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Namenlos



Zweites Capitel.

Das warme Sonnenlicht des Juli sanft durch einen grünen Fenstervorhang scheinend,.. ein offenes Fenster mit frischen Blumen, die auf dem Gesims standen,.. ein fremdes Bett in einem fremden Zimmer,.. eine riesige Gestalt weiblichen Geschlechts, wie ein Traumgebilde von Mrs. Wragge aufragend an der einen Seite des Bettes und versuchend, in die Hände zu schlagen,.. eine andere Frau —— eine Fremde —— diese Hände festhaltend, ehe sie Geräusch machen konnten,.. eine milde klagende Stimme —— wieder wie ein Traum von Mrs. Wragge, die das Schweigen mit folgenden Worten brach...

—— Sie kennt mich, werthe Frau, sie kennt mich, wenn ich mich nicht freuen kann, so wird es mein Tod sein!

Das waren die ersten Seufzer, die ersten Töne, für welche nach sechs Wochen der Bewußtlosigkeit Magdalene plötzlich und wunderbar erwachte.

Nach einem Weilchen wurden die sichtbaren Dinge wieder düsterer, und die Töne sanken in Schweigen. Schlaf, der barmherzige Bruder, Umfaßte sie und lullte sie ein zur Ruhe.

Einen Tag weiter, und schon waren die Erscheinungen deutlicher, die Töne lauter. Noch einen weiter, und sie hörte eine Männerstimme durch die Thür herein fragen nach Kunde von dem Krankenzimmer. Die Stimme war ihr fremd, sie war immer noch aus Vorsicht leise und von demselben ruhigen Tone. Sie frug nach ihr am Morgen, wenn sie erwachte, am Mittag, wenn sie Speise zu sich nahm, des Abends, ehe sie sich wieder zur Ruhe zurecht legte.

—— Wer ist so besorgt um mich?

Das war der erste Gedanke, den ihr Geist stark genug war zu fassen.

—— Wer ist so besorgt um mich? ——

Noch wenige Tage weiterhin, und sie konnte mit der Wärterin an ihrem Bette reden, sie konnte auf die Fragen eines ältlichen Herrn antworten, der weit mehr von ihr wußte, als sie selbst von sich wußte, und welcher ihr sagte, daß es Mr. Merrick, der Arzt sei. Sie konnte, gestützt von Kissen, im Bette aufsitzen, sich darüber wundernd, was mit ihr geschehen war und wo sie war. Sie konnte eine wachsende Neugier empfinden ob jener ruhigen Stimme, welche von draußen durch die Thür herein immer nach ihr fragte, Morgens, Mittags und Abends.

Noch einen Tag Aufschub, und Mr. Merrick frug sie, ob sie stark genug sei, eine alte Freundin zu sehen. Eine demüthige Stimme, welche sich von hoch oben herab vernehmen ließ, sagte:

—— Ich bins nur.

Der Stimme folgte die fabelhafte leibliche Erscheinung von Mrs. Wragge mit ganz verschobener Haube und nur einem Schuh (der andere befand sich im nächsten Zimmer).

—— Ach, seht her, seht her! schrie Mrs. Wragge in voller Ausgelassenheit und sank mit einem Krach, der das Haus erschütterte, an Magdalenens Bette aus die Kniee. Gott stärke sie, sie ist wahrlich schon wohlauf genug, um über mich zu lachen. »Hurrah, Jungens, Hurrah....« Ich bitte Sie um Entschuldigung, Doctor, mein Benehmen ist nicht fein, ich weiß es wohl. Es ist mein Kopf, Sir; ich bin’s nicht. Ich muß mir irgendwie Luft machen, sonst würde mir der Kopf bersten...

Kein zusammenhängender Satz,um auf irgend eine Frage zu antworten, konnte aus Mrs. Wragge den Morgen herausgebracht werden. Sie erhob sich von einem Gipfel der Sprachverwirrung auf den andern und endigte ihren Besuch unter dem Bette, indem sie blindlings nach ihrem zweiten Schuh herumsuchte.

Der Morgen kam, und Mr. Merrick versprach, daß sie den Tag darauf auch einen alten Freund sehen sollte. Am Abend, als die fragende Stimme sich nach ihr wie gewöhnlich erkundigte und die Thür ein paar Zoll weit geöffnet wurde, um die Antwort zu geben, antwortete sie mit schwacher Stimme selbst für sich:

—— Ich befinde mich besser, ich danke Ihnen.

Es trat eine augenblickliche Stille ein, und dann gerade, als die Thür wieder geschlossen wurde, sank jene Stimme zu einem Flüstern herab und sagte feurig:

—— Gott sei Dank!

Wer war er? Sie hatte Alle gefragt, und Niemand wollte es ihr sagen. Wer war er nur?...

Der nächste Tag kam, und sie hörte ihre Thür leise öffnen. Rasche Schritte trippelten ins Zimmer, eine kleine flinke Gestalt näherte sich dem Bette. War es wieder ein Traum? Nein! Da war er mit seiner immergrünen Wirklichkeit, mit dem weich von den Lippen strömenden Redeflusse, mit dem zuckenden Zuge von Humor, der in seinen verschiedenfarbenen Augen flackerte, da war er, kecker, aufschwatzender, anständiger, als je, in einem Anzuge von glänzendem Schwarz mit fleckenloser weißer Binde und einer fröhlich hervorsprossenden Krause, der nie erröthende, der unverwüstliche, der unveränderliche Wragge!

—— Kein Wort, mein liebes Kind! sagte der Hauptmann und setzte sich in seiner alten vertraulichen Art bequem an ihrem Bette zurecht. Ich werde das Sprechen allein übernehmen, und ich denke, daß eine für diesen Zweck geeignetere Person unmöglich aufzufinden sein dürfte. Ich bin wirklich erfreut, aufrichtig erfreut, wenn ich ein so augenscheinlich hier unabwendbares Wort gebrauchen darf, Dich wiederzusehen und zu sehen, wie es Dir besser geht. Ich habe oft an Dich gedacht, ich habe Dich oft vermißt, ich habe oft zu mir selbst gesagt... doch gleichviel, was ich gesagt habe... Man mache die Bühne frei und lasse den Vorhang fallen über die Vergangenheit. Dum vivimus, vivamus! [So lange wir das Leben haben, laßt es uns genießen.] Verzeih den Zopf einer lateinischen Redewendung, mein Kind und sage mir, wie ich aussehe? Bin ich oder bin ich nicht das Bild eines wohlhabenden Mannes?

Magdalene versuchte ihm zu antworten. Die Wortsindfluth des Hauptmanns kam aber augenblicklich wieder hereingestürzt.

—— Strenge Dich nicht selber an, sagte er. Ich will alle Deine Fragen an Deiner Statt stellen. —— Wo ich gesteckt habe? —— Warum ich so merkwürdig wohl aussehe? Und wie in aller Welt ich meinen Weg zu diesem Hause gefunden habe? —— Liebes Kind, ich bin, seitdem wir uns zuletzt gesehen, damit beschäftigt gewesen, meine alten Berufsgewohnheiten allmählich zu ändern. Ich bin von der moralischen Bewirthschaftung zur medicinischen Bewirthschaftung übergegangen. Früher machte ich meine Rechnung auf das Mitgefühl des Publikums, jetzt mache ich sie auf den Magen des Publikums. Magen und Mitgefühl, Mitgefühl und Magen —— sieh Beiden fest ins Gesicht, wenn Du über die Fünfzig hinaus bist, und Du wirst zugeben, daß sie beinahe auf Eins hinauskommen. Wie dem auch sein mag, hier stehe ich, so unglaublich es auch scheinen mag, endlich als ein vermögender Mann. Die Gründer meines Vermögens sind drei an der Zahl. Ihre Namen sind: Aloe,, Scammonium (Windenharz) und Gummigutti. Mit einem Worte, ich lebe von einer Pillensorte. Ich legte mir, wie Du Dich erinnerst, durch meine Geschäftsbeziehungen zu Dir einiges Geld zurück. Ich legte noch Etwas dazu in Folge des glücklichen Ablebens — requiescat in peace! [ Friede ihrer Seele!] —— der Verwandten von Mrs. Wragge, von welcher, wie ich Dir früher erzählte, meine Frau einmal Etwas zu erwarten hatte. Sehr gut. Was denkst Du nun wohl, das ich that? Ich Verwandte mein ganzes Capital mit einem kühnen Wurfe zu Ankündigungen und kaufte meine Spezereien und meine Pillenschachteln auf Borg. Der Erfolg liegt jetzt vor Deinen Augen. Hier stehe ich, eine große finanzielle Thatsache. Hier stehe ich in Kleidern, die wirklich bezahlt sind, mit einem Guthaben im Buche des Banquiers, mit meinem Diener in Livree und meinem Gig vor der Thür, zahlungsfähig, Glück machend, beliebt —— und alles Das Dank einer gewissen Pille.

Magdalene lächelte. Das Gesicht des Hauptmanns nahm einen Ausdruck von schalkhaftem Ernst an, er fah aus, als gäbe es auch eine ernste Seite der Frage und als wollte er dieselbe zunächst hervorheben.

—— Es gibt hier nichts zu lachen für das Publikum, mein Kind, sagte er. Die Leute können meiner und meiner Pillen nicht entrathen, sie müssen uns nehmen. Es gibt keine einzige Form in der ganzen Mannigfaltigkeit der Ankündigungem die ein Mensch erlassen kann, die ich nicht in diesem Augenblick dem unglücklichen Publikum gegenüber anwendete. Leih Dir die letzte neue Novelle, und siehe, ich bin bereits darinnen auf dem Umschlage des Buches. Laß Dir das letzte neue Musikstück holen: in dem Augenblicke, wo Du die Blätter aufschlägst, falle ich daraus Dir entgegen. Nimm einen Cab: ich fliege roth zum Fenster herein. Kaufe eine Büchse Zahnpulver im Kräutergewölbe, ich springe Dir auf der Verpackung blau in die Augen. Zeige Dich im Theater, ich flattere gelb auf Dich hernieder. Die bloßen Titel meiner Anzeigen sind ganz unwiderstehlich. Laß mich nur einige ans der Ausgabe von letzter Woche anführen:

Titel mit Sprichwort:
Eine Pille zu rechter Zeit
schützet oft vor Schmerz und Leid.


Gemüthlicher Titel:
Entschuldigen Sie. wie stehts mit Ihrem Magen?

Patriotischer Titel:
Welches sind die drei Merkmale einen wahren Engländers?
—— sein Herd. seine Heimath und seine —— Pille.


Titel in Gestalt eines Kindergesprächs:
—— Mamma, mir ist nicht wohl.
—— Was fehlt Dir, mein Püppchen?
—— Ich mochte eine kleine Pille.


Titel in Gestalt einer geschichtlichen Anekdote:
Neue Entdeckung in den Quellen der englischen
Geschichte. Als die Prinzen [d. h. die Söhne Eduards.] im Tower erstickt wurden, sammelte ihr treuer Diener alle von ihnen hinterlassenen kleinen Besitzstücke. Unter diesen rührenden Kleinigkeiten, die den armen Kindern theuer waren, fand er eine zinnerene Büchse. Sie enthielt die Pille jener Zeit. Ist es erst nöthig zu sagen. wir weit jene Pille unter ihrer modernen Nachfolgerin stund. welche Prinz und Bauer. einer so gut als der Andere, erhalten kann?


Und so weiter und so weiter.

—— Der Ort, wo meine Pille gemacht wird, ist an sich eine Ankündigung. Ich habe einen von den größten Läden in London inne. Hinter einem Ladentische, welcher für das Publikum durch schimmernde Wände von Tafelglas sichtbar ist, stehen vierundzwanzig junge Leute mit weißen Schürzen, welche die Pille anfertigen. Hinter einem andern Tische sind vierundzwanzig junge Leute in weißen Cravatten beschäftigt, die Schachteln zu machen. Im Hintergrunde des Ladens sind drei ältere Comtoiristen thätig, die umfänglichen Geldgeschäfte, welche mit der Pille gemacht werden, in drei ungeheure Bücher einzutragen. Ueber der Thür steht mein Name mit Bildniß und Namenszug, vergrößert in kolossalen Verhältnissen und umgeben von dem Motto des Geschäfts in fließenden Buchstaben:

Nieder mit den Doktoren!

—— Sogar Mrs. Wragge trägt ihr Scherflein zu dieser wunderbaren Unternehmung bei. Sie ist »die berühmte Frau«, welche ich aus unbeschreiblichen Schmerzen von jeder Beschwerde unter der Sonne geheilt habe. Ihr Bildniß ist auf allen Umschlägen gestochen mit folgender Unterschrift darunter:

Ehe diese Kranke die Pille nahm, hätte man sie wie eine Feder wegblasen können. Sehe man sie dafür jetzt an!!!

—— Endlich aber kommt das Beste, mein liebes Kind. Die Pille ist die Ursache, daß ich mich zu diesem Hause gefunden habe. Meine Obliegenheit bei dem bereits erwähnten wunderbaren Unternehmen ist, das Vereinigte Königreich in einem Gig zu durchstreifen und aller Orten Agenturen zu errichten. Während ich nun eine dieser Agenturen gründete, hörte ich von einem gewissen Freunde, der eben erst nach einer langen Seereise in England gelandet war. Ich bekam seine Adresse in London, er wohnte in diesem Hause. Ich besuchte ihn sofort und war betroffen durch die Nachricht von Deiner Krankheit. —— Das ist in kurzen Worten die Geschichte von meiner wirklich bestehenden Verbindung mit britischer Arzneikunde, und so kommt es, daß Du in gegenwärtigem Augenblicke auf diesem leibhaften Stuhle sitzen siehst Deinen wie immer aufrichtig ergebenen Freund und Oheim, Horatio Wragge.

In diesen Worten brachte der Hauptmann seine Darstellung, soweit sie ihn selber anging, zum Abschluß. Er sah immer aufmerksamer auf Magdalene, je näher er dem Schlusse kam. Gab es eine geheime Bedeutung, die sich an seine letzten Worte knüpfte, die nicht gleich offen am Tage lag? Allerdings Sein Besuch im Krankenzimmer hatte einen tieferen Zweck, und diesem Zweck war er nun nahe gekommen.

Als Hauptmann Wragge die Umstände schilderte, unter denen er mit Magdalenens gegenwärtiger Lage bekannt geworden sei, hatte er mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit einen weiten Bogen geschlagen um die äußersten Grenzen der Wahrheit. Der Hauptmann hatte, angereizt durch den Umstand, daß ein öffentlicher Scandal in Verbindung mit Noël Vanstones Verheirathung oder mit seinem Tode, der in den Zeitungen angekündigt worden, ausgeblieben war, sich bei seinen Streifzügen in den östlichen Marken des Landes vor ungefähr vierzehn Tagen nach Aldborough zurück gewagt, um daselbst eine Agentur für den Verkauf seiner wunderthätigen Pille zu errichten. Niemand hatte ihn erkannt außer der Wirthin des Hotels, welche sofort darauf bestand, daß er ins Haus trete und Kirkes Brief an ihren Mann lese. Denselben Abend schon war Hauptmann Wragge in London und schloß sich mit dem Seemann auf dem Zimmer des zweiten Stockes in Aaron’s Straßenhäusern ein.

Die ernste Natur der Lage, die nicht wegzuleugnende Gewißheit, daß Kirke vergeblich sich abmühen werde, Magdalenens Familie ausfindig zu machen, wenn er nicht vorher wußte, wer sie eigentlich war, hatte den Hauptmann entschieden, wenigstens einen Theil der Wahrheit zu enthüllen. Indem er sich weigerte, auf Einzelheiten einzugehen, aus Familienrücksichten welche Magdalene bei ihrer Wiederherstellung nach Gefallen erklären könne, setzte er Kirke durch die Mittheilung in Erstaunen, daß die verlassene Frau, die er gerettet und welche er bis zu dieser Stunde immer nur als Miss Bygrave gekannt hatte, keine andere als die jüngere Tochter von Andreas Vanstone war. Die Entdeckung von Seiten Kirkes, daß er dem Vater mit dem jungen Offizier in Canada genau bekannt gewesen, war natürlich auf die Enthüllung von Magdalenens wahrem Namen gefolgt. Ein vierzehn Tage später, als die Genesung der Kranken dem Arzte die ernste Schwierigkeit bereitete, den Fragen Stand halten zu müssen, welche Magdalene sicherlich an ihn richten würde, war wie gewöhnlich der Scharfsinn des Hauptmanns auf ein Auskunfsmittel verfallen.

—— Die Wahrheit können Sie ihr nicht sagen, sprach er, ohne schmerzliche Erinnerungen an ihren Aldborougher Aufenthalt zu erwecken, auf die ich nicht näher eingehen darf. Geben Sie gerade jetzt noch nicht zu, daß Mr. Kirke sie nur als Miss Bygrave von Nordsteinvilla kannte, als er sie in diesem Hause fand. Erzählen Sie ihr dreist, daß er gewußt habe, wer sie sei und daß er das Gefühl hatte —— das er haben mußte —— als ob er ein angestammtes Recht darauf habe, ihr Beistand zu leisten, so wahr er seines Vaters Sohn sei.

—— Ich selber bin, wie ich Ihnen bereits mitgetheilt, fuhr der Hauptmann an seiner alten Behauptung wirklicher Blutsverwandtschaft festhaltend fort, ein weitläuftiger Verwandter der Combe-Ravener Familie, und falls niemand Anderes zur Hand ist, um Ihnen über diese Schwierigkeit hinweg zu helfen, so stehe ich Ihnen mit Vergnügen zu Diensten.

Es war allerdings niemand Anderes zur Hand, und der Fall war dringend. Wenn fremde Personen die Verantwortung über sich genommen hätten, so hätten sie unwissentlich die Wunden früherer Erinnerungen wieder aufreißen können, deren Erneuerung vielleicht ihr Tod gewesen wäre. Nähere Verwandte konnten, falls sie zu früh am Bette erschienen, denselben beklagenswerthen Erfolg haben. Die Wahl lag so: es galt entweder, sie durch Unbeantwortet lassen ihrer Fragen zu reizen und zu beunruhigen, oder sich dem Hauptmann Wragge zu vertrauen. Nach der Ansicht des letzteren war das zweite Uebel das kleinere. Darum saß jetzt der Hauptmann an dem Bette Magdalenens, indem er den ihm anvertrauten Auftrag ausführte.

Ob sie wohl die Frage that, auf welche leicht und unvermerkt bei ihr hinzuarbeiten Hauptmann Wragges heimliche Absicht bei seinen einleitenden Worten war?

Allerdings Sobald sein Schweigen ihr die Möglichkeit gab, zu Worte zu kommen, that sie die Frage.

—— Wer war derjenige Ihrer Freunde, der mit im Hause wohnte?

—— Du solltest ihn eigentlich eben so gut als ich kennen, sprach der Hauptmann. Er ist der Sohn von einem Kriegskameraden Deines seligen Vaters von Canada aus, als derselbe mit seinem Regiment in Amerika stand. Deine Wangen brauchen nicht roth zu werden. Wenn sie es doch werden, gehe ich fort.

Sie war überrascht, aber nicht aufgeregt. Hauptmann Wragge hatte damit angefangen, sie für eine ferne Vergangenheit zu interessieren, die sie nur vom Hörensagen kannte, ehe er sich auf das heikle Gebiet ihrer eigenen Lebenserinnerungen wagte.

Einen Augenblick später ging sie zu ihrer nächsten Frage über:

—— Wie war sein Name?

—— Kirke, fuhr der Hauptmann fort. Hörtest Du nie von seinem Vater, Major Kirke, Commandant des Regiments in Canada? —— Hörtest Du nie davon, daß dieser Major Deinem Vater aus einer großen Verlegenheit half, wie nur der beste Kamerad und Freund es thun kann?

Ja. Sie hatte eine dunkle Erinnerung, daß sie Etwas über ihren Vater und einen Offizier gehört hatte, welcher sehr gut gegen ihn gehandelt habe, als er noch ein junger Mann war. Aber sie konnte nicht so lange rückwärts in die Vergangenheit blicken. ——

—— War Mr. Kirke arm?

Selbst Hauptmann Wragges Scharfsinn wurde durch diese Frage in Verlegenheit gesetzt. Er gab auf gut Glück die Antwort:

—— Nein, sagte er, nicht arm.

Ihre nächste Frage zeigte an, was sie gedacht hatte.

—— Wenn Mr. Kirke nicht arm war, wie kam es, daß er in einem solchen Hause wohnte?

—— Sie hat mich in die Falle gelockt, dachte der Hauptmann. Es gibt nur einen Weg, um wieder herauszukommen: ich muß ihr eine zweite Gabe Wahrheit verabreichen.

—— Mr. Kirke entdeckte Dich hier durch einen Zufall, fuhr er laut fort, wie Du krank und nicht eben gut verpflegt warest. Es war Jemand nöthig, der sich Deiner annahm, so lange Du nicht im Stande warst, allein fertig zu werden. Warum nicht Mr. Kirke? Er war der Sohn von Deines Vaters altem Freunde, was beinahe eben soviel heißt, als Dein eigener alter Freund. Wer hatte eher das Recht, nach einem ordentlichen Arzt zu schicken und eine ordentliche Wärterin anzunehmen, —— wenn ich selber nicht zur Stelle war, um Dich mit meiner wunderthätigen Pille zu curiren? —— Gemach, gemach, Du darfst den Schooß meines pikfeinen schwarzen Rockes nicht so geradezu fassen.

Er legte ihre Hand wieder aufs Bett, aber sie ließ sich auf diese Art nicht irre machen. Sie bestand darauf, noch eine Frage zu thun.

Wie kam es, daß Mr. Kirke sie kannte?

Sie selber hatte ihn nie gesehen, hatte in ihrem Leben nicht von ihm gehört.

—— Sehr möglich, sprach der Hauptmann. Ist denn aber das ein Grund, wenn Du ihn nicht gesehen hast; daß er Dich nicht gesehen haben kann.

—— Wann sah er mich?

Hauptmann Wragge verkorkte seine Wahrheitsgaben sofort wieder, ohne einen Augenblick zu zögern.

—— Vor einiger Zeit, mein Kind. Wann? Kann ich Dir nicht genau sagen.

—— Nur ein einzig Mal?

Hauptmann Wragge ersah sofort seine Gelegenheit zu einer neuen Gabe Wahrheit.

—— Ja, sprach er, nur ein Mal.

Sie dachte ein wenig nach. Die nächste Frage enthielt den gleichzeitigen Ausdruck zweier Gedanken und kostete ihr daher einige Anstrengung.

—— Er sah mich nur einmal, sagte sie, und ersah mich vor einiger Zeit. —— Wie kam es, daß er sich meiner gleich erinnerte, als er mich hier fand?

—— Aha! sagte der Hauptmann. Jetzt hast Du den Nagel ans den Kopf getroffen. Du kannst unmöglich mehr erstaunt sein als ich darüber, daß er sich Deiner erinnert hat. Laß Dir einen guten Rath geben, mein Kind. Wenn Du wohl genug bist, um aufzustehen und Mr. Kirke zu empfangen, so sieh zu, wie diese Deine schlaue Frage für seine Ohren klingt, und besteht darauf, daß er Dir selber antwortet.

Indem der Hauptmann sich auf diese gescheite Art aus der Klemme half, machte er sich plötzlich wieder auf die Beine und nahm seinen Hut.

—— Warten Sie noch! bat sie. Ich will Sie fragen...

—— Kein Wort mehr, sagte der Hauptmann. Ich habe Dir für eines ganzen Tag genug zu denken gegeben. Meine Zeit ist um, und mein Gig wartet draußen. Ich bin unterwegs, um die Umgegend wie gewöhnlich zu bereisen. Ich bin unterwegs, um das Feld der Magenbeschwerden des Publikums mit der dreifachen Pflugschaar von Aloe, Scammonium und Gummigutti zu beackern.

Er blieb auf einmal stehen und drehte sich in der Thür um.

—— Beiläufig einen Gruß von meiner unglückseligen Frau. Wenn Du Mrs. Wragge erlauben willst, daß sie wiederkommen und Dich besuchen darf, so verspricht sie, das nächste Mal ihren Schuh nicht wieder zu verlieren. Ich meinestheils glaube ihr nicht. Was sagst Du dazu? Soll sie kommen?

—— Jawohl, wann es ihr beliebt, sagte Magdalene. Wenn ich je wieder wohlauf bin, darf da die gute Mrs. Wragge kommen und bei mir bleiben?

—— Gewiß, mein Kind. Wenn Du Nichts dawider hast, so will ich sie vorläufig mit ein paar tausend Abdrücken ihres eigenen Bildnisses in Roth, Blau und Gelb versehen: Man hätte selbige Kranke wie eine Feder wegblasen können, ehe sie die Pille nahm. —— Schaut sie dafür jetzt an! Sie verzettelt ihr Bildniß gewiß überall umher, wo sie auch ist, und die befriedigendsten Erfolge zu Gunsten der Anzeige müssen unausbleiblich daraus erwachsen. Halte mich nicht für eine Krämerseele, ich verstehe nur die Zeit, in der ich lebe. ——

Er blieb im Hinausgehen noch einmal stehen und wandte sich noch einmal in der Thüre um.

—— Du bist ein ausgezeichnet gutes Kind gewesen, sagte er, und Du verdienst eine Belohnung dafür. Ich will Dir, ehe ich gehe, zu guter Letzt einen Wink geben. —— Hast Du die letzten paar Tage Jemanden vor der Thür nach Dir fragen hören? —— Oh, ich sehe schon, daß Du gehört hast. Ein Wort ins Ohr, mein Kind. Es ist Mr. Kirke.

Er trippelte vom Bette fort, so hastig wie immer Magdalene hörte, wie er sich selber der Wartefrau anzeigte, ehe er die Thür zuschloß.

—— Wenn Sie je darnach gefragt werden, sagte er in vertraulichem Flüstern, mein Name ist Wragge, und die Pille ist zu haben in hübschen Schachteln, Preis dreizehn ein halb Penny, die Stempelsteuer mitgerechnet. Nehmen Sie ein paar Exemplare des Bildes der kranken Frau, die man wie eine Feder hätte wegblasen können, ehe sie die Pille nahm, und die Sie nun einfach ersucht werden jetzt einmal anzuschauen. Vielen Dank. Guten Morgen!

Die Thüre schloß sich, und Magdalene war wieder allein. Sie fühlte sich nicht allein, Hauptmann Wragge hatte ihr einen neuen Stoff zum Denken hinterlassen. Stunden auf Stunden verweilte ihr Geist mit Verwunderung bei Mr. Kirke, bis der Abend kam, und sie durch die halbgeöffnete Thür wieder seine Stimme hörte.

—— Ich danke Ihnen sehr, sagte sie zu ihm, ehe die Wärterin auf seine Fragen antworten konnte, ich danke recht sehr, recht sehr für alle Ihre Güte gegen mich.

—— Sehen Sie zu, daß Sie bald gesund werden, antwortete er freundlich. Sie werden mich übermäßig glücklich machen, wenn Sie sehen, bald gesund zu werden.

Den nächsten Morgen fand Mr. Merrick sie voll Ungeduld, das Bett zu verlassen und sich auf das Sopha im vorderen Zimmer schaffen zu lassen. Der Arzt sagte, er glaube, sie wolle eine Veränderung haben.

—— Ja, versetzte sie, ich will Mr. Kirke sehen.

Der Arzt willigte ein, daß sie den andern Tag fortgeschafft werden solle; aber er verbot ihr bis zum Tage nachher die weitere Aufregung, daß sie etwa Jemanden sähe. Sie versuchte, sich dagegen zu verwahren; aber Mr. Merrick ließ sich nicht abbringen. Sie versuchte, als er fort war, die Wärterin dazu zu bereden, die Wärterin war auch nicht dahin zu bringen.

Am nächsten Tage hüllte man sie in Tücher und schaffte sie auf das Sopha und machte ihr ein kleines Bett darauf zurecht, auf dem Tische nahe dabei waren einige Blumen und eine Nummer von einer illustrierten Zeitung. Sie frug augenblicklich, wer dies hierher gesetzt habe. Die Wärterin, welche einen warnenden Blick vom Arzte nicht bemerkt hatte, sagte, Mr. Kirke habe geglaubt, sie liebe die Blumen, und die Bilder in der Zeitung machen ihr vielleicht Freude. Nach dieser Antwort ließ sich nun ihr Verlangen, Mr. Kirke zu sehen, nicht länger mehr aufhalten. Der Arzt verließ das Zimmer, um ihn zu holen.

Sie sah verlangend nach der Thür. Ihr erster Blick auf ihn, als er hereinkann machte sie innerlich zweifelhaft, ob sie diese hohe Gestalt, dieses offene, sonnverbrannte Gesicht zum ersten Male in ihrem Leben sah. Aber sie war zu schwach und zu aufgeregt, um ihre Erinnerungen bis nach Aldborough zurück zu verfolgen. Sie gab den Versuch auf und sah ihn nur an. Er blieb am Fuße des Sophas stehen und sagte ein paar Worte. Sie bat ihn, näher zu treten, und reichte ihm ihre abgezehrte Hand. Er faßte sie zärtlich in die seinige und setzte sich zu ihr. Sie schwiegen Beide still. Sein Gesicht sprach ihr von dem Kummer und dem Mitgefühl, welches sonst sein Schweigen ihr beinahe verborgen gehalten hätte. Sie hielt noch immer seine Hand jetzt mit Bewußtsein so beharrlich fest, wie an jenem Tage, wo er sie fand. —— Ihre Augen schlossen sich nach einem schwachen Versuche, mit ihm zu sprechen, und die Thränen rollten langsam über ihre eingefallenen weißen Wangen.

Der Arzt gab Kirke ein Zeichen, zu warten und ihr Zeit zu lassen. Sie faßte sich ein wenig und sah ihn an.

—— Wie freundlich sind Sie gegen mich gewesen, murmelte sie. Und wie wenig habe ich es verdient....

—— Still, still! sagte er. Sie wissen nicht, wie glücklich ich darüber war, daß ich Ihnen helfen konnte.

Der Klang seiner Stimme schien ihr wieder Kraft und Muth zu verleihen. Sie lag da und sah ihn mit lebhafter Theilnahme, mit einer Dankbarkeit an, welche ungekünstelt sich über alle von der Sitte aufgerichteten Schranken zwischen Herr und Dame hinwegsetzte.

— Wo sahen Sie mich, sagte sie plötzlich, ehe Sie mich hier fanden?

Kirke zögerte. Mr. Merrick kam ihm zu Hilfe.

—— Ich verbiete Ihnen, ein Wort über das Vergangene an Mr. Kirke zu richten, schlug sich der Arzt ins Mittel, und ich verbiete auch Mr. Kirke, Ihnen ein Wort darüber zu sagen. Sie beginnen heute ein neue Leben, und die einzigen Erinnerungen, die ich gutheiße, sind nur die Erinnerungen von fünf Monaten zurück.

—— Sie sah den Arzt an und lächelte.

—— Ich muß ihn Etwas fragen, sagte sie und wandte sich wieder an Kirke. Ist es wahr, daß Sie mich nur ein einziges Mal gesehen haben, ehe Sie in dieses Haus kamen?

—— Vollkommen wahr!

Er gab diese Antwort mit einem plötzlichen Wechsel der Farbe, was sie augenblicklich entdeckte Ihre glänzenden Augen sahen noch aufmerksamer auf ihn, als sie die nächste Frage that.

—— Wie kam es, daß Sie mich wiedererkanntem nachdem Sie mich nur ein Mal gesehen?

Seine Hand schloß sich, ohne daß er es wußte, enger um die ihrige und drückte sie zum ersten Male. Er versuchte zu antworten und blieb beim ersten Worte stecken.

—— Ich habe ein gutes Gedächtnis..., sagte er zuletzt und sah plötzlich von ihr weg mit einer Verwirrung, die seiner gewöhnlichen Selbstbeherrschung so unähnlich war, daß der Arzt und die Wärterin Beide es bemerkten.

Jeder Nerv in ihrem Körper fühlte den nur einen Augenblick dauernden Druck seiner Hand mit der Feinfühligkeit, welche den ersten ordentlichen Schritt zur Genesung begleitet. Sie sah sein Wechseln der Farbe, sie hörte seine stammelnden Worte mit der zarten Empfänglichkeit ihres Geschlechts und ihres Alters, welche durch richtige Ahnung die Wahrheit herausfühlt. In dem Augenblick, wo er von ihr wegsah, zog sie ihm leise die Hand weg und wandte ihren Kopf gegen das Kissen.

—— Ist es möglich? dachte sie mit der Unruhe wonniger Furcht in ihrem Herzen, mit der Gluth wonniger Verwirrung auf ihren Wangen. Ist es denn möglich?...

Der Arzt gab Kirke wieder ein Zeichen. Er verstand es und erhob sich sogleich. Die augenblickliche Fassungslosigkeit auf seinem Gesicht und in seiner Art und Weise waren beide verschwunden. Er war innerlich erfreut, daß er sein Geheimniß glücklich bewahrt habe, und in dem wohlthuenden Gefühl dieser Ueberzeugung war er wieder zu, sich selber gekommen.

—— Leben Sie wohl bis morgen, sagte er, als er das Zimmer verließ.

—— Leben Sie wohl, antwortete sie, ohne ihn anzusehen.

Mr. Merrick nahm den Stuhl, den Kirke verlassen hatte, und legte seine Hand an ihren Puls.

—— Gerade, wie ich fürchtete, bemerkte er, um die Hälfte zu stark.

Sie machte hastig ihre Hand frei.

—— Lassen Sie mich! sagte sie, indem sie zurückfuhr. Ich bitte, berühren Sie mich nicht!

Mr. Merrick überließ in guter Laune der Wärterin seinen Platz.

—— Ich will in einer halben Stunde wieder kommen, flüsterte er, und sie ins Bett schaffen. Lassen sie dieselbe nicht sprechen. Zeigen Sie ihr die Bilder in der Zeitung und halten Sie sie so ruhig als möglich.

Als der Arzt wieder kam, meldete die Wärterin, daß die Zeitung nicht benöthigt gewesen sei. Die Ausführung der Kranken war musterhaft gewesen. Sie war durchaus nicht unruhig gewesen und hatte nicht ein Wort gesprochen.

Die Tage vergingen, und die Zeit wurde immer länger bemessen, welche der Arzt ihr in dem vorderen Zimmer zuzubringen erlaubte. Sie war alsbald im Stande, das Bett auf dem Sopha zu entbehren, sie konnte angekleidet werden und unterstützt von Kissen in einem Lehnstuhle aufrecht sitzen. Ihre Freistunden von dem Schlafgemach bildeten das große Ereigniß jedes ihrer Lebenstage. Es waren die Stunden, die sie in Kirkes Gesellschaft hinbrachte.

Sie hatte jetzt ein doppeltes Interesse an ihm, das Interesse an dem Manne, dessen schützende Fürsorge ihren Geist und ihr Leben gerettet, dann aber das Interesse an dem Manne, dessen theuerstes und heiligstes Herzensgeheimniß sie entdeckt hatte. Allmählich wurden sie so ungezwungen und vertraut mit einander wie alte Freunde, allmählich machte sie sich all ihr Uebergewicht zu Nutze und wußte sich unvermerkt die genaueste Kenntniß seines Wesens und Charakters zu verschaffen.

Ihre Fragen waren endlos. Alles und Jedes, was er ihr von sich und seinem Leben erzählen konnte, wußte sie von ihm zart und unvermerkt herauszulocken, er, der am Wenigsten selbstbewußte aller Männer, wurde in ihren geschickten Händen ein Egoist. Sie fand seinen Stolz auf sein Schiff heraus und wirkte ohne Bedenken darauf hin. Sie veranlaßte ihn, über die schönen Eigenschaften des Schiffes zu reden, von großen Dingen, die das Schiff in schweren Zeiten gethan habe, zu sprechen, wie er in seinem Leben noch nie mit einer lebenden Seele gesprochen hatte: Sie wußte ihn über geheime Seefahrerleiden und unaussprechliche Seefahrerfreuden auszuhören, die er nicht einmal seinem eigenen Steuermann offenbart hatte. Sie beobachtete sein strahlendes Gesicht mit dem wonnigen Gefühl des Triumphs und schürte noch das Feuer. Sie verleitete ihn, alle Rücksicht auf Zeit und Ort zu vergessen und in der Hitze des Gesprächs einen so herzhaften Schlag auf den zweifüßigen kleinen Miethsbewohnertisch zu führen, als ob er das feste Balkenwerk der Schiffsbrüstung vor sich gehabt hätte. Seine Verlegenheit bei der Entdeckung, wie er sich selbst vergessen hatte, ergötzte sie insgeheim, sie hätte gern vor Vergnügen aufgeschrien, als er darob zum Tode erschrocken sich fragte, was er nur in aller Welt gedacht habe?!

Zu anderen Zeiten zog sie ihn von dem Verweilen bei den Reizen seines Lebens ab und veranlaßte ihn, von dessen Gefahren zu reden, den Gefahren jener eifersüchtigen Herrscherin, der See, welche so viele von seines Gleichen verschlungen hatte, welche ihn so wunderbar in Unschuld und Unkenntniß ob der Welt auf dem Lande gehalten hatte. Zwei Mal hatte er Schiffbruch gelitten. Unzählige Male waren er und alle bei ihm in dem Rachen des Todes gewesen, und er war doch um ein Haar dem Untergange entgangen. Er zeigte sich anfangs stets wenig bereit, von dieser düsteren und schrecklichen Seite seines Lebens zu sprechen. Erst wenn sie auf geschickte Weise ihn angeregt und in seiner Unterhaltung durch allerhand kleine Redekünste darauf hingearbeitet hatte, vergaß er sich und erzählte ihr doch von den Schrecknissen des großen Oceans. Sie saß das und lauschte mit athemlosem Interesse und sah ihn mit athemlosem Erstaunen an, wenn jene fürchterlichen Geschichten, die durch die einfache Sprache, in der sie erzählt wurden, doppelt lebhaft vor ihre Seele traten, eine nach der andern über seine Lippen kamen. Die edle Unkenntniß, in der er sich betreffs seines Heldenmuthes über sich selbst befand, die kunstlose Bescheidenheit, mit der er die Thaten seiner unerschrockenen Ausdauer, seines aufopfernden Muthes beschrieb ohne einen Gedanken daran, daß sie etwas mehr seien, als bloße Pflichterfüllungen, zu denen er durch den Beruf, den er erwählt, angehalten sei, erhoben ihn in ihrer Achtung so unermeßlich hoch über sie, daß sie unruhig und ungeduldig wurde, bis sie das Götterbild, das sie selbst aufgerichtet, wieder umgestürzt hatte. Bei diesen Gelegenheiten geschah es, daß sie sehr streng alle jene kleinen vertraulichen Aufmerksamkeiten erheischte, welche Frauen in ihrem Umgange mit Männern so werthvoll sind.

—— Diese Hand, dachte sie mit einem geheimen Wonnegefühl, indem sie den Gedanken verfolgte, während Kirke ganz nahe bei ihr war, diese Hand, welche den Ertrinkenden vom Tode errettet hat, rückt mir meine Kissen so zärtlich, daß ich es kaum weiß, wenn sie bewegt werden. Diese Hand, welche meuterische Matrosen ergriffen und lediglich durch Körperstärke zu ihrer Pflicht zurück gezwungen hat, mischt meine Limonade und schält mein Obst zarter und sauberer, als ich es kaum selber thun könnte. Ach, wenn ich ein Mann wäre, wie gern würde ich ein Mann wie dieser sein!

Sie ließ aber nie ihre Gedanken, so lange er zugegen war, über diesen Punkt hinausschweifen. Nur wenn die Nacht sie getrennt hatte, wagte sie ihre Gedanken verweilen zu lassen bei der aufopfernden Hingebung, welche sie so barmherzig gerettet hatte. Kirke wußte wenig, wie sie während der ruhigen Stunden, welche vergingen, ehe sie in Schlaf sank, in der Stilleinsamkeit ihres Kämmerleins seiner dachte. Keine Ahnung kam ihm in den Sinn von dem Einflusse, den er über sie ausübte, von dem neuen Geiste, den er in das neue Leben hauchte, das in der ersten Frische seines wiedererwachten Bewußtseins so empfänglich für Eindrücke war.

—— Sie hat Niemanden, der sie erheitert, das arme Kind, pflegte er traurig allein sitzend auf seinem kleinen Zimmer im zweiten Stock zu denken. Wenn ein rauher Gesell, wie ich, ihr helfen kann, die trägen Stunden hinwegzutändeln, bis ihre Verwandten hierher kommen, soll sie recht gern Alles haben, was ich ihr nur erzählen kann.

Er war jetzt verstimmt und unruhig, so oft er allein war. Allmählich nahm er die Gewohnheit an, lange einsame Abendspaziergänge zu machen, wo Magdalene dachte, er schlafe schon. Einmal ging er plötzlich bei Tage aus, in Geschäften, wie er sagte. Es war Etwas zwischen ihm und Magdalenen vorgefallen den Abend zuvor, was dieselbe veranlaßt hatte, ihm ihr Alter zu sagen.

—— Zwanzig am letzten Geburtstage! dachte er. Zwanzig von einundvierzig!... Eine leichte Zahl zum Abziehen, so leicht, wie sie mein kleiner Neffe sich nur wünschen könnte!

Er ging auf die Werften und schaute mit bitterem Lächeln auf die Schiffe hin.

—— Ich darf nicht vergessen, wie ein Schiff gemacht ist, sagte er. Es wird nicht lange mehr dauern, so bin ich wieder bei der alten Arbeit....

Als er die Werft verließ, besuchte er einen alten Seekameraden, der Verheirathet war. Im Laufe des Gesprächs frug er, wie viel älter sein Freund sei, als seine Frau. Es waren sechs Jahre Unterschied dazwischen.

—— Der Unterschied ist wohl gerade groß genug? sagte Kirke.

—— Ja, sagte der Freund. Vollkommen genug. Schaust Du Dich endlich auch nach einer Frau um? Sieh zu, daß Du ein reifes Weib Von fünfunddreißig bekommst, das ist Dein Fahrwasser, Kirke, so weit ich es beurtheilen kann.

Die Zeit verstrich schnell und leicht, die Zeit, wo sie so glücklich genas, die Zeit, wo er anfing, mißtrauisch zu werden.

Eines Morgens in der Frühe überraschte Mr. Merrick Kirke durch einen Besuch auf dessen kleinem Zimmer im zweiten Stock.

—— Ich kam gestern zu der Ueberzeugung, sagte der Arzt, indem er jählings gleich von der Hauptsache anfing, daß Ihre Kranke endlich stark genug ist, daß wir es nunmehr recht gut darauf ankommen lassen können, uns mit ihren Verwandtem in Verbindung zu setzen. Ich habe demnach den Faden, den uns der wunderliche Kauz, Hauptmann Wragge, in die Hand gegeben, verfolgt. Sie erinnern sich, daß er uns gerathen, uns an Mr. Pendril, den Advocaten, zu wenden? —— Ich besuchte Mr. Pendril, vor zwei Tagen und wurde von ihm nicht sehr bereitwillig, wie ich merkte, an eine Dame Namens Miss Garth verwiesen. Ich hörte genug von ihr, um mich zu überzeugen, daß wir eine kluge Vorsicht gebraucht haben. Es ist eine sehr,sehr traurige Geschichte, und halte mich verbunden,, zu sagen, daß ich dem armen Mädchen da unten viel zu Gute halten will. Ihre einzige Verwandte auf der Welt ist ihre ältere Schwester. Ich habe gerathen, daß die Schwester erst ihr schreiben und dann, wenn der Brief kein Unheil anrichtet, in ein oder zwei Tagen selber kommen soll. Ich habe die Adresse nicht gegeben, um zu verhindern, daß ohne meine Erlaubniß Besuche gemacht werden. Alles, was ich gethan habe, ist daß ich mich erboten habe, den Brief zu besorgen, und werde ihn, wenn ich zurückkomme, wahrscheinlich zu Hause vorfinden. Können Sie zu Hause bleiben, bis ich mein Diener damit hergeschickt habe? Es ist nicht die geringste Aussicht vorhanden, daß ich ihn selber bringen kann. Alles was Sie zu Thun haben, ist, eine Gelegenheit abzupassen, wo sie nicht im Vorderzimmer ist, und den Brief irgend wohin zu legen, wo sie ihn sehen kann, wenn sie hereinkommt. Die Handschrift auf der Adresse wird ihr schon alles sagen, ehe sie noch den Brief erbricht. Sagen Sie ihr Nichts davon, sorgen Sie, daß die Writhin in der Nähe ist und auf den ersten Ruf da sein kann, und überlassen Sie sich selbst. Ich weiß, ich kann Ihnen vertrauen, daß Sie meine Weisung befolgen werden, und darum bitte ich eben Sie, daß Sie dies Übernehmen. —— Sie sehen heute Morgen nicht guter Laune aus. Natürlich genug. Sie sind gewohnt, im Freien zu leben,Capitän, und Sie fangen an diesem engen Hause sich unbehaglich zu fühlen.

—— Darf ich Sie etwas fragen, Doctor? —— Fühlt sie sich in diesem engen Hause ebenfalls unbehaglich? Wenn ihre Schwester kommt, wird dieselbe sie mit fortnehmen?

—— Ganz entschieden, wenn man meinem Rathe folgt. Sie wird stark genug sein, um in einer Woche oder noch nicht einmal so lange fortgeschafft zu werden. —— Guten Tag. —— Sie sind gewiß und wahrhaftig in sehr übler Stimmung, und Ihre Hand fühlt sich fieberheiß an. Nur Sehnsucht nach dem blauen Wasser,Capitän, Sehnsuch nach dem blauen Wasser!

Mit diesem Ausspruch ging der Arzt heiter hinweg.

In einer Stunde kam der Brief an. Kirke nahm ihn mit Widerstreben von der Wirthin in Empfang, fast rauh und ohne ihn anzusehen. Als er sich überzeugt, daß Magdalene noch mit dem Anziehen beschäftigt war, und er der Wirthin die Nothwendigkeit klar gemacht, daß sie, des Rufes gewärtig, sich in der Nähe verhalte, ging er augenblicklich die Treppe hinunter und legte den Brief auf den Tisch im Vorderzimmer.

Magdalene hörte den Ton des wohlbekannten Schrittes auf der Flur.

—— Ich werde gleich fertig sein, rief sie ihm durch die Thür zu.

Er antwortete nicht; er nahm seinen Hut und ging fort. Nach einem augenblicklichen Zögern wandete er sich nach Osten und besuchte die Reeder, welche seine Dienste benutzten, auf ihrem Comptoir in Cornhill.


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