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Namenlos



IV.
(Chronik über Dezember Zweite Hälfte.)

Meine reichbegabte Nichte ist zum ersten Male öffentlich aufgetreten und hat den Grundstein unseres künftigen Reichthums gelegt.

An dem ersten Abend war das Publicum zahlreicher, als ich zu hoffen gewagt hatte. Der Reiz der Neuheit einer ganzen »Abendunterhaltung, welche von Anfang bis zu Ende lediglich und allein auf den Leistungen einer jungen Dame ohne weitere Mitwirkung beruht« (siehe die Anzeige) machte die Neugier des Publicums rege, und die Sitze waren recht hübsch besetzt. Das Glück fügte es, daß an dem Tage kein an Miss Vanstone gerichteter Brief kam. Sie war vollständig bei sich, bis sie das erste Kleid anzog und die Klingel für den Beginn der Musik hörte. In diesem kritischen Augenblicke brach sie plötzlich zusammen.

Ich fand sie allein im Wartezimmer, schluchzend und sprechend wie ein Kind.

-- Ach, mein armer Vater, mein armer Vater! Ach, mein Gott, wenn er mich jetzt sähe!

Meine Erfahrung in solchen Dingen gab mir sogleich an die Hand, daß hier die Behandlung mit flüchtigem Salz auf der einen und vernünftigem Zureden auf der andern Seite »angezeigt« sei. Im Nu gaben wir ihr die Concertstimmung, entzündeten das Feuer ihrer Augen und regten sie so an, daß die Röthe ihrer Wangen die Schminke blaß erscheinen ließ. Der Vorhang ging in die Höhe, als wir sie in die Rothglühhitze gebracht hatten. Sie griff die Sache so kühn an, genau so, wie sie es in dem hinteren Empfangzimmer im Rosmaringäßchen gemacht hatte. Ihre persönliche Erscheinung erledigte die Frage ihrer Aufnahme beim Publikum sofort und glänzend, noch ehe sie die Lippen geöffnet hatte.

Sie spielte ihre Charakterdarstellungen, ihre Gesangsscenen und ihren Monolog in fieberhafter Eile herunter, machte Versehen zu Dutzenden, hielt aber nicht einen Augenblick inne, sie zu verbessern und riß das Volk mit sich fort in einem wahren Wirbelwind, gar nicht wartend auf den Applaus. Die ganze Geschichte war zwanzig Minuten eher zu Ende, als wir gerechnet hatten. Sie führte es richtig durch bis zu Ende. Aber eine Minute nachdem der Vorhang gefallen war, sank sie auf dem Sopha der Garderobe in Ohnmacht. Der Musicalienhändler hatte vor lauter Erstaunen schier den Verstand verloren, ich hatte keinen Anzug, um darin zu erscheinen: kurz wir mußten den Arzt hinaustreten lassen, um dem Publicum die nöthige Entschuldigung zu machen, das sie herausrief, bis das Haus erdröhnte Ich versah unsern medicinischen Sprecher mit einer hübschen Ansprache hinter dem Vorhange hervor und hörte niemals in meinem Leben solchen Applaus von einem vergleichsweise so kleinen Publikum. Ich fühlte den Tribut, fühlte ihn tief.

Vor fünfzehn Jahren hatte ich mich in derselben Stadt kümmerlich durchgeschlagen als Vorleser der Zeitungen mit erklärenden Randglossen für die Gesellschaft eines Gasthauses. Und jetzt war ich wieder hier, dies Mal aber auf einem »grünen Zweig«.

Es ist unnöthig zu sagen, daß meine erste Maßregel war, den Musicalienhändler sofort bei Seite zu schieben. Er fragte den nächsten Morgen vor ohne Zweifel mit einem liberalen Vorschlage, das Engagement noch über Derby und Nottingham auszudehnen. Meine Nichte wurde verleugnet, sie sei nicht wohl genug, um ihn zu empfangen, und, als er nach mir fragte, wurde er berichtet, ich wäre nicht auf. Ich war gerade dabei, den Fall unserer begabten Magdalene eindringlich vorzustellen Ihre Antwort war im höchsten Grade zufriedenstellend. Sie wollte sich Niemandem auf immer verbindlich machen, am wenigsten gegenüber einem Manne, der ihre und meine Lage zu schmutziger Uebervortheilung mißbraucht hatte. Sie wolle ihr eigener Herr sein und den Gewinn mit mir theilen, so lange sie kein Geld habe und so lange es ihr so gefalle. So weit war Das gut. Allein der Grund, den sie gleich nachher für den schmeichelhaften Vorzug, den sie mir gab, anführte, war weniger nach meinem Geschmacke.

—— Der Musicalienhändler ist mit Nichten der Mann, den ich brauche, um meine Nachforschungen auszuführen, sagte sie. Sie sind der Mann.

Mir will dies zähe Zurückkommen auf jene Nachforschungen so inmitten der ersten Verwirrung ihres Erfolges gar nicht gefallen. Das sieht für die Zukunft verteufelt schlimm aus.


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