem Diamanten in der Hand wieder verließ. Haben Sie eine Vermuthung über das, was ich nach dem Verlassen des Zimmers that?«

»Auf diesen Punkt wollte ich eben kommen,« erwiderte er, »ich halte es für möglich, das Experiment, welches ich als ein Mittel zum Beweise Ihrer Unschuld proponire, auch zur Wiederauffindung des verlorenen Diamanten zu benutzen. Als Sie Fräulein Verinder’s Wohnzimmer mit dem Juwel in der Hand verließen, kehrten Sie, aller Wahrscheinlichkeit nach, auf Ihr eigenes Zimmer zurück ——«

»Ja, und was weiter?«

»Es ist möglich, Herr Blake, —— ich wage nicht mehr zu sagen ——, daß Ihr Gedanke, den Diamanten sicher aufzubewahren, Sie in natürlicher Folge auf den weiteren Gedanken brachte, den Diamanten zu verstecken, und daß Ihr Schlafzimmer der Ort des Verstecks war. Hier könnte sich also bei Ihnen der Fall des irischen Arbeitsmannes wiederholen. Vielleicht werden Sie sich unter dem Einfluß der zweiten Dosis Opium des Platzes erinnern, an welchem Sie unter dem Einfluß der ersten Dosis den Diamanten versteckten.«

Jetzt war die Reihe an mir, Ezra Jennings aufzuklären Ich unterbrach ihn mit den Worten:

»Das Ergebniß, welches Sie als eine Eventualität in’s Auge fassen, ist unmöglich. Der Diamant befindet sich in diesem Augenblick in London.«

Er sprang auf und sah mich sehr überrascht an.

»In London?« wiederholte er, »wie kam er aus Lady Verinder’s Hause nach London?«

»Das weiß kein Mensch.«

»Sie haben ihn in Ihrer eigenen Hand aus Fräulein Verinder’s Zimmer getragen. Wie kam er aus Ihrem Gewahrsam?«

»Darüber habe ich durchaus keine Vermuthung.«

»Sahen Sie den Edelstein noch, als Sie am Morgen erwachten?«

»Nein«

»Ist Fräulein Verinder wieder in den Besitz desselben gelangt?«

»Nein«

»Herr Blake! Hier scheint noch etwas der Aufklärung zu bedürfen. Darf ich fragen, woher Sie wissen, daß der Diamant diesen Augenblick in London ist?«

Genau dieselbe Frage hatte ich bei meinem ersten Besuch nach meiner Rückkehr nach England an Herrn Bruff gerichtet. Ich beantwortete also Ezra Jennings Frage mit dem, was mir der Advocat selbst mitgetheilt hatte und was den Lesern dieser Blätter bereits bekannt ist.

Er zeigte deutlich, daß ihn meine Antwort nicht befriedigte.

»Mit aller Achtung vor Ihnen und Ihrem Rechtsbeistand,« sagte er, »Halte ich meine eben ausgesprochene Ansicht aufrecht. Dieselbe beruht, wie ich sehr wohl weiß, auf einer reinen Annahme; aber erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, daß auch Ihre Ansicht auf einer reinen Annahme beruht.«

Seine Auffassung der Sache war mir vollkommen neu. Ich erwartete mit ängstlicher Spannung, wie er dieselbe rechtfertigen würde.

»Ich habe angenommen,« fuhr Ezra Jennings fort, »daß das Opium, nachdem es für Sie der Antrieb gewesen, sich zum Zweck der sicheren Aufbewahrung in den Besitz des Diamanten zusetzen, auch der Antrieb für Sie gewesen sein könne, den Stein irgendwo in Ihrem Zimmer zu verstecken. Sie nehmen an, daß die indischen Verschwörer sich nicht irren können. Die Indier suchten den Diamanten in Herrn Luker’s Hause, —— also, folgern Sie, muß der Diamant in Herrn Luker’s Besitz sein! Haben Sie irgend einen Beweis dafür, daß der Mondstein überall nach London gebracht worden ist? Sie haben nicht einmal eine Vermuthung darüber, wie oder durch wen derselbe aus Lady Verinder’s Hause kam! Haben Sie irgend einen Beweis dafür, daß der Edelstein an Herrn Luker verpfändet wurde? Er erklärt, nie von dem Mondstein gehört zu haben, und der Empfangschein seines Bankiers bescheinigt nichts als die Deposition eines kostbaren Werthgegenstandes. Die Indier nehmen an, daß Herr Luker lügt —— und Sie nehmen wieder an, daß die Indier Recht haben. Alles was ich zur Vertheidigung meiner Annahme sage, ist: Sie ist möglich. Was können Sie logisch oder juristisch mehr von der Ihrigen sagen?«

Diese Behauptung war stark, aber unleugbar wahr.

»Ich gestehe, daß Sie mich stutzig machen,« erwiderte ich. »Haben Sie etwas dagegen, daß ich Herrn Bruff Ihre Ansicht mittheile?«

»Im Gegentheil, es ist mir lieb, wenn Sie Herrn Bruff schreiben. Vielleicht hilft uns seine Erfahrung dazu, die Angelegenheit in einem neuen Lichte zu betrachten. Jetzt lassen Sie uns auf unser Experiment mit dem Opium zurückkommen. Wir sind übereingekommen, daß Sie sich des Rauchens von diesem Augenblicke an wieder enthalten?«

»Von diesem Augenblick an.«

»Das ist unser erster Schritt. Der nächste muß darin bestehen, die häuslichen Verhältnisse in denen Sie sich im vorigen Jahre befanden, so genau wie möglich wieder herzustellen.«

Wie war das möglich? Lady Verinder war todt. Rachel und ich waren, so lange der Verdacht des Diebstahls auf mir lastete, unwiderruflich geschieden. Godfrey Ablewhite war aus dem Continent. Es war ganz unmöglich, die Personen, welche das Haus, als ich zum letzten Mal darin geschlafen hatte, bewohnten, wieder darin zu versammeln. Aber dieser Einwand schien Ezra Jennings nicht in Verlegenheit zu setzen. Er lege, sagte er, sehr geringen Werth darauf, dieselben Personen wieder zu versammeln, da es doch ein vergebliches Bemühen sein würde, sie in dieselbe Lage zu versetzen, in der sie sich im vorigen Jahre mir gegenüber befunden hatten. Andererseits hielt er es für wichtig für den Erfolg des Experiments, daß ich dieselben Gegenstände um mich her sehe, welche mich bei meiner letzten Anwesenheit im Hause umgeben hatten.

»Vor Allem,« sagte er, »müssen Sie in demselben Zimmer schlafen, in welchem Sie in der Geburtstagsnacht schliefen und muß es ebenso möblirt sein, wie damals. Auch die Treppen, die Corridors und Fräulein Verinder’s Wohnzimmer müssen ganz so wieder hergestellt werden, wie Sie sie zuletzt gesehen haben. Es ist durchaus unerläßlich, Herr Blake, jedes aus diesen Localitäten etwa entfernte Möbel wieder an seinen früheren Platz zu stellen. Das Rauchopfer, welches Sie zu bringen bereit sind, würde unnütz sein, wenn wir nicht Fräulein Verinder’s Erlaubniß zu der gedachten Wiederherstellung der Räumlichkeiten erwirken können.«

»Wer soll sie um diese Erlaubniß bitten?« fragte ich. »Können Sie das nicht thun?«

»Ganz unmöglich. Nach dem was in Veranlassung des Verlustes des Diamanten zwischen uns vorgefallen ist, kann ich sie unter den gegenwärtigen Umständen weder sehen, noch ihr schreiben.« Ezra Jennings schwieg einen Augenblick nachdenklich.

»Darf ich ich mir eine delicate Frage erlauben? sagte er.

Ich forderte ihn durch ein Zeichen auf, fortzufahren.

»Irre ich mich nicht, Herr Blake, wenn ich aus einer und der anderen Ihnen entfahrenen Aeußerung schließen zu dürfen glaube, daß Sie vordem ein nicht gewöhnliches Interesse an Fräulein Verinder genommen haben?«

»Vollkommen richtig«

»Wurde dieses Interesse erwidert?«

»Allerdings!«

»Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Fräulein Verinder sich für den Versuch, Ihre Unschuld zu erweisen, lebhaft interessiren werde?«

»Davon bin ich überzeugt.«

»In diesem Falle will ich, wenn Sie es mir erlauben wollen, an Fräulein Verinder schreiben.«

»Und ihr den Vorschlag mittheilen, den Sie mir gemacht haben?«

»Ihr Alles mittheilen, was heute zwischen uns vorgegangen ist.«

Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich sein Anerbieten bereitwilligst annahm.

»Ich habe noch Zeit, mit der heutigen Post zu schreiben,« sagte er, nach der Uhr sehend. »Vergessen Sie nicht, Ihre Cigarren zu verschließen, wenn Sie in Ihr Hotel zurückkehren! Ich werde Sie morgen Vormittag besuchen, um von Ihnen zu hören, wie Sie die Nacht verbracht haben.«

Ich schickte mich an, fortzugehen, und versuchte es, ihm Dank für seine Güte, den ich wirklich empfand, auszudrücken.

Er drückte mir sanft die Hand.

»Erinnern Sie sich dessen, was ich Ihnen auf der Haide gesagt habe,« antwortete er. »Wenn ich Ihnen diesen kleinen Dienst leisten kann, Herr Blake, so wird das für mich wie ein letzter Sonnenstrahl am Abend eines langen trüben Tages sein.«

Ich ging. Es war der 15. Juni. Die Ereignisse der nächsten zehn Tage —— die alle mehr oder weniger direct mit dem Experiment zusammenhingen, dessen passiver Gegenstand ich war —— sind alle in dem von Herrn Candy’s Assistenten regelmäßig geführten Tagebuche genau verzeichnet In diesen Aufzeichnungen ist nichts verheimlicht und nichts vergessen. Hören wir von Ezra Jennings, wie das Wagniß mit dem Opium versucht ward und wie es verlief.



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