Nicht aus noch ein
Ouvertüre.
Monat und Jahrestag: der dreißigste November eintausendachthundertfünfunddreißig. Londoner Zeit nach der großen Uhr von Saint Paul: zehn Uhr Abends. Auch die geringeren Kirchen Londons lassen ihre metallenen Stimmen ertönen. Einige fangen geschäftig früher als die gewichtige Glocke der großen Kathedrale an, andere beginnen träge drei, vier, ein halbes Dutzend Schlage nach ihr. Alle aber halten genügend die Zeit ein, um ein so mächtiges Klingen in der Luft zu verbreiten, als ob der beschwingte Vater der Götter, der einst seine Kinder verschlang, über die City dahinflöge und tönend seine Riesensense schwinge.
Eine Glocke klingt bescheidener als alle die andern, dem Ohre näher und verspätet sich heute Abend dergestalt, daß sie, nachdem die übrigen ausgeschwungen haben, allein noch hörbar bleibt. Es ist die Uhr des Findelhauses. Früher wurden die Kinder schweigend, ohne daß man ein Wort über sie wechselte, in der Wiege vor der Eingangspforte aufgenommen. Jetzt verlangt man Auskunft über sie und nimmt sie nach Gunst den Müttern ab, welche alle natürlichen Rechte und jeden Anspruch aufgeben, je wieder etwas von ihren Kindern zu erfahren.
Der Mond scheint voll und der Abend ist schön. Leichte Wolken schweben am Himmel. Der Tag war kein guter, denn Schmutz und Schlacken, zu denen sich noch der dichte fallende Nebel gesellt, liegen schwarz in den Straßen. Die verschleierte Dame, welche unweit der Hinterthür des Findelhauses auf und nieder geht, muß feste Schuhe anhaben.
Sie eilt hin und her, vermeidet sichtlich den Ort, wo die Miethswagen stehen und hält oft die Schritte am westlichen Ende des Mauervierecks im tiefen Schatten an, ihr Auge heftet sich auf die Thür. Wie über ihr die Klarheit des monddurchleuchteten Himmels waltet und unter ihr der Schmutz der Straße lagert, so mögen ihrer Seele zwei verschiedene Bilder vorschweben und dieselbe zwischen Furcht und Hoffnung hin und wieder reißen. Wie ihre Fußtapfen einer über den andern fortgehend ein Labyrinth in den Schlamm gedrückt haben, so mag ihr Lebenslauf sich verirrt und sie planlos in unentwirrbare Vermittlungen geführt haben. Die Hinterthür des Findelhauses öffnet sich und ein junges Mädchen tritt heraus. Die Dame steht unbeweglich, mit unverwandten Blicken. Sie hört, wie die Pforte von innen wieder verschlossen wird und folgt dem jungen Mädchen nach.
Zwei oder drei Straßen mögen so schweigend durchschritten sein, ehe sie, dicht hinter dem Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit her schreitend, ihre Hand ausstreckt und das Mädchen berührt. Die Letztere hält erschrocken ihre Tritte ein und sieht sich um. »Sie haben mich auch gestern angehalten und als ich mich zu Ihnen wendete, nicht sprechen wollen. Warum verfolgen Sie mich wie ein stummer Schatten?«
»Nicht weil ich nicht sprechen wollte,« entgegnete die Dame mit leiser Stimme, »sondern weil ich nicht konnte, als ich zu reden versuchte.«
»Was wollen Sie von mir. Ich habe Ihnen nie etwas zu Leide gethan.«
»Nein.«
»Kenne ich Sie?«
»Nein.«
»Also, was wollen Sie von mir?«
»Zwei Guineen befinden sich in diesem Papier. Nehmen Sie das armselige Geschenk und ich will es sagen.«
Des jungen Mädchens ehrliches und freundliches Antlitz überzog eine tiefe Röthe, als sie erwiderte: »In dem ganzen großen Haushalt, dem ich angehöre, unter den Erwachsenen, wie unter den Kindern, giebt es keinen, der nicht ein freundliches Wort für Sally hätte. Ich bin Sally. Könnte man mich so lieb haben, wenn ich zu bestechen wäre?«
»Es ist nicht meine Absicht, Sie zu bestechen; ich wollte Ihnen nur eine geringe Belohnung zukommen lassen!«
Sally schloß nicht unfreundlich aber bestimmt, die Hand, die ihr das Geld anbot, und wehrte sie von sich. »Wenn ich irgend etwas für Sie thun kann,« Ma’am, so werde ich es ohne das thun, aber Sie verkennen mich, wenn Sie meinen, daß ich Ihnen des Geldes wegen gefälliger bin. Was wünschen Sie?«
»Sie sind Kinderwärterin oder Dienerin in dem Findelhause. Ich habe Sie heute und gestern herauskommen sehen.«
»Ja. Das bin ich. Ich bin Sally.«
»Ihre Züge sind freundlich und einnehmend. Ich kann mir denken, wie die Kleinen an Ihnen hängen.«
»Gott vergelte es ihnen. Das thun sie.«
»Die Dame schlug ihren Schleier zurück und enthüllte ein Antlitz, welches nicht älter als das der Kinderwärterin war, ein Antlitz viel geistvoller und feiner, aber erregt und non Sorgen durchfurcht.
»Ich bin die unglückliche Mutter eines kürzlich von Euch aufgenommenen Kindes. Ich habe eine Bitte.«
»Sally instinctmäßig die Empfindung verstehend, welche die Dante veranlaßte den Schleier zurückzuschlagen, deckte ihn wieder über deren Antlitz; und fing an zu weinen. Die Handlung war wie alle ihre Handlungen einfach und natürlich.
»Sie wollen meine Bitte erhören?« fuhr die Dame dringend fort. »Sie wollen nicht taub sein für das in Angst gesprochene Gebet einer so gramgebeugten Flehenden, wie ich bin?«
»O, du mein lieber Himmel!« rief Sally »Was soll ich sagen und was kann ich thun? Reden Sie nicht von Gebeten. Gebete werden an den Vater aller Wesen gerichtet, aber nicht an Kindermädchen und solche Leute. Und, noch Eins! Ich »werde nur noch ein halbes Jahr in meiner Stellung bleiben, bis eine Andere angelernt sein wird. Ich werde heirathen. Ich hätte heute und gestern Abend nicht ausgehen sollen, aber mein Dick, das ist der junge Mann, den ich heirathen will, ist krank und ich stehe seiner Mutter und Schwester, die ihn pflegen, bei. Nehmen Sie sich Ihr Unglück nicht so zu Herzen. Nehmen Sie es sich nicht so zu Herzen.«
»O, gute, liebe Sally,« seufzte die Dame und ergriff flehend des Mädchens Kleid. »Weil Du voller Hoffnung erscheinst und ich ganz hoffnungslos bin, weil ein schönes Leben vor Dir liegt, was nie —— nie mehr vor mir liegen kann, weil Du den gerechten Anspruch hast, ein geachtetes Weib und eine stolze Mutter zu werden, weil Du lebst und liebst und dereinst sterben mußt, erhöre mein verzweifeltes Flehen um Gottes willen!«
»Gott im Himmel bewahre mich!« rief Sally, den Ausdruck der höchsten Verzweiflung auf das dritte Wort legend. »Was kann ich Arme thun? Und schrecklich! wie Sie meine eigenen Worte gegen mich gebrauchen. Ich erzählte Ihnen wie bald ich mich verheirathen würde, um Ihnen deutlich zu machen, daß ich das Haus verließe, Ihnen also nicht helfen könnte, wenn ich auch wollte, arme Seele! Und nun wenden Sie die Sache so, daß es mir selbst erscheint, als ob es grausam wäre, mich verheirathen zu wollen, statt Ihnen zu helfen. Das ist nicht recht. Ich frage Sie, ob das recht ist? —— Arme Seele!«
»Sally, höre mich, meine Gute. Ich bitte nicht um Deinen Beistand für etwas Zukünftiges. Etwas Vergangenes will ich wissen, was in zwei Wörtern gesagt werden kann.«
»O weh! das wird schlimmer und schlimmer!« rief Sally, »vorausgesetzt, daß ich errathe, welche beiden Wörter Sie meinen.«
»Du erräthst sie. Welche Namen hat man meinem armen Kinde gegeben? Ich habe von der im Hause üblichen Sitte gelesen. Die Kinder werden in der Capelle getauft und mit irgend einem Zunamen in das Buch eingetragen. Der Knabe ist am Montag Abend aufgenommen. Welche Namen hat man ihm gegeben?«
Bei ihrem leidenschaftlichen Beschwören wollte die Dame mitten in dem Schlamm der Seitenstraße, in welche sie eingetreten waren —— eine öde Gasse ohne Ausgang, die an den dunkeln Garten des Findelhauses stieß —— auf die Kniee sinken, aber Sally verhinderte sie daran.«
»Nicht doch! nicht doch! Sie treiben es so, daß ich mir einbilden könnte, etwas besonders Gutes zu thun. Lassen Sie mich in Ihr liebes Antlitz blicken. Legen Sie Ihre beiden Hände in die meinen. So, jetzt versprechen Sie, daß Sie mir nichts weiter, als die beiden Wörter abfragen wollen.«
»Nichts weiter! nichts weiter!«
»Sie wollen nie schlechten Gebrauch von denselben machten, wenn ich sie Ihnen genannt habe?«
»Nie! nie!«
»Walter Wilding.«
Die Dame lehnt ihren Kopf an des Mädchens Brust, umfaßt es mit beiden Armen; spricht mit leiser Stimme einen Segenswunsch, fügt die Worte: bring’ ihm einen Kuß von mir, hinzu, und ist verschwunden.
Monat und Jahr: der erste Sonntag im October des Jahres 1841 Londoner Zeit nach der großen Uhr von Saint Paul: halb zwei Nachmittags. Die Glocke des Findelhauses stimmt heute genau mit der der Kathredale. Der Gottesdienst in der Capelle ist vorüber und die Findelkinder sind beim Mittagbrod.
Viele Menschen wohnen nach der Sitte des Hauses dem Mittagessen bei: Zwei oder drei Aufseher, ganze Familien der Vereinsvorstände, kleinere Gruppen aus Leuten beiderlei Geschlechts bestehend, und noch einzelne Dazugekommene verschiedenen Standes. Die Herbstsonne scheint tief in das Gemach und die plump eingerahmten Fenster, durch die sie hineinblickt und die Wände mit Holzpanälen, welche sie streift, sind solche Fenster und Wände, wie Hogarths Bilder sie aufweisen. Das Speisezimmer der Mädchen, zu gleicher Zeit auch das der kleineren Kinder, übt die Hauptanziehungskraft aus. Zierliche Dienerinnen gleiten schweigend um die regelmäßig geordneten Tische herum, an welchen ebenfalls Schweigen herrscht. Die Zuschauenden schreiten hin und wieder oder stehen still, wie es ihnen gefällt. Geflüsterte Erkundigungen nach einem Kinde, welches die und die Nummer hat und am Fenster mit der und der Nummer sitzt, sind nicht selten; [Die Fenster in dem Findelhause sind mit Nummern versehen, auch hat jedes Kind seine Nummer.] viele von den Gesichtern der Kinder sind dazu angethan Aufmerksamkeit zu erregen. Einige unter den Zuschauern, die nicht in das Haus gehören, wiederholen ihre Besuche öfter. Sie haben eine Art von Bekanntschaft mit Inhabern gewisser Plätze vom Tische geschlossen und machen an den besagten Stellen Halt, um sich hinabzubeugen und ein oder zwei Worte zu sprechen.
Es schmälert ihr Verdienst nicht, daß auf diesen Plätzen immer Kinder von anziehender Persönlichkeit sitzen. Die Einförmigkeit des langen weiten Raumes wird angenehm durch diese kleinen Zwischenfälle belebt, so geringfügig sie sind.
Eine verschleierte Dame, welche ohne Begleiter hier ist, geht unter den Anwesenden umher. Es scheint, daß weder Neugier noch der Zufall sie hierher geführt haben, denn der Anblick erregt sie, und sie schreitet an den Tischen mit unhehaglicher Empfindung und zögernden Tritten entlang. Endlich erreicht sie den Speisesaal der Knaben. Derselbe ist viel weniger gesucht, als der der Mädchen und von Erwachsenen fast leer, wie sie von der Thür aus sehen kann.
Auf der Schwelle steht eine ältere Dienerin, um aufzupassen, eine Art von Haushälterin oder Hausmutter. Die Dame richtet einige gewöhnliche Fragen an sie, zum Beispiel: »Wie vieI Knaben sind hier? In welchem Alter werden sie in das Leben entlassen? Kommt es häufig vor, daß sie Lust haben auf die See zu gehen!?« und so fort. Die Dame spricht mit immer leiserer Stimme, bis sie die Frage that: »Welcher ist Walter Wilding?«
Die Dienerin schüttelt den Kopf. Es ist gegen die Regel, so zu fragen.
»Sie wissen, welcher Walter Wilding ist?«
Die Dienerin fühlte so fest die Augen der Dame, die ihr Gesicht forschend betrachtete, auf sich geheftet, daß sie die ihren zu Boden senkte, damit dieselben nicht zu Verräthern würden und nach der gewünschten Richtung hinüber flögen.
»Ja; weiß, welcher von den Knaben Walter Wilding ist, aber es ist nicht meines Amtes, Martin, Ma’am zu Namen zu nennen.«
»Sie können mir ihn zeigen, ohne ihn zu nennen.«
Die Hand der Dame begegnete leise der der Dienerin. Es entstand eine Pause und tiefes Schweigen.
»Ich werde um die Tafeln herum gehen,« sagte die von der Dame Angesprochen, sich den Anschein gebend, als ob sie gar nicht zu derselben redete. »Folgen Sie mir mit den Augen. Der Knabe, bei dem ich still stehe und mit dem ich spreche, geht Sie nichts an, aber der Knabe, den ich anfasse, ist Walter Wilding. Reden Sie nicht weiter mit mir, und entfernen Sie sieh von mir.«
Sogleich dem Winke Folge leistend, tritt die Dame in das Zimmer hinein und sieht sich darin um. Nach einigen Augenblicken geht die Dienerin, als ob es ihr Amt verlange, an der Außenseite der Tafeln entlang, indem sie linker Hand beginnt. Sie wandert die Reihen hinab, wendet sich um und kommt zwischen den Tischen an der inneren Seite zurück. Von ungefähr zu der Lady hinüber sehend, heilt sie ihre Schritte ein, beugt sich vor und spricht. Der Knabe, den sie anredet, hebt den Kopf in die Höhe und antwortet. Wie sie zuhört was er sagt, legt sie ihre Hand freundlich auf die Schulter des kleinen Nachbars zur Rechten. Damit die Bewegung deutlich sei, läßt sie, während sie weiter redet, ihre Hand auf der Schulter liegen und klopft sie zwei oder dreimal, ehe sie weitergeht. Sie vollendet ihren Umgang um die Tische, ohne ein anderes Kind anzurühren und verläßt durch eine Thür am entgegengesetzten Ende das Zimmer.
Das Mittagessen ist vorüber. Die Dame geht an der Außenseite der Tafeln entlang, indem sie linker Hand beginnt, sie wandelt die langen Reihen hinab, wendet sich um und kehrt an der inneren Seite zwischen den Tischen zurück. Es ist gut für sie, daß noch andere Leute eingetreten sind und hier und dort verstreut stehen. Sie schlägt den Schleier zurück und bei dem bezeichneten Knaben still stehend, fragt sie ihn, wie alt er sei?
»Zwölf Jahr, Ma’am,« antwortet er und richtet seine glänzenden Augen auf sie.
»Bist Du gesund und fröhlich?«
»Ja, Ma’am.«
»Willst Du das Zuckerwerk von mir nehmen?«
»Wenn Sie es mir geben wollen.«
Sich zu diesem Zwecke tief hinab beugend, berührt die Dame mit Stirn und Haar des Knaben Antlitz. Dann läßt sie den Schleier wieder herab, geht vorüber —— und geht hinaus, ohne sich umzusehen.
Erster Act
Der Vorhang geht auf.
In einer Sackgasse der City von London, die weder für Fuhrwerk noch Fußgänger einen Durchweg bot, einer Sackgasse, die in die abschüssige, schlüpfrige, krumme Straße mündet, welche die Verbindung zwischen Towerstreet und dem Middleser Ufer der Themse herstellt, befand sich das Geschäftslocal von Wilding u. Co., Weinhändler. Wahrscheinlich als scherzhaftes Zugeständniß davon, daß der große Haupteingang des Locales wie eine Barricade die Welt verrammelte, trug der unterste Theil der abschüssigen Straße, von der aus man an den Fluß gelangte (wie der Geruch deutlich verspüren ließ) den Namen BreakNeckStairs. Die Sackgasse selbst wurde in früheren Zeiten treffend genug Cripple Cornet getauft.
Schon viele Jahre vor dem Jahr 1861 hatten die Leute aufgehört, in BreakNeckStairs Boote zu miethen und die Schiffer sich davon entwöhnt, dort anzulegen. Der schlammige Weg hatte den nach und nach zur Reife gediehenen Entschluß sich umzubringen ausgeführt und sich in den Fluß gestürzt, und so blieb nichts als zwei oder drei verstümmelte Pfähle und ein rostiger eiserner Ring, der zum Befestigen der Boote gedient hatte, von BreakNecks vergangener Pracht übrig. Manchmal indessen legte ein mit Kohlen beladener Kahn gegen das Ufer an, geschäftige Hebel wurden aufgerichtet, die anscheinend nichts thaten als Schmutz heraufbefördern. Die Ladung wurde in der Nähe abgeliefert. Das Boot fuhr wieder fort und war verschwunden; für gewöhnlich aber bestand der einzige Verkehr in BreackNeckStairs aus dem Transport von Fässern und Flaschen, die entweder voll oder leer waren, entweder fortgeschafft wurden aus den Kellern oder hineingeschafft wurden in die Keller Von Wilding und Co., Weinhändler. Aber selbst dieser Verkehr fand nur dann und wann statt und über dreiviertel Zeit der steigenden Fluth spülte und leckte der schmutzige, unreinliche, graue Fluß ungestört an dem rostigen Ring, als ob er einmal von dem Dogen und dem Adriatischen Meere vernommen habe und sich danach sehnte, auch eine Vermählung zu feiern, etwa mit dem mächtigen Erhalter allen Schlammes in seinen Fluthen, mit dem Right Honourable Lord Mayor.
Zwei hundert und einige fünfzig Yards (vom untersten Anfang von BreakNeckStairs aus gerechnet) auf der Anhöhe geradezu, rechter Hand, befand sich Cripple Cornet. Cripple Cornet hatte einen Brunnen, Cripple Cornet hatte einen Baum. Ganz Cripple Corner gehörte Wilding und Co., Weinhändler. Die Kellerräume lagerten darunter, die Gebäude erhoben sich darüber. In den Tagen, wo Kaufherren noch die City bewohnten, war eines derselben wirklich ein Wohnhaus gewesen; ein prächtiges Schirmdach ohne sichtbare Stützen breitete sich über dem Thorweg aus, wie das Schallbrett über einer Kanzel. Es hatte auch eine Anzahl langer schmaler Streifen, die Fenster vorstellten und in der Front des finsteren aus Backsteinen errichteten Hauses so vertheilt waren, daß sie überall gleich häßlich erschienen. Auf dem Dach befand sich eine Kuppel mit einer Glocke.
»Wenn ein Mann von fünf und zwanzig Jahren seinen Hut aussetzen und sagen kann: Dieser Hut bedeckt den Eigenthümer dieses Besitzthums und des Geschäftes, welches sich an dieses Besitzthum knüpft, da denke ich, Mr. Bintrey, ohne zu prahlen, er könne nicht anders als von tiefer Dankbarkeit durchdrungen sein. Ich weiß nicht, wie es Ihnen erscheinen mag, aber mir erscheint es so.«
Mr. Walter Wilding sprach das zu seinem Advocaten, in seinem eigenen Comtoir, indem er den Hut vom Riegel nahm, um seinen Worten die That folgen zu lassen. Danach hing er den Hut wieder auf, um nicht unbescheidener zu erscheinen als er war.
Ein unverdorbenen offen blickender, treuherziger Mann war Mr. Walter Wilding, mit merkwürdig weißem und rosigem Gesicht. Seine Gestalt war fast zu stark für einen jungen Mann, obgleich sie recht stattlich aussah. Mit krausem braunen Lockenhaar und blauen, glänzenden, einnehmenden Augen gab er sich als einen äußerst mittheilsamen Mann, als einen Mann, dessen Beredsamkeit der nicht zu hemmende Ausfluß innerer Zufriedenheit und Dankbarkeit war. Mr. Bintrey dagegen war ein vorsichtiger Mann mit immer feuchten Augen und einem großen vorgebeugten kahlen Kopf. Er belustigte sich innerlich höchlich über das Komische einer offenen Sprache, einer offenen Hand und eines offenen Herzens.
»Ja,« sagte Mr. Bintrey. »Ja. Ha, ha!«
Eine Flasche, zwei Weingläser und ein Teller mit Kuchen standen ans dem Tisch.
»Mögen Sie den fünfundvierzigjährigen Portwein?« fragte Mr. Wilding.
Ihn mögen?« wiederholte Mr. Bintrey. »Ob ich es thue, Sir!«
»Er ist aus der besten Ecke unseres besten Weinverschlages, der fünfundvierzigjährigen aufweist« sagte Mr. Wilding.
»Danke Ihnen, Sir,« sagte Mr. Bintrey. »Er ist ausgezeichnet.«
Der Advokat lachte, als er das Glas in die Höhe hielt und es beäugelte, vergnügt über die eigentlich höchst possierliche Idee, solchen Wein fortzugeben.
»Und nun,« sagte Mr. Wilding, der am Sprechen über Geschäftssachen eine wahrhaft kindische Freude empfand, »haben wir Alles in’s Reine gebracht, Mr. Bintrey, wie ich glaube.«
»Alles,« sagte » Mr. Bintrey.
»Einen Compagnon gesichert ——«
»Compagnon gesichert,« sagte Bintrey.
»Bekannt gernacht, daß wir eine Hanshälterin brauchen ——«
»Eine Haushälterin brauchen,« sagte Bintrey, »welche sich persönlich melden soll in Cripple Corner, Great Towerstreet von zehn bis zwölf —— morgen nämlich.«
»Die Geschäfte meiner lieben verstorbenen Mutter abgewickelt ——«
»Abgewickelt,« sagte Bintrey.
»Und alle Auslagen bezahlt.«
»Alle Auslagen bezahlt,« sagte Bintrey, aus vollem Halse lachend des spaßhaften Umstandes wegen, daß sie ohne Feilschen bezahlt worden waren.
»Das Andenken meiner geliebten verstorbenen Mutter überwältigt mich immer, Mr. Bintrey,« fuhr Mr. Wilding fort, indem sich seine Augen mit Thräuen füllten, die er mit dem Taschentuch abtrocknete. »Sie wissen, wie ich sie geliebt habe, Sie [ihr Geschäftsmann] wissen, wie sie mich geliebt hat. Die höchste Zärtlichkeit, die zwischen Mutter und Kind denkbar ist, hat zwischen uns geherrscht, und von der Zeit an, wo sie mich in ihre Obhut nahm, kann ich mich nicht der kleinsten Uneinigkeit, nicht der kleinsten Mißstimmung unter uns erinnern. Dreizehn Jahr im Ganzen! Dreizehn Jahr unter der Obhut meiner lieben verstorbenen Mutter, Mr. Bintrey und davon die letzten acht als ihr Sohn anerkannt! »Sie kennen die Geschichte, Mr. Bintrey, wer kennt sie besser als Sie, Sir!« Mir. Wilding seufzte und trocknete sich die Augen, ohne während der letzten Bemerkungen den Versuch zu machen, seine Rührung zu verbergen.
Mr. Bintrey genoß wieder von dem Portwein, der ihn so vergnügt stimmte, und sagte, nachdem er ihn im Munde hin und hergespült hatte: »Ich kenne die Geschichte!«
»Meine geliebte, verstorbene Mutter, Mr. Bintrey,« fuhr der Weinhändler fort, »ist schändlich hintergangen worden und hat viel gelitten. Aber über diesen Punkt blieben die Lippen meiner geliebten, verstorbenen Mutter geschlossen. Von wem hintergangen und unter welchen Verhältnissen? weiß der Himmel allein. Meine geliebte verstorbene Mutter hat nie den Namen des Verräthers ausgesprochen.«
»Sie hatte mit sich abgeschlossen,« sagte Mr. Bintrey, aufs Neue seine Gaumen mit Wein bespülen, »und war darüber ruhig geworden.« Sein Zwinkern mit den Augen fügte ziemlich deutlich hinzu: »Verteufelt viel ruhiger, als Sie es jemals sein werden.«
»Ehre Vater und Mutter,« —— Wilding seufzte beim Anführen des Gebotes —— »auf daß du lange lebest auf Erden.« Als ich im Findelhause war, Mr. Bintrey, quälte ich mich verzweiflungsvoll, wie ich das anzustellen habe, und fürchtete, meiner Tage könnten nur wenige sein aus Erden. Späterhin aber wurde mir das Glück, meine, Mutter von Herzen verehren zu können. Und ich ehre sie und halte ihr Andenken hoch. Vor sieben Jahren, Mr. Bintrey,« fuhr Wilding mit demselben kindlichen Schluchzen und überströmenden Thränen fort, »that mich meine vortreffliche Mutter zu meinen Vorgängern im Geschäft Pebbleson Nephew in die Lehre. Ihre zärtliche Fürsorge brachte mich zu gleicher Zeit in die Weinhändlerzunft und machte mich bei Zeiten zum selbstständigen Weinhändler, und —— und —— noch vieles Andere, was die beste der Mütter für mich ersann. Als ich großjährig wurde, übertrug sie den von ihr ererbten Antheil an dem Geschäft auf mich. Mit ihrem Gelde kaufte sie Pebbleson Nephew aus und setzte dafür Wilding und Co. auf das Schild » Sie hinterließ mir Alles, was sie besaß, nur den Trauerring nicht, den Sie tragen. —— Und nun, Mr. Bintrey,« rief er, indem seine kindlichen Gefühle aufs Neue hervorbrachen, »ist sie nicht mehr. Kaum ein halbes Jahr ist verflossen, seitdem sie nach Corner kam, um mit ihren eigenen Augen an dem Thürpfosten zu lesen: Wilding und Co., Weinhändler, und nun ist sie nicht mehr!«
»Traurig. Aber unser aller Loos, Mr. Wilding!« bemerkte Bintrey. »Heut oder morgen sind wir alle nicht mehr.« Damit brachte er den fünfundvierzigjährigen Portwein, über dessen Wohlgeschmack seufzend, zu seiner allgemeinen Bestimmung.
»Jetzt, Mr. Bintrey,« fuhr Wilding fort, sein Taschentuch bei Seite steckend und seine Augenlider mit den Fingern reibend, »jetzt kann ich meiner lieben Verstorbenen keine Achtung und Ehrfurcht mehr beweisen, ihr, zu der sich mein Herz instinktmäßig und geheimnißvoll hingezogen fühlte, als ich sie zuerst sah. Sie, eine fremde Dame, sprach mit mir, einem Findling, der am sonntagtäglichen Mittagstische saß; ich will beweisen, daß ich mich nicht schäme ein Findelkind gewesen zu sein; ich, der ich nie den eigenen Vater gekannt habe, will allen denen ein Vater sein, die in meinem Dienste stehen. Deshalb« fuhr Wilding fort bei seinem Schwatzen in Begeisterung gerathend, »deshalb brauche ich eine durch und durch vortreffliche Haushälterin, welche die Wirthschaft von Wilding u. Co., Weinhändler, Cripple Corner vorzustehen vermag, damit ich, wie in früheren Zeiten eine enge Verbindung des Brodherrn mit seinen Beamten wieder herstellen kann. Damit ich an dem Ort, wo mein Geld verdient wird, auch wohnen kann! Damit ich zu Häupten der Tafel sitzen kann, an der die bei mir Angestellten gemeinsam speisen und mit ihnen von demselben Gebratenen und Gekochten essen und von demselben Bier trinken kann! damit die in meinem Dienststehenden Leute mit mir unter einem Dache leben und so wir alle zusammen. —— Ich bitte um Verzeihung, Mr. Bintrey, aber mein altes Sausen im Kopf hat mich wieder überfallen und ich würde Ihnen recht dankbar sein, Wenn Sie mich zum Brunnen führen wollten«
Von der tiefen Röthe im Gesicht seines Clienten beunruhigt, geleitete ihn Mr. Bintrey augenblicklich nach dem Hof. Es war sogleich geschehen, denn das Comptoir, in welchem sie sich befanden, ging, an der einen Seite des Wohnhauses gelegen, zum Hof hinaus. Auf ein Zeichen seines Clienten setzte der Geschäftsführer bereitwillig den Brunnenschwengel in Bewegung und der Client wusch sich Kopf und Hände und trank einen kräftigen Zug. Nach diesen Mitteln erklärte er sich besser zu befinden.
»Lassen Sie sich nicht durch Ihr gutes Herz so aufregen,« sagte Bintrey, als sie wieder im Comptoir anlangten und Mr. Wilding sich an dem Handtuch, welches hinter der Thür hing, abtrocknete.
»Nein, nein. Ich werde mich in Acht nehmen,« erwiderte er, aus dem Handtuch aufsehend. »Ich werde es nicht wieder thun. Ich habe nichts Verworrenes gesagt, nicht wahr?«
»Durchaus nichts. Nur vollständig Klares.«
»Wo blieb ich doch stehen, Mr. Bintrey?«
»Sie blieben stehen —— Aber in Ihrer Stelle würde ich mich nicht damit aufregen fortzufahren, besonders jetzt.«
»Ich werde mich in Acht nehmen. Wobei stellte sich das Sausen in meinem Kopfe ein, Mr. Bintrey?«
»Beim Gebratenen Gekochten und beim Bier,« antwortete der Advokat. »Beim Wohnen unter einem Dach und wie es uns allen zusammen ——«
»Aha! Und wie es uns allen zusammen im Kopfe sauste ——«
»Wissen Sie, ich würde mich an Ihrer Stelle wirklich nicht durch mein gutes Herz so aufregen lassen,« gab ihm der Advokat besorgt zu verstehen. »Wir wollen noch einmal aü den Brunnen gehen.«
»Nicht nöthig! nicht nöthig! Alles in Ordnung, Mr. Bintrey —— und wie wir alle zusammen eine liebevolle Familie ausmachen wollen. Sehen Sie, Mr. Bintrey, ich bin in meiner Kindheit nicht gewohnt gewesen, für mich allein zu sein, wie es Manche mehr oder weniger in ihrer Kindheit gewohnt sind. Später bin ich ganz in meine liebe verstorbene Mutter aufgegangen. Nachdem ich sie verloren habe, kommt es mir vor, als ob ich vielmehr dazu geschaffen wäre, ein Theil von einem Ganzen zu sein, als ein Ganzes für mich allein. Ersteres zu werden und meine Pflicht zu thun an allen denen, die von mir abhängen, meine Untergebenen an mich zu fesseln, hat etwas Patriarchalisches und Verlockendes für mich. Ich weiß nicht, wie es Ihnen erscheinen mag, Mr. Bintrey, aber mir erscheint es so.«
»Nicht ich, sondern Sie haben zu bestimmen in diesem Falle,« erwiderte Bintrety, »folglich ist es von wenig Belang, wie es mir erscheint.«
»Mir erscheint es,« sagte Mr. Wilding in vollem Eifer, »hoffnungsvoll, nützlich und genußreich.«
»Wissen Sie,« gab ihm der Advokat wieder zu verstehen, ich würde mich in Ihrer Stelle wirklich ——«
»Ich höre schon auf. Dann haben wir Händel.«
»Wir haben wen?« fragte Bintrey.
»Händel, Mozart, Haydn, Kent, Pureel, Doctor Arne, Greene, Mendelssohn. Ich kenne die Chöre der geistlichen Musikwerke auswendig, die ganze Sammlung der Findelhauskapelle. Warum sollten wir sie nicht zusammen aufführen können?«
»Wer soll sie aufführen?« fragte der Advokat gespannt.«
»Der Arbeitgeber und seine Arbeiter.«
»So, so!« erwiderte Bintrey besänftigt. Es sah aus, als habe er die Antwort erwartet, der Geschäftsführer und sein Client. »Das ist etwas anderes.«
»Durchaus nichts anderes, Mr. Bintrey. Es ist ganz dasselbe. Ein Glied der Kette, die uns mit einander verbindet.« Wir wollen in irgend einer stillen Kirche, die Corner nahe liegt, den Chor bilden und wenn wir Sonntags mit Wohlbehagen gesungen haben, nach Hause gehen und zu zeitiger Stunde mit Wohlbehagen unser Mittagbrod einnehmen. Es liegt mir sehr am Herzen diesen Plan unverzüglich ins Werk zu richten, so daß mein neuer Compagnon bei seiner Ankunft die Sache schon im besten Gange findet.«
»Ich wünsche ihr alles Gute! möge sie gedeihen!« rief Bintrey, sich erhebend, aus. »Soll Joey Ladle auch mitwirken bei Händel, Mozart, Haydn, Kent, Purcell, Doktor Arno, Greene und Mendelssohn?«
Ich hoffe.«
»Ich wünsche den Musikern, daß sie sämtlich mit heiler Haut davonkommen mögen!« erwiderte Bintrey aus vollem Herzen. »Guten Morgen, Sir. »Sie schüttelten sich die Hände und schieden. Dann, nachdem er durch Anklopfen mit seinen Knöcheln um Erlaubniß gefragt hatte, trat zu einer Verbindungsthür, die aus dem Privatbüreau in das der Schreiber führte, der Ober-Kellermeister der Kellergewölbe von Wilding u. Co., Weinhändler und früherer Ober-Kellermeister der Kellergewölbe von Pebbleson Nephew, der eben erwähnte Joey Ladle, zu Wilding herein: Ein schwerfälliger, bedächtiger Mann; wenn man ihn nach der Ordnung des menschlichen Baustyles abschätzen sollte, so würde er zur Klasse der Frachtfuhrleute gehören, mit seinem verschrumpften Anzug und seiner begossenen Schürze, die augenscheinlich halb aus Bast halb aus Rhinozerosfell bestand.
»Was das gemeinsame Speisen und Wohnen anbetrifft, junger Herr Wilding,« sagte er.
»Nun, Joey?«
»Ich spreche für mich selbst, junger Herr Wilding —— ich spreche nie und habe noch nie für jemand anders als für mich selbst gesprochen —— und ich brauche eigentlich keine Speise —— noch ein Wohnhaus jedoch wenn Sie mich speisen und mich einquartieren wollen, so thun Sie es. Ich kann eben so gut essen wie mancher Andere. Wo ich esse, hat bei mir viel weniger auf sich, als was ich esse, und besonders nicht so viel auf sich als wieviel ich esse. Werden Alle in dem Hause wohnen, Mr. Wilding? Die beiden anderen Kellermeister, die drei Träger, die beiden Lehrlinge und der Geschäftsführer?«
»Ja. Ich hoffe wir werden alle eine glückliche Familie ausmachen, Joey.«
»Ah!« sagte Joey. »Ich hoffe das werden sie.«
»Sie? Sage lieber wir, Joey.«
Joey Ladle schüttelte den Kopf. »Sie können nicht von mir erwarten, daß ich wir sage, junger Herr Wilding, bei meiner Lebensweise und unter den Verhältnissen, unter denen sich meine Neigungen ausgebildet haben. Ich habe oft Pebbleson u. Nephew geantwortet, wenn sie mir gesagt haben: mache ein freundlicheres Gesicht, Joey —— meine Herren, das mögen Sie können, die daran gewöhnt sind Ihren Wein nach einem System zu trinken, nach welchem er lustig durch die Kehle rinnt, Sie mögen ein freundliches Gesicht dazu machen, aber, sagte ich, ich bin daran gewöhnt meinen Wein durch die Poren der Haut einzunehmen mit auf diesem Wege genossen macht er eine schlimme —— eine niederdrückende Wirkung. Es ist ein anderes Ding, meine Herren, sagte ich zu Pebbleson u. Nephew, in einem Eßsaal die Gläser zu füllen und sie mit Hurrah! hoch! und »Ein lustiger Bruder Jedermann,« zu leeren und ist ein anderes Ding vom Weindunst, der durch die Poren dringt, angefüllt zu werden, in einem dunklen niedrigen Gewölbe mit feuchter Luft. Das bringt verschiedene Wirkungen, bringt gute und schlechte Laune hervor, sagte ich zu Pebbleson u. Nephew. Und das ist wahr. Ich bin mein ganzes Leben hindurch mit voller Hingabe an meinen Beruf Kellermeister gewesen. Was ist die Folge davon? Ich bin ein so dumpfiger Mensch, wie nur irgend einer lebt —— Sie können keinen dumpfigeren finden —— noch können Sie was einen melancholischen Sinn anbetrifft meinesgleichen zum zweiten mal auftreiben. »Singt und schnell den Becher gefüllt! Jeder Tropfen, der überquillt, spült von der Stirn des Grames Falten, bannt aus der Seele die düsteren Gewalten.« Ja. Vielleicht ist das so. Aber wer durch die Poren der Haut mit Dunst angefüllt wird, noch dazu unter der Erde, der heitert sich nicht auf«
»Das thut mir leid, Joey. Ich hatte gehofft, daß Du auch in die Singeschule eintreten werdest, die wir im Hause errichteten.«
»Ich, Sir? Nein, nein, junger Herr Wilding. Joey Ladle würde die ganze Harmonie dumpfig machen. Eine Speisenvertilgungsmaschine ist das einzige, Sir, zu dem ich außerhalb der Kellerräume zu verwenden bin; aber mir kann es recht sein, wenn Sie es der Mühe für werth halten so etwas, wie Sie eben erwähnten, zu errichten.«
»Das thue ich, Joey.«
»Kein Wort weiter, Sir! Meines Geschäftsherrn Wille ist mir Gesetz. —— Und Sie werden den jungen Herrn George Vendale als Compagnon in das alte Geschäft aufnehmen?«
»Das werde ich, Joey.«
»Noch mehr Veränderungen! Aber, hören Sie, ändern Sie die Firrna nicht wieder. Thun Sie es nicht, junger Herr Wilding. Es war schlimm genug, daß sie in Sie selbst und Co. verwandelt wurde. Besser wäre es gewesen, sie Pebbleson Nephew heißen zu lassen, denen das Glück immer treu geblieben ist. Man muß das Glück? nie versuchen, wenn es gut gelaunt ist, Sir.«
»Was auch kommen mag, ich habe nicht die Absicht, den Namen des Hauses noch einmal zu ändern, Joey.«
»Freut mich zu hören und ich wünsche Ihnen einen guten Tag, junger Herr Wilding; aber Sie hätten um Vieles besser gethan,« murrte Joey Ladly kopfschüttelnd, als er die Thür hinter sich schloß, »den Namen zu lassen wie er war. Sie hätten um Vieles besser gethan, sich, vom Glück führen zu lassen; als seinen Weg zu durchkreuzen.«
Die Haushälterin tritt auf.
Am andern Morgen saß der Weinhändler in seinem Eßzimmer, um die Personen, welche sich zu den offenen Stellen im Haushalt meldeten, zu empfangen. Es war ein altmodisches getäfeltes Gemach, in dem er sich befand, die Paneele waren mit aus Holz geschnitzten Blumenfestons verziert, den eichenen Fußboden bedeckte ein Verbleichter türkischer Teppich; dunkle Mahagoni-Möbel, welche alle unter Pebbleson Nephew gedient und Politur erhalten hatten, standen umher. Der große Credenztisch hatte vielen officiellen Diners beigewohnt, die Pebbleson Nephew’s ihren Connexionen gaben. Pebbleson Nephew’s wußten die Wurst nach der Speckseite zu werfen. Pebbleson Nephews geräumigen dreiseitiger Tellerwärmer, der die ganze Front der Feuerstelle einnahm, behütete den darunter befindlichen, von einer Art Sarkophag beschirmten kleinen Keller, welcher zu seiner Zeit viele Dutzende von Pebbleson Nephew’s Weinflaschen beherbergte. Aber der kleine rothe alte Junggeselle mit dem Zöpfe, dessen Portrait über dem Credenztisch hing (und dem man sogleich ansah, daß er entschieden ein Pebbleson und entschieden kein Nephew war) hatte sich in einen andren Sarkophag zurückgezogen und der Tellerwärmer war dar über, so kalt wie sein Herr geworden. Die schwarz und goldnen Greise, die den Kandelaber trugen und schwarze —— an goldenen Ketten befestigte Kugeln in den Mäulern hielten, sahen aus, als ob sie in ihren alten Tagen alle Lust verloren hätten, damit Ball zu spielen. Sie wiesen traurig ihre Ketten dar und fragten nach Art der Missionare: Sind wir denn nicht Greise und Brüder, die wohl verdienen endlich erlöst zu werden?
Einen wahren Columbus von einem Morgen konnte man den heutigen Sommermorgen nennen, da er Cripple Cornet entdeckt hatte. Sein Licht und seine Wärme drangen durch die offenen Fenster und beleuchteten das Bildniß einer Dame über dem Kamin, außer dem vorher erwähnten Portrait die einzige Wandverzierung.
»Meine Mutter, als sie fünfundzwanzig Jahre alt war,« sprach Mr. Wilding zu sich selbst. Seine Augen waren voller Entzücken dem Lichtstrahl zu dem Bilde hinauf gefolgt. »Ich habe sie hierher gehängt, damit die mich Besuchenden meine Mutter in der Blüthe ihrer Schönheit und Jugend bewundern können. Meine Mutter im Alter von fünfzig Jahren hängt in der Verschwiegenheit meines eigenen Zimmers, als eine mir heilige Erinnerung.« —
»O! Sind Sie es Jarvis?«
Die letzten Worte waren an einen Schreiber gerichtet, der an die Thür gepocht hatte und nun hineinsah.
»Ja, Sir. Ich wollte nur melden, daß es zehn vorbei ist, Sir, und daß mehrere Frauen im Comptoir warten.«
»Richtig!« sagte der Weinhändler. Das Rothe in seiner Gesichtsfarbe wurde röther und das Weiß weißer als vorher.
»Also Mehrere sind da? Mehrere —— das ist sehr viel. Ich hätte anfangen sollen, ehe Mehrere da waren.
Ich will eine nach der andern sehen, Jarvis, und zwar in der Reihe, wie sie gekommen sind.«
Eiligst sich in seinen Lehnstuhl am Tisch hinter dem großen Tintenfaß verschanzend, nachdem er zuvor einen andern Sessel seinem eignen gegenüber gestellt hatte, begann Mr. Wilding sein Geschäft mit Zittern und Zagen.
Ein Spießruthenlaufen begann, wie bei jeder solchen Gelegenheit. Es kam die gewöhnliche Sorte von unsäglich unanziehenden Frauen und die ebenso gewöhnliche von zu anziehenden Frauen. Es kamen raubgierige Wittwen, die sich seiner bemächtigen wollten; sie hatten Schirme unter ihre Arme gepreßt und ihm war, als ob er das Pressen mitempfand. Es kamen schwärmerische Kammermädchen, die bessere Tage gesehen hatten, mit Zeugnissen von Geistlichen bewaffnet, welche die Frömmigkeit der Kammermädchen bescheinigten, als ob er St. Peter mit den Schlüsseln wäre. Es kamen allerliebste Kammermädchen, die ihn gern geheirathet hätten. Es kamen Hanshälterinnen von Profession, gleich Beamten ohne Amt, welche ihn mit sich durch alle häuslichen Pflichten zogen, anstatt sich selbst einem Examen zu unterwerfen. Es kamen Alterschwache und Kranke, die weniger auf gutes Gehalt sahen, als auf liebevolle Verpflegung. Es kamen sentimentale Wesen, die bei jeder Anrede in Thränen ausbrachen und erst mit Gläsern kaltem Wasser wieder zu sich gebracht werden mußten. Es kamen zwei zu gleicher Zeit, von denen eine die andere empfehlen wollte, die eine war sehr viel versprechend die andere gar nichts versprechend. Die Vielversprechende antwortete bezaubernd auf alle Fragen, nur kam zuletzt heraus, daß sie gar keine Stelle haben wolle, sondern sie nur die Freundin der Nichtsversprechenden sei, welche in absolutem Schweigen verharrte. Endlich, als dem guten einfachen Weinhändler der Muth zu sinken begann, trat eine Bewerberin ein, die ganz verschieden von allen Uebrigen war. Eine Frau von etwa fünfzig Jahren, aber jünger aussehend, mit einem Gesicht, welches durch ruhige Freundlichkeit anzog und einer Haltung, die nicht minder durch ihr Gepräge von Seelenruhe fesselte. An ihrem Anzug hätte nichts zum Vortheil verändert werden können, ebenso wenig an der geräuschlosen Art ihrer Bewegungen und nichts konnte zu dem eben Erwähnten besser passen, als der Ton der Stimme, mit dem sie die Frage: »Welchen Namen habe ich zu schreiben?« beantwortete. »Mein Name ist Sarah Goldstraw. Mrs. Goldstraw. Mein Mann ist schon seit Jahren todt und wir haben keine Kinder.«
Ein halbes Dutzend Fragen hatten bei den Andern nicht so viel zur Sache Gehörendes herausgebracht. Die Stimme schlug so angenehm an Mr. Wildings Ohr, während er seine Notiz machte, daß er länger damit zu brachte, als nöthig. Beim Aufsehen bemerkte er, daß Mrs. Goldstraw’s Blicke im Zimmer umhergewandert waren und eben Von der Kaminwand zu ihm zurückkehrten. Ihr Ausdruck war der der offensten Bereitwilligkeit, alle Fragen: unumwunden zu beantworten.
»Entschuldigen Sie, daß ich einige Fragen thun muß,« sagte der Weinhändler bescheiden.
»Gewiß, Sir. Sonst brauchte ich ja nicht hier zu sein.«
»Haben Sie schon einem Haushalt vorgestanden?«
»Einmal. Ich bin nach dem Tode Meines Mannes zwölf Jahr bei einer verwittweten Dame gewesen. Sie war kränklich und starb vor Kurzem. Es ist der Grund, weshalb Sie Mich in Trauer sehen.«
»Ich zweifle nicht, daß sie Ihnen ein gutes Zeugniß ausgestellt haben wird,« sagte Mr. Wilding.
»Ich freue mich, es bestätigen zu können: wirklich ein gutes. Auch glaubte ich Ihnen Mühe zu ersparen, wenn ich Namen und Wohnung des Gentleman, der an Stelle meiner Herrin Auskunft ertheilen will, niederschrieb und mitbrachte.« Sie legte bei diesen Worten eine Karte aus den Tisch.
»Mrs. Goldstraw,« sagte Mr. Wilding indem er die Karte bei Seite legte, »Sie erinnern mich In Ihrer Art und Weise, Ihrem Ton der Stimme, an etwas aus früherer Zeit. Nicht an eine einzelne Person —— das weiß ich gewiß, obgleich ich nicht darauf kommen kann, was mir eigentlich im Sinne liegt —— aber an eine bestimmte Art des Benehmens. Ich muß hinzufügen, an eine freundliche, mir angenehme.«
Sie entgegnete lächelnd: »Das freut mich zu hören, Sir.«
»Ja,« fuhr der Weinhändler gedankenvoll fort, seine letzten Worte wiederholend, indem er einen schnellen Blick auf seine künftige Haushälterin warf, »eine freundliche und mir angenehme, aber das ist auch alles, worauf ich mich besinnen kann. Die Erinnerung schwebt mir vor, wie ein halb vergessener Traum. Ich weiß nicht, wie es Ihnen erscheinen mag, Mrs. Goldstraw, aber mir erscheint es so.«
Wahrscheinlich erschien es Mrs. Goldstraw in demselben Lichte, denn sie stimmte Mr. Wilding ruhig bei. Mr. Wilding erklärte sich in Verbindung mit dem Herrn setzen zu wollen, dessen Name aus der Karte verzeichnet stand: die Firma eines Procurators in Doctors Commons. Mrs. Goldstraw verneigte sich dankend. Da Doctors Commons nicht weit war, so schlug Mr. Wilding vor, ob es Mrs. Goldstraw möglich wäre, etwa in drei Stunden wieder herzukommen? Mrs. Goldstraw versprach es. Kurz und gut, das Ergebniß von Mr. Wildings Erkundigungen fiel im hohen Grade befriedigend aus. Mrs. Goldstraw wurde noch diesen Nachmittag engagirt und zog (nach ihrer eigenen Bestimmung) am andern Morgen ein, um sich in Cripple Cornet als Haushälterin niederzulassen.
Die Haushälterin redet.
Am andern Tage traf Mrs. Goldstraw ein, um ihre neuen Pflichten zu übernehmen.
Nachdem sie sich in ihrem Zimmer eingerichtet hatte, ohne die Diener zu bemühen und ohne Zeitverschwendung meldete sich die neue Haushälterin bei ihrem Herrn, um die Instructionen, die er ihr etwa zu geben wünsche, entgegenzunehmen. Der Weinhändler empfing Mrs Goldstraw im Eßzimmer, in der er sie schon am vorigen Tage empfangen hatte und, nachdem die gegenseitige Begrüßung vorüber war, setzten sich beide nieder, um über die häuslichen Angelegenheiten zu berathen.
»Was die Speisen anbetrifft, Sir!« sagte Mrs. Goldstraw. »Habe ich eine große Anzahl oder nur wenig Menschen zu bewirthen?«
»Wenn ich einen lieben altmodischen Plan ausführen kann,« erwiderte Mr. Wilding »werden Sie eine große Anzahl zu versorgen haben. Ich bin ein einsamer unverheiratheter Mann, Mrs. Goldstraw, und gedenke mit allen denen, die bei mir im Geschäft sind, zu leben, als ob wir eine Familie wären. Bis es so weit ist, haben Sie Niemand als mich und den neuen Compagnon, den ich jeden Augenblicke erwarte, zu versorgen. Welche Gewohnheiten mein Theilnehmer am Geschäft haben mag, kann ich nicht sagen, aber mich selbst kann ich als einen Mann bezeichnen, der regelmäßig seine Stunden einhält und regelmäßig Appetit mitbringt, darauf können Sie rechnen.«
»Was das erste Frühstück anbelangt, Sir?« fragte Mrs. Goldstraw. »Haben Sie einige besondere ——«
Sie hielt ein und ließ den Satz unvollendet. Ihre Augen wendeten sich langsam von ihrem Herrn ab und blickten nach dem Kamin hin. Wenn sie eine weniger vortreffliche und erfahrene Haushälterin gewesen wäre, so hätte sich Mr. Wilding einbilden können, daß ihre Aufmerksamkeit schon am Anfang ihrer Unterredung abzuschweifen beginne.
»Acht Uhr ist meine Frühstückszeit,« nahm er das Gespräch wieder auf. »Es ist eine meiner Tugenden, daß mir gebratener Speck nie überdrüssig wird und eines meiner Laster, daß ich Eier stets mit Mißtrauen betrachte.« Mrs. Goldstraws Augen kehrten wieder zu dem Sprechenden zurück, aber sie weilten. nur halb auf ihrem Herrn und zur andern Hälfte auf ihres Herrn Kamin. »Ich trinke Thee,« fuhr Mr. Wilding fort; »und bin, was denselben anbetrifft, krankhaft peinlich; ich trinke ihn in einer genau abgemessenen Zeit nach seinem Fertig werden. Wenn mein Thee zu lange steht ——«
Er hielt jetzt seinerseits ein und ließ den Satz unvollendet. Wenn er nicht im Besprechen eines Gegenstandes von so ungemeiner Wichtigkeit, als sein Frühstück begriffen gewesen wäre, so hätte Mrs. Goldstraw sich einbilden können, daß auch seine Aufmerksamkeit schon im Anfang des Gesprächs abzuschweifen beginne.
»Wenn Ihr Thee zu lange steht » Sir?« half die Haushälterin ein, höflich den Faden des Gesprächs wieder aufnehmend.
»Wenn mein Thee zu lange steht« —— wiederholte der Weinhändler mechanisch, aber sein Geist verlor sich weiter und weiter hinweg vom Frühstück und seine Augen hefteten sich immer forschender auf die Züge der Haushälterin. »Wenn mein Thee —— Himmelt Himmel! Mrs. Goldstraw Woran erinnert mich Ihre Art und Weise und Ihre Stimme? Es ergreift mich heute noch mehr als gestern, wo ich Sie zum ersten mal sah. Was kann es sein?«
»Was kann es sein?« wiederholte Mrs. Goldstraw.
Sie sprach die Worte und dachte augenscheinlich an ganz etwas anderes, als an das, was sie sprach. Der Weinhändler der sie noch immer forschend ansah, bemerkte, daß ihre Augen wieder und wieder nach der Kaminwand hinschweiften. Sie blieben an dem Portrait seiner Mutter hängen, welches sich dort befand und blickten es an. Sie zog ihre Brunnen leicht zusammen, wie man es bei einer kaum bewußten Anstrengung des Denkvermögens zu thun pflegt. Mr. Wilding erklärte:
»Meine geliebte verstorbene Mutter ist ihrem fünfundzwanzigsten Jahre.«
Mrs. Goldstraw bedankte sich mit einer leichten Kopfbewegung für die Mühe, die er sich nahm, ihr das Bild zu erklären und sagte wieder mit freier Stirn, daß es das Portrait einer sehr schönen Dame wäre.
Mr. Wilding fiel in sein früheres Sinnen zurück und versuchte auf’s Neue seine Erinnerungen aufzufrischen, die so genau und so unerklärlich sich an die Stimme und an die Art und Weise der neuen Haushälterin knüpften.
»Entschuldigen Sie eine Frage, welche freilich nichts mit mir oder meinem Frühstück zu thun hat,« sagte er. »Darf ich wissen, ob Sie je eine andere Stellung inne gehabt haben als die einer Haushälterin?«
»Ja, Sir. Im Anfange meiner Laufbahn war ich Kinderwärterin im Findelhause.«
»Ha! da ist es!« rief der Weinhändler seinen Stuhl zurückstoßend. »Beim Himmel. An deren Art und Weise erinnern Sie mich.«
Mrs. Goldstraw sah, ihn verwundert an und wechselte die Farbe. Dann nahm sie sich gewaltsam zusammen, senkte Je Augen zur Erde und verharrte schweigend und bewegungslos.
»Was ist Ihnen?« fragte Mr. Wilding.
»Verstehe ich Sie recht, Sir? Sie sind im Findelhause gewesen?«
»Gewiß. Ich schäme ich nicht, es einzugestehen.«
»Unter dem Namen, den Sie noch führen?«
»Unter dem Namen Walter Wilding.«
»Und die Dame?« —— Mrs. Goldstraw hielt ein und warf einen Blick, der augenscheinlich von Angst und Unruhe sprach, auf das Portrait.
»Ist meine Mutter,« unterbrach sie Mr. Wilding.
»Ihre —— Mutter,« wiederholte die Haushälterin gezwungen, »nahm Sie aus dem Findelhause? Wie alt waren Sie da,Sir?«
»Zwischen elf und zwölf Jahren. Es ist eine ganz romantische Geschichte, Mrs. Goldstraw.«
Er erzählte in seiner unbefangenen mittheilsamen Weise, wie eine Dame während der Tischzeit mit ihm gesprochen habe, als er und die andern Knaben im Findelhause beim Mittagbrod gewesen seien, und welche Folgen sich daran für ihn geknüpft hätten. »Meine arme Mutter würde mich nicht herausgefunden haben,« setzte er hinzu, »wenn nicht eine der Aufseherinnen, mit der sie gerade zusammentraf, Mitleiden gehabt hätte. Dieselbe willigte ein, den Knaben, welcher Walter Wilding genannt wurde, beim Herumgehen um die Tische anzufassen —— und auf diese Art erhielt meine Mutter mich wieder, nachdem sie an der Thür des Findelhauses aus ewig Abschied von mir genommen hatte, als ich ein ganz kleines Kind gewesen bin.«
Bei diesen Worten sank Mrs. Goldstraw’s Hand vom Tisch, auf dem sie lag, in ihren Schooß. Die Haushälterin saß, ihren neuen Herrn anstarrend, mit einem Gesicht das todtenbleich geworden war und mit Augen da, die unsäglichen Schrecken ausdrückten.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte der Weinhändler. »Halt!« rief er. »Es steht vielleicht noch etwas aus meiner Vergangenheit mit Ihnen in Beziehung. Ich erinnere mich, daß meine Mutter mir von einem Mädchen aus dem Findelhause erzählte, dem sie zu großem Dank verpflichtet war. Damals, als sie sich von mir getrennt hatte, verrieth eine der Kinderwärterinnen den Namen, der mir in dem Institut zuertheilt worden. Waren Sie die Kinderwärterin?«
»Gott vergebe mir, Sir —— ich war es.«
»Gott vergebe Ihnen?«
»Wir thäten besser, Sir, wenn ich so frei sein darf, das auszusprechen, zu den Pflichten, die ich im Hause übernehmen soll, zurückzukehren,« sagte Mrs. Goldstraw. »Um acht Uhr frühstücken Sie. Nehmen Sie Mittags ein zweites Frühstück oder Ihr Diner ein?«
Die dunkle Röthe, die Mr. Bintrey in das Antlitz seines Clienten hatte aufsteigen sehen, begann sich aufs Neue zu zeigen. Mr. Wilding faßte mit der Hand an die Stirn und kämpfte eine augenblickliche Verwirrung, die dort herrschte, nieder, ehe er zu sprechen anfing.
»Mrs. Goldstraw! sagte er, »Sie verheimlichen etwas vor mir!«
Die Haushälterin wiederholte beharrlich: »Wollen Sie nicht so gütig sein, mir zu sagen, Sir, ob Sie Mittags ein zweites Frühstück einnehmen oder dinieren?«
»Ich weiß nicht, was ich Mittags thue. Ich bin nicht eher im Stande auf häusliche Angelegenheiten einzugehen, Mrs. Goldstraw, bis ich nicht erfahren habe, warum Sie die Freundlichkeit, die Sie meiner Mutter erwiesen haben, bereuen, eine Freundlichkeit, deren meine Mutter dankbar bis zu ihrem Lebensende gedachte. Sie erzeigen mir keinen Dienst mit ihrem Schweigen. Sie regen mich auf und beunruhigen mich. Sie beschwören das Sausen in meinem Kopf herauf!« Seine Hand faßte wieder nach der Stirn, und die Rüthe in seinem Antlitz wurde tiefer und tiefer.
»Es ist traurig für mich, Sir,« sagte die Haushälterin, »gerade beim Eintritt in Ihren Dienst etwas gestehen zu sollen, was mir Ihre gute Meinung kosten kann. Bitte, wollen Sie sich erinnern, wie es auch enden mag, daß ich nur spreche, weil Sie darauf bestehen, und weil ich sehe, wie sehr ich Sie durch mein Schweigen beunruhige. Als ich der armen Leidy, deren Portrait dort oben hängt, den Namen verrieth, den man ihrem Kinde im Findelhause gegeben hatte, verletzte ich allerdings meine Pflicht, und ich sehe, schreckliche Folgen —— Folgen, die mich entsetzten —— sind daraus erwachsen. Ich will die Wahrheit eingestehen, so gut ich es vermag. Wenige Monate, nachdem ich der Lady den Namen ihres Kindes verrathen hatte, erschien eine Dame vom Lande, eine Fremde, in dem Institut, welche den Wunsch aussprach eines unserer Kinder zn adoptieren. Die nöthige Erlaubniß dazu brachte sie mit, und nachdem sie eine Menge unserer Zöglinge gesehen hatte, ohne sich entschließen zu können, erfaßte sie eine plötzliche Zuneigung zu einem derselben —— einem Knaben, —— der unter meiner Aufsicht stand. Bitte, suchen Sie sich zu fassen, Sir, das Verheimlichen ist nicht mehr möglich. Das Kind, welches die Fremde mit sich nahm, war das Kind jener Dame, deren Bild hier hängt.«
Mr. Wilding starrte den Boden an. »Unmöglich!« rief er mit aller Gemalt, deren er fähig war. »Wovon sprechen Sie? Welche wahnsinnige Geschichte erzählen Sie mir? Hier hängt ihr Bild! Habe ich Ihnen das nicht schon einmal gesagt? Das Bild meiner Matter!«
»Wenn diese unglückselige Frau Sie in späteren Jahren aus der Anstalt nahm,« sprach Mrs Goldstraw so milde wie möglich, »so war sie das Opfer eines traurigen Mißverständnisses, und Sie waren es gleichfalls, Sir.«
Er sank in seinen Sessel zurück. »Das Zimmer geht mit mir herum,« rief er. »Mein Kopf! mein Kopf.«
Die Haushälterin sprang erschrocken auf und öffnete das Fenster. Ehe sie die Thür erreicht hatte, um nach Hilfe zn rufen, machte sich die Beklemmung, die Mr. Wildings Leben zu bedrohen schien, durch einen gewaltsamen Thränenstrom Luft. Er gab wiederholentlich der Mrs. Goldstraw Zeichen, ihn nicht zu verlassen. Sie wartete geduldig, bis der Weinkrampf sich beruhigt hatte. Als Mr. Wilding wieder Fassung gewonnen, richtete er den Kopf auf und sah Mrs. Goldstraw ärgerlich und argwöhnisch an, wie ein schwacher Mensch, der das ihm Unbequeme nicht glauben will.
»Mißverständniß?« fragte er zornig, ihr letztes Wort wiederholend. »Wie kann ich wissen, ob Sie nicht selbst im Irrthum sind?«
»Hoffen Sie nicht, daß ich mich irre, Sir. Ich will Ihnen den« Grund sagen, wenn Sie besser im Stande sind, ihn zu hören.«
»Jetzt! jetzt!«
Der Ton, in dem er sprach, überzeugte Mrs. Goldstraw, daß es eine grausame Gutmüthigkeit sein würde, ihn noch einen Augenblick länger sich mit der eitlen Hoffnung schmeicheln zu lassen, daß das Erzählte auf einem Irrthum beruhen könne. Wenige Worte mehr machten allem Zweifel ein Ende, und sie war entschlossen, diese wenigen Worte zu sprechen.
»Ich sagte Ihnen,« begann sie, »daß das Kind der Dame, deren Portrait dort hängt, von einer fremden Frau fortgenommen und adoptiert worden sei. Es ist so gewiß wahr, was ich sage, wie ich hier vor Ihnen sitze und gezwungen bin, Sie zu kränken. Bitte, folgen Sie mir im Geist in die Zeit zurück, als ein Vierteljahr über Ihre Aufnahme im Findelhause dahingegangen war. Ich befand mich damals in London, um einige Kinder von dort nach unsrer Anstalt auf dem Lande abzuholen. Man hielt Rath über die Taufe eines Kindes. —— eines Knaben —— der gerade aufgenommen worden war. Wir wählten die Namen gewöhnlich, ohne das Directorium zu befragen. Heute erschien zufällig einer der bei der Verwaltung betheiligten Herren und sah die Register durch. Er bemerkte, daß man den Namen jenes Kindes, welches adoptiert worden war, Walter Wilding, ausgestrichen hatte —— offenbar aus dem Grunde, weil das Kind für immer unserm Wirkungskreis entzogen war. Hier ist ein Name, sagte er, gebt ihn dem Findling der heute aufgenommen ist. Man gab ihm den Namen, und das Kind wurde getauft. Sie, Sir, waren das Kind.«
Der Kopf des Weinhändlers fiel auf die Brust. »Ich war das Kind!« sagte er zu sich selbst einen ohnmächtigen Versuch machend diese Idee wirklich zu fassen. »Ich war das Kind!«
»Kurze Zeit nachdem Sie in der Anstalt verweilten, Sir,« fuhr Mrs. Goldstraw fort, " »gab ich meine Stellung auf, weil ich heirathete. Wenn Sie sich dessen erinnern wollen und wenn Sie sich entschließen können das Folgende scharf ins Auge zu fassen, so wird Ihnen selbst klar werden, wie dieser bedauerliche Irrthum, von dem wir reden, sich ereignen konnte. Elf bis zwölf Jahre verliefen, ehe die Dame, die Sie für Ihre Mutter gehalten haben, das Findelhaus wieder betrat um ihren Sohn zu suchen und mit sich nach Hause zu nehmen. Die Dame wußte nur, daß ihr Sohn Walter Wilding hieß. Die Aufseherin, welche sich ihrer mitleidig annahm, konnte ihr nur den Walter Wilding zeigen, der sich in der Anstalt befand. Ich, welche den Irrthum entdeckt haben würde, war fern von den Kindern und von allem was zu ihnen gehörte. Nichts, wirklich nichts konnte den traurigen Mißgriff, der geschah, abwenden. Ich empfinde mit Ihnen —— gewiß, Sir, das thue ich. Sie werden denken —— und mit Recht —— daß es eine unselige Stunde war, die mich in Ihr Haus führte, ganz ahnungslos, das versichere ich, um mich nach der Haushälterinstelle umzuthun. Mir ist, als ob ich zu tadeln wäre —— als ob ich mehr Selbstbeherrschung hätte entwickeln müssen. Wenn meine Mienen nicht verrathen hätten, an was mich dieses Portrait und ihre eigenen Worte erinnerten, Sie würden nie, selbst nicht auf ihrem Sterbebette, erfahren haben, was Sie jetzt wissen.«
»Mr. Wilding richtete sich plötzlich auf. Die angeborene Ehrlichkeit des Menschen sträubte sich gegen die letzten Worte der Haushälterin. Es schien, als ob seine Seele sich nach dem Schlag, der sie niederzuschmettern drohte, kräftig aufrichtete.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie es mir verheimlicht haben würden, wenn es möglich gewesen wäre?« rief er aus.
»Ich würde stets auf Befragen die Wahrheit gesagt haben, Sir, so hoffe ich von mir,« entgegnete Mrs. Goldstraw. »Und, so viel weiß ich, es ist besser für mich kein Geheimniß dieser Art auf meiner Seele lasten zu haben. Aber ob es besser für Sie ist? Wozu kann es Ihnen nützen.«
»Nützen? Allmächtiger! Wenn Ihre Erzählung eine wahre ist.——«
»Würde ich sie, in der Stellung, die ich inne habe, mitgetheilt haben, wenn sie nicht wahr wäre?«
»Entschuldigen Sie,« sagte der Weinhändler, »Sie müssen Nachsicht mit mir haben. Ich kann mir diese schreckliche Entdeckung jetzt nicht als wirklich darstellen. Wir haben uns so innig lieb gehabt —— ich empfand mich ganz und gar als ihren Sohn. Sie starb, Mrs. Goldstraw, in meinen Armen —— sie gab mir sterbend ihren Segen, wie nur eine Mutter ihn geben kann. Und nun, nach der ganzen Zeit zu erfahren, daß sie nicht meine Mutter war! O, Himmel! Himmel! Ich weiß nicht was ich rede!« rief er, als die Selbstbeherrschung die ihn das Vorhergehende hatte sprechen lassen, ins Wanken gerieth und unterlag. »Es ist nicht dieser schreckliche Kummer —— es liegt mir etwas anderes im Sinn, von dem ich reden wollte. Ja, richtig! Sie haben mich überrascht —— Sie haben mich tief gekränkt. Sie thaten so, als ob Sie mir alles verheimlicht haben würden, wenn Sie gekannt hätten. Lassen Sie mich das nicht wieder hören. Nur ein Verbrechensucht man zu verheimlichen. Sie meinen es gut, ich weiß es. Ich will Ihnen nicht wehe thun. Sie sind eine freundliche Seele. Aber Sie vergessen, in welcher Lage ich mich befinde. Sie hat mir alles was ich mein nenne in der festen Ueberzeugung hinterlassen, daß ich ihr Sohn sei. Ich bin nicht ihr Sohn. Ich habe den Platz unrechtmäßig eingenommen, ich habe unschuldiger Weise das Erbe eines andern Mannes im Besitz. Er muß aufgefunden werden. Kann ich wissen, ob er nicht in diesem Augenblick im Elend ist und keinen Bissen hat um seinen Hunger zu stillen! Er muß aufgefunden werden! Meine einzige Hoffnung dem Schlag, der mich getroffen hat nicht zu unterliegen beruht darauf, meine Handlungsweise so einzurichten daß sie sie billigen müßte. Sie wissen noch mehr, Mrs. Goldstraw, als Sie mir bis jetzt mitgetheilt haben. Wer war die Fremde, welche das Kind adoptiert hat? Sie müssen den Namen der Dame gehört haben.«
»Ich habe ihn nie gehört, Sir. Und habe sie nie wieder gesehen und nichts wieder von ihr vernommen.«
»Sagte sie nichts, als sie das Kind mit sich nahm? Spähen Sie in ihrem Gedächtniß nach. Sie muß etwas gesagt haben.«
»Nur auf Eines kann ich mich besinnen, Sir. Es war auffallend schlechtes Wetter in dem Jahre, und die Kinder kränkelten viel. Als sie den Knaben mitnahm, sagte sie freundlich zu mir: »Beunruhigen Sie sich nicht seiner Gesundheit wegen. Er wird in einem schöneren Klima als dies ist groß werden. —— Ich gehe mit ihm in die Schweiz.«
»In die Schweiz? In welchen Theil der Schweiz?«
»Das hat sie nicht gesagt, Sir.«
»Nur diesen schwachen Anhalt! sagte Mr. Wilding. »Und ein Vierteljahrhundert ist vorübergegangen, seitdem das Kind fortgeholt ist! Was soll ich thun?«
»Ich hoffe, Sie halten mir meine Offenheit zu gut, Sir," sagte Mrs Goldstraw. »Aber weshalb sich grämen, möglicherweise ist er nicht mehr am Leben, wer kann es wissen? und sollte er leben, so ist es nicht wahrscheinlich daß es ihm schlecht ergehe. Die Dame, welche ihn an Kindes statt aufnahm, war eine vornehme, wohlhabende Frau —— das konnte man gleich erkennen. Auch muß sie sich darüber ausweisen, den Knaben erziehen zu können, sonst überläßt man ihr kein Kind. Wenn ich in Ihrer Stelle wäre, Sir —— entschuldigen Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, so zu sprechen —— ich würde mich in dem Gedanken beruhigen, daß ich die arme Lady, deren Portrait dort hängt, geliebt hätte —— in Wahrheit geliebt hätte, wie eine Mutter und daß sie mich in Wahrheit geliebt hätte, wie ihren Sohn. Alles, was Sie von ihr besitzen, hat sie Ihnen um dieser Liebe willens gegeben. Diese Liebe war unverändert, so lange sie lebte und würde sich nicht verändert haben, so lange Sie lebten, dessen bin ich gewiß. Giebt es ein besseres Recht, Sir, auf das, was Sie besitzen?«
Mr. Wildings nicht zu beirrende Ehrlichkeit erkannte die schwache Seite in der Ansicht seiner Haushälterin auf den ersten Blick heraus.
»Sie verstehen mich nicht« sagte er. »Gerade weil ich sie geliebt habe, empfinde ich es als eine Pflicht eine heilige Pflicht gerecht gegen ihren Sohn zu handeln. Wenn er am Leben ist, muß ich ihn auffinden; meinetwegen so gut als seinetwegen. Ich würde zusammenbrechen unter dieser schrecklichen Prüfung, wenn ich mich nicht beeiferte —— dringlich und schleunig beeiferte —— das zu thun, was mein Gewissen mir als Nothwendigkeit vorschreibt. Ich muß mit meinem Advocaten sprechen; ich muß Alles in Bewegung setzen, nech ehe ich schlafen gehe.« Er ging auf das Sprachrohr, welches sich in der Wand des Zimmers befand, zu und rief etwas in das Bureau hinab. »Verlassen Sie mich, Mrs. Goldstraw,« fuhr er fort. »Ich werde später gesammelter und mehr dazu fähig sein, mit Ihnen zu sprechen. Wir werden gut mit einander auskommen —— ich hoffe, wir werden gut. mit einander auskommen —— trotz alledem, was sich ereignet hat. Sie können nicht dafür. Ich weiß, Sie können nicht dafür. So! so! schütteln mir uns die Hände und thun Sie Ihr Möglichstes für meinen Haushalt. —— Ich hin nicht im Stande, darüber mit Ihnen zu sprechen.«
Die Thür öffnete sich gerade, als Mrs. Goldstraw darauf zuging und Mr. Jarvis erschien.
»Schicken Sie zu Mr. Bintrey,« sagte der Weinhändler. »Zeigen Sie ihm an, daß ich ihn sogleich zu sprechen Wunsche.«
Der Schreiber schob unhefugter Weise die Ausführung des Befehls dadurch hinaus, daß er Mr. Vendale« meldete und den neuen Theilnehmer der Firma Wilding und Co. auch sogleich eintreten hieß.
»Wollen Sie mich auf einen Augenblick entschuldigen, George Vendale,« sagte Wilding. »Ich habe Jarvis noch ein Wort zu sagen. Schicken Sie zu Mr. Bintrey,« wiederholte er. »Schicken Sie sogleich!«
Ehe Mr. Jarvis das Zimmer verließ, legte er noch einen Brief auf den Tisch.
»Von unserm Correspondenten aus Neuschatel, glaube ich, Sir. er Brief trägt die Schweizer Postmarke.«
Neue Charactere auf der Scene.
Die Worte die »Schweizer Postmarke« folgten so unmittelbar auf Mrs. Goldstraw’s Erwähnung der Schweiz und steigerten Mr. Wildings Aufregung zu einer solchen Höhe, daß sein Compagnon sich nicht das Ansehen gehen konnte, als ob er sie nicht bemerke.
»Wilding,« fragte er schnell und hielt dann ein, sich umsehend, ob er im Zimmer eine Ursache zu seines Gefährten Aufregung entdecken könne. »Was haben Sie?«
»Mein lieber George Vendale,« erwiderte der Weinhändler dem Angeredeten seine Hand mit einem flehenden Blick entgegenstreckend, als ob er dessen Hilfe begehre, um etwas Schreckliches zu überwinden und nicht, als ob er sie ihm zum Bewillkommungs-Gruß reiche. »Mein lieber George Vendale, so viel habe ich erfahren, daß ich nie wieder ich selbst sein werde. Unmöglich kann ich je wieder ich selbst sein. Denn im vollen Sinne des Wortes, ich bin nicht ich.«
Der neue Compagnon, ein braunwangiger hübscher Junge, beinah in Wildings Alter, mit einem schnellen sichern Auge und entschlossener Bewegung, erwiderte mit unendlichem Erstaunen: »Nicht Sie?«
»Nicht was ich zu sein glaubte,« sagte Wilding.
»Wer, im Namen alles Wunderbaren, glaubten Sie zu sein, der Sie nun nicht sind?« lautete die Entgegnung, die mit einer so herzgewinnenden Freundlichkeit ausgesprochen wurde, daß sie das Vertrauen eines zurückhaltenderen Mannes als Wilding war, herausgelockt haben würde. »Ich kann Sie jetzt, wo wir Compagnons sind, wohl ohne unbescheiden zu sein fragen.«
»Schon wieder!« rief Wilding indem er sich in seinen Sessel zurücklehnte und dem andern einen trostlosen Blick zuwarf. »Compagnon! und ich habe nicht das Recht in unser Geschäft einzutreten. Es ist mir nicht bestimmt gewesen und meine Mutter hat es nicht für mich erworben. Ich will damit sagen, seine Mutter hat es für ihn erworben —— wenn ich überhaupt eine Meinung haben kann —— oder überhaupt jemand bin.«
»Gehen Sie, gehen Sie!« äußerte der Compagnon nach einer augenblicklichen Pause mit jener ruhigen Zuversicht, wie sie eine kräftige Natur durchdringt, die den aufrichtigen Willen hat, einer schwachen beizustehen. »Wenn ein Unrecht geschehen ist, so ist es ohne Ihre Schuld geschehen, davon bin ich überzeugt. Ich war nicht drei Jahre mit Ihnen zusammen in diesem Comptoir unter dem alten Regime, um Ihnen zu mißtrauen, Wilding. Wir waren, was Redlichkeit anbelangt beide damals schon ebenso reif wie jetzt. Lassen Sie mich meine Compagnonschaft damit beginnen, Ihnen ein thätiger Theilnehmer zu sein und alles, was unrecht ist, in’s Gleiche zu bringen. Hat der Brief irgend etwas damit zu schaffen?«
»Ach!« rief Wilding mit der Hand an seine Schläfe fassend. »Schon wieder! Mein Kopf! Ich hatte den Zwischenfall vergessen! Die Schweizer Postmarke.«
»Bei einem zweiten Blick, den ich darauf werfe, werde ich gewahr, daß der Brief uneröffnet ist, also nichts mit den angedeuteten Verhältnissen zu thun haben kann. Ist er an Sie oder an uns?«
»An uns,« sagte Wilding.
»Ich denke, ich öffne ihn und lese ihn vor, um ihn uns aus dem Weg zu schaffen.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Der Brief kommt von unsern Champagnerlieferanten, dem Neuschateller Hause. Geehrter Herr. Durch Ihr gütiges Schreiben vom 28. d. M. sind wir in Kenntnis gesetzt worden, daß Sie Herrn Vendale als Compagnon in das Geschäft aufgenommen haben. Erlauben Sie, daß wir Ihnen unsre Glückwünsche zu diesem Ereigniß aussprechen. Zu gleicher Zeit ergreifen wir die Gelegenheit, Ihnen ausdrücklich Herrn Jüles Obenreizer zu empfehlen.« »Nicht möglich! Wilding sah von einem schnellen Argwohn erfaßt auf und rief: »Wie?«
»Nicht möglich den Namen auszusprechen!« erwiderte sein Compagnon leichthin —— »Obenreizer. —— Ihnen ausdrücklich Herrn Jüles Obenreizer zu empfehlen, Sohosquare, London (north Side), welcher als unser Agent accreditirt ist. Er hat die Ehre, bereits die Bekanntschaft des Herrn Vendale in seinem Vaterlande (d. h. in Herrn Obenreizers Vaterlande) der Schweiz gemacht zu haben —— Richtig! —— o, o, woran hatte ich schon gedacht. —— Jetzt erinnere ich mich —— als er es mit seiner Nichte bereiste.«
»Mit seiner ——?« Vendale hatte das letzte Wort so verschluckt, das Wilding es nicht verstehen konnte.
»Als er es mit seiner Nichte bereiste Obenreizers Nichte,« sagte Vendale übertrieben deutlich. »Die Nichte Obenreizers. (Ich bin ihnen während meiner ersten Schweizer Tour begegnet, reiste eine Weile mit ihnen, Verlor sie während zweier Jahre aus den Augen, begegnete ihnen, als ich das vorletzte Mal in der Schweiz war, wieder und habe seitdem nichts mehr von ihnen gehört.) Obenreizer. Obenreizers Nichte. Richtig! Er ist schließlich doch möglich auszusprechen, der Name! —— Herr Obenreizer besitzt unser ausgedehntestes Vertrauen und wir hoffen, daß auch Sie seine Verdienste zu schätzen wissen werden. Richtig unterzeichnet von dem Hause Defresnier und Comp. Schön. Ich werde Mr. Obenreizer sogleich aufsuchen und den Gang uns aus dem Wege räumen. Das räumt zugleich die Schweizer Postmarke aus dem Wege. Und, mein lieber Wilding, theilen Sie mir mit, was ich weiter aus Ihrem Weg räumen kann und ich werde Mittel finden, die mir das Aufräumen ermöglichen.«
Bereit dazu und im höchsten Grade dankbar, daß ihm die Mühe erleichtert wurde, drückte der ehrliche Weinhändler dem Andern die Hand und begann seine Erzählung damit, sich reuevoll selbst als einen Usurpator anzuklagen.
»Ohne Zweifel haben Sie darum nach Bintrey geschickt, als ich eintrat?« fragte der Compagnon nach kurzem Bedenken.
»Darum.«
»Er hat Erfahrung und einen verschlagenen Kopf; ich bin begierig seine Meinung zu hören. Es ist kühn und gewagt, Ihnen die meinige zu sagen, ehe ich weiß, wie er denkt, aber ich verstehe nicht zurückzuhalten. Offen denn, ich sehe die Verhältnisse anders an, als Sie sie sehen. Ich finde Ihre Lage nicht so, wie Sie sie finden. Was das Usurpieren fremden Besitzes anbelangt, mein lieber Wilding, das ist reine Thorheit, da niemand ein Usurpator sein kann, der nicht beabsichtigt hat, jemand zu beeinträchtigen. Und das haben Sie nie gethan. Was die Erbschaft den jener Dame anbelangt, die geglaubt hat, Sie wären ihr Sohn und den der Sie, nach deren eigener Aussage, glauben mußten, sie sei Ihre Mutter, so bedenken Sie, ob das Erben nicht die Folge Ihrer persönlichen Beziehungen zu einander war? Sie faßten nach und nach immer innigere Zuneigung zu ihr. Sie faßte nach und nach immer innigere Zuneigung zu Ihnen. Ihnen, Ihrer Person, wie ich die Sache ansehe, hat sie die irdischen Vortheile bestimmt, und nur von ihr, von ihrer Person haben Sie sie angenommen.«
»Sie setzte voraus,« wendete Wilding kopfschüttelnd ein, daß ich ein natürliches Recht darauf hätte, was mir fehlte.«
»Das muß ich zugeben, gewiß« erwiderte der Compagnon. »Aber gesetzt, sie hätte die Entdeckung, die Sie jetzt gemacht haben, ein halbes Jahr vor ihrem Tode auch gemacht, glauben Sie, daß das die Jahre, die Sie mit ihr zusammen gewesen sind, ausgestrichen und die Zärtlichkeit verlöscht haben würde, welche einer für den andern in immer höherem Grade empfand, je länger das mit einander Verkehren dauerte?«
»Was ich darüber denke,« sagte Wilding sich einfach und fest an der nackten Thatsache haltend, »kann die Wahrheit eben sowenig ändern, als ich den Himmel herunter zu reißen vermag. Die Wahrheit ist, daß ich der Besitzer von irdischen Gütern bin, die einem Andern zugehören.«
»Er kann schon todt sein,« sagte Vendale.
»Er kann auch leben,« sagte Wilding. »Und wenn er lebt, habe ich ihn nicht unschuldiger weise —— das gebe ich Ihnen zu, unschuldiger weise —— um Vieles gebracht? Habe ich ihn nicht um die ganze glückliche Zeit, die ich an seiner Stelle verlebt habe, gebracht? Habe ich ihn nicht um die namenlose Freude gebracht, die meine Seele erfüllte, als die theure Frau« —— er streckte seine Hand nach dem Bilde aus —— »mir vertraute, daß sie meine Mutter sei? Habe ich ihn nicht um alle die Sorgfalt gebracht, die sie über mich ausgoß? Habe ich ihn nicht um alle Verehrung und alle Pflichten gebracht, die ich ihr mit Stolz weihte? Darum frage ich mich selbst und frage auch Sie, George Vendale, wo ist er? Was ist aus ihm geworden?«
»Wer kann es wissen!«
»Ich muß es versuchen, ihn ausfindig zu machen. Ich muß Nachforschungen anstellen. Ich darf nie ermüden und von solchen Nachforschungen abstehen. Ich will von den Interessen meines Antheils am Geschäft leben —— ich sollte sagen von den seinigen —— und alles Andere für ihn zurücklegen. Wenn ich ihn finde, kann ich mich seiner Großmuth unterwerfen; aber hingeben will ich ihm Alles. Ich will es, das schwöre ich, so wahr ich sie geliebt und geehrt habe,« sagte Wilding achtungsvoll die Hand, die er küßte, nach dem Bilde hinstreckend und dann sich mit derselben die Augen bedeckend. »So wahr ich sie geliebt und geehrt und eine Welt von Beweggründen habe, ihr dankbar zu sein.« Und damit brach er ab.
Der Compagnon erhob sich von dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte und stellte sich neben Wilding indem er seine Hand sanft auf dessen Schulter legte. »Walter, ich habe Sie schon früher als einen rechtlichen Mann mit reinem Gewissen und feinfühlendem Herzen gekannt. Ich schätze es für ein großes Glück, daß mir der Vorzug geworden ist, meine Arbeit mit seinem des Vertrauens so würdigen Mann gemeinsam zu verrichten. Ich bin dankbar dafür. Schalten Sie über mich, wie über Ihre rechte Hand und verlassen Sie sich auf mich bis in den Tod. Denken Sie nicht schlechter von mir, wenn ich Ihnen eingestehe, daß ich von einem unklaren Gefühl beherrscht werde, Sie mögen es vielleicht ein unvernünftiges nennen. Ich habe viel mehr Theilnahme für die Dame und für Sie, der Sie nicht zu derselben in vorausgesetzter verwandtschaftlicher Beziehung stehen, als ich für den unbekannten Mann empfinde (wenn er überhaupt zum Mann herangewachsen ist), der ohne es zu wissen, seiner Stelle entsetzt wurde. Sie haben recht gethan, nach Mr. Bintrey zu schicken. Meine Meinung wird theilweise, ja ich bin davon überzeugt, vollständig die seinige sein. Thun Sie in diesem ernsten Geschäft keinen übereilten Schritt. Das Geheimniß muß ängstlich von uns bewahrt werden, denn es leichtsinnig verbreiten hieße soviel, als betrügerische Ansprüche aufmuntern, einem Schwarm Von Schelmen das Thor öffnen und die Losung zu falschen Eiden und Complotten geben. Ich habe für jetzt nichts weiter zu sagen, Walten als Sie zu erinnern, das sich darum hauptsächlich Antheil an dem Geschäft genommen habe, um Sie von einer Last der Arbeit zu befreien, der ihr jetziger Gesundheitszustand nicht gewachsen ist, daß ich Ihr Compagnon geworden bin, um zu arbeiten und daß ich Letzteres gesonnen bin zu thun«
Mit diesen Worten klopfte er seinem Gefährten in einer Weise auf die Schulter, die seiner Rede den besten Nachdruck gab und verließ ihn. George Vendale begab sich in das Comptoir und suchte später M. Jüles Obenreizer auf.
Als er in Soho —— square einbog und seine Schritte nach der Nordseite hinrichtete, schoß eine dunkle Röthe in sein sonnengebräuntes Antlitz, welche Wilding wenn er ein besserer Beobachter, oder weniger mit seinen eignen Sorgen beschäftigt gewesen wäre, auch bemerkt haben müßte, als sein Compagnon eine gewisse Stelle in dem Brief ihres Schweizer Correspondenten las, die ihm gefiel, nicht so deutlich als das Uebrige auszusprechen.
Eine Colonie von Bergbewohnern hat sich lange in dem schmalen kleinen Stadttheil Londons Soho eingeschlossen. Schweizer Uhrmacher, Schweizer Schmelzarbeiter, Schweizer Juweliere, Schweizer Verkäufer von Instrumentenkasten und von Schweizer Spielsachen der verschiedensten Art wohnten hier dicht neben einander. Schweizer Professoren der Musik, der Malerei und fremder Sprachen, Schweizer Stickereien, Schweizer Botengänger und andere Schweizer Dienstboten, die nie zu Hause waren; betriebsame Schweizer Wäscherinnen und Stärkerinnen, geheimnißvolle Schweizer Einwohner beiderlei Geschlechts; Schweizer von gutem Ruf und Schweizer von schlechtem Ruf; Schweizer, die das höchste Vertrauen verdienen und Schweizer, die bei Leibe kein Vertrauen verdienen; alle diese verschiedenen Schweizer Bestandtheile vereinigen sich zu einem Mittelpunkt in dem Stadttheil Soho. Schäbige Schweizer Speisehäuser, Kaffeehäuser und Wirthshäuser, Schweizer Getränke und Speisen, Schweizer Gottesdienst für den Sonntag und Schweizer Schulen für die Wochentage sind alles hier zu haben. Selbst die einheimischen Englischen Wirthshäuser kehren eine Art von Wesen nach außen, das wie geradebrechtes Englisch aussieht: Sie kündigen an ihren Fenstern Schweizer Liqueur und Branntwein an und dulden hinter ihrem Schenktisch manchen Abend im Jahr Schweizer Liebeleien und Schweizer Schlägereien.
Als der neue Theilhaber von Wilding und Co. an einer Thür, welche auf messingnem Schild die kurze Inschrift Obenreizer aufwies, die Glocke zog, —— es war die Thür eines soliden Hauses, in dessen unterem Stockwerk sich eine Schweizer Uhren-Niederlage befand, —— sah er sich auf einmal von einer vollständig Schweizerisch eingerichteten Häuslichkeit umgeben. Ein großer für den Winter errichteter Ofen aus weißen Kacheln nahm die Feuerstelle in dem Zimmer ein, in welches man ihn zu treten bat. Der unbedeckte Fußboden war mit einem niedlichen Muster ausgelegt, zu dem verschiedene Holzarten angewendet worden. Der Raum trug vorherrschend das Gepräge des Kahlen, viel gescheuerten und das kleine geblümte Teppichviereck vor dem Sopha, wie das mit Sammet überkleidete Kaminbrett mit seiner gewaltigen Uhr und seinen Vasen voller künstlicher Blumen, stimmten mit dem herrschenden Geschmack überein. Es machte den Eindruck, als ob —— schildern wir kurz die Wirkung, die das Ganze ausübte —— als ob ein Pariser eine Milchkammer zur Wohnstube umgestaltet hätte. Unter dem Zifferblatt der Uhr floß künstlich nachgemachtes Wasser über ein Mühlrad. Der Eingetretene hatte noch nicht eine volle Minute davorgestanden, um den Fall desselben mit seinen Augen zu folgen, als Mr. Obenreizer ihn an den Ellenbogen anstieß und in sehr gutem, sehr geschickt gekürztem Englisch sagte: »Wie geht es » Ihnen? Sehr erfreut!«
»Ich bitte um Entschuldigung. Ich habe Sie nicht kommen hören.«
»Hat nichts auf sich. Bitte, setzen Sie Sich.«
Die beiden Arme seines Gastes freigebend, die er an den Ellenbogen gefesselt hielt, was eine Umarmung vorstellen sollte, setzte sich Mr. Obenreizer ebenfalls und bemerkte lächelnd:
»Es geht Ihnen gut? Sehr erfreut!« und wieder ergriff er die beiden eben losgelassenen Ellenbogen.
»Ich weiß nicht,« begann Vendale, nachdem die gegenseitige Begrüßung vorüber war, »ob Sie durch Ihr Haus in Neuschatel von mir gehört haben werden?«
»Ja wohl.«
»In Beziehung auf Wilding u. Co.?«
»O, gewiß.«
»Ist es nicht seltsam, daß ich hier in London zu Ihnen kommen muß, als Theilnehmer der Firma Wilding u. Co., »um Ihnen meine Aufwartung zu machen?«
»Nicht im geringsten! Was habe ich immer gesagt, als wir im Gebirge zusammen trafen? Wir. nennen sie weit und doch ist die Welt so eng. So eng ist die Welt, daß man von gewissen Personen steh nicht fern halten kann. Es giebt so wenig Menschen in der Welt, daß man fortwährend mit denselben zusammenstößt und wieder zusammenstößt. So ungeheuer eng ist die Welt, daß man ihnen nicht aus dem Wege gehen kann. Nicht,« sagte er mit einschmeichelndem Lächeln und Vendale’s Ellenbogen aufs Neue ergreifend, »daß man den Wunsch hat, Ihnen aus dem Wege zu gehen.«
»Das hoffe ich, Monsieur Obenreizer.«
»Bitte, nennen Sie mich in Ihrem Vaterlande Master. Ich nenne mich selbst so, denn ich liebe Ihr Vaterland. Ich wollte, ich wäre ein Engländer! aber ich bin einmal nicht hier geboren. Und Sie? Obgleich aus einer so vornehmen Familie stammend, lassen Sie Sich zum Handelsstand herab! Halten Sie einmal! Weine? Gehören die zum Handel oder zur Profession? Zu den schönen Künsten wohl nicht?
»Mr. Obenreizer« erwiderte Vendale etwas verlegen, ich war noch ein thörichter junger Bursche, als ich das Vergnügen hatte, das Erste mal mit Ihnen zu reisen und Sie und ich und Ihre Fräulein Nichte —— befindet sie sich wohl?«
»Danke. Sehr wohl.«
»—— Einige kleine Gletscherfahrten mit einander bestanden. Sollte ich damals, mit der Eitelkeit eines Knaben; meine Familie gerühmt haben, so hoffe ich von mir, ist es nur geschehen, um mich mit guter Manier bei Ihnen einzuführen. Es war eine Schwäche und sehr wenig fein, aber vielleicht kennen Sie unser englisches Sprichwort: Der Mensch lebt um zu lernen.«
»Sie nehmen es zu schwer,« erwiderte der Schweizer. »Und Teufel nicht noch ’mal! Ihre Familie ist eine angesehene.«
George Vendale’s Lachen verrieth etwas Aerger, als er entgegnete: »Lassen Sie es gut sein! Ich hing sehr an meinen Eltern und als wir zum Ersten mal mit einander reisten, Mr. Obenreizer befand ich mich im neuen Genießen dessen, was mein Vater und meine Mutter mir hinterlassen hatten. So, denke ich, war Alles in Allem das Erzählen von meinen Verhältnissen mehr jugendliche Offenheit des Wesens als Prahlerei.«
»Alles Offenheit des Wesens, keine Prahlerei!« rief Obenreizer. »Sie beurtheilen sich selbst zu streng. Meiner Treu, Sie taxiren sich, als ob Ihr Gouvernement Sie taxierte. Uebrigens hatte ich von Familiengeschichten angefangen. Ich erinnere mich noch sehr gut jenes Abends auf dem See, als wir in dem Boot dahinglitten über die Spiegelbilder der Berge und Thäler, der Felsen und Pinienwälder, die meine erste Jugenderinnerung ausmachen. Ich entwarf ein Bild meiner armseligen Kindheit: Unserer schlechten Hütte am Wasserfall, welchen Letzteren meine Mutter den Reisenden zeigte, unseres Schuppens, in dem ich bei der Kuh schlief; meines blödsinnigen Stiefbruders, der immer in der Thür saß oder den Paß hinunter hinkte um zu betteln; meiner ewig spinnenden Stiefschwester, die einen großen Stein auf ihren ungeheurem Kropf gebunden trug; von mir selbst, dem nackenden kleinen Hungerleider, der zwei oder drei Jahr alt sein mochte, als die Andern schon erwachsen waren und harte Hände hatten, um mich zu schlagen, mich, das einzige Kind aus meines Vaters zweiter Ehe wenn überhaupt eine Ehe bestand. Was war natürlichen als daß Sie, Mr. Vendale, Ihre Vergangenheit mit der meinen verglichen und sagten: Wir sind von gleichem Alter; zu der Zeit saß ich auf meiner Mutter Schooß in dem Wagen meines Vaters, und flog durch die Straßen des reichen Englands dahin mit allem möglichen Luxus umgeben, während alles Schmutzige und Armselige mir fern blieb. So entgegengesetzt ist meine erste Erinnerung von der Ihrigen!«
Mr. Obenreizer war ein schwarzhaariger junger Mann von dunkler Gesichtsfarbe über deren tiefes Braun sich niemals ein Anflug von Röhe stahl. Bei Gelegenheiten, wo andere Wangen errötheten, erschien auf den seinen nur ein kaum bemerkbarer Streifen, als ob die Maschinerie um heißes Blut aufwallen zu lassen, wohl vorhanden wäre, aber als ob die Maschinerie trocken sei. Er war kräftig und proportioniert gebaut und hatte schöne Gesichtszüge. Mancher machte vielleicht die Bemerkung, daß, wenn Einiges an den Conturen geändert werden könnte, seine Erscheinung ansprechender sein würde, ohne sich klar machen zu können, worin die Änderung bestehen sollte? Wenn die Lippen voller und der Hals dünner gewesen wären, würde das Aeußere erheblich gewonnen haben. Aber die größte Obenreizersche Eigenthümlichkeit bestand darin, daß sich ein gewisser unbeschreibbarer Schatten über seine Augen breitete —— offenbar nur wenn es in seiner Absicht lag —— der dem mit ihm Sprechenden jeden Ausdruck seines Gesichtes undurchdringlich verschleierte. Nichts als eine gespannte Aufmerksamkeit beherrschte in solchen Augenblicken seine Züge. Daraus folgt in keiner Weise, daß seine Aufmerksamkeit vollständig auf die Person gerichtet war, mit der er sprach oder vollständig von dem Gegenstand, von dem die Rede war, gefesselt wurde. Er richtete vielmehr eine concentrirte Aufmerksamkeit auf Alles, was er selbst im Sinne hatte und auf Alles, was er zu sein glaubte, oder was, wie: er voraussetzte, Andre von ihm hielten.
Als die Unterhaltung auf diesen Punkt angelangt war, zog Mr. Obenreizer seinen Schatten über das Gesicht.
Die Veranlassung zu meinem gegenwärtigen Besuch,« sagte Mr. Vendale, »ist, wie ich kaum zu erwähnen brauchte, Sie der Freundschaft von Wilding und Co. und des ausgedehnten Credites zu versichern, den Sie bei uns genießen, sowie unsre Bereitwilligkeit, Ihnen nützlich zu sein. Wir sind so frei, Ihnen auch unsre Gastfreundschaft anzutragen. Es ist bis jetzt bei uns noch nicht Alles in vollem Zuge. Mein Compagnon Mr. Wilding ist damit beschäftigt, den wirthschaftlichen Theil unsres Haushaltes einzurichten und durch einige Privatangelegenheiten darin unterbrochen worden. Sie kennen Mr. Wilding nicht, wie ich glaube?«
Mr. Obenreizer kannte ihn nicht.
»Sie müssen nächstens zusammenkommen. Er wird sich sehr freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen, ich glaube mit Bestimmtheit behaupten zu können, daß Sie sich auch freuen werden, die seine zu machen. —— Sie haben sich erst vor Kurzem in London niedergelassen, glaube ich, Mr. Obenreizer?«
»Ich habe eben erst die Agentur übernommen.«
»Ihre Fräulein Nichte ist —— nicht —— verheirathet?«
»Nicht verheirathet.«
George Vendale sah im Zimmer umher, um Spuren von ihr zu entdecken.«
»Ist sie in London gewesenen?«
»Sie ist in London.«
»Wann und wo kann ich die Ehre haben mich in ihr Gedächtniß zurückzubringen?«
»Mr. Obenreizer warf den Schatten bei Seite und sagte, seinen Gast wie vorhin an beiden Ellenbogen erfassend, leichthin: »Kommen Sie mit hinauf.«
Ganz in Verwirrung über die Plötzlichkeit, mit der das nach gesuchte Wiedersehen über ihn hereinbrach, folgte George Vendale seinem Führer die Treppe hinauf. In einem Zimmer, welches sich gerade über dem Raum befand, den er verlassen hatte —— es war auch ein im Schweizer Geschmack ausgestattetes —— saß eine junge Dame an einem der drei Fenster mit Sticken beschäftigt, und eine ältere Dame saß mit dem Gesicht gegen einen zweiten weißen Kachlofen (Obgleich Sommer war und der Ofen nicht geheizt) und wusch Handschuhe. Eine ungewöhnliche Menge schöner glänzender Haare legte sich zierlich geflochten um die Stirn der jungen Dame, eine Stirn, die gerundeter war, als sie im Durchschnitt der Englische Typus aufweist. Ihr ganzes Gesicht erschien um ein Weniges —— wie herrlich war dieses Wenige! —— vollen als im Durchschnitt die Gestalten Englischer junger Damen von neunzehn Jahren zu sein pflegen. Eine merkwürdige Anmuth und Freiheit der Bewegung sprach sich in der ruhigen Haltung, in der die Glieder verharrten, aus, und die köstliche Reinheit und Frische der Farbe in ihrem Antlitz, das feine Grübchen blicken ließ und in ihren grauen glänzenden Augen, schien von Bergluft durchzogen zu sein. Obgleich ihr Kleid nach Englischem Zuschnitt gemacht war, so lugte doch das Schweizer Vaterland aus dem phantastischen Leibchen, was sie trug und aus den seltsamen rothen Zwickelstrümpfen und den kleinen mit silbernen Schnallen versehenen Schuhen hervor. Was die ältere Dame anbetraf, so gab sie, mit ihren auf den unteren Messingrand des Ofens aufgesetzten Füßen, die einem ganzen Schooß voller Handschuhe zur Stütze dienten, während ihre linke Hand einen Handschuh aufgestreift hatte, nur ihn zu reinigen, eine Repräsentantin der Schweizer Nation ganz anderer Art ab, von der mächtigen Breite ihres polsterartigen Rückens und der Gewichtigkeit ihrer respectablen Schenkel (wenn es erlaubt ist von Schenkeln zu reden) an, bis zu dem schwarzen Sammetband, das, eines Ansatzes zum Kropfe wegen, eng die Kehle umspannte, oder höher, bis zu ihren kupferfarbenen goldenen Ohrringen, oder, noch höher, bis zu ihrem Kopfputz von auf Drath gezogener schwarzer Gaze.
»Miß Marguerite,« sagte Obenreizer zu der jungen Dame, erkennen Sie diesen Herrn wieder?«
»Das will ich meinen,« entgegnete das Mädchen überrascht und sich ein wenig verwirrt von ihrem Stuhle erhebend. »Es ist Mr. Vendale.«
»Er ist es,« sagte Mr. Obenreizer trocken. »Erlauben Sie mir, Mr. Vendale, Madame Dor.«
Die ältere Dame am Ofen mit dem über die linke Hand gezogenen Handschuh, der wie das Zeichen eines Handschuhmachers aussah, erhob sich halb und sah halb über ihre mächtige Schulter, um sogleich wieder schwer auf den Sitz zurückzufallen und ihren Handschuh weiter zu reiben.
»Madame Dor,« sagte Obenreizer lächelnd, »ist so gütig mich von jedem Fleck und Riß zu befreien. Sie kommt meiner Schwäche, immer sauber zu gehen, freundlich entgegen, indem sie ihre Zeit dazu anwendet, jeden Makel oder Schaden an meines, Sachen zu beseitigen.«
Madame Dor mit dem in die Luft gestreckten Handschuh und Augen, welche denselben prüfend durchforschten, entdeckte in diesem Augenblick einen hartnäckigen Fleck und fing an mit Heftigkeit zu reiben. George Vendale nahm einen Sitz neben dem Stickrahmen am Fenster ein (er hatte zuvor die schöne rechte Hand ergriffen, die sich ihm beim Willkommen entgegenstreckte) und betrachtete das Goldkreuz, welches in das Mieder hineinschlüpfte mit einer Ehrfurcht, wie sie der Pilger hegt, wenn er den Schrein seines Heiligen erblickt. Obenreizer stand in der Mitte des Zimmers mit den Daumen in der Westentasche und deckte den Schatten über sein Gesicht.
»Ihr Herr Onkel, Miß Obenreizer,« bemerkte Vendale, »sagte eben, daß die Welt zu eng sei und die Leute einer dem Adern nicht ausweichen könnten. Ich fand, seitdem ich Sie das letzte Mal gesehen habe, die Welt zu weit für mich.«
»Sind Sie viel umhergereist?« fragte sie.
»Das nicht. Ich bin in jedem Jahr nach der Schweiz zurückgegangen, aber ich hätte wohl gewünscht —— gewiß, ich habe es gewünscht —— daß in der kleinen Welt nicht so viel Gelegenheit sein möchte sich einander auszuweichen. Wenn deren weniger wäre, sehen Sie, so würde ich meine Reisegefährten schon früher wieder angetroffen haben.« Die hübsche Marguerite erröthete und warf einen verstohlenen Blick zu Madame Dor hinüber.
»Sie haben uns endlich gefunden, Mr. Vendale, vielleicht um uns wieder zu verlieren.«
»Ich denke nicht. Der merkwürdige Zufall, der mich Sie finden ließ, giebt mir den Muth zu glauben, daß dem nicht so sein werde.«
»Bitte, was ist das für ein Zufall, Sir?«
Die niedliche natürliche Art dieser Sprachwendung und des Tones, in dem sie gemacht wurde, mar bezaubernd, so dachte George Vendale, als er wieder einen schnellen Blick auffing, der zu Madame Dor hin wanderte. Derselbe schien eine Warnung zu enthalten, so eilig er auch vorüberflog. Von der Zeit an zollte Vendale Madame Dor besondere Aufmerksamkeit.
»Ich bin ein Theilhaber an der Firma, der Mr. Obenreizer heute durch ein anderes Handlungshaus in der Schweiz mit dem wir beide, wie sich herausstellt, Geschäfte machen, angelegentlich empfohlen morden ist. Hat er es Ihnen nicht erzählt?«
»Nein!« fiel Obenreizer ein, den Schatten von sich werfend. »Ich habe es Miß Marguerite nicht erzählt. Die Welt ist so eng und so einförmig, eine Ueberraschung ist etwas werth in solchem kleinen langweiligen Nest. —— Es verhält sich so, wie er sagt, Miß Marguerite. Er, aus einer angesehenen Familie und vornehm erzogen, hat sich zum Handelsstand herabgelassen. Zum Handelsstand, gleich uns armen Bauersleuten, die aus der Gasse aufgelesen sind.«
Ein Wolke lagerte sich über die schöne Stirn des Mädchens und sie schlug die Augen nieder.
»Aber es ist vortrefflich für den Handelsstand!« fuhr Obenreizer in voller Begeisterung fort. »Es adelt den Handelsstand. Es ist ein Unglück für den Handel, daß alles gemeine Volk —— wir armen Bauern zum Beispiel —— ihn ergreift und sich daran festklammert. Sehen Sie wohl, mein lieber Vendale,« er sprach mit großer Energie, »Miß Marguerites Vater, mein ältester Stiefbruder, der mehr als zweimal so alt wie Sie und ich wäre, wenn er noch lebte, wanderte ohne Schuhe, beinahe ohne Kleider, den unglückseligen Paß hinab, —— wanderte —— wanderte —— wurde in einem Wirthshause unten in dem großen Thal, fern von der Heimath, mit den Maulthieren und Hunden gefüttert —— wurde Pferdejunge, wurde Stallknecht —— wurde Keller —— wurde Koch —— wurde Gastwirth. Als Gastwirth brachte er mich [weder den blödsinnigen Bruder, noch die spinnende Mißgeburt, seine Schwester, konnte er dazu brauchen] zu einem berühmten Uhrmacher, der ihm benachbart war, in die Lehre. Bei Miß Marguerites Geburt starb seine Frau, und was war sein letzter Wille, und was waren seine letzten Worte zu mir, als er selbst starb und sie als ein halberwachsenes Mädchen zurückließ?! Marguerite erbt Alles, ausgenommen so und so viel, was ich Dir jährlich aussetze. Du bist jung, aber ich ernenne Dich zu ihrem Vormund, denn ihr stammt Beide von den elendesten und ärmsten Bauern ab; wir sind alle verachtete Bauern, erinnere Dich dessen. Das paßt auf die meisten meiner Landsleute, die jetzt Handel treiben in diesem Ihrem Londoner Stadtviertel Soho. Sie sind Bauern gewesen, niedrig geborene, hart arbeitende Schweizer Bauern. Darum, wie gut und erhebend ist es für den Handelsstand,« hier frohlockte er förmlich, während er zuvor in Hitze gerathen war, und ergriff wieder des jungen Weinhändlers Ellenbogen, um ihn zu umarmen, »wenn ein Gentleman sich demselben widmet und ihn dadurch ehrt!«
»Ich bin andrer Ansicht,« sagte Marguerite mit gerötheter Wange, sich trotzig von dem Besucher wegwendend. »Ich finde den Stand durch uns Bauern auch geehrt.«
»Pfui, pfui! Miß Marguerite,« bemerkte Obenreizer. »Sie wagen das im stolzen England zu sagen?«
»Ich sage das mit stolzem Ernst,« entgegnete sie, sich ruhig wieder an ihre Arbeit machend, »ich bin keine Engländerin, sondern ein Schweizer Bauernkind.«
Es lag ein so völliges Abweisen des Gespräches in diesen Worten, daß Vendale nichts weiter dagegen einwenden konnte. Er erlaubte sich nur ernst hinzuzusetzen: »Ich stimme aus voller Seele mit Ihnen überein, Miß Obenreizer und habe meine Ansicht bereits in diesem Hause ausgesprochen, wie Mr. Obenreizer mir bezeugen kann,« —— was dieser unter keiner Bedingung that.
Vendale’s Augen waren scharfe Augen und beobachteten Madame Dor unaufhörlich. Sie bemerkten an der mächtigen Hinteransicht der Lady, daß ihre Art, die Handschuhe zu reinigen, mit lebhaftem pantomimischen Ausdruck geschah. Sie that es sanft und ruhig während seines Gespräches mit Marguerite, hielt auch wohl ganz ein, wie Jemand, der mit Zuhören beschäftigt ist. Als Obenreizer seine Rede über die Bauern zu Ende gebracht hatte, rieb sie mit Heftigkeit, wie um seinen Worten vollen Beifall zu zollen, und ein oder zweimal, wenn der Handschuh, den sie immer höher wie ihren Kopf hielt, sich in der Luft umwendete, oder wenn dieser Finger herunterfiel und jener sich hob, bildete er sich sogar ein, daß Madame Dor eine telegraphische Verbindung mit Obenreizer unterhalten, der allerdings seinen Rücken nie der Dame zuwendete, obgleich er nichts weniger als Madame Dor zu beachten schien.
In Vendale’s Augen warf Marguerite’s Abbrechen vom Gegenstande ein ungünstiges Licht auf Obensetzer. Die unwürdige Behandlung von Seiten ihres Vormundes, versuchte sie sich abzuwehren: ihr Zorn hätte gegen ihn auflodern mögen, wenn Furcht sie nicht daran verhinderte. Vendale bemerkte ferner —— obgleich das kaum der Erwähnung werth war —— daß Obenreizer, Margueriten um keinen Schritt näher rückte, sondern genau in der Entfernung von ihr blieb, die er von Anfang an innegehalten hatte, als ob bestimmte Grenzen zwischen ihnen gezogen seien. Auch hatte er sie nie angeredet ohne das Wörtchen Miß vor ihren Namen zu setzen, wenn er es aber aussprach, so geschah es mit einer kaum bemerkbaren Beimischung von Spott. Jetzt wurde es Vendale zum ersten mal klar, daß das Seltsame des Mannes, was ihm bis heute nicht möglich gewesen war näher zu bezeichnen, in einer Art von spöttischem Wesen bestand, mit der er jedem offenen Angriff und jeder näheren Erörterung auswich. Er hielt sich davon überzeugt, daß Marguerite, was die Freiheit ihres Willens anbetraf, eine Gefangene war —— obgleich sie vermöge der ihr eigenthümlichen Charakterstärke ihre eigenen Ansichten gegen die der bei den Verbündeten geltend machte, was sie natürlicherweise nicht aus ihrem Joch befreien konnte. Nachdem er diese Ueberzeugung gewonnen hatte, fühlte er sich nur noch mehr gestimmt dem Mädchen seine Neigung zuzuwenden. Mit einem Worte, er hegte eine gewaltige Liebe zu ihr im Herzen und war durchaus entschlossen die Gelegenheit sie zu sehen, die sich ihm immerhin eröffnet hatte, aufs Aeußerste zu verfolgen.
Für’s Erste begnügte er sich damit, der Freude zu erwähnen, welche Wilding u. Co. empfinden würden, wenn Miß Obenreizer sich herablassen wollte das Haus mit ihrer Gegenwart zu beehren —— ein merkwürdiges altes Haus und noch dazu das eines Junggesellen —— und begnügte sich damit seinen Besuch nicht über die Zeit, die dergleichen Besuche einnehmen dürfen, auszudehnen. Als er, geleitet von seinem Wirth, die Treppe hinabging, sah er vor dem Obenreizer’schen Comptoir, welches weiter zurück auf dem Hausflur münden, verschiedene schäbige Gestalten in ausländischer Tracht stehen, die Obenreizer mit einigen Worten in seinem Dialect bei Seite schob, damit Vendale vorüber konnte.
»Landsleute,« erklärte er, als Vendale die Thür öffnete. »Arme Landsleute, dankbar und anhänglich wie Hunde! Leben Sie wohl. Auf Wiedersehen. Sehr erfreut gewesen!«
Nach einer leichten Umarmung und einen Griff an seine Ellenbogen sah sich Vendale in der Straße entlassen.
Die liebliche Marguerite an ihrem Stickrahmen, Madame Dor’s breiter Rücken und deren telegraphische Zeichen gaukelten bis Cripple Corner vor ihm her. Als er dort ankam, hatte sich Wilding mit Bintrey eingeschlossen. Die Kellerthüren standen offen. Vendale zündete eine Kerze, die in einem zinnernen Leuchter stand, an und ging die Stufen hinab, um einen Streifzug durch die Gewölbe zu unternehmen. Die anmuthige Marguerite gaukelte getreulich vor ihm her, aber Madame Dor’s breiter Rücken war oben geblieben.
Die Gewölbe, geräumig und sehr alt, sind Krypten gewesen, damals als die Vergangenheit noch Gegenwart war. Einige sagen, Theile davon hätten Mönchen zum Refectorium gedient, andere sagen, Theile davon seien zur Kapelle benutzt worden, wieder andere sagen, sie seien ein heidnischer Tempel gewesen. Das blieb sich jetzt alles gleich. Lasse man jeden was er will aus verwitterten Pfeilern, zertrümmerten Bogen und was dergleichen mehr ist herauserkennen; die vergangene Zeit hat daraus gemacht was sie wollte und bleibt unberührt davon, wenn es ihr anders bewiesen wird.
Die eingeschlossene Luft, der dumpfige Geruch und das verworrene Geräusch der Straße oben vertragen sich gut genug mit dem Bilde der hübschen Marguerite, weil nichts davon an das gewöhnliche Leben erinnerte. Vendale schritt vorwärts, bis er, um eine Ecke biegend, ein Licht sah dem ähnlich, welches er selbst trug.
»O, Du bist hier Joey?«
»Wäre es besser, wenn ich ginge? Sie sind hier! wirklich, Sie sind hier, Master George? Meine Pflicht ist es hier zu sein, aber was haben Sie hier zu suchen?«
»Sei nicht böse, Joey.«
»Ich bin nicht böse,« erwiderte der Kellermeister. »Das was böse in mir ist, ist der Weindunst, der durch die Poren dringt. Ich nicht. Nehmen Sie sich in Acht, daß er nicht auch in Sie hineinzieht, Muster George. Wenn Sie lange hier im Dunste bleiben, haben Sie ihn weg.«
Seine Beschäftigung bestand in diesem Augenblick darin, den Kopf in die Weinverschläge zu stecken, Maaß zu nehmen, Berechnungen anzustellen und das Resultat in ein Buch einzuschreiben, das in Rhinozerosfell gebunden zu sein schien und wie ein Theil von ihm aussah.
»Sie haben ihn weg,« nahm er den Rücken streckend seine Worte wieder auf und legte den hölzernen Maßstock, dessen er sich bedient hatte, über zwei Fässer, um seine letzte Berechnung anzustellen. »Verlassen Sie sich darauf. —— Sie sind also in aller Form in das Geschäft eingetreten, Master George?«
»Ja aller Form. Ich hoffe, Du hast nichts dagegen, Joey?«
»Nichts. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Aber die bösen Dünste in mir sagen, daß Sie zu jung sind. Sie sind alle beide zu jung.«
»Der Uebelstand wird mit jedem Tage geringer, Joey.«
»Das wohl, Master George; aber der Uebelstand, daß ich zu alt bin, nimmt Tag für Tag zu. Ich werde nicht mehr im Stande sein, Ihr Hineinwachsen zu sehen.«
Diese Erwiderung kitzelte Joey Ladle’s Laune. Er stieß ein Lachen aus, das sich wie Grunzen anhörte, wiederholte das Gesagte und stieß, nachdem er zum zweiten Mal »Ihr Hineinwachsen« hervorgebracht hatte, sein wunderliches Lachen aufs Neue hervor.
»Aber was nicht zum Lachen ist, Master George,« fuhr er fort seinen Rücken ausdehnend, »daß der junge Master Wilding das Glück aufgestört hat. Merken Sie sich meine Worte. Er hat es aufgestört und wird es bald erfahren. Ich bin nicht umsonst mein ganzes Leben hier unten gewesen. Ich weiß an welchen Zeichen ich gemerkt habe, wenn der Geschäftsverkehr fiel oder wenn er stieg, wenn er blühte oder ein Stillstand eintrat. Ich weiß ebenso gut an welchen Zeichen ich gemerkt habe, wenn das Glück sich änderte.«
»Hat dies Gewächs hier irgend etwas zu thun mit Deiner Sehergabe?« fragte Vendale das Licht gegen ein feuchtes zottiges dunkles Schwammgewächs haltend, welches von der Decke herabhing und ein unangenehmes widriges Ansehen hatte. Wir sind berühmt, weil dieses Gewächs an unserer Kellerwölbung haftet, nicht wahr, Joey?«
»Das sind wir, Muster George,« erwiderten Joey Ladle, ein oder zwei Schritte zurückweichend, »und wenn Sie von mir einen Rath annehmen wollen, so bleiben Sie davon.« Den Maßstock, der noch zwischen den beiden Fässern lag ergreifend und leise den lappigen Schwamm damit bewegend, fragte Vendale: » Davon bleiben! Warum?«
»Warum? Nicht weil aus den Weinfässern Dunst emporsteigt und Sie dadurch in Erfahrung bringen können, welche Bestandtheile ein Mann in sich aufnimmt, der sich sein ganzes Leben in dieser Luft herumtreibt, und ebenso wenig weil auf dem Boden des Gewächses Maden leben, die Sie aus sich herunterholen werden,« erwiderte Joey Ladle sich in Entfernung haltend, »sondern eines andern Grundes wegen, Muster George.«
»Wie heißt der Grund?«
»In Ihrer Stelle, Sir, würde ich es nicht mit dem Stock berühren. Wenn Sie mit mir hier fortkommen wollen, so sollen Sie den Grund erfahren. Erst werfen Sie noch einen Blick auf die Farbe des Schwammes Master George.«
»Ich thue es.«
»Gut, Sir. Jetzt kommen Sie fort von der Stelle.«
Er ging mit seinem Licht voraus und Vendale folgte ihm mit dem seinigen. Als Vendale Joey eingeholt hatte und beide zusammen dem Ausgang zuschritten, sprach Ersterer: »Nun, Joey. Die Farbe?«
»Sieht aus wie geronnenes Blut, Master George.«
»Mag sein.«
»Genau so, finde ich,« rief Joey Ladle den Kopf bedenklich hin und her wiegend.
»Gut, ich will sagen ebenso. Ich will sagen ganz genau so. Was dann?«
»Master George. Man sagt ——«
»Wer?«
»Wie kann ich wissen wer?« entgegnete der Kellermeister empört über die unvernünftige Frage. »Man! man ist Allewelt. Was wollen Sie? Wie kann ich wissen wer »man« ist, wenn Sie es nicht wissen?«
»Das ist wahr. Weiter.«
»Man sagt, daß derjenige, welchem durch Zufall ein Stückchen von diesem Gewächs auf die Brust fällt, sicher und gewiß von Mörderhänden stirbt.«
Als Vendale lachend seine Schritte einhielt, um den Kellermeister anzublicken, der, seine Augen auf das Licht heftend, geheimnißvoll jene Worte sprach fühlte er plötzlich, wie eine schwere Hand ihm nach der Brust griff. Der Bewegung der Hand, welche die seines Gefährten war, mit den Augen folgend, bemerkte er, daß sie ein Blatt oder einen Klumpen des Schwammes von seiner Brust fortgeschlugen hatte, und daß derselbe eben zu Boden fiel.
Im ersten Augenblick warf er dem Kellermeister einen ebenso entsetzten Blick zu, als dieser ihm, aber als ihm in der nächsten Minute das Tageslicht entgegen schien, sprang er fröhlich die Kellertreppe hinauf und blies das Licht und mit demselben allen Aberglauben aus.
Wilding tritt ab.
Am Morgen des nächsten Tages ging Wilding fort —— und ließ seinem Schreiber den Auftrag zurück: »Wenn Mr. Vendale oder Mr. Bintrey nach mir fragen sollten, theilen Sie ihnen mit, daß ich mich in das Findelhaus begeben habe.« Alles was sein Compagnon ihm gesagt, Alles was sein Geschäftsführer, der dessen Ansicht theilte, an geführt hatte, war nicht im Stande gewesen, ihm die Angelegenheit in einem andern Licht erscheinen zu lassen. Den Mann, dessen Platz er unrechtmäßig einnahm, aufzufinden, machte von jetzt ab das Hauptinteresse seines Lebens aus und die Anfrage im Findelhaus sollte der erste Schritt zu den beabsichtigten Nachforschungen sein. Der Weinhändler begab sich demgemäß an den erwähnten Ort. Das ihm bekannte Gebäude schien ihm verändert, wie ihm das Portrait an der Kaminwand verändert schien. Die treue Anhänglichkeit, die er einst für die Stätte gehegt hatte, welche seine Kindheit behütete, war für immer aus seiner Seele getilgt. Ein besonderer Widerwille bemächtigte sich seiner, als er sein Begehren un der Thür aussprach. Sein Herz that ihm weh, wie er allein im Vorzimmer wartete, während man nach dem Zahlmeister geschickt hatte, den er sprechen wollte. Beim Beginn der Unterredung vermochte er nur durch gewaltsame Anstrengung sich so weit zu sammeln um den Grund seines Kommens auseinander zu setzen.
Der Zahlmeister hörte mit einem Gesicht zu, das Aufmerksamkeit ausdrückte und nichts weiter.
»Wir sind verpflichtet,« sagte er, als die Reihe zu sprechen an ihm war, »bei allen Nachforschungen, die von Fremden angestellt werden, vorsichtig zu sein.«
»Sie können mich nicht als einen Fremden betrachten,« entgegnete Wilding einfach. »Ich bin früher einer ihrer Zöglinge gewesen.«
Der Zahlmeister erwiderte höflich, daß dieser Umstand ihn mit besonderem Interesse für seinen Besucher erfülle, aber er drang nichtsdestoweniger darauf, die Beweggründe zu kennen, die Mr. Wilding zu seinen Nachfragen trieben. Ohne weitere Umschweife, theilte ihm Wilding seine Beweggründe mit, indem er nicht die geringste Kleinigkeit zurückhielt.
Der Zahlmeister erhob sich und führte den Andern in das Zimmer, in dem die Register des Instituts auf bewahrt wurden. »Alle Aufklärungen, die unsere Bücher geben können, stehen Ihnen von ganzem Herzen zu Diensten,« sagte er. »Es thut mir leid, aber nach der Zeit, die darüber hingegangen ist, bleiben sie das einzige, was wir Ihnen zum Anhaltspunkt bieten können.«
Die Bücher wurden zu Rath gezogen und die gesuchte Stelle aufgefunden. Sie lautete:
»Den 3ten März 1836. Ein Knabe, Namens Walter Wilding, an Kindesstatt aufgenommen und aus dem Findelhause abgeholt. Name und Stand der Frau, die das Kind abgeholt hat: Mrs. Jane Anne Miller, Wittwe. Adresse: Lime-Tree Lodge, Groombridge Wells. Auskunftgeber: Der Reverend John Harker, Groombridge Wells und Mrs. Giles, Jeremie und Giles, Banquiers, Lombardstreet.«
»Ist das Alles?« fragte der Weinhändler. »Standen Sie Mrs. Miller später nicht mehr in Verbindung?«
»Nein —— oder es müßte sich ein Nachweis davon in diesem Buche vorfinden.«
»Darf ich mir die Stelle abschreiben?«
»Gewiß. Sie sind ein wenig aufgeregt. Ich werde die Abschrift für Sie besorgen.«
»Meine einzige Hoffnung beruht darauf,« sagte Wilding traurig, die Abschrift betrachtend, »den Aufenthalt der Mrs. Miller auszukundschaften, indem ich versuchte, ob die genannten Auskunftgeber mir dazu verhelfen können?«
»Es ist das Einzige, was zu thun übrig bleibt,« entgegnete der Zahlmeister. »Ich hätte aufrichtig gewünscht, Ihnen von größerem Nutzen sein zu können.«
Von den trostreichen Abschiedsworten begleitet, machte sich Wilding auf den Weg, Um seine Nachforschungen fortzusetzen, die an der Thür des Findelhauses begonnen hatten. Der erste Gang, den er unternahm, war nach dem Geschäftslocal der Banquiers in Lombardstreet. Zwei von den Theilhabern der Firma waren nicht sprechbar für zufällige Besucher. Der Dritte, nachdem er zuvor unüberwindliche Schwierigkeiten vorgeschützt hatte, willigte endlich ein, von einem seiner Schreiber das Hauptbuch welches den Buchstaben M. trug, durchsehen zu lassen. Der Rechenschaftsbericht für Mrs. Miller Wittwe, Groombridge-Wells, befand sich darin. Er war mit zwei langen verblichenen Linien durchstrichen und unten stand: Die Rechnung geschlossen am 30. September 1837.«
So endete der erste Gang, der an diesem Tage gemacht wurde —— er endete und noch immer wußte Wilding nicht aus noch ein? Er schickte ein Paar Zeilen nach Cripple Corner, um Vendale zu benachrichtigen, daß sich seine Abwesenheit auf Stunden noch in die Länge ziehen könne, dann löste er ein Billet auf der Eisenbahn und fuhr der zweiten Station an dem heutigen Tage, der Wohnung der Mrs. Miller in Groombridge Weils zu.
Mütter und Kinder reisten mit ihm; Mütter und Kinder begrüßten sich auf dem Anhaltepunct; Mütter und Kinder waren in allen Lädchen, in denen er einsprach, um sich nach Lime Tree Lodge zu erkundigen. Ueberall stellte sich die nächste und innigste aller menschlichen Verwandtschaft fröhlich im heilen Tagesschein dar; überall wurde er an die köstliche Täuschung erinnert, aus der er so grausam aufgerüttelt worden —— an die verlorene Erinnerung, die von ihm gewichen war, wie das Spiegelbild von einem Glase.
Hier und dort fragte er an. Niemand wußte von dem Namen Lime Tree Lodge. Bei einer Häuseragentur vorübergehend, trat er hinein und that zum letzten Male dieselbe Frage. Der Agent wies über die Straße hinweg auf ein häßliches Haus mit vielen Fenstern. Es mochte eine Manufactur gewesen sein, jetzt war es ein Gasthaus.
»Da hat Lime Tree Lodge vor zehn Jahren gestanden, Sir,« sagte der Mann.
Die zweite Station war erreicht und Wilding wußte wieder nicht aus noch ein!
Eine Hoffnung blieb noch. Der geistliche Auskunftgeber Mr. Harker konnte aufgefunden werden. Kunden des Agenten traten in diesem Augenblick ein und nahmen dessen Aufmerksamkeit in Anspruch; Wilding ging die Straße hinab und begab sich in den Laden eines Buchhändlers Er fragte. ob man ihm den gegenwärtigen Aufenthalt des Reverend John Harker nennen könne?
Der Buchhändler sah augenblicklich erschrocken und verwundert auf. Er antwortete nicht.
Wilding wiederholte seine Frage.
Der Buchhändler nahm von seinem Ladentisch ein zierliches kleines Buch in grauem Einband und hielt dem Frager das Titelblatt vor. Wilding las:
»Das Märtyrerthum des Reverend John Harker in Neu-Seeland. Erzählt von einem früheren Mitglied seiner Gemeinde.«
Wilding legte das Buch auf den Ladentisch zurück. »Ich bitte um Entschuldigung,« sagte er, vielleicht, indem er es sagte, an sein eigenes Märthrerthum denkend. Der schweigsame Buchhändler gab seine Geneigtheit zu entschuldigen durch eine Verbeugung zu erkennen und Wilding verließ den Laden.
Dritte und letzte Station und nach dem dritten und letzten Versuch wieder nicht aus noch ein.
Es blieb nichts übrig, es war keine Wahl, er mußte völlig enttäuscht nach London zurückkehren.
Bei seiner Rückfahrt betrachtete der Weinhändler von Zeit zu Zeit die Abschrift der Notiz aus dem Register des Findelhauses Es giebt eine Art der Verzweiflung —— vielleicht die alle bemitleidenswerteste —— welche sich hartnäckig hinter Hoffnungen versteckt. Wilding behielt das nutzlose Stückchen Papier, welches er aus dem Wagenfenster schleudern wollte, in der Hand. »Es kann noch zu irgend etwas gut sein,« dachte er. »So lange ich lebe, will ich es aufbewahren, und wenn ich sterbe, sollen meine Willensvollstrecker es in meinem Testament versiegelt finden.«
Die Erinnerung an sein Testament lenkte die Gedanken des redlichen Weinhändlers in eine andere Bahn, ohne seine Seele von dem sie ganz erfüllenden Gegenstand abzubringen. Er mußte sofort seinen letzten Willen aufsetzen. Der Ausspruch: nicht aus noch ein! und seine Anwendung auf diesen Fall war von Mr. Bintrey ausgegangen. In der ersten langen Berathung, welche der Entdeckung gefolgt war, hatte der scharfsinnige Mann mit ausdrucksvollem Kopfschütteln mehr wie hundertmal wiederholt: »Nicht aus noch ein, Sir. Nicht aus noch ein! —— Nach meiner Üeberzeugung ist jetzt keine Ermittlung mehr möglich, und mein Rath ist, finden Sie sich so gut es geht darein.«
Im Verlauf der sich lang ausdehnenden Unterredung wurden eine Menge Flaschen des fünfundvierzigjährigen Portweins vorgehen, um Mr. Bintrey’s gesetzverkündende Kehle damit anzufeuchten, aber je sicherer er seinen Weg durch den Wein fand, je weniger fand er ihn durch den Fall in Rede und wiederholte, so oft er sein Glas niedersetzte: »Mr. Wilding, nicht aus noch ein! Lassen Sie die Sachen, wie sie sind, und seien Sie dankbar.«
Sicher ist, das des rechtschaffenen Weinhändlers Angst, ein Testament zu machen, einzig aus seiner großen Gewissenhaftigkeit entsprang, obgleich das nicht ausschließt und sich auch ganz gut mit seiner Gewissenhaftigkeit verträgt, daß er es zu gleicher Zeit und ihm selbst unbewußt auch in dem Gefühl betrieb, welche Erleichterung es ihm gewähren würde, die ihn niederdrückenden Schwierigkeiten auf andere Männer, welche ihn überleben würden, abzuwälzen Wie dem auch sei, er verfolgte diesen neuen Gedanken mit Eifer und ließ unverzüglich nach seiner Ankunft George Vendale und Mr. Bintrey zu einer vertrauten Unterredung nach Cripple Corner einladen. »Nun wir alle drei bei verschlossenen Thüren versammelt sind,« sagte Mr. Bintrey, bei dieser Gelegenheit eine Ansprache an den neuen Compagnon richtend, »möchte ich mir, bevor unser Freund, und mein Client, uns seine weiteren Ansichten eröffnet, zu bemerken erlauben, daß ich Ihre Meinung, welche die jedes mitfühlenden Menschen sein muß, aus voller Seele theile, Mr. Vendale. Ich habe Mr. Wilding zu beherzigen gegeben, daß das Geheimniß durchaus zu bewahren sei. Ich habe mit Mrs. Goldstraw gesprochen in seiner Gegenwart und auch allein, und wenn Jemandem zu trauen ist [das Wenn ist freilich ein sehr deutungsreiches Wort], so glaube ich, daß ihr in diesem Fall getraut werden kann. Ich habe ferner unserm Freund, und meinem Clienten, zu bedenken gegeben, daß auf’s Gerathewohl angestellte Nachfragen nicht allein den Teufel in Gestalt von allen Schwindlern des Königreichs über uns heraufbeschwören müßte, sondern, daß es so viel heißen würde, als den Besitz verschleudern. Und sehen Sie. Mr. Vendale, unser Freund, und mein Client, will nichts weniger, als den Besitz verschleudern, im Gegentheil, er will damit genau haushalten zum Besten desjenigen, den er für den rechtmäßigen Eigenthümer hält —— ich habe nicht gesagt, daß ich einen andern dafür halte —— wenn nämlich dieser rechtmäßige Eigenthümer aufgefunden werden kann. Ich zweifle, daß er je aufgefunden werden kann —— aber das gehört nicht hierher. Mr. Wilding und ich komme schließlich darin überein, daß der Besitz nicht angegriffen werden darf. Ich habe Mr. Wildings Wünschen soweit nachgegeben, eine Annonce einzurücken, durch welche ich vorsichtig Diejenigen, die etwas über das dem Findelhause entnommene adoptierte Kind wissen, einlade, sich in meinem Büreau zu melden. Ich habe mich dazu verpflichtet, daß die Annouce regelmäßig wieder erscheint. Ich habe es von unserm Freund, und meinem Clienten gefordert, hier mit Ihnen zusammenzutreffen, nicht damit Sie ihm Rath geben sollen, sondern damit Sie seine Aufträge entgegen nehmen. Ich bin ebenfalls bereit, seine Aufträge auszuführen und seine Wünsche zu ehren, aber ich bitte bemerken zu wollen, daß ich mich deshalb nicht einverstanden erkläre mit seinen Maßnahmen, noch dieselben als Rechtskundiger billige.«
So sprach Mr. Bintrey und richtete seine Rede eben sowohl an Wilding wie an Vendale Ungeachtet der Sorgfalt für seinen Clienten belustigte ihn dessen Don Quiroterie so höchlich, daß er es nicht lassen konnte, ihn von Zeit zu Zeit mit blinzelnden Augen anzusehen, in so hochkomischem Lichte erschien er ihm.
»Nichts kann klarer sein,« bemerkte Wilding. »Ich wünschte nur, mein Kopf wäre eben so klar, als der Ihrige, Mr. Bintrey.«
»Wenn Sie das Sausen wieder fühlen,« sagte Mr. Bintrey, ihn erschrocken anblickend »so machen Sie ein Ende. Ich meine mit der Unterredung.«
»Durchaus nicht. Ich danke Ihnen,« sagte der Weinhändler.
»Was wollte ich doch« —— ——
»Regen Sie sich nicht auf, Mr. Wilding,« warnte der Advocat.
»Nein, ich wollte nichts« sagte Wilding. Mr. Bintrey und George Vendale, würde einer von Ihnen ein Bedenken oder eine Abneigung dagegen haben, wenn ich Sie gemeinsam zu meinen Bevollmächtigten und Willensvollstreckern ernennen würde, oder willigen Sie beide in mein Begehren?«
»Ich willige ein,« erwiderte Vendale sogleich.
»Ich willige ein,« sagte Bintrey nicht ganz so schnell.
»Ich denke Ihnen. Mr. Bintrey, der Inhalt meines letzten Willens und meines Testamentes wird kurz und bestimmt sein. Vielleicht haben Sie die Güte, ihn nieder zuschreiben. Ich vermache mein ganzes unbewegliches und bewegliches Eigenthum, ohne irgend welche Ausnahme oder irgend welchen Vorbehalt, Ihnen beiden, meinen Bevollmächtigten und Willensvollstreckern, in dem Vertrauen, daß Sie das Ganze dem wirklichen Walter Wilding ausliefern, wenn er während zweier Jahre, von dem Tag meines Todes ab gerechnet, aufgefunden und für den richtigen erkannt werden sollte. Träte der Fall nicht ein, so verlange ich von Ihnen beiden, daß Sie die ganze Masse als Vermächtniß und Unterstützung dem Findelhause überantworten.«
»Ist das Alles, was Sie begehren, Mr. Wilding?« fragte Bintrey, das tiefe Schweigen unterbrechend, in dem keiner den anderen angesehen hatte.
»Alles.«
»Und Sie sind fest entschlossen, das Ausgesprochene für Ihren letzten Willen zu erklären?«
»Durchaus, fest und unwiderruflich.«
»So bleibt nur noch übrig« sagte der Mann des Rechtes mit Achselzucken, »es in die übliche bindende Form zu bringen, dieselbe auszuführen und zu unterschreiben. Hat das so große Eile? Ist es nöthig, die Sache so schnell zu betreiben? Sie denken noch nicht an Sterben, Sir.«
»Mr. Bintrey,« antwortete Wilding ernst, »wann es Zeit zum Sterben sein wird, weiß ein Höherer besser als Sie oder ich. Ich werde beruhigter sein, wenn Sie nichts dagegen haben, sobald das Geschäft von der Seele herunter ist.«
»Wir sind wieder Geschäftsführer und Client,« erwiderte Bintrey, der für Wildings Entschluß volle Theilnahme empfand. »Wenn es Ihnen selbst und Mr. Vendale recht ist, heute über acht Tage an demselben Ort und um dieselbe Zeit, wieder zusammenzukommen, so will ich es in meinem Tagebuch anmerken, daß ich Sie demgemäß hier zu erwarten habe.«
Die Verabredung wurde getroffen und richtig eingehalten. Der letzte Wille war in aller Form unterschrieben, untersiegelt, den Zeugen eingehändigt, von denselben ebenfalls unterzeichnet und endlich von Mr. Bintrey fortgetragen, um sicher unter den aufgespeicherten Papieren seiner Clienten aufbewahrt zu werden. Ein jeder Client besaß seinen respectiven Eisenkasten mit dem Namen des respectiven Eigenthümers an der Außenseite. Die eisernen Kasten waren auf eisernen Regalen in Bintreys Amtszimmer aneinandergereiht und gaben dem Letzteren das Ansehen einer einzigen großen Familiengruft von Clienten.
Mit mehr Theilnahme, als er in der letzten Zeit für seine früheren Interessen gezeigt hatte, machte sich Wilding an die Vervollständigung seines patriarchalischen Haushaltes, bei welchem Geschäfte er nicht allein von Mrs. Goldstraw, sondern auch von Mr. Vendale lebhaft unterstützt wurde, der vielleicht im Sinn hatte, so eilig wie möglich den Obenreizers ein Diner zu geben. Dem mag sein, wie ihm wolle, so bald der Haushalt von rühriger Thätigkeit wiederhallte, wurden die Obenreizers, Vormund und Mündel, zum Diner eingeladen und Madame Dor in die Einladung mitbegriffen. Wenn Vendale schon vorher bis über die Ohren verliebt gewesen war —— ein Satz, der nicht so aufzufassen ist, als ob die Thatsache im geringsten bezweifelt werden solle —— so stürzte ihn das Diner um zehntausend Faden tiefer in die Liebe hinein. Aber wenn er auch sein Leben darum gegeben hätte, er erreichte es nicht, ein Wort mit der reizvollen Marguerite zu sprechen. Sobald ein glücklicher Augenblick gekommen zu sein schien, stellte sich ganz gewiß Obenreizer mit dem Schatten auf seinem Antlitz hart an Vendales Ellenbogen, oder Madame Dor’s breiter Rücken pflanzte sich vor seine Augen. Die ganz stumme Matrone sah man von dem Augenblick ihrer Ankunft an bis zu dem ihres Scheidens niemals von vorn —— ausgenommen bei Tische. Sobald sie sich in das Drawingroom zurückzog (sie hatte kräftig zu dem Verzehren der Speisen beigetragen) verharrte sie, wie gewöhnlich, mit dem Gesicht gegen die Wand.
Ja, während vier oder fünf köstlicher wenn auch quälender Stunden durfte er Marguerite anblicken, Marguerites Stimme hören, Marguerite einmal sogar anrühren. Als man die Runde durch die alten finsteren Kellergewölbe machte, führte sie Vendale an der Hand, als sie Abends in dem hellerleuchteten Zimmer sang, stand Vendale dicht neben ihr, um die von ihr abgestreiften Handschuhe zu halten, für die er gern jeden Tropfen des oft erwähnten Fünfundvierziger eingetauscht hätte und wenn er fünfundvierzigmal fünfundvierzig Jahr älter gewesen, und sein Werth fünfundvierzigmal fünfundvierzig Pfund höher gestiegen wäre. Und als sie fort war und mit einem Schlage in Cripple Corner eine große Leere entstand, quälte er sich mit der Frage, ob sie wohl wüßte, wie er sie bewunderte! Ob sie wüßte, daß er sie anbetete! Ob sie eine Ahnung davon hätte, daß sie ihn mit Herz und Seele gewonnen habe! Ob sie überhaupt an ihn zurückdächte! Ob sie und ob sie nicht? so ging es »die Tonleiter ab und auf, über und unter der Linie, Himmel! Himmel!
Armes ruheloses Menschenherz! Zu denken, daß die Menschen, die schon vor Tausenden von Jahren Mumien waren es ebenso machten und nach dem Tode erst die Ruhe fanden.
»George,« fragte Wilding am andern Tage, »Wie finden Sie Mr. Obenreizer?« ( »Wie Sie Miß Obenreizer finden, lasse ich ungefragt!«)
»Ich weiß nicht,« sagte Vendale, »und habe nie recht gewußt wie ich ihn finde?«
»Er ist klug und wohl unterrichtet,« sagte Wilding.
»Gewiß ist er klug.«
»Und musikalisch.« (Er hatte gestern Abend sehr gut gespielt und sehr gut gesungen.)
»Unzweifelhaft sehr musikalisch.«
»Und erzählt gut.«
»Ja,« sagte George Vendale überlegend, »er erzählt gut.«
»Wissen Sie Wilding, nun ich über ihn nachdenke betreffe ich mich darauf, daß ich ihn nicht für verschwiegen halte.«
»Wie meinen Sie das? Er ist nicht zudringlich geschwätzig.«
»Nein. Das mein ich auch nicht. Beobachten Sie ihn einmal, wenn er still ist, so können Sie, wenn auch vielleicht ungerechterweise, nicht umhin ihm zu mißtrauen. Nehmen wir zum Beispiel Jemand, den Sie kennen und lieben. Nennen Sie einen, den Sie kennen und lieben.«
»Das ist bald gethan, mein Freund.« sagte Wilding. »Ich nenne Sie.«
»Darum habe ich es freilich nicht gesagt und das habe ich nicht vorausgesehen,« erwiderte Vendale lachend. »Aber immerhin, nehmen Sie mich. Denken Sie einen Augenblick nach. Ist der Ausdruck, den Sie aus meinem interessanten Gesicht kennen und lieben (alle augenblicklichen Eindrücke, durch die er wechselt, mit eingeschlossen) vollständig darin, auch wenn ich schweige?«
»Ja, ich glaube,« sagte Wilding.
»Ich glaube es auch. Jetzt, geben Sie Acht. Wenn Obenreizer spricht —— oder mit anderen Worten, wenn er Gelegenheit hat aus sich herauszugehen —— so sieht er redlich aus, aber wenn ihm die Gelegenheit aus sich herauszugehen nicht geboten wird, so sieht er unredlich aus. Darum sage ich, er ist nicht verschwiegen. Und indem ich die Gesichter, die ich kenne und denen ich mißtraue, schnell an mir vorübergehen lasse, überzeuge ich mich, daß keines von allen verschwiegen ist.«
Diese Ansicht über Physiognomik war Wilding neu. Sie wollte ihm anfänglich nicht in den Sinn, bis er sich selbst die Frage that, ob wohl Mrs. Goldstraw verschwiegen wäre? Wie er sich erinnerte, daß ihr Antlitz gerade wenn es in Ruhe blieb, Zutrauen erweckte, war er so befriedigt, wie der Mensch gewöhnlich ist, wenn er glauben darf, was er zu glauben wünscht.
Es verstrich eine lange Zeit bis Wilding seine Launen und seine Gesundheit wiedererlangte und seine Gefährte erinnerte ihn, als einen Versuch ihn aufzurichten —— vielleicht auch weil die Obenreizers Vendale hartnäckig im Kopfe lagen —— an seine musikalischen Pläne, die er in der Familie zur Ausführung bringen wolle und an das Einrichten einer Singeklasse im Hause und eines Chorgesangs in der benachbarten Kirche. Die Klasse wurde so schnell wie möglich ins Leben gerufen und da zwei oder drei der Leute schon musikalische Kenntnisse mitbrachten und Erträgliches leisteten, so begann auch der Chorgesang sehr bald. Letzterer wurde von Wilding selbst geleitet, welcher die Hoffnung hegte, seine Untergebenen zu lauter Findelkindern umzuformen, was die Fähigkeit anbelangt, geistliche Musik zu singen.
Da die Obenreizers musikalisch gebildet und begabt waren, so war es leicht dahin zu bringen, daß sie aufgefordert wurden, Theil an den Versammlungen zu nehmen. Vormund und Mündel sagten zu oder vielmehr der Vormund sagte für beide zu, wodurch nothwendig eintrat, daß Vendale ein Leben des absolutesten Sichgefangengebens und Verrückseins führte. Denn, Sonntags in der dumpfigen Christopher-Wren Kirche, mit ihrer Gemeinde der lieben Brüder, fünfundzwanzig an der Zahl, war es nicht ihre Stimme, die wie Licht in den dunkelsten Winkel drang, von den Mauern und Pfeilern wiederhallend, als ob sie Stücke von seinem Herzen wären! In dieser Zeit befand sich noch dazu Madame Dor in einer Ecke des hohen Kirchenstuhles ihren Rücken jedermann und jedem Dinge zugekehrt; auch konnte es nicht ausbleiben, daß sie in manchen Augenblicken von den Gebräuchen des Gottesdienstes völlig in Anspruch genommen war. Er gebärdete sich wie der Mann, dem die Aerzte verordnet hatten, sich einmal in jeden Monat zu betrinken und der, um die Vorschrift nicht zu versäumen, sich alle Tage betrank.
Aber diese köstlichen Sonntage wurden noch durch die Concerte übertroffen, Welche alle Mittwoch in der patriarchalischen Familie zur Ausführung gelangten. In diesen Concerten setzte sie sich an den Flügel und sang in ihrer Muttersprache Lieder ihres Volkes, Lieder, die von den Berghöhen Vendale zuzurufen schienen: Hebe dich empor aus dem grünen ebnen Lande, weit über die Menge hinweg; folge mir nach wie ich höher, höher, höher steige und mich in dem fernen Himmel Verliere. Hebe dich zur höchsten Höhe und liebe mich!« In solchen Augenblicken erschien es ihm, als erhalte das zierliche Mieder, der Zwickelstrumpf und die mit silbernen Schnallen besetzten Schuhe, wie die klare Stirn und die glänzenden Augen die Elasticistät der Gemse, bis der Sang vorüber gerauscht war.
Aber selbst über Vendale übten diese National-Lieder nicht eine solche Gewalt aus als über Joey Ladle, wenn auch in andrer Art. Hartnäckig verweigernd den Klang dunstig zu machen, indem er an den Uebungen Theil nahm, und die tiefste Verachtung gegen alle Skalen und sonstigen Anfangsgründen der Musik im Herzen, weche, das ist sicher den bloßen Zuhörer selten entzücken —— erklärte Joey anfangs das Unternehmen für ein schlechtes Stück Arbeit und die Ausübenden für eine Rotte heulender Derwische. Eines Tages aber entdeckte er Spuren reiner harmonischer Klänge in irgend einem Stück und erweckte dadurch in den beiden unter ihm stehenden Kellermeistern schwache Hoffnungen, daß er im Laufe der Zeit Geschmack an den Uebungen bekommen werde. Sein Urtheil über einen Wechselgesang von Händel berechtigte zu noch höheren Erwartungen; obgleich Joey einwandte, daß der berühmte Musiker sich sehr viel in fremdländischen Kellergewölben aufgehalten haben müsse, weil er ein und dieselbe Sache immer und immer wiederhole. Verstehe man das, wie man wolle, er nahm es für gewiß an, daß man seinen Ausspruch verstehen könne.
Ein drittes Mal erstaunte ihn das Erscheinen des Mr. Jarvis mit einer Flöte und eines andern wunderlichen Mannes mit einer Violine und ein Duett, welches beide ausführten dergestalt, daß er ans eignem Antrieb und eigener Bewegung wie inspiriert die Watte »Am Koar!« [Soll encore bedeuten. Der Ruf »Am Koar« ist in England in Stelle unsres Dacapo-Rufs gebräuchlich. Anm. d. >Uebs.] wiederholentlich ausstieß, als ob er in vertraulicher Weise den Namen einer Dame riefe, welche sich durch ihre Leistung ausgezeichnet habe. Aber dies war die letzte Beifallsbezeugung für die Verdienste seiner Gefährten, denn, als das Duo der Instrumente im ersten Mittwochs-Concert vorüber war, und ein Gesangsstück von Marguerite Obenreizers lieblicher Stimme ausgeführt, folgte, saß er mit weit offenem Munde ganz verzückt, bis sie geendet hatte. Darauf stand er ganz feierlich auf und das, was er sagen wollte, mit einer Verbeugung einleitend, die auch Mr. Wilding inbegriff, äußerte er die befriedigte Stimmung, die ihn durchdrang mit folgenden Worten: »Sie sind Künstlerin, die Andern können sich alle begraben lassen.«
Und von da ab verweigerte er in jeder Weise den musikalischen Leistungen der Familie, seine Anerkennung zu bezeugen.
Auf diese Art entstand die persönliche Bekanntschaft zwischen Marguerite Obenreizer und Joey Ladle. Sie lachte herzlich über die Schmeichelei, die er ihr gesagt hatte, und war fast beschämt, als Joey, nachdem das Concert darüber war, sich ein Herz faßte und sie fragte, er hoffe, sein Kopf sei nicht dergestalt vom Dunste eingenommen gewesen, daß er sich zu die Freiheit herausgenommen habe. Sie gab ihm eine anmuthige Antwort, und Joey bückte sich höflich.
»Sie werden das Glück wieder zurückbringen, Miß,« sagte Joey mit einem zweiten höflichen Blicken. »So eine wie Sie im Haus, und das Glück muß wieder zurück ins Haus.«
»Kann ich das? Glück bringen?« fragte sie mit ihrem niedlichen Englisch und ihrer niedlichen verwunderten Miene. »Ich fürchte, ich habe nicht recht verstanden. Ich bin so einfältig.«
»Der junge Muster Wilding, Miß,« erklärte Joey zutraulich, wenn er durch seine Erklärung auch nichts zum Klarwerden der Sache beitrug, hat das Glück verscheucht, ehe er den jungen Muster George in das Geschäft nahm. So sage ich und so wird es kommen. Herr! Wenn Sie herkämen und nur einige Mal sängen, das Glück könnte nicht widerstehen, es kehrte zurück.«
Damit und mit einer Fülle von Verbeugungen verließ Joey die Versammlung. Aber Joey blieb eine bevorzugte Person, denn ein unverhoffter Sieg erfreut die Jugend und Schönheit. Das nächste Mal sah Marguerite sich vergnügt nach Joey um. »Bitte, wo ist Mr. Joey?« fragte sie Vendale.
Joey wurde gerufen, und die Hände wurden geschüttelt, und das war nun einmal eingeführt und blieb so.
Und noch etwas wurde in ähnlicher Weise eingeführt. Joey hörte schwer. Er selbst meinte, es käme vom Weindunst, und das kann sein; kurz und gut, was auch die Ursache gewesen sein mag, die Wirkung war da. Bei der ersten Versammlung sah man ihn an der Wand entlang schleichen, die linke Hand an das linke Ohr gelegt, und sich in einen Sessel dicht vor der Sängerin hineinschwindeln. Diesen Platz behauptete er, bis er seinen Freunden, den Kunstliebhabern, jene Schmeichelrede zu halten begann, die wir vorher angeführt halten. Joey’s Bewegungen, die ihm das Ansehen einer Bückemaschine verliehen, waren bemerkt worden, und man belustigte sich am nächsten Mittwoch bei Tische darüber, Das Geflüster ging um die Tafel herum, daß seine Manieren erklärlich wären, durch die hochgespannte Erwartung aus Miß Obenreizers Gesang und seine Furcht, keinen Platz zu erhalten, von dem aus er jede Note und jede Silbe vernehmen könnte. Das Gerede drang auch zu Wildings Ohren; gutmüthig, wie er war, rief er Joey Abends, ehe Marguerite zu singen anfing, nach vorn hin. Und auch das wurde zu einer Sitte erhoben. Joey saß alle folgen den Musikabende an demselben Platze. Marguerita wenn sie die Finger über die Tasten gleiten ließ, ehe sie zu singen anfing, fragte jedes Mal Vendalee. »Bitte, wo ist Mr. Joey?« Und Vendale holte ihn jedes Mal nach vorn und setzte ihn dicht an den Flügel. Während Aller Augen auf ihn gerichtet waren, drückten seine Züge das größte Mißtrauen, gegen die Leistungen seiner Freunde aus, und das größte Vertrauen zu denen Margueriten’s in deren Anschauen er tief versenkt war und sich dabei ausnahm, wie das Rhinozeros im Buchstabir-Buch, was abgerichtet worden, auf seinen Hinterfüßen zu stehen. Wenn er nach dem Singen in den höchsten Grad von Entzückung gerieth, fragte jedes Mal eine neckende Stimme hinter ihm: »Wie gefällt Ihnen das, Joey?« Er, von der Frage angestachelt, erwiderte jedes Mal, als ob er den Gedanken erst eben faßte: Sie ist eine Künstlerin, die Andern können sich alle begraben lassen. Das gehörte Alles zu der fest eingeführten Sitte. Aber die einfachen Freuden und kleinen Vergnügungen in Cripple Corner waren nicht von langer Dauer. Sie wurden eines ernsten Grundes wegen eingestellt, welchen jedes Mitglied der patriarchalischen Familie kannte, obgleich Niemand, wie durch ein schweigendes übereinkommen, desselben Erwähnung that. Mit Mr. Wildings Gesundheit stand es schlecht.
»Er würde den Schlag, der ihn im innersten Gemüth getroffen hatte, überwunden, er würde auch vielleicht das quälende Gefühl bemeistert haben, an eines Andern Besitz sich gütlich zu thun, aber beides zu ertragen, ging über sein Vermögen. Er sah in sich einen Menschen, der von zwei Dämonen verfolgt wurde, und es ergriff ihn tiefe Niedergeschlagenheit. Die unzertrennlichen Quälgeister setzten sich mit ihm zu Tisch, aßen don seiner Schüssel, tranken aus seinem Becher und standen Nachts an seinem Lager. Wenn er an die Liebe derjenigen dachte, die er für seine Mutter gehalten, durchdrang ihn das Bewußtsein, daß er die Liebe gestohlen habe. Wenn er sich über die Achtung und Anhänglichkeit seiner Untergebenen freuen wollte, erschien ihm sein Trachten, dieselben glücklich zu machen, wie ein Betrug, denn das zu thun, wäre des unbekannten Pflicht und Lohn gewesen.
Nach und nach, unter dem Druck, den das ewige Brüten auf Geist und Körper ausübte, beugte sich die Gestalt, seine Schritte verloren ihre Elasticität, seine Augen blieben am Boden haften. Er wußte, er konnte dem beklagenswerthen Irrthum, der stattgefunden hatte, nicht abhelfen, er wußte, er konnte ihn nicht ungeschehen machen; denn Tage und Wochen vergingen, und keine Stunde erschien, in der ihm sein Name und sein Besitzthum abverlangt wurde. Langsam begann ihn das dunkle Bewußtsein von einer oft wiederkehrenden Unklarheit im Kopf zu beschleichen. Sie kam mitunter eine ganze Stunde, mitunter einen ganzen Tag und eine ganze Nacht über ihn. Einmal versagte ihm die Erinnerung, als er zu Häupten der Tafel saß, und kehrte nicht vor Tagesanbruch wieder. Ein andermal versagte sie gerade als die Gesangsübungen beginnen sollten und fand sich erst wieder ein, als er und sein Conrpagrron die halbe Nacht über im Mondschein auf dem Hof spazieren gegangen waren. Er fragte Vendale, der immer rücksichtsvoll, thätig und hilfsbereit war, was das gewesen sei. Vendale anwortete nur: »Nichts weiter, als daß Sie sich nicht wohl befanden.« Er beobachtete die Gesichtszüge seiner Leute, ob er aus ihnen die Wahrheit herauslesen könne; aber sie speisten ihn ab mit: »Seht erfreut, Sie wieder besser zu sehen, Sir;« oder: »Ich hoffe, es geht Ihnen wieder gut, Sir,« und daraus war er nicht im Stande, seinen Zustand zu beurtheilen.
Endlich, als sein Theilhaber fünf Monat lang im Geschäft war, blieb Wilding im Bett, und Mrs. Goldstraw wurde seine Pflegerin.
»Nun ich so krank daliege, nehmen Sie es vielleicht nicht übel, wenn ich Sie Sally nenne, Mrs. Goldstraw?« sagte der arme Weinhändler.
»Er klingt mir natürlicher, wie jeder andre Name, und ich höre ihn am liebsten.«
»Ich danke Ihnen, Sally. Ich glaube, Sally, daß ich kürzlich Anfällen von Bewußtlosigkeit unterworfen gewesen bin. Ist das wahr, Sally? —— Fürchten Sie sich nicht, es mir zu sagen.«
»Es ist vorgekommen, Sir.«
»So! also das ist es gewesen,« bemerkte er ruhig. »Mr. Obenreizer sagt, Sally, die Welt sei so eng, daß es nicht zu verwundern wäre, wenn man immer mit denselben Menschen wieder zusammenträfe, an verschiedenen Orten zusammenträfe, und sollte man auch von verschiedener Lebensstellung sein. Ist es nicht seltsam, Sally, daß ich, nun es zum Sterben geht, wieder —— wie soll ich sagen? —— wieder zurück in das Findelhaus komme?«
Er streckte seine Hand nach ihr aus, sie nahm sie sanft in die ihre.
»Sie werden noch nicht sterben, lieber Mr. Wilding.«
»Mr. Bintrey sagt das auch, aber ich glaube, er hat Unrecht. Das alte Kindheitsgefühl überkommt mich wieder, Sally. Die Stille und Ruhe, die sich früher über mich verbreitete, ehe ich einschlief.«
Nach einer Pause sagte er sanft: »Bitte, küsse mich, Sally, und es war augenscheinlich, daß er in dem großen Schlafsaal des Findelhauses zu liegen glaubte. Wie sie gewohnt gewesen war, sich über die vater und mutterlosen Kinder zu beugen, beugte sich Sally auf den vater- und mutterlosen Mann hinab und berührte mit ihren Lippen seine Stirn, indem sie flüsterte:
»Gott segne Dich!«
»Gott segne Dich!« erwiderte er in demselben Ton.
Nach einer zweiten Pause öffnete er mit vollem Bewußtsein seine Augen und sagte: »Laß mich deswegen, was ich Dir jetzt sagen werde, ruhig in meiner Stellung verharren, ich liege sehr behaglich. Ich glaube, meine Zeit ist da. Ich weiß nicht, wie es Dir erscheinen mag, Sally aber ——«
Für einige Minuten überfiel ihn Bewußtlosigkeit; doch rang er sich noch einmal von ihr los.
»Ich weiß nicht, Sally, wie es Dir erscheinen mag, aber so erscheint es mir.«
Als er bedächtig seine Lieblingssentenz ausgesprochen hatte, war seine Zeit gekommen und er starb.
Zweiter Act
Vendale liebt.
Sommer und Herbst waren vergangen. Weihnachten und Neujahr rückten heran.
Mit redlichem Bestreben ihre Pflicht als Testamentsvollstrecker zu erfüllen, hielten Bintrey und Vendale mehr als eine eingehende Berathung über Wildings letzten Willen ab. Der Rechtsmann erklärte, daß es geradezu unmöglich sei, einen fördernden Schritt in dieser Angelegenheit zu thun. Die einzigen Nachforschungen, die anzustellen wären, seien von Wilding schon gemacht worden und zwar mit dem Ergebnis, daß Zeit und Tod in Gemeinschaft handelnd, jede Spur von dem Verlorenen ausgelöscht hätten. Wenn man die an den Besitz, Anspruch Habenden öffentlich ausrufen wolle, so müsse man auch dazu schreiten, Einzelheiten anzuführen —— ein Verfahren, welches die Hälfte aller in England lebenden Betrüger anspornen würde, sich für den wahren Walter Wilding, auszugeben. »Bietet sich uns eine Aussicht, die Spur des Verlorenen aufzufinden, so wollen wir sie ergreifen, bietet sie sich nicht, so wollen wir am ersten Jahrestage nach Wildings Tode zu einer neuen Berathung zusammenkommen.« Das war Bintrey’s Vorschlag und trotz dem ernstlichen Willen, des verstorbenen Freundes Wünschen nachzukommen, sah sich Vendale gezwungen, die Sache für jetzt ruhen zu lassen.
Seinen Blick aus der Vergangenheit in die Zukunft richtend, gewahrte Vendale, daß er einem zweifelvollen Unternehmen gegenüberstehn Monate und Monate waren seit jenem ersten Besuch in Soho-Square vergangen —— und in der ganzen Zeit war das einzige Mittel, Maguerite seine Liebe zu gestehen, die Sprache der Augen geblieben, unterstützt bei sich darbietenden Gelegenheiten von der Sprache der Hände.
Und welches Hinderniß stand ihm denn im Wege? Das einzige unüberwindliche Hinderniß welches sich von Anfang an hineingedrängt hatte. Wie schön sich auch die Gelegenheit anließ, sobald Vendale einen Versuch wagte, mit Margueriten zu sprechen, so endete einer wie der andere in derselben Weise. Obenreizer —— durch den glaubwürdigsten Zwischenfall und auf die unschuldigste Weise von der Welt dazu gekommen —— schnitt ihm jedes mal die Gelegenheit ab. Mit den letzten Tagen im alten Jahr eröffnete sich unerwartet die Aussicht, einen Abend in Marguerites Gesellschaft zuzubringen. Vendale war entschlossen, daß an diesem Abend ihm auch die Gelegenheit werden müsse, allein mit ihr zu sprechen. Eine freundschaftliche Zuschrift Obenreizers lade ihn am Neujahrstage zu einem kleinen Familiendiner in Soho-square ein.
»Wir werden nur vier sein,« hieß es in dem Brief. »Wir werden nur zwei sein,« hatte Vendale bei sich beschlossen, »und das noch ehe der Abend vergangen ist.«
In England verbindet sich mit dem Neujahrstag weiter nichts, als die Vorstellung von vielen Diners, die gegeben und angenommen werden müssen. Im Auslande bietet der Neujahrstag die Gelegenheit dar, Geschenke zu geben und zu empfangen. Unter Umständen macht man wohl einmal von der fremden Sitte Gebrauch. Bei den obwaltenden Verhältnissen nahm Vendale keinen Anstand, sie anzuwenden. Die große Schwierigkeit bestand nur darin, was er als Neujahrsgeschenk Magueriten darbringen solle? Der abweisende Stolz der Bauerntochter —— der über alle Begriffe leicht zu verletzen schien, wenn sie auf die Ungleichheit ihrer Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft mit der seinigen kam —— mußte sich empören, wenn er es wagte, ihr eine reiche Gabe zu bieten. Ein Geschenk, welches auch ein Unbegüterter erhandeln könnte, würde das einzige sein, was möglicherweise ein Wort zu Gunsten des Gebers bei ihr sprechen möchte. Standhaft jeder Versuchung widerstehend, die sich in Gestalt von Diamanten und Rubinen in seinen Weg drängte, wählte Vendale eine Broche von Genuesischer Filigranarbeit —— den einfachsten und anspruchslosesten Schmuck, den er im Juwelierladen finden konnte
Er ließ das kleine Geschenk in Margueritens Hand gleiten, als sie ihm dieselbe am Tage, wo das Diner stattfand, zum Willkommen entgegenstreckte.´
»Sie verleben zum ersten Mal den Neujahrstag in England,« sagte er. »Wollen Sie mir erlauben, Sie an die Feier des Neujahrstages in Ihrer Heimath zu erinnern.«
Sie dankte ihm zurückhaltend, als sie das Schmuckkästchen gewahrte, weil sie ungewiß war, was es enthalten möchte? Als sie es geöffnet hatte und die ausgesucht einfache Gestalt, in der sich Vendales kleine Gabe darstellte, bemerkte, verstand sie des Gebers Absicht aus der Stelle. Ihr Antlitz wendete sich ihm zu und ihr Blick sprach deutlich: »Ich bekenne, Sie haben mich erfreut und mir wohlgethan.« Niemals war sie den Augen Vendales so bezaubernd erschienen, als in diesem Augenblick. Ihr Winteranzug, —— ein Rock non dunkler Seide und eine hohe schwarze Sammettaille, die den Hals weich in einen Ring von weißen Schwanen einschloß —— erhöhten durch den gewaltigen Contrast mit denselben, die Schönheit ihres Haares und das zarte Roth ihrer Wangen. Erst als sie sich von ihm wendete und vor den Spiegel hintretend die Brosche aus dem Kästchen nahm, um die Neujahrsgabe an ihren Platz zu stecken, ließ Vendale’s Aufmerksamkeit in soweit Von ihr ab, um die Gegenwart andrer Personen im Zimmer zu entdecken. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß Obenreizers Hände ihm zärtlich die Ellenbogen drückten. Er vernahm Obenreizers Stimme, die ihm mit einem so geringen Anflug von Spott wie der —— Ton derselben erlaubte, für die Aufmerksamkeit, die er Marguerite beweise, dankte. ( »Theuerster Sir! Solch ein einfaches Geschenk! Es zeugt von so feinem Takt!«) Er entdeckte endlich, daß noch ein andrer Gast, aber nur noch einer außer ihm, anwesend sei. Obenreizer stellte ihm denselben als seinen Freund und Landsmann vor. Des Freundes Gesicht war wettergebräunt und des Freudes Gestalt plump. Seine Jahre näherten sich dem Herbst des Lebens. »Im Laufe des Abends entwickelte er zwei hervorstechende Eigenschaften. Die eine bestand in dem Talent schweigen zu können, die andre in dem Flaschen zu leeren.
Madame Dor war nicht anwesend, noch wurde, als man sich zu Tische setzte, ein Platz, für sie reserviert. Obenreizer erklärte, daß es die einfache Gewohnheit der guten Dor sei, in der Mittagsstunde zu speisen und daß sie ihre Abwesenheit später selbst entschuldigen werde. Vendale hegte den Argwohn, ob nicht die gute Dor bei dieser Gelegenheit ihr Amt, Obenreizers Handschuhe zu reinigen, mit dem Amt, Obenreizers Speisen zu kochen, vertauscht habe? Das wenigstens steht fest —— die auf getragenen Schüsseln waren, eine wie die andre, Meisterstücke der Kochkunst und erhoben sich weit über die grosse, auf den Anfangsstufen der Entwicklung stehende Englische Kochart. Das Diner war ausgezeichnet, ohne anspruchsvoll zu sein. Was den Wein anbetraf, so weilten die Blicke des schweigsamen Freundes mit unverholenem Entzücken darauf. Mitunter sagte er »Schön!« wenn eine volle Flasche hereinkam und mitunter sagte er »Ach!« wenn eine leere hinausgebracht wurde —— und das war Alles, was er zu dem Vergnügen des Abends beitrug. Schweigen ist ansteckend. Von geheimen Sorgen bedrückt, schien es fast, als ob Marguerite und Vendale den Einfluß, den der stille Freund ausübte, empfänden. Die ganze Verantwortlichkeit, das Gespräch in Gang zu halten, ruhte auf Obenreizers Schultern und Obenreizer entledigte sich tapfer dieser Pflicht. Das Herz ging ihm auf und indem er den aufgeklärten Ausländer spielte, pries er Englands Ruhm. Wenn andere Gegenstände des Gespräches versiegten, kehrte er zu dieser unerschöpflichen Quelle zurück und ließ den Strom des Lobes in ungeschwächter Kraft fluthen. Obenreizer hätte einen Arm, ein Auge oder ein Bein darum gegeben, ein geborener Engländer zu sein. Außerhalb Englands gab es nirgends eine Stätte, wie ein home, gab es nirgends ein Ding wie eine fireside, nirgends annähernd ein schönes Weib. Seine geliebte Miß Marguerite wolle entschuldigen, aber bei ihren Reizen könne er sich nicht anders denken, als daß sich Englisches Blut in früherer Zeit mit dem ihrer niedrigen und unbekannten Vorfahren gemischt habe. Man werfe einen Blick auf die Englische Nation, welch ein kräftiges, reinliches, aufgeblasenes und gediegenes Volk das ist! Man werfe einen Blick auf Englands Städte! Welche Pracht in ihren öffentlichen Gebäuden! welche bewunderungswürdige Ordnung und Sauberkeit auf ihren Straßen! Man staune ihre Gesetze an, die die ewigen Grundregeln der Gerechtigkeit mit andern ewigen Grundregeln von Pfunden, Schillingen und Pfennigen verbinden; die jeder Injurie ihr Sühnengeld auferlegen, von der Ehrenkränkung an, bis zur Kränkung einer Nase! Sie haben meine Tochter auf dem Gewissen —— Pfunde, Schillinge, Pfennige! Sie herben mich durch einen Schlag ins Gesicht niedergestreckt —— Pfunde, Schillinge, Pfennige! Nie kann der materielle Wohlstand eines solchen Landes untergehen! Obenreizer, der einen Blick in die Zukunft warf, sah das Ende desselben nicht ab. Obenreizer bat um die Erlaubniß, seiner Begeisternng nach Englischer Art: in einem Toast Genüge zu thun. Unser bescheidenes kleines Mahl wäre eingenommen, unser frugales Dessert aufgetragen und ein Bewundrer Englands hält der Englischen Sitte gemäß eine Ansprache! Einen Toast den weißen Klippen Albions, Mr. Vendale! den Tugenden seines Volkes, seinem köstlichen Clima und seinen bezaubernden Frauen! seinen firesides und homes, seiner habeas corpus acta und allen seinen Institutionen! Mit einem Wort —— England hoch! hoch! hoch! Hurrah!«
Obenreizer hatte kaum die letzte Silbe des englischen Lebehochs gerufen, der schweigsame Freund kaum den letzten Tropfen im Glase ausgetrunken, als die Festlichkeit durch ein schüchternes Pochen an der Thür unterbrochen wurde. Ein Dienstmädchen kam herein und näherte sich ihrem Herrn, ihm einen Brief überreichend. Obenreizer öffnete den Brief und runzelte die Augenbrauen. Als er ihn mit sichtlichem Unbehagen durchlesen hatte, reichte er ihn seinem Landsmann und Freund. Vendale’s Geister hoben sich, wie er den Vorgang beobachtete. Fand er vielleicht in dem unliebsamen kleinen Papier einen Verbündeten? Sollte die langersehnte Gelegenheit endlich eintreffen?
»Ich bedaure aufrichtig, aber ich kann mir nicht anders helfen!« sagte Obenreizer, sich an seinen Landsmann wendend. »Ich bedaure, aber wir müssen fort.«
Der schweigsame Freund gab den Brief zurück und goß sich ein letztes Glas Wein ein. Seine dicken Finger umschlossen zärtlich den Hals der Flasche. Sie drückten ihn zum Abschied wie Liebhaber, die von dem Gegenstand ihrer Neigung scheiden. Seine hervorstehenden großen Augen blickten trübe, wie durch einen dazwischen lagernden Nebel auf Vendale und Margueriten hin. Seine schwere Zunge mühte sich und brachte endlich einen ganzen Satz zur Welt. »Ich glaube,« sagte er, »ich hätte noch mehr Wein trinken können.« Der Athem ging ihm bei dieser Anstrengung aus. Er schnappte nach Luft und schritt der Thür zu.
Obenreizer wendete sieh mit dem Ausdruck des tiefsten Bedauerns Vendale zu.
»Ich bin erschrocken, verwirrt, betrübt,« fing er an. »Einem meiner Landsleute ist ein Unglück zugestoßen. Er ist allein, kennt Ihre Sprache nicht —— und mir und meinem Freunde hier bleibt keine andere Wahl, als ihm zu Hilfe zu eilen. Was soll ich zu meiner Entschuldigung anführen? Wie kann ich mein Bedauern genügend beschreiben, mich der Ehre Ihrer Gesellschaft entziehen zu müssen?«
Er hielt ein, augenscheinlich, weil er erwartete, Vendale den Hut nehmen und sich verabschieden zu sehen. Vendale aber, der die Gelegenheit für sehr günstig hielt, beschloß nichts dergleichen zu thun. Er schlug Obenreizer geschickt mit dessen eignen Waffen.
»Bitte, beunruhigen Sie sich nicht. Ich warte mit dem größten Vergnügen auf Ihre Wiederkehr.«
Marguerite erröthete, wendete sich hinweg und ging zu ihrem Stickrahmem der in der Fensterecke stand. Der Schatten senkte sich über Obenreizers Augen und ein saures Lächeln umzog seine Lippen. Vendale anzukündigen, daß keine Aussicht auf baldige Wiederkehr wäre, hieß so viel, als einen Mann beleidigen, dessen gute Meinung für ihn in geschäftlicher Beziehung von großer Wichtigkeit war. Das ihm widerwärtige Anerbieten mit möglichster Freude annehmend erklärte er durch Vendale’s Vorschlag eben so geehrt als erfreut zu sein. »So freimüthig! so freundschaftlicht so englisch!« Er suchte geräuschvoll in dem Gemach umher, als vermisse er etwas, verschwand für einen Augenblick hinter der Thür, die in das Nebenzimmer führte, kam mit Hut und Mantel zurück und indem er versprach, so bald wie möglich wiederzukommen, umfaßte er Vendale’s Ellenbogen und war in Begleitung seines schweigsamen Freundes von der Scene verschwunden.
Vendale wollte nach der Fensternische hin, in der Marguerite bei der Arbeit saß. Da, als ob sie vom Himmel gefallen oder aus der Erde aufgetaucht sei —— da in ihrer gewöhnlichen Stellung mit dem Gesicht gegen den Ofen —— saß ein unvorhergesehenes Hinderniß, saß die Person der Madame Dor. Die starke Dame erhob sich ein wenig, sah über ihre breite Schulter Vendale an, um schwer wieder auf ihren Sitz zurück zu sinken. Arbeitete sie wieder? Ja. Reinigte sie Obenreizers Handschuhe? Nein; sie stopfte Obenreizers Strümpfe.
Die Sache stand verzweifelt. Zwei ernste Erwägungen drängten sich Vendale auf. War es möglich, Madame Dor in den Ofen zu stecken? Nein! Sie ging nicht hinein. War es möglich, zu thun, als ob Madame Dor kein lebendes Wesen sei, sondern ein Zimmerschmuck? Konnte er seine Seele dahin bringen, die achtungswerthe alte Dame für eine Commode anzusehen, auf der zufällig ein schwarzer Florkopfputz liegen geblieben war? Ja, dahin konnte er seine Seele bringen. Mit einer verhältnismäßig geringen Anstrengung vollbrachte es dieselbe. Als er auf dem altmodischen Fenstersitz dicht neben Margueriten und ihrer Stickerei Platz nahm, schien die Commode in Bewegung zu gerathen, aber eine Bemerkung entschlüpfte ihr nicht. Es möge hier eingeschaltet sein, daß ein solides Möbel schwer von der Stelle zu rücken ist und in Folge dessen den Vortheil hat —— nicht leicht umzustürzen.«
Ungewöhnlich still und ungewöhnlich gehalten —— die glänzenden Farben waren aus ihrem Antlitz gewichen und eine fieberhafte Hast hatte sich ihrer Finger bemächtigt —— verharrte die hübsche Marguerite über ihrem Rahmen gebeugt und arbeitete, als ob ihr Leben von ihrem Eifer abhinge. Vendale, kaum weniger aufgeregt als sie empfand, wie wichtig es sei, sie zart auf das Geständniß vorzubereiten, welches er sich zu machen sehnte, und wie wichtig es sei, sie zu dem andern süßeren Geständniß zu bringen, welches ihn vor Allem zu hören verlangte. Die Liebe einer Frau ist nicht mit Sturm zu erobern, sie er giebt sich nur nach und nach und unmerklich der ausdauernden Bewerbung. Sie ist nur auf Umwegen zu gewinnen und erhört nur sanfte Stimmen. Vendale führte Marguerite zurück auf ihre Begegnungen in der Schweiz. Sie frischten miteinander die Eindrücke auf, sie riefen sich alle Vorkommnisse in jenen glücklichen Tagen in’s Gedächtniß. Nach und nach verschwand Margueriten’s Zurückhaltung. Sie lächelte, sie wurde lebhaft, sie sah Vendale an, die Nähnadel feierte oder machte falsche Stiche in die Arbeit. Ihre Stimmen wurden leiser und leiser, ihre Köpfe neigten sich einander näher und näher im Sprechen. Und Madame Dor? Madame Dor war ein Engel. Sie sah sich nicht um, sie sagte kein Wort; sie war ganz bei Obenreizers Strümpfen. Jeden Strumpf straff über den linken Arm ziehend und den Arm von Zeit zu Zeit in die Höhe haltend, um mehr Licht bei ihrer Arbeit zu gewinnen, traten Augenblicke ein, köstliche unbeschreibliche Augenblicke, in denen es schien, als ob Madame Dor kopfüber fallen wolle, um eines ihrer eigenen respectablen Beine zu betrachten und Vielleicht wie den Arm mit dem Strumpf in die Luft zu heben. Nach einiger Zeit folgten die Handbewegungen in längeren Zwischenräumen. Wieder und wieder nickte der schwarze Florkopfputz, fiel vornüber und langte sich schleunig selbst wieder auf. Ein Häuflein Strümpfe glitt sanft von Madame Dors Schooß hinab und blieb unbeachtet am Boden liegen. Ein mächtiges Wollknäuel folgte den Strümpfen und kugelte träge unter den Tisch. Der schwarze Florkopfputz nickte, fiel vornüber und langte sich schleunig wieder auf, nickte nochmals, fiel vornüber und kam nicht wieder an seine Stelle. Ein seltsamer Ton, halb wie das Spinnen einer ungeheuren Katze, halb wie Hobeln auf ein mürbes Brett, ließ sich Vernehmen und übertönte die flüsternden Stimmen der Liebenden, in regelmäßigen Zwischenräumen das Zimmer durchsummend. Die Natur und Madame Dor hatten für Vendales Glück entschieden. Die beste der Frauen war eingeschlafen.
Marguerite sprang auf, um dem —— Schnarchen wollen wir nicht sagen —— dem sich hörbarmachenden Schlummer der Mrs. Dor Einhalt zu thun. Vendale legte seine Hand anf ihren Arm und zog sie sanft in den Sessel zurück.
»Sören Sie sie nicht » flüsterte er. »Ich habe darauf gewartet, um Ihnen ein Geheimniß zu vertrauen. Darf ich es sagen?«
Marguerite sank auf ihren Sitz zurück. Sie versuchte die Nadel zu fassen. Sie vermochte es nicht. Ihre Augen versagten; ihre Hand versagte. Sie konnte nichts finden.
»Wir sprachen von der schönen Zeit,« sagte Vendale, »als wir uns zum ersten Mal sahen und zum ersten Mal zusammen reisten. Ich habe ein Geständniß abzulegen. Ich habe Ihnen etwas verheimlicht. Als ich von meinem ersten Besuch in der Schweiz erzählte, habe ich Ihnen alle Eindrücke, die ich mit nach England heimgenommen, geschildert —— ausgenommen einen. Errathen Sie, welcher das ist?«
Ihre Augen hafteten unverrückt auf der Stickerei und ihr Antlitz wendete sich ein wenig von ihm weg. Zeichen von Unruhe wurden in dem hübschen Sammetmieder sichtbar an der Stelle, wo die Broche sich befand. Sie antwortete nicht. Vendale wiederholte seine Frage ohne Erbarmen.
»Errathen Sie, welchen Eindruck ich Ihnen bis heute verheimlicht habe?«
Ihr Antlitz, wendete sich zu ihm zurück und ein schwaches Lächeln zitterte auf ihren Lippen.
»Den Eindruck von den Bergen vielleicht?« sagte sie schelmisch.
»Nein. Einen köstlicheren Eindruck als den.«
»Von den Seen?«
»Die Seen sind mir nicht von Tage zu Tage, wenn ich an sie zurückdachte, theurer geworden. Die Seen sind nicht mit meinem Glück in der Gegenwart und meinen Hoffnungen in der Zukunft verknüpft. Marguerite alles was dem Leben Werth verleiht, hängt an einem Wort aus Ihrem Munde. Marguerite, ich liebe Sie.«
Sie neigte den Kopf herab, als er ihre Hand ergriff. Er sog sie an sich und blickte zu ihr nieder. Thränen drangen aus ihren geschlossenen Augenlidern und rollten langsam die Wangen hinab.
»Ach, Mr. Vendale,« sagte sie traurig, es wäre freundlicher gewesen, wenn Sie Ihr Geheimniß niemals aus gesprochen hätten. Haben Sie den Unterschied vergessen, der uns trennt? Es kann nie, nie geschehen.«
»Es kann uns nur eins von einander trennen, Marguerite —— Ihr Wort. Meine Geliebte, mein Kleinod, es giebt keinen höheren Grad der Herzensgüte, keinen höheren Grad der Schönheit, als Du besitzest. Komm! flüstre mir das eine kleine Wörtchen zu, welches mir versichert, daß Du mein Weib werden willst.«
Sie seufzte schwer. »Denken Sie an Ihre Familie und an die meine,« flüsterte sie.«
Vendale zog sie ein Weniges näher zu sich heran. »Wenn Sie dergleichen Kleinigkeiten nur erwähnen, so muß ich glauben, Sie beleidigt zu haben.«
Sie sah zu ihm empor. »Nein! nein!« rief sie unschuldvoll. In demselben Augenblick, in dem die Worte über ihre Lippen gingen, wurde es ihr klar, welche Auslegung ihnen gegeben werden konnte. Das Bekenntniß war ihr ohne ihr Wollen entschlüpft. Ein liebliches Erröthen überzog ihr Antlitz. Sie machte einen vergeblichen Versuch sich von den Armen des Geliebten los zu machen.
Sie sah ihn flehend an. Sie versuchte zu sprechen. Die Worte starben in dem Kuß, den Vendale auf ihre Lippen drückte. »Lassen Sie mich, Mr. Vendale,« sagte sie schwach.
»Nenne mich George.«
Sie lehnte ihren Kopf an seine Brust. Das Herz strömte ihr über. »George,« flüsterte sie.
»Sage, daß Du mich liebst.«
Ihre Arme umfaßten sanft seinen Nacken. Ihre Lippen berührten schüchtern seine Wange und sie flüsterte die beseligenden Worte —— »Ich liebe Dich!«
Durch das tiefe Schweigen, welches folgte, vernahm man deutlich das Oeffnen und Schließen der Hausthür und um so deutlicher, als auf der Straße Todtenstille herrschte.
Marguerite sprang auf.
»Laß mich fort,« sagte sie. »Er kommt!«
Sie eilte aus dem Zimmer, im Vorübergehen Madame Dor auf die Schulter klopfend. Madame Dor erwachte mit einem lauten Seufzer, sah erst über die eine, dann über die andre Schulter, blickte in ihren Schooß und gewahrte weder Strümpfe, noch Wolle noch Stopfnadel darin. In diesem Augenblicke vernahm man Fußtritte, welche die Treppe heraufkamen. »Mon Dieu!« sagte Madame Dor und wendete sich heftig zitternd dem Ofen zu. Vendale suchte in höchster Eile Strümpfe und Knäul vom Boden auf und schleuderte den ganzen Haufen über die Schulter der Dame. »Mon Dieu!« sagte Madame Dor zum zweiten Mal, als die Wolllawine in ihren geräumigen Schooß niederwetterte. Die Thür öffnete sich,« Obenreizer trat ein. Sein erster Blick in das Zimmer sagte ihm, daß Marguerite fehle! »Was!« rief er aus. Meine Nichte nicht da? Meine Nichte nicht da, um Sie während meiner Abwesenheit zu unterhalten. Das ist unverzeihlich. Ich werde sie sogleich holen.«
Vendale hielt ihn zurück.
»Ich bitte Miß Obenreizer nicht zu stören,« sagte er. »Sie sind ohne Ihren Freund wiedergekommen, wie ich sehe.«
»Mein Freund ist bei unserm unglücklichen Landsmann zurückgeblieben, um ihn zu trösten. Eine herzbrechende Scene, Mr. Vendale! Die Wirthschaft wandert zum Pfandleiher —— die Fantilie schwimmt in Tränen. Wir verstummten Alle. Mein bewunderungswürdiger Freund war der einzige, der Fassung behielt. Er ließ auf der Stelle eine Flasche Wein holen.«
»Könnte ich wohl ein Wort allein mit Ihnen reden, Mr. Obenreizer?«
»Gewiß.« Er wandte sich an Madame Dor. »Meine Beste, Sie bedürfen der Ruhe. Mr. Vendale ist so gütig, Sie zu entschuldigen.«
Madame Dor erhob sich und machte sich seitwärts auf die große Reise vom Ofen in ihr Bett hinein. Sie verlor einen Strumpf. Vendale nahm ihn auf und öffnete ihr die Thür. Sie ging zwei Schritte weiter und verlor drei andere Strümpfe. Vendale, im Begriff dieselben, wie den ersten, aufzulangen, wurde von Obenreizer, der Madame Dor einen warnenden Blick zuwarf, mit einer Fluth von Entschuldigungen daran verhindert. Madame Dor, den Blick gewahrend, ließ den ganzen Haufen Strümpfe fallen und versuchte, von panischem Schrecken erfaßt, so schnell sie in ihrer Schwerfälligkeit vorwärts konnte, die Unglücksscene zu verlassen. Obenreizer ergriff wüthend die ganze Sammlung mit den Händen. »Gehen Sie,« rief er und schwang, sich zum Wurf vorbereitend, die ganze Ladung in die Luft. Madame Dor sagte: »Mon Dieu!« und verschwand im Nebenzimmer, in das ihr ein Hagelschauer von Strümpfen nachfolgte.
»Was müssen Sie, Mr. Vendale, von dem widerlichen Sichaufdrängen solcher häuslichen Beschäftigungen denken?« sagte Obenreizer, indem er die Thür schloß. »Ich für mein Theil schäme mich derselben. Wir fangen das neue Jahr so schlecht wie möglich an. Heut Abend geht Alles schief. Bitte, setzen Sie Sich —— und sagen Sie mir, ob ich Ihnen etwas anbieten darf? Wollen wir wieder einer Ihrer vortrefflichen englischen Sitten Ehre bezeigen? Ich studiere darauf, wie Sie es nennen, »jolly« zu sein. Wie wäre es mit einem Grog?«
Vendale schlug mit aller nöthigen Achtung vor der vortrefflichen englischen Sitte den Grog aus.
»Ich möchte mit Ihnen über eine Angelegenheit sprechen, die mich tief berührt,« sagte er. »Es kann Ihnen nicht entgangen sein, Mr. Obenreizer, daß ich vom ersten Augenblick an eine mehr als gewöhnliche Bewunderung für Ihre reizende Nichte empfunden habe?«
»Sie sind überaus gütig. Ich danke Ihnen im Namen meiner Nichte dafür.«
»Vielleicht ist es Ihnen auch nicht entgangen, daß später meine Bewunderung für Miß Obenreizer zu einem innigeren und tieferen Gefühl angewachsen ist?«
»Wir wollen es Freundschaft nennen, Mr. Vendale.«
»Rennen Sie es Liebe und Sie werden der Wahrheit näher kommen.«
Obenreizer sprang von seinem Stuhl auf. Der schwache kaum sichtbare Streifen, der andeutete, daß er gern die Farbe wechseln möchte, wurde plötzlich auf seinen Wangen bemerklich.«
»Sie sind Miß Obenreizers Vormund.« fuhr Vendale fort. »Ich fordere von Ihnen die höchste Gunst, die mir werden kann —— ich fordere von Ihnen die Hand Ihrer Nichte.«
Obenreizer sank in den Stuhl zurück. »Mr. Vendale,« sagte er, »Sie sehen mich zu Stein erstarrt.«
»Ich werde warten,« erwiderte Vendale, »bis Sie Sich gesammelt haben.«
»Nur ein Wort noch, ehe ich mich zu sammeln versuche. Sie haben meiner Nichte nichts davon gefragt?«
»Ich habe Ihrer Nichte mein ganzes Herz ausgeschüttet, und habe Grund zu hoffen ——«
»Was!« unterbrach ihn Obenreizer. »Sie haben meiner Nichte einen Antrag gemacht, ohne mich zu fragen, ob ich meine Erlaubniß dazu gebe?« Er schlug mit der Hand anf den Tisch und verlor zum ersten mal, seitdem Vendale ihn kannte, völlig die Fassung. »Sir!« rief er empört, »was ist das für eine Art sich zu betragen? Ich frage als ein Ehrenmann einen andern Ehrenmann: Wie können Sie das rechtfertigen?«
»Es rechtfertigt sich dadurch,« sagte Vendale ruhig, »daß ich nach englischer Sitte gehandelt habe. Sie bewundern ja alle unsere englischen Gewohnheiten. Ich kann nicht einmal mit Aufrichtigkeit vorgeben das zu bedauern, was ich gethan habe, Mr. Obenreizer. Ich kann nur versichern, daß ich nicht beabsichtigt habe, in dieser Angelegenheit einen Mangel an Achtung gegen Sie herauszukehren. Nachdem ich das gesagt habe, darf ich Sie wohl ersuchen, mir offen mitzutheilen, welcher Grund Sie bewegt, meine Werbung nicht zu begünstigen?«
»Der unumstößliche Grund,« erwiderte Obenreizer, »daß meine Nichte in der Gesellschaft mit Ihnen nicht auf gleicher Stufe steht. Meine Nichte ist die Tochter —— eines armen Bauern, und Sie sind der Sohn eines Gentleman. Sie erzeigen uns eine Ehre,« setzte er hinzu, sich nach und nach wieder zu seinem gewöhnlichen höflichen Ton hinaufstimmend, »welche unsrerseits die dankbarste Anerkennung verdient, aber die Ungleichheit ist zu auffallend, das Opfer ist zu groß. Ihr Engländer seid eine stolze Nation, Mr. Vendale Ich habe lange genug in diesem Lande gelebt, um zu wissen, daß eine solche Heirath, wie Sie sie beabsichtigen, ein allgemeines Aergerniß abgäbe. Keine Hand würde sich Ihrem Weibe, der Bäuerin, entgegenstrecken und Ihre besten Freunde würden Sie verlassen.«
»Einen Augenblick!« rief Vendale, den Redenden unterbrechend. »Ohne große Anmaßung werde ich wohl das Recht in Anspruch nehmen können, meine Landsleute im Allgemeinen und meine Freunde im Besonderen besser zu kennen, als Sie. In der Achtung Derjenigen, an deren Meinung überhaupt etwas gelegen ist, wird meine Gattin selbst die genügendste Rechtfertigung meiner Wahl abgeben. Wenn ich nicht ganz sicher wäre —— ich bitte zu bemerken, daß ich »ganz sicher« sage —— ihr eine Stellung bieten zu können, die sie anzunehmen vermag, ohne der leisesten Spur von Demüthigung ausgesetzt zu sein, so würde ich sie nie, möchte es mir kosten, was es wollte, gebeten haben, mein Weib zu werden. Sehen Sie noch irgend sonst ein Hinderniß? Haben Sie eine Einwendung gegen meine Person zu machen?«
Obenreizer wehrte mit beiden aufgespreizten Händen die Beschuldigung höflichst von sich ab. »Eine Einwendung gegen Ihre Person!« rief er aus. »Theurer Sir, schon die bloße Frage ist mir schmerzlich.«
»Wir beide sind Geschäftsmänner,« fuhr Vendale fort. »Sie erwarten natürlich von mir eine Darlegung meiner Verhältnisse, die Ihnen beweist, daß ich eine Frau sicher zu stellen vermag. Ich kann meine pekuniäre Lage in zwei Worten schildern. Ich erbte von meinen Eltern ein Vermögen von zwanzig Tausend Pfund. Von der Hälfte dieser Summe beziehe ich eine Rente, welche, wenn ich sterbe, auf meine Wittwe übergeht. Sollte ich Kinder hinterlassen, so würde das Capital unter sie vertheilt werden, nachdem sie großjährig geworden sind. Die andre Hälfte meines Vermögens steht zu meiner eigenen Verfügung und steckt augenblicklich in dem Weingeschäft. Ich sehe genau, auf welche Art sich das Geschäft bedeutend heben muß. Wie die Sachen jetzt liegen, bin ich außer Stande, im Augenblick die Rückzahlung des Capitals zu verlangen, das mir mehr als zwölf Hundert Pfund jährlich einträgt. Zählen Sie den Zins meiner Rente dazu, so erreicht die Totalsumme meiner jährlichen Einkünfte in diesem Augenblick fünfzehn Hundert Pfund. Ich habe die beste Aussicht, dieselben bald zu vermehren. Haben Sie gegen meine pekuniären Verhältnisse eine Einwendung zu machen?«
Obenreizer stand auf. Er war in die letzte Verschanzung zurückgetrieben und ging rathlos im Zimmer auf und nieder. Er wußte in der That nicht, was er zunächst thun oder sagen sollte.
»Weror ich die letzte Frage beantworte,« sagte er nach einer kurzen Berathung mit sich selbst, »Bitte ich, mich einen Augenblick entschuldigen zu wollen. Ich muß mit Miß Marguerite Rücksprache nehmen. Sie ließen eine Aeußerung fallen, die andeutete, daß Sie die Gesinnungen, mit denen Sie so freundlich sind, meine Nichte zu betrachten, erwidert glauben?«
»Ich bin so unauesprechlich glücklich,« sagte Vendale, zu wissen, daß sie mich liebt.«
Obenreizer schwieg einen Augenblick; der Schatten senkte sich über seine Augen, und der kaum bemerkbare Streifen wurde aus seinen Wangen sichtbar.
»Wenn Sie mich eine kurze Zeit entschuldigen wollen,« sagte er mit ceremoniöser Höflichkeit, »ich möchte gern ein paar Worte mit meiner Nichte sprechen.« Er verbeugte sich und Verließ das Zimmer.
Als Vendale sich allein befand, kehrten seine Gedanken (eine nothwenidige Folge der gehabten Unterredung) zu den Gründen zurück, die Obenreizer ihm entgegen gehalten hatte, und er begann dieselben in Erwägung zu ziehen. Obenreizer hatte seiner Werbung Hindernisse in den Weg gelegt, jetzt fing er an seiner Heirath entgegen zu arbeiten —— einer Heirath, die selbst die eigene Bescheidenheit als eine vorteilhafte anerkennen mußte. In Anbetracht dessen erschien Obenreizers Handlungsweise unbegreiflich. Was hatte sie zu bedeuten?
Vendale suchte eine Antwort auf diese Frage. Es fiel ihm ein, daß Obenreizer mit ihm in einem Alter sei und Marguerite, genau genommen, nur dessen Stiefnichte. Die Eifersucht des Liebenden erwachte in ihm, und er fragte sich selbst, ob er in Obenreizer mehr einen Nebenbuhler zu fürchten, als einen Vormund zufrieden zu stellen habe? Doch fuhr ihm der Gedanke nur durch den Sinn, um gleich wieder zu verschwinden. Marguerites Kuß, den er noch auf seiner Wange fühlte, erinnerte ihn freundlich, daß Eifersucht, wenn auch nur für einen Augenblick empfunden, ein Verrath an ihr sei.
Bei näherem Nachdenken schien es ihm, als ob ein Beweggrund anderer Art die Erklärung zu Obenreizers Benehmen liefern könne. Marguerite’s Anmnth und Schönheit waren köstliche Zierden des kleinen Haushalts. Sie verliehen ihm einen besonderen Reiz und sicherten Obenreizer einen besonderen Einfluß in geselliger Beziehung. Sie rüsteten ihn mit einem Mittel aus, sein Haus anziehend zu machen, ein Mittel, welches mehr oder weniger dazu beitragen konnte, seine Privatzwecke zu fördern. War er der Mann, auf solche Vortheile zu verzichten, ohne daß ihm die möglichste Entschädigung dafür würde? Vendale’s Heirath mit seiner Nichte bot ihm ohne alle Zweifel beträchtliche Vortheile, aber es gab Hunderte in London, die mehr Ansehen und größeren Einfluß als Vendale besaßen. War es nicht denkbar, daß der Ehrgeiz dieses Mannes ganz im Geheimen höher hinaus wollte, als zu Vortheilen, wie sie ihm die Verbindung bot? Als Vendale sich eben die Frage im Geist aufwarf, erschien der Mann in Rede selbst, um sie zu beantworten oder nicht zu beantworten, wie die Folge lehren wird.
Eine große Veränderung machte sich bei Obenreizer bemerkbar, als er seinen früheren Platz wieder einnahm. Seine Haltung war weniger sicher und um seinen Mund zeigten sich Spuren einer Erregung, deren er noch nicht ganz Herr zu fein schien. War ihm von sich selbst oder von Vendale etwas über die Lippen geschlüpft, was Marguerite’s Zorn gereizt und ihr eine bestimmte Erklärung entlockt hatte? Es konnte sein oder auch nicht. Das Eine war sicher —— er sah aus wie Jemand, der eine Zurückweisung erfahren hat.
»Ich habe mit meiner Nichte gesprochen« begann er, »und mich überzeugt, daß selbst Ihr Einfluß, Mr. Vendale, dieselbe nicht blind gemacht hat gegen Hindernisse, die sich in Bezug auf die gesellschaftliche Stellung gegen Ihren Antrag aufthürmen.«
»Darf ich fragen« erwiderte Vendale, »ob das das ganze Ergebniß Ihrer Unterredung mit Miß Obenreizer ist?«
Durch den Schatten, der Obenreizers Geücht bedeckte, flammte es wie ein Blitz.
»Sie sind Herr der Situation,« antwortete er mit höhnisch unterwürfigem Ton. »Wenn Sie auf einer Erklärung bestehen, so gebe ich sie Ihnen in folgenden Worten. Meiner Nichte Wille und der meinige sind bis jetzt eins gewesen, Mr. Vendale. Sie haben sich zwischen uns gestellt und fortan fällt der Wille meiner Nichte mit dem Ihrigen zusammen. Bei mir zu Lande geben wir es zu, wenn wir aus dem Felde geschlagen sind und finden uns mit Anstand darin. Ich werde mich auch mit Anstand darin finden unter einer Bedingung. Lassen Sie uns auf Ihre pecuniären Verhältnisse zurückkommen. Ich habe einen Einwand gegen Sie zu erheben, mein theurer Sir —— einen sehr überraschenden kühnen Einwand für Jemand in meiner Lebenslage einem in der Ihrigen gegenüber.«
»Welchen?«
»Sie haben mich mit einer Werbung um die Hand meiner Nichte beehrt. Trotz allem Dank und aller Erkenntlichkeit, muß ich bitten, dieselbe für jetzt zurück zu nehmend.
»Warum?«
»Weil Sie nicht reich genug sind.«
Dieser Einwand, wie der Redner vorausgesehen hatte, überraschte Vendale aufs Höchste. Für einen Augen blick war er sprachlos.
»Ihr Einkommen beläuft sich auf fünfzehn hundert Pfund jährlich,« fuhr Obenreizer fort. »In meinem armen Vaterlande würde ich vor einem solchen Einkommen auf die Knie fallen und rufen: Welch ein fürstliches Vermögen! Im reichen England bleibe ich ruhig sitzen und denke: Eine bescheidene Selbstständigkeit, theurer Sir; nichts mehr; vielleicht ausreichend für ein Weib aus Ihrer Lebenssphäre, die keine gesellschaftlichen Vorurtheile zu bekämpfen hat, aber nicht halb genug für eine niedrig geborene Ausländerin, gegen welche sich alle gesellschaftlichen Vorurtheile auflehnen. Sir! wenn meine Nichte Sie jemals heirathet, so wird sie beim Beginn ihrer Ehe eine mühselige Arbeit vor sich haben, um ihre Stellung zu behaupten. Ja, ja. Sie sehen es nicht so an, aber es bleibt —— bleibt unwiderruflich meine Ansicht von der Sache. Zum Besten meiner Nichte verlange ich, daß ihr die mühselige Arbeit so viel wie möglich erleichtert werde. Die Gerechtigkeit gebietet, ihr alle äußeren Vortheile, die ihr dabei Von Nutzen sein können, zu gewähren. Sagen Sie mir doch, Mr. Vendale, kann Ihre Frau von den erwähnten fünfzehn hundert Pfunden jährlich ein Haus in einem vornehmen,Stadtviertel, einen Lakaien, der ihr die Zimmerhür öffnet, einen Kammerdiener, der sie bei Tische bedient, und Wagen und Pferde haben, die sie fahren? ich lefe die Antwort auf Ihrem Gesicht —— Ihr Gesicht sagt: Nein. Gut. Beantworten Sie mir noch eine Frage und ich bin zu Ende. Gehen wir die Gesamtheit Ihrer wohlerzogenen gebildeten und liebenswürdigen Landsmänninnen durch, ist es oder ist es nicht Thatsache, daß eine Lady, die Ein Haus in einem vornehmen Stadttheil, einen Lakaien, der ihre Zimmerthür öffnet, einen Kammerdiener, der sie bei Tische bedient, und Wagen und Pferde um sie zu fahren besitzt, von vorn herein vier Schritte in der Achtung aller englischen —— Frauen steigt? Ja oder nein?«
»Kommen Sie zur Sache,« sagte Vendale. »Sie sehen diese Frage für eine entscheidende an. Was sind Ihre Bedingungen?«
»Meine Bedingungen sind niedrig, theurer Sir, sie beschränken sich darauf zu verlangen, daß Ihre Frau in Stand gesetzt werde, gleich im Beginn des Ehestandes jene Vier Schritte in der Achtung der Leute zu thun.
Verdoppeln Sie Ihr gegenwärtiges Einkommen —— die größte Sparsamkeit kann in England dergleichen, wie ich angeführt habe, nicht mit weniger bestreiten. Sie erwähnten eben Ihrer Hoffnung, die Einnahmen Ihres Geschäftes sich bedeutend heben zu sehen. An’s Werk! —— heben Sie! heben Sie! Ich bin Alles in Allem verteufelt gutmüthig. An dem Tage, an dem Sie mich durch klare Beweise üherführen können, daß Ihre Einkünfte sich auf dreitausend Pfund jährlich belaufen, kommen Sie und werben Sie noch einmal um die Hand meiner Nichte und sie ist die Ihre.«
»Darf ich fragen, ob Miß Obenreizer um diese Bedingung weiß?«
»Gewiß. Es ist noch ein wenig Gehorsam für mich in ihr, Mr. Vendale, das Ihnen nicht gehört; sie hat meine Bedingung angenommen. Mit einem Wort, sie unterwirft sich den Ansichten ihres Vormundes in Bezug auf ihr Wohlergehen, sie achtet ihres Vormundes bessere Kenntniß der Welt.« Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück mit der ganzen Sicherheit, die ihm seine Stellung verlieh und im vollen Besitz seiner guten Laune.
In der Lage, in der sich Vendale hefand, schien jedes Streiten für die eigene Meinung im Augenblick wenigstens hoffnungslos zu sein. Es lag am Tage, daß kein Grund vorhanden war, seine Werbung abzulehnen. Ob Obenreizers Widerstand wirklich das Ergebnis; von dessen Ansicht über die Sache war, ob er die Heirath nur in der Hoffnung hinausschob, sie endlich vollständig zu vereiteln —— wer konnte es wissen? In beiden Fällen aber war das dagegen Ankämpfen Vendales völlig nutzlos. Es gab kein andres Mittel, als sich zu fügen und das unter so guten Bedingungen, als zu erlangen möglich waren.
»Ich thue Einspruch gegen die Forderungen, die Sie erheben begann er.«
»Natürlich« sagte Obenreizer. »Ich muß sagen, daß ich in Ihrer Stelle auch Einspruch thun würden.«
»Wenn ich mir dennoch dieselben gefallen lasse.« fuhr Vendale fort, »so bin ich so frei, mir zwei Punkte auszumachen. Erstens erwarte ich, daß es mir gestattet werde, Ihre Nichte aufsuchen zu dürfen!«
»So, so? —— Meine Nichte aufsuchen zu dürfen, damit Sie ihr ebensolche Angst um das Heirathen einflößen können, als Sie selbst beseelt? —— Wenn ich nein sagte, würden Sie ohne meine Erlaubniß kommen?«
»Unzweifelhaft.«
»Welcher köstliche Freimut! Wie durch und durch Englisch! Sie sollen sie sehen, Mr. Vendale, sollen sie sehen an bestimmten Tagen, die wir miteinander festsetzen wollen. Was noch?«
»Ihr Einwand gegen meine Vermögensverhältnisse,« fuhr Vendale fort, »hat mich vollständig überrascht. Ich möchte mich vor der Wiederholung einer solchen Ueberraschung sicher stellen. Ihre jetzigen Ansichten halten mich mit einem Einkommen von dreitausend Pfund jährlich für geeignet zum Heirathen, kann ich sicher sein, daß sich in der Zukunft Ihre Ansichten über England nicht erweitern und Ihre Forderungen mit denselben steigen werden?«
»Auf gut Englisch, sagte Obenreizer, »Sie zweifeln an meinem Wort?«
»Sind Sie gesonnen, es mir auf mein Wort zu glauben, wenn ich Sie benachrichtigte, daß sich mein Einkommen verdoppelt habe?« fragte Vendale. »Wenn mich mein Gedächtniß nicht trügt, so sprachen Sie eben von klaren Beweisen?«
»Gut ausgedacht, Mr. Vendale! Sie vereinigen die Schnelligkeit des Ausländers mit der Gründlichkeit des Briten. Erlauben Sie mir, Ihnen von Herzen zu gratuliren, und erlauben Sie mir, Ihnen eine schriftliche Garantie für mein Wort auszustellen.«
Er erhob sich, setzte sich an sein Schreibpult, warf einige Zeilen auf das Papier und überreichte sie Vendale mit einer tiefen Verbeugung. Die gegenseitigen Verpflichtungen waren klar auseinandergesetzt und mit gewissenhafter Pünktlichkeit unterschrieben und untersiegelt.
»Genügt Ihnen diese Garantie?«
»Vollständig.«
»Erfreut es zu hören, versichre ich Sie, wir haben ein kleines Scharmützel ausgefochten —— wir sind wahrhaftig auf beiden Seiten bewundrungswürdig schlau zu Werke gegangen. Jetzt sind unsere Geschäfte abgemacht. Ich trage nie etwas nach. Sie tragen auch nichts nach. Kommen Sie, schütteln wir uns auf gut Englisch die Hand.«
Vendale reichte etwas erschreckt von Obenreizers plötzlichem Uebergang aus einem Extrem in das andere, seine Hand hin.
»Wann habe ich die Erlaubniß. Miß Obenreizer zu sehen?« fragte er, als er sich zum Gehen anschickte.
»Beehren Sie mich morgen mit Ihrem Besuch,« sagte Obenreizer, »und wir wollen dir Zeit festsetzen. Kann ich Ihnen einen Grog anbieten, ehe Sie gehen?« Nein? Gut, gut, wir wollen den Grog versparen bis zu den dreitausend Pfund jährlich und bis zur Hochzeit. Wann Wann wird das sein?«
»Ich habe vor einigen Monaten einen Ueberschlag gemacht von dem, was das Geschäft zu leisten vermag,« sagte Vendale. »Wenn derselbe richtig ist, so wird sich mein jetziges Einkommen verdoppeln. ——«
»Und die Hochzeit stattfinden,« setzte Obenreizer hinzu.
»Und die Hochzeit stattfinden,« wiederholte Vendale, »in Zeit von einem Jahr. Gute Nacht.«
Vendale hat Unglück.
Als Vendale am andern Morgen in das Geschäftslocal trat, sah er den ganzen schwerfälligen Betrieb in Cripple Cornet mit andern Augen an. Marguerite nahm jetzt an Allem Theil. Das ganze Maschinenwerk, welches nach Wildings Tod in Bewegung gesetzt worden, um das Geschäft abzuschätzen —— das Insgleichebringen des Hauptbuches, das Ueberschlagen der Schulden, das Zusammenstellen des ganzen Bestandes mit Allem, was dazu gehört, verwandelte sich auf einmal zu einer Maschinerie, welche die Aussichten für oder gegen eine baldige Heirath abwog. Nachdem er die Resultate, welche ihm von seinen Buchhaltern vorgelegt waren, durchgesehen und dieselben mit den Abrechnungen und Zusammenzählungen, die ihn die Schreiber einhändigten, verglichen hatte, richtete Vendale zunächst seine Blicke auf das Waarenlager und sendete einen Boten in die Kellergewölbe mit dem Befehl, daß er über das Weinlager einen Bericht zu haben wünsche. Die Art und Weise wie der Kellermeister seinen Kopf in die Thür des Zimmers steckte, welches seinem Herrn zu gehörte, bekundete deutlich, daß sich am heutigen Morgen Außergewöhnliches zugetragen haben müsse.
Es war etwas in Joey Ladle’s Bewegungen, was an Vergnügt sein streifte und es zeigte sich etwas in Joey Ladle’s Antlitz, was Freundlichkeit vorstellen konnte.
»Was giebt es?« fragte Vendale. »Ist nicht Alles in Ordnung?——«
»Ich wollte Ihnen etwas anzeigen,« antwortete Joey. »Junger Mr. Vendala ich habe mich nie für einen Propheten ausgegeben.«
»Wer behauptet das?«
»Es lebte noch kein Prophet, so viel wie ich von dem Handwerk in Erfahrung gebracht habe,« fuhr Joey fort, »hauptsächlich unter der Erde, und keinem Propheten, was er auch durch seine Poren in sich aufgenommen haben mag, zog während einer geraumen Zahl von Jahren vom Morgen bis zum Abend nichts als Weindunst hinein. Als ich dem jungen Muster Wilding in Bezug aus das Umtaufen der Firma sagte, er werde eines Tages dahinter kommen, was es heiße, das Glück der Firma zu stören —— habe ich mich da für einen Propheten aus gegeben? Nein, das habe ich nicht. Ist das, was ich gesagt habe, wahr geworden? Ja, es ist wahr geworden. In den Zeiten von Pebbleson Nephew, junger Master Vendale, ist nie, bei einer Sendung, die aus unserm Geschäft erfolgte, ein Irrthum vorgekommen. Jetzt haben wir einen. Wollen Sie darauf merken, daß er sich zu getragen hat, ehe Miß Marguerite unser Haus betrat, sonst könnte die Thatsache gegen meine Aussage streiten, daß Miß Marguerite das Glück zurückbringen werde. Lesen Sie, Sir,« schloß Joey, Vendales Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Reihe in dem Bericht hinlenkend. Er bediente sich zu diesem Zweck eines Zeigefingers, der durch seine Poren augenscheinlich nichts anderes einzulassen gewohnt war als Schmutz. »Es ist meiner Natur ganz fremd, wie eine Krähe über dem Hause, dem ich diene, Unglück auszuschreien, aber ich sehe es für meine heiligste Pflicht an, Sie aufzufordern, diese Stelle zu lesen.«
Vendale las, was folgt: »Anmerkung über den Schweizer Champagner. Eine Ungenauigkeit ist in der letzten Sendung der Firma Defresnier und Co. entdeckt worden.« —— Vendale hielt ein und sah in einem Notizbuch nach. welches neben ihm lag. »Das war zu Mr. Wildings Zeit,« sagte er. »Die Weinlese fiel vortrefflich aus und er bestellte den ganzen Ertrag. Der Schweizer Champagner hat gut gelohnt, nicht wahr?«
»Ich habe nicht gesagt, daß er nicht lohnend gewesen sei,« entgegnete der Kellermeister. »Er mag in den Verschlägen unserer Kunden verdorben oder ihnen unter Händen schlecht geworden sein, aber ich habe nicht gesagt, daß er für uns nicht lohnend gewesen wäre.«
Vendale fuhr im Lesen der Anmerkung fort. »Die Anzahl der Kisten ist richtig angegeben, wie wir aus den Büchern ersehen, aber sechs von ihnen, welche einen kleinen Unterschied in der Signatur aufweisen, haben sich nach dem Oeffnen als Rothwein anstatt Champagner enthaltend, ausgewiesen. Die Aehnlichkeit in der Signatur verursachte vermuthlich das unvorsichtige Abschicken der Sendung non Neuschatel. Der Irrthum hat sich nicht weiter, als auf die sechs Kisten erstreckt.«
»Ist das. Alles?« rief Vendale aus, die Anmerkung fortwerfend.
Jeoy Ladle’s Augen folgten mißmuthig dem flatternden Papierstreifen.
»Ich freue mich, daß Sie es leicht nehmen, Sir,« sagte er. »Was auch daraus erfolgen mag, es wird Ihnen vielleicht eine Beruhigung sein, wenn Sie sich erinneren, es anfänglich » leicht genommen zu haben. Mitunter führt ein Irrthum in den andern hinein. Ein Mann wirft aus Versehen ein Stückchen Pomeranzenschaale auf das Pflaster, ein andrer tritt ans Versehen darauf, und dann giebt es Arbeit für das Hospital und einen, der sein Lebelang ein Krüppel bleibt. Ich freue mich, daß Sie es leicht nehmen, Sir. Zu Pebbleson Nephews Zeiten würden wir es nicht leicht genommen haben, bis wir das Ende übersehen können. Ohne Unglück über dem Hause auszuschreien, junger Master Vendale, so wünschte ich doch, Sie wären erst mit heiler Haut aus dieser Fährlichkeit heraus. Nichts für ungut, Sir,« sagte der Kellermeister. Er hatte die Thür geöffnet, um zu gehen, und sah noch einmal bedeutungsvoll zurück, ehe sie sich hinter ihm schloß. »Ich bin dumpfig und schwerblütig, ich gebe es Ihnen zu, aber ich bin ein alter Diener von Pebbleson Nephews, und ich wünschte, Sie wären erst glücklich durch die sechs Kisten mit Rothwein hindurch.«
Als er allein war, ergriff Vendale lachend die Feder. »Ich kann ein paar Zeilen an Defresnier u. Co. schreiben, ehe ich es vergesse,« dachte er und schrieb sogleich folgendermaßen:
»Geehrte Herren. Wir haben unsern Ueberschlag gemacht und dabei ein kleines Versehen in der letzten Champagnersendnng die uns aus Ihrem Hause zu gekommen ist, entdeckt. Sechs Kisten; enthalten Rothwein —— der hiemit zurück erfolgt. Die Angelegenheit kann leicht in’s Reine gebracht werden, entweder dadurch, daß Sie uns sechs Kisten Champagner senden, wenn derselbe produziert werden kann, oder dadurch, daß Sie uns den Betrag der sechs Kisten zu gut schreiben auf die Ihnen kürzlich von unserer Firma ausgezahlte Summe von fünfhundert Pfund.
Ihr ergebenster Diener
Wilding u. Co.«
Sobald der Brief nach der Post geschickt war, kam Vendale die Sache aus dem Sinn. Er hatte an andere wichtige Angelegenheiten zu denken. Später am Tage machte er Obenreizer den verabredetsen Besuch. Gewisse Abende in der Woche wurden festgesetzt, in denen es ihm erlaubt war Marguerite zu sehen —— immer leider! in Gegenwart einer dritten Person. An dieser Bedingung hielt Obenreizer höflich aber durchaus fest. Das einzige Zugeständniß, was er machte, bestand darin, Vendale die Wahl zu lassen, wer die dritte Person sein solle. Seiner Erfahrung vertrauend, erkor er sich unbedenklich die vortreffliche Frau, die Obenreizers Strümpfe stopfte, dazu. Als Madame Dor von der Verantwortlichkeit in Kenntniß gesetzt wurde, die sie über sich nehmen solle, kam die Anstelligkeit ihrer Natur plötzlich auf eine neue und großartige Weise zu Tage. Sie wartete bis Obenreizer den Blick Von ihr gewendet hatte —— dann sah sie Vendale an und winkte ihm leise zu. Die Zeit verstrich. Die glücklichen Abende bei Marguerite kamen und gingen vorüber. Es war der zehnte Morgen, seitdem Vendale an die Schweizer Firma geschrieben hatte, als sich die Antwort derselben unter den vielen Briefen befand, die auf dem Pult lagen.
»Geehrte Herren. Wollen Sie gütigst das kleine Versehen, welches sich ereignet hat, entschuldigen Wir bedauern, hinzufügen zu müssen, daß die Ermittelung des Irrthums, von dem Sie so freundlich gewesen sind uns zu benachrichtigen, zu einer höchst unerwarteten Entdeckung geführt hat. Die Angelegenheit ist sowohl für Sie als für uns eine sehr ernste und die Einzelheiten derselben sind folgende: Da kein Champagner der vorjährigen Weinlese mehr in unserm Lager vorhanden war, so machten wir uns dabei, Ihrer Firma den Betrag der sechs Kisten in der Art, wie Sie es vorgeschlagen hatten, gut zu schreiben. In der bei uns üblichen Weise des Geschäftsbetriebes sind wir gewohnt, in solchem Falle gewisse Formen zu beobachten, die uns verpflichten, die Rechnungsbücher wie das Hauptbuch durchzusehen. Das Ergebniß dieser Nachforschung ist die moralische Ueberzeugung, daß kein solcher Wechsel, wie derjenige, dessen Sie Erwähnung thun, an unser Haus gelangt ist und die buchstäbliche Gewißheit, daß kein solcher Wechsel auf der Bank für uns eingezahlt liegt.
Es wäre unnütz, bei dem jetzigen Stand der Dinge Sie mit Einzelheiten zu ermüden. Das Geld ist ohne Frage während der Uebersiedelung von Ihnen zu uns gestohlen worden. Gewisse kleine Züge, die wir an der Art und Weise, wie der Unterschleif verübt worden ist, bemerken können, lassen uns schließen, daß der Dieb darauf gerechnet hat, unsern Banquiers die Zahlung leisten zu wollen, ehe bei dem jährlichen Rechnungsabschluß die unvermeidliche Entdeckung erfolgen mußte. Das wäre im gewöhnlichen Geschäftsgang erst in einem Vierteljahr geschehen. Während der Zeit würden wir, wenn uns nicht Ihr Brief darauf aufmerksam gemacht hätte, völlig ahnungslos über diesen Betrug sein, der bei uns verübt worden ist.
Wir erwähnen dieses letzten Umstandes, um Ihnen zu beweisen, daß wir es in diesem Falle mit keinem gewöhnlichen Dieb zu thun haben. Wir wissen bis diesen Augenblick noch nicht, wer der Betrüger sein könnte. Aber wir geben uns der Hoffnung hin, daß Sie uns behilflich sein werden, denselben zu entdecken, indem Sie die Quittung (eine gefälschte natürlich) untersuchen, welche Ihnen von unserm Hause ausgestellt sein wird. Haben Sie die Güte nachzusehen, ob es eine geschriebene Quittung, oder eine nummerierte und gedruckte ist, in der nur der Betrag der Summe auszufertigen war. Die Feststellung dieser anscheinend geringfügigen Kleinigkeit ist, wie wir versichern können; für uns von der weittragendsten Bedeutung. Dringend einer Erwiderung entgegensehend, verbleiben wir mit Hochachtung und Ergebenheit
Defresnier u. Co.«
Vendale legte den Brief auf das Pult zurück und zögerte eine Weile, um sich von dem Schrecken zu erholen, der über ihn gekommen war. Gerade zu einer Zeit, wo ihm so viel daran lag, die Einkünfte des Geschäfts zu erhöhen, sah er dieselben mit einem Verlust von fünfhundert Pfund bedroht. Er dachte an Marguerite, als er den Schlüssel aus seiner Tasche nahm und den eisernen Verschlag in der Wand öffnete, in welchem die Bücher und Papiere der Firma aufbewahrt lagen.
Er war im eifrigen Suchen nach der gefälschten Quittung begriffen, als dicht hinter ihm eine Stimme ertönte, die die Worte sprach:
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung! Ich bedaure, Sie stören zu müssen.«
Vendale drehte sich erschrocken um und sah sich dem Vormund Marguerite’s gegenüber.
»Ich komme um anzufragen,« sagte Obenreizer, »ob ich Ihnen etwas nützlich sein kann? Meine eignen Angelegenheiten führen mich auf einige Tage nach Manchester und Liverpool. Kann ich vielleicht ein Geschäft für Sie damit verbinden? Ich stelle mich ganz zu Ihrer Verfügung in dem Charakter eines Handelsreisenden für die Firma Wilding und Co.«
»Entschuldigen Sie einen Augenblick«« sagte Vendale. " »Ich bin sogleich bereit mit Ihnen zu sprechen.« Er wendete sich um und fuhr fort, unter den Papieren zu suchen. »Sie kommen gerade zu einer Zeit, wo ein freundschaftliches Anerbieten mir doppelt schätzbar ist,« fuhr er fort. »Ich habe heut Morgen schlechte Nachrichten aus Neuschatel erhalten.«
»Schlechte Nachrichten« rief Obenreizer aus. »Von Defresnier und Co.?«
»Ja. Ein Wechsel, den wir dahin gesandt haben, ist gestohlen. Mir droht der Verlust von fünfhundert Pfund. Was ist?«
« Er wendete sich schnell herum und gewahrte, daß sein Kasten mit den Couverts zu Boden gestürzt war und Obenreizer auf den Knieen liegend, sich damit beschäftigte, den verstreuten Inhalt aufzusuchen.
»Alles meine Ungeschicklichkeit!« sagte Obenreizer. »Die unangenehmen Nachrichten erschreckten mich. Ich trat einen Schritt zurück ——« das Aufsuchen der verstreuten Couverts interessierte ihn so über Alles, daß er seinen Satz, zu beendigen vergaß.
»Bemühen Sie sich nicht,« sagte Vendale. »Einer meiner Schreiber kann Ordnung machen.«
»Diese unangenehmen Neuigkeiten!« wiederholte Obenreizer, ohne sich beim Aufsuchen der Couverts stören zu lassen. »Diese unangenehmen Neuigkeiten!«
»Wenn Sie den Brief lesen!« sagte Vendale, »so werden Sie sehen, daß ich nicht übertrieben habe. Da liegt er offen auf meinen Pult.«
Er fuhr in seiner Beschäftigung fort und entdeckte einen Augenblick später die gefälschte Quittung. Sie war nummeriert und gedruckt, wie sie die Schweizer Firma beschrieben hatte. Vendale machte sich eine Notiz über Zahl und Datum. Nachdem er die Quittung wieder an ihren Platz, gelegt und den eisernen Verschlag zugeschlossen hatte, nahm er sich die Zeit, Obenreizer zu beobachten, der in einer Fensternische am andern Ende des Zimmers damit beschäftigt war, den Brief zu lesen. »Gehen Sie an das Feuer« sagte Vendale, »Sie sind von der Kälte draußen ganz erstarrt. Ich werde schelten, daß man mehr Kohlen auflege.«
Obenreizer erhob sich und trat langsam wieder an das Pult. »Marguerite wird ebenso außer sich über die Nachricht sein, als ich es bin,« sagte er freundlich. »Was beabsichtigen Sie zu thun?«
»Ich bin in den Händen von Defresnier und Co.« erwiderte Vendale. Bei meiner gänzlichen Unkenntniß der Umstände kann ich nur thun, was sie von mir verlangen. Die Quittung, welche ich eben gefunden habe, weist sich als eine gedruckte und nummerierte aus. Es scheint, als wenn die Firma besondere Wichtigkeit auf das Auffinden derselben legte. Sie haben während Ihres Aufenthalts in dem Schweizer Hause den Geschäftsbetrieb desselben in Erfahrung bringen müssen. Sind Sie im Stande zu errathen, welche Aufschlüsse man dabei im Auge hat?«
»Vielleicht wenn ich die Quittung sehe,« meinte Obenreizer. »Sind Sie krank?« fragte Vendale betroffen von der Veränderung auf Obenreizers Antlitz, das ihm jetzt zum ersten Mal voll zugewendet war. »Bitte, gehen Sie an das Feuer. Sie zittern vor Frost —— ich hoffe, daß Ihnen keine Krankheit in den Gliedern steckt?«
»Ich denke nicht,« sagte Obenreizer, Vielleicht bin ich erkältet, Ihr englisches Klima hätte einen Bewunderer aller englischen Sitten wohl verschonen können. Zeigen Sie mir die Quittung.«
Vendale öffnete den eisernen Verschlag. Obenreizer nahm einen Sessel und trug ihn dicht an das Feuer. Er hielt beide Hände über die Flammen. »Zeigen Sie mir die Quittung,« wiederholte er hastig, als Vendale mit dem Papier in der Hand zurückkehrte. In demselben Augenblick trat ein Diener mit neuer Kohlenzufuhr ein. Vendale bedeutete ihm, ein tüchtiges Feuer zu machen. Der Mann leistete dem Befehl mit unseligem Diensteifer Folge: Als er im Vorwärtseilen den Kohlenkorb erhob, verwickelte sich sein Fuß in einer Falte des Teppichs und die ganze Ladung Kohlen leerte sich in dem Kamin aus. Die Wirkung davon war, daß die Flamme sogleich erstickte, aber einen Strom von gelbem Qualm hervorbrachte, durch den kein freundlicher Funke hindurchblicken konnte.
»Dummkopf!« flüsterte Obenreizer in sich hinein, mit einem Blick auf den Mann, dessen sich derselbe noch lange Jahre nachher erinnerte.
»Wollen Sie in das Zimmer meiner Schreiber gehen?« fragte Vendale. »Da ist ein Ofen.«
»Nein, nein. Es macht nichts.«
Vendale reichte ihm die Quittung Obenreizer’s Interesse an dem Papier schien ebenso plötzlich und eben so gründlich erloschen zu sein, als das Feuer im Kamin. Er warf einen Blick auf das Document und sagte: »Nein. Ich weiß nicht. Ich bedaure Ihnen nicht von Nutzen sein zu können.«
»Ich will mit der Nachtpost nach Neuschatel schreiben,« sagte Vendale, die Quittung zum zweiten Male an ihren Platz legend. »Wir müssen abwarten und sehen, was darauf erfolgen wird.«
»Mit der Nachtpost,« wiederholte Obenreizer. »Warten Sie einmal. Sie können in acht bis neun Tagen Antwort erhalten. Ich werde noch früher; zurück sein. Wenn ich Ihnen als Handelsreisender nützlich sein kann, so lassen Sie es mich inzwischen wissen. Wollen Sie mir geschriebene Instructionen senden? Besten Dank. Ich bin sehr gespannt aus die Antwort aus Neuschatel. Wer weiß! Es kann Alles auf einem Mißverständniß beruhen, mein lieber Freund! Vor allen Dingen Muth! Muth! Muth!« Er hatte das Zimmer betreten, ohne sich den geringsten Anschein zu geben, als ob er eilig sei und jetzt ergriff er seinen Hut und verabschiedete sich wie ein Mann, der keinen Augenblick verlieren darf.
Sich allein überlassen, ging Vendale gedankenvoll im Zimmer auf und nieder.
Der Eindruck, den Obenreizer immer auf ihn machte, war durch das, was er in dieser letzten Unterredung von ihm gehört und gesehen hatte, erschüttert. Es schien ihm plötzlich, als ob er vorschnell und hart bei der Beurtheilung eines Nebenmenschen zu Werke gegangen sei. Obenreizers Ueberraschung und Bedauern beim Anhören der Nachrichten aus Neuschatel trugen deutliche Spuren, daß sie aufrichtig empfunden und nicht nur höflicherweise zur Schau getragen wurden. Von eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen und anscheinend Von bösen Vorzeichen einer ernsten Krankheit geplagt, hatte er doch ausgesehen und gesprochen wie ein Mann, dem das Unglück seines Freundes zu Herzen geht. Um Marguerite’s willen versuchte Vendale oft vergebens, seine Meinung über deren Vormund zu ändern, heute schob er großmüthig seine Ueberzeugung die ihm unumstößlich erschienen war, bei Seite. »Wer weiß,« dachte er, »ich mag mich doch in dem Gesicht des Mannes geirrt haben.«
Die Zeit verstrich. Die glücklichen Abende bei Marguerite kamen und gingen vorüber. Wieder war der zehnte Morgen angebrochen, seitdem Vendale an die Schweizer Firma geschrieben hatte und wieder lag die Antwort unter den andern an dem Tage angekommenen Briefen auf dem Pult.
»Geehrter Herr. Der ältere Theilhaber am Geschäft M. Defresnier ist wichtiger Angelegenheiten wegen nach Mailand abgereist. In seiner Abwesenheit und mit seiner Zustimmung und Ermächtigung schreibe ich an Sie in Bezug auf die fehlenden fünfhundert Pfund.
Ihre Mittheilung daß die gefälschte Quittung auf einem gedruckten und nummerierten Formular ausgestellt sei, hat mich und meinen Compagnon unaussprechlich überrascht und betrübt. Zu der Zeit, als Ihr Wechsel gestohlen wurde, waren nur drei Schlüssel zu dem Kasten vorhanden, in welchem die Quittungsformulare aufbewahrt werden. Mein Compagnon hat den einen Schlüssel und ich den andern im Besitz. Den dritten bewahrte ein Gentlemam der damals einen Vertrauensposten in unserm Hause bekleidete. Wir würden eben so gut einen von uns beiden für schuldig halten, als einen Verdacht auf die erwähnte Persönlichkeit werfen. Nichts desto weniger bleibt der Verdacht auf derselben haften. Ich vermag es nicht über mich, Ihnen den Namen des Mannes zu nennen, so lange noch ein Schimmer von Hoffnung vorhanden ist, daß er unschuldig aus der Untersuchung, welche angestellt werden muß, hervorgehen könne. Entschuldigen Sie mein Schweigen. Der Beweggrund dazu ist ein lautrer.
Der Weg, den wir bei unseren Nachforschungen einschlagen müssen, ist einfach genug. Die Handschrift auf Ihrer Quittung muß von kompetenten Personen, mit gewissen, in unserem Besitz befindlichen Schriftstücken verglichen werden. Dieselben Ihnen zuzusenden, vermag ich aus geschäftlichen Gründen nicht, welche, wenn Sie sie hören würden, gewiß Ihre volle Billigung hätten. Ich muß Sie ersuchen, mir die Quitttung nach Neuschatel zu schicken und diese Bitte mit einer dringenden Warnung begleiten.
Wenn die Persönlichkeit, auf welcher der Verdacht haftet, wirklich den Betrug und die Fälschung verübt hat, so habe ich Grund zu glauben, daß Umstände den Mann bereits aufmerksam« gemacht haben, auf seiner Hut zu sein. Der einzige Beweis gegen ihn ist der Beweis, den Sie in Händen haben, und er wird Himmel und Erde in Bewegung setzen, ihn zu erlangen und zu vernichten. Ich mache Sie ernstlich darauf aufmerksam, die Quittung nicht der Post zu übergeben. Schicken Sie sie mir unverzüglich mit einem sicheren Boten und wählen Sie zu diesem Amt Jemand, der lange in Ihrem Geschäft angestellt, an das Reisen gewöhnt und des Französischen vollkommen mächtig ist; einen muthigem ehrenfesten Mann, und vor allen Dingen einen Mann, in den man das Vertrauen setzen kann, daß er unterwegs keine fremde Bekanntschaft an sich heranlassen werde. Theilen Sie Niemandem —— absolut Niemandem —— außer Ihrem Boten, die Wendung mit. welche die Angelegenheit genommen hat. Von der wörtlichen Befolgung meines Rathes, den ich so frei bin Ihnen am Schluß des Schreibens zu geben, hängt möglicherweise die sichere Ablieferung der Quittung ab.
Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß die größte Eile von Nöthen ist. Mehr als eines unserer Quittungsformulare fehlt —— und man kann nicht wissen, welche neuen Unterschleife gemacht werden können, wenn es nicht gelingt, des Diebes habhaft zu werden.
Ihr ergebener Diener
Rolland
Im Namen von Defresnier u. Co.«
Wer war der des Betruges Verdächtige? Für Vendale blieb es fruchtlos, darüber nachzudenken.
Wen sollte man mit der Quittung nach Neuschatel senden? Muthige ehrenfeste Männer. gab es wohl in Cripple Cornet, aber wer war an Reisen in das Ausland gewöhnt und der französischen Sprache mächtig, und wem konnte man unbedingt zutrauen, daß er auf dem Wege keine fremde Bekanntschaften an sich heranlassen werde. Nur einen gab es, der alle die erforderlichen Eigenschaften in sich vereinigte, und der eine war Vendale selbst.
Es kostete ihm ein Opfer, das Geschäft zu verlassen, und ein noch größeres, sich von Marguerite zu trennen; aber ein Gegenstand von fünfhundert Pfund hing an der schwebenden Frage, und Mr. Rolland bestand auf einer buchstäblichen Erfüllung seines Rathes in Ausdrücken, mit denen nicht zu spaßen war. Je mehr Vendale nachtdachte, je klarer blickte ihn die Nothwendigkeit an und gebot ihm: »Geh!«
Als er den Brief bei der Quittung verschloß, fiel ihm durch eine Ideenverbindung Obenreizer ein. Sollte der Name der verdächtigen Person nicht herauszubekommen sein? Obenreizer konnte sie kennen.
Kaum war ihm der Gedanke durch den Sinn gegangen, als sich die Thür öffnete und Obenreizer in das Zimmer trat.
»Ich habe gestern Abend in Soho-square erfahren, daß Sie zurück erwartet wurden. Haben Sie gute Geschäfte gemacht? Befinden Sie sich besser?«
Tausend Dank. Obenreizer hatte vortreffliche Geschäfte gemacht. Obenreizer befand sich unendlich viel besser. Und nun, was giebt es Neues? Ist ein Brief aus Neuschatel da?
»Ein sehr befremdlicher Brief,« antwortete Vendale. »Die Angelegenheit hat eine neue Wendung genommen, und der Schreiber macht es mir zur Bedingung, gegen Jeden —— ohne jegliche Ausnahme —— über unsere neuen Maßnahmen zu schweigen.«
»Obne jegliche Ausnahme?« wiederholte Obenreizer. Er wendete sich, als er das sagte, sinnend zum Fenster am andern Ende des Zimmers hin, sah hinaus und kehrte dann zu Vendale zurück. »Man hat es gewiß vergessen,« nahm er seine Rede wieder auf, »oder man würde mich ausgenommen haben.«
»Mr. Rolland hat den Brief verfaßt,« sagte Vendale, »und muß es, wie Sie sagen, vergessen haben. Die Ansicht Von der Sache ist mir entgangen. Als Sie in das Zimmer traten, war in mir der Wunsch lebhaft, mit Ihnen berathen zu können und nun bin ich an ein förmliches Verbot gebunden, was Sie gar nicht eingeschlossen haben kann. Wie lästig!« Obenreizers überschattete Augen hefteten sich scharf auf Vendale.
»Vielleicht ist es mehr als lästig,« sagte er. »Ich bin hierher gekommen nicht allein der Nachricht wegen, sondern um mich als Bote, als Unterhändler —— als was Sie wollen, anzubieten. Werden Sie es glauben? Ich habe Briefe erhalten, welche mich nöthigen, augenblicklich nach der Schweiz abzureisen; wichtige Papiere, Botschaften und dergleichen mehr. —— Ich könnte leicht Alles an Defresnier und Rolland mitnehmen.«
»Sie wären der richtige Mann dazu,« entgegnete Vendale. Ich war noch vor fünf Minuten wider Willen entschlossen, selbst nach Neuschatel zu gehen, weil ich Niemand wußte, der es an meiner Stelle hätte thun können. Ich muß noch einmal den Brief durchlesen.«
Er öffnete den festen Verschlag, um den Brief zu holen. Nachdem sich Obenreizer rundum gesehen hatte, um sich zu überzeugen, daß sie beide allein waren, folgte er Vendale ein oder zwei Schritte nach und maß ihn mit seinen Augen. Vendale war der größte und unzweifelhaft auch der stärkste Von ihnen beiden. Obenreizer wendete sich weg und wärmte sich an dem Feuer.
Unterdessen hatte Vendale den letzten Abschnitt des Briefes zum dritten Mal überlesen. Da stand die Warnung und da stand die Schlußbemerkung, welche auf eine buchstäbliche Befolgung derselben drang. Die Hand, von welcher Vendale durch die Finsternis geleitet wurde, legte ihm nur diese eine Bedingung auf. Es handelte sich um eine große Summe: ein schrecklicher Verdacht harrte der Bestätigung. Wenn er auf eigene Verantwortung etwas unternahm, wodurch die Sachen schief gingen, wen traf der Tadel?
Für einen Geschäftsmann wie Vendale gab es nur einen Weg. Er schloß den Brief wieder ein.
»Es ist überaus lästig,« sagte er zu Obenreizer. »Diese Vergeßlichkeit des Monsieur Rolland bringt mich in große Ungelegenheiten und in eine widerwärtige Stellung Ihnen gegenüber, Was soll ich thun? Ich bin genöthigt in einer wichtigen Angelegenheit Schritte zu thun und befinde mich dabei vollständig im Dunkeln. Mir bleibt keine Wahl, als mich führen zu lassen, nicht Von dem Geist, sondern von dem Buchstaben der Instruktion, die ich erhalten habe. Ich rechne darauf, mich von Ihnen verstanden zu sehen. Wenn mir nicht die Hände gebunden wären, so wissen Sie, wie erfreut ich Ihre Dienste angenommen haben würde.«
»Kein Wort weiter,« entgegnete Obenreizer. »Ich hätte an Ihrer Stelle dasselbe gethan. Mein lieber Freund, ich fühle mich nicht gekränkt. Ich danke Ihnen für Ihre Rücksicht. Wir werden in jedem Falle zusammen reisen,« setzte Obenreizer hinzu. »Sie fahren, wie ich, sogleich ab?«
»Sogleich." Nur muß ich noch mit Marguerite sprechen.«
»Gewiß, gewiß! Kommen Sie heute Abend. Holen Sie mich ab auf dem Weg nach dem Bahnhof. Wir reisen doch mit dem Schnellzug in der Nacht?«
»Mit dem Schnellzug in der Nacht.«
Später als es Vendale beabsichtigt hatte, fuhr derselbe dem uns bekannten Hause in Soho-square zu. Schwierigkeiten, die durch die schnelle Abreise zu Dutzenden aufgetaucht waren, hatten ihn aufgehalten. Eine Masse Zeit, die er gehofft hatte, Marguerite widmen zu können, war von seinen Pflichten im Büreau in Anspruch genommen worden, die er unmöglich vernachlässigen durfte.
Zu seiner Ueberraschung, und zu seinem größten Entzücken befand Marguerite sich bei seinem Eintreten allein im Drawingroom.
»Und bleiben nur wenige Minuten, George,« sagte sie. Madame Dor ist freundlich zu mir —— wir haben die wenigen Minuten für uns allein.« Sie schlang ihre Arme um seinen Nacken und flüsterte ihm erregt zu: »Hast Du Mr. Obenreizer durch irgend etwas beleidigt?«
»Ich!« rief Vendale erstaunt aus.
»Still!« sagte sie. »Ich will es Dir erzählen. Du erinnerst Dich der kleinen Photographie, welche ich von Dir besitze. Sie befand sich heute Nachmittag zufällig auf dem Kaminsims. Er nahm sie und besah sie —— ich konnte sein Gesicht im Spiegel beobachten. Ich weiß . es, Du hast ihn beleidigt! Er kennt kein Vergeben; er ist rachsüchtig und so verschwiegen wie das Grab. Gehe nicht mit ihm, George —— gehe nicht mit ihm!«
»Meine Einzige,« erwiderte Vendale. »Deine Phantasie spiegelt Dir Schreckbilder vor. Obenreizer und ich, wir waren nie bessere Freunde als in diesem Augenblick.«
Ehe noch ein Wort weiter gesprochen werden konnte, bebte der Boden im Nebenzimmer von den Tritten eines gewichtigen Körpers. Nach dem Beben erschien Madame Dor. »Obenreizer!« rief die vortreffliche Dame mit leiser Stimme und fiel schwerfällig auf den gewohnten Platz am Ofen nieder.
Obenreizer trat ein. Er hatte sich eine lederne Tasche über die Schulter geschnürt.
»Sind Sie fertig?« fragte er Vendale. »Kann ich Ihnen etwas abnehmen? Sie tragen keine Reisetasche. Ich habe eine um. Die Abtheilung für wichtige Papiere steht Ihnen zu Diensten.«
»Danke,« sagte Vendale. »Ich habe nur ein Papier von Wichtigkeit bei mir; und für dies Papier bin ich verpflichtet selbst zu sorgen. Hier ist es,« fügte er hinzu auf die Brustasche seines Rockes klopfend, »und hier soll es bleiben bis wir in Neuschatel sind.«
Als er das sagte, ergriff Marguerite seine Hand und drückte sie bedeutungsvoll. Sie blickte Obenreizer an. Ehe Vendale dem Blicke folgen konnte, hatte sich Obenreizer umgewendet, um von Madame Dor Abschied zu nehmen.
»Lebe wohl, meine liebe Nichte,« sagte er, seine Rede an Marguerite richtend. »En route, mein Freund, nach Neuschatel? Er klopfte Vendale leicht auf die Brusttasche des Rockes und führte ihn an die Thür.
Vendale’s letzter Blick fiel auf Marguerite. Marguerites letzte Worte waren: »Gehe nicht!«
Dritter Act
Im Thal.
Es war um die Mitte des Monats Februar, als sich Vendale und Obenreizer auf den Weg machten. Der Winter war hart und das Wetter schlecht, so schlecht, daß unsere beiden Reisenden die großen Hotels in Straßburg leer fanden und die wenigen Menschen, welche in Geschäften Von England und Paris gekommen waren, um in das Innere der Schweiz zu gehen, sich anschickten wieder umzukehren. Viele von den Schweizer Bahnstrecken, über welche Touristen heut zu Tage leicht hin weggleiten, waren damals theilweise noch nicht im Gebrauch. Einige waren noch nicht angefangen, andre noch nicht vollendet. Auf bereits eröffneten befanden sich noch immer lange unfertige Strecken, auf denen im Winter die Verbindung stockte, andre wiesen schadhafte Stellen auf, die nicht sicher und nur bei hartem Frost, wieder andre, die nur bei schnellem Abthauen zu passieren waren. Der Abgang der Züge auf den letzterwähnten war in der jetzigen schlechten Jahreszeit nicht zu berechnen. Er hing vom Wetter ab oder unterblieb während der Monate, die für die gefährlichsten erachtet wurden, gänzlich. In Straßburg liefen mehr Geschichten in Bezug auf die Schwierigkeiten der Wege um, als es Reisende gab, die sie erzählen konnten. Viele dieser Geschichten waren so abenteuerlich wie der gleichen Geschichten zu sein pflegen, aber die an Wundern bescheidener auftraten, erhielten einen gewaltigen Nachdruck durch den Umstand daß die Leute wirklich umkehrten. Da indessen der Weg nach Basel offen stand, so blieb Vendale’s Entschluß vorwärts zu dringen unerschüttert. Obenreizers Entschluß war natürlich der Vendale’s, in der verzweifelten Lage, in welcher er sich befand. —— Er war verloren oder mußte den Beweis, den Vendale mit sich führte, vernichten und wenn er Vendale mit vernichten sollte.«
Die Gesinnungen, welche die beiden gemeinsam Reisenden gegeneinander hegten, waren folgende: Obenreizer, durch Vendale’s schnelles Handeln von der über ihm schwebenden Entdeckung umgarnt, gewahrte, wie durch Vendale’s Energie sich das Netz, mit jeder Stunde näher und näher um ihn spann. Er haßte seinen Verfolger mit der vollen Leidenschaft eines wüthenden, listigen und niedrigen Thieres. Er hatte immer instinctive Abneigung gegen ihn gefühlt, vielleicht wegen des alten Unterschiedes vom Edelmann und Bauer, vielleicht wegen Vendale’s offener Natur, vielleicht weil Vendale hübscher war, als er, vielleicht wegen Vendale’s Erfolges bei Marguerite, vielleicht wegen aller dieser Gründe zusammen, von denen die beiden letzten nicht die unerheblichsten waren. Jetzt sah er in ihm den Jäger, der ihn niederschießen wollte. Vendale, aus der andern Seite, rang großmüthig mit dem Gefühl des unbestimmten Mißtrauäns gegen Obenreizer, und empfand jetzt doppelt die Verpflichtung, es niederzukämpfen. Er erinnerte sich unaufhörlich daran: »Er ist Marguerites Vormund. Wir stehen in vollkommen gutem Einvernehmen miteinander; er ist auf seinen eigenen Vorschlag mein Begleiter und ihn können keine selbstsüchtigen Beweggründe antreiben, die unerfreuliche Reise mitzumachen.« Dieser günstigen Stimmung für Obenreizer wurde durch einen Zwischenfall noch mehr Vorschub geleistet, als die Reisenden nach einer Fahrt, die mehr als zweimal so lange gewährt hatte, wie im Durchschnitt ihre Dauer zu sein pflegte, in Basel eintrafen.
Sie hatten ihr Diner spät eingenommen und befanden sich in dem Zimmer eines Gasthauses welches unmittelbar über dem Rhein gelegen wert, der hoch angeschwollen unter dem Fenster vorbei schäumte. Vendale hatte sich auf ein Sopha ausgestreckt; Obenreizer ging im Zimmer auf und nieder. Jetzt stand er am Fenster still und betrachtete den Wiederschein der sich im dunkeln Wasser spiegelnden Lichter, von ungefähr denkend: »Wenn ich ihn hineinstürzen könnte!« Dann fuhr er fort im Hin- und Wiedergehen, mit fest auf den Boden gehefteten Augen:
»Wo soll ich ihn berauben, wenn ich kann? Wo soll ich ihn morden, wenn ich muß?« So, als Obenreizer das Zimmer durchmaß, rauschte der Fluß. Die Last, die den Sinnenden drückte, wuchs zuletzt so gewaltig, daß er es für gerathen, erachtete, seinem Gefährten etwas von derselben aufzubürden.
»Der Rhein rauscht heute Abend,« sagte er lächelnd, »wir der alte Wasserfall in meiner Heimath. Der Wasserfall, den meine Mutter Reisenden zeigte, ich habe Ihnen früher davon erzählt. Der Ton desselben wechselte mit dem Wetter, wie der Ton aller fallenden und fließenden Wasser. Als ich bei dem Uhrrnacher in der Lehre war, erinnere ich mich, daß er mir ganze Tagelang zuraunte: »Wer bist Du, armer Elender? Zu andern Zeiten, wenn sein Ton hohl war und der Sturm vom Paß herunter wehte, sprach er: »Zu! zu! zu! Schlag ihn! schlag ihn! schlag ihn! Wie meine Mutter: in der Wuth that —— wenn sie überhaupt meine Mutter war.«
»Wenn sie es war?« sagte Vendale, nach gerade sich aus seiner liegenden Stellung zu einer sitzenden aufrichtend. »Wenn sie es war? Warum sagen Sie »wenn?«
»Was weiß ich?«« erwiderte der Andere, nachlässig seine Hände hebend, um sie niederfallen zu lassen, wie sie wollten. »Was fragen Sie? Ich bin von so niederer Herkunft, daß ich für nichts gutsagen kann. Ich war sehr jung, während die ganze übrige Familie aus erwachsenen Männern und Frauen bestand. Auch meine sogenannten Eltern waren alt. In einem Fall wie der vorliegende ist Alles möglich.«
»Hegen Sie irgend einen Zweifel ——«
»Ich habe Ihnen schon früher gesagt, daß ich daran zweifle, daß meine Eltern überhaupt verheirathet waren,« erwiderte Obenreizer mit einer wegwerfenden Handbewegung, als wolle er den Gegenstand des Gespräches ebenfalls wegwerfen. »Aber ich bin geschaffen und stamme aus keiner feinen Familie. Was thut das zur Sache.«
»Sie sind wenigstens ein Schweizer,« sagte Vendale, das Hin- und Hergehen des Andern mit den Augen verfolgend.
»Kann ich es wissen?« erwiderte Obenreizer und hielt seine Schritte ein, um über die Schulter zurück zusehen. »Ich sage auch zu Ihnen, Sie sind wenigstens ein Engländer, aber können Sie es wissen?«
»Es ist mir von Kindheit an erzählt worden.«
»Ach, das ist auch bei mir der Fall.«
»Und,« fügte Vendale hinzu, den Gedanken verfolgend, den er nicht zurückdrängen konnte, »meine frühesten Erinnerungen leiten mich darauf.«
»Die meinigen auch —— wenn das genügt«
»Genügt es Ihnen nicht?«
»Es muß. In dieser kleinen Welt giebt es kein zweites solches Ding wie das Muß. Es muß. Nur zwei kurze Worte, aber stärker, als die längsten Beweise oder Vernunftgründe.«
»Sie und der arme Wilding sind in demselben Jahre geboren. Sie waren in einem Alter,« sagte Vendale ihm wieder gedankenvoll nachsehend, als er in seinem Auf- und Niedergehen fortfuhr:
»Ja, in einem Alter.«
Konnte Obenreizer der Mann sein, den sie suchten? War in dem Zusammenwirken von Thatsachen, war in der so oft angeführten Theorie über die Kleinheit der Welt noch ein feinerer Sinn verborgen, den er nicht geahnt hatte? War jener ihm mitgetheilte Schweizer Brief nur darum so unmittelbar nach den von Mrs. Goldstraw gemachten Enthüllungen in Betreff des adoptirten Knaben eingetroffen, weil Obenreizer dieser nun zum Mann erwachsene Knabe war? Warum sollte das nicht sein, in einer Welt, die noch so viel unerforschte Tiefen aufweist? Der Zufall oder das Schicksal —— nenne man es wie man will —— hatte Obenreizer und Vendale einander immer wieder zugeführt, hatte ihre Bekanntschaft vermittelt, hatte dieselbe in vertrauten Umgang verwandelt und hatte sie am heutigen Winterabend hier zusammen gebracht. Das war kaum weniger merkwürdig. Unter dem oben gedachten Licht betrachtet, schien es, als ob sie beide gemeinsam und ununterbrochen auf ein ihnen bekanntes Ziel hinarbeiteten.
Vendale’s aufgescheuchte Gedanken verstiegen sich hoch, während seine Augen dem Auf- und Niedergehen Obenreizers sinnend folgten; der Fluß aber rauschte immer in demselben Tone: »Wo soll ich ihn berauben, wenn ich kann? Wo soll ich ihn morden, wenn ich muß? Das Geheimniß des todten Freundes war nicht in Gefahr über Vendale’s Lippen zu kommen. Sein Freund war der Wucht, desselben erlegen und als dessen Nachfolger empfand er ebenfalls, wenn auch in anderer Weise, die Schwere des in ihn gesetzten Vertrauens und die Verpflichtung blieb ihm immer gegenwärtig, jeder Spur nachzuforschen, wie verworren sie auch sein möge. Er fragte sich, ob er wünschen würde, daß dieser Mann der richtige Wilding sei. Nein. Kämpfte er sein Mißtrauen auch so gut er konnte nieder, so war es ihm unmöglich. diesen Nachfolger an die Stelle des redlichen, offenen, kindlichen Wilding zusehen. Er fragte sich, ob er das Reichwerden des Mannes wünschen würde? Nein. Er hatte schon so genug Macht über Marguerite und Reichthum könnte ihm noch mehr verleihen. Würde er es wünschen, daß Margueritas Vormund in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zu derselben stände? Nein. Aber das waren Betrachtungen, welche sich zwischen ihm und der Treue für den Verstorbenen drängten. Möge er auf seiner Hut sein, daß sie nichts anderes in seinem Sinn hinterlassen, als das Bewußtsein, daß er sie gedacht, und möge er der heiligen Pflicht, die er übernommen hat, eingedenk bleiben. Und das war er, denn er folgte dem Gefährten, der immer noch mit seinen Schritten das Zimmer durchmaß, mit freundlichen Augen. Er glaubte ihn im Nachdenken über die eigene dunkle Geburt versenkt und ahnte nicht, daß er über eines andern Menschen —— und welches Menschen —— gewaltsamen Tod nachgrübelte.
Der Weg von Basel nach Neuschatel erwies sich besser, als man ihn geschildert hatte. Das Wetter war günstig, Führer mit Pferden und Maulthieren trafen Abends nach dem Dunkelwerden ein und berichtetem daß sich ihnen keine weiteren Schwierigkeiten in den Weg gesteckt hätten als Prüfungen der Geduld. des Geschirrs der Räder, Achsen und Peitschenschnüre. Wagen und Pferde wurden sogleich gemiethet und ausbedungen, daß morgen früh vor dem Grauen des Tages aufgebrochen werden solle.
»Schließen Sie Ihre Thür in der Nacht zu?« fragte Obenreizer, der an dem Holzfeuer in Vendales Zimmer sich die Hände wärmte, ehe er sich zurückzog.
»Nein. Ich schlafe zu fest.«
»Schlafen Sie fest?« fragte Obenreizer, ihn bewundernd ansehend. »Welcher Segen!«
»Nichts weniger wie ein Segen für diejenigen im Hause,« entgegnete Vendale, »welche mich Morgens an meiner Schlafstubenthür herausklopfen sollen.«
»Ich schließe meine Thür auch nicht,« sagte Obenreizer. »Aber lassen Sie sich rathen von einem Schweizer, der Bescheid weiß: Wenn Sie in meinem Vaterlande reisen, thun Sie Ihre Papiere —— und natürlich auch Ihr Geld —— unter Ihr Kopfkissem Immer an denselben Platz.«
»Sie schmeicheln Ihren Landsleuten nicht,« lachte Vendale.
»Meine Landsleute,« sagte Obenreizer mit einer leichten Berührung der Ellenbogen seines Freundes zum Segenswunsch für die Nacht, »sind, vermuthe ich, wie die meisten Menschen und die meisten Menschen nehmen, was sie bekommen können. Adieu! Morgen früh um vier!«
Als sich Vendale allein befand, schob er die Holzscheite zusammen, schüttete die weiße Holzasche darüber, die auf dem Heerde lag und setzte sich, um seine Gedanken zu sammeln. Aber sie flutheten immer noch erregt von dem letzten Gegenstande des Gespräches hin und her und das Fluthen des Stromes trug dazu bei, sie noch mehr aufzuregen. Als er so saß und sann, floh ihn auch der letzte Rest von Müdigkeit, den er gehabt hatte. er fand es nutzlos sich niederzulegen und blieb angezogen am Feuer sitzen. Marguerite, Obenreizer, Wilding das Geschäft, was ihn herführte und tausend Hoffnungen und Zweifel, die nichts damit zu thun hatten, erfüllten seine Seele. Alles Andre schien Macht über ihn zu haben, nur der Schlummer nicht. Die entflohene Neigung zum Schlaf kehrte nicht wieder.
Er hatte lange Zeit in Gedanken vertieft am Heerde gesessen, als die Flamme des tief herabgebrannten Lichtes erlosch. Es hatte nichts zu sagen. Das Feuer leuchtete genug. Er änderte seine Stellung, stützte den Arm auf die Rücklehne des Sessels, legte sein Kinn darauf und dachte weiter.
Er saß zwischen Feuer und Bett und wie das Feuer flatterte im Spiel mit der vom schnell fließenden Strom bewegten Luft, so flatterte sein vergrößerter Schatten an der weißen Bettwand auf und nieder. Seine Stellung sah aus wie die eines Trauernden oder die eines über das Bett gebeugten Weinenden. Seine Augen verfolgten das Bild, bis ihn die unangenehme Einbildung faßte, daß es Wildings Schatten wäre und nicht der seine.
Eine kleine Veränderung in der Stellung mußte das Bild scheuchen. Er machte die Aenderung und das Trugbild seiner Phantasie verschwand. Er befand sich jetzt im Schatten eines kleinen Mauervorsprungs neben dem Feuer und hatte die Zimmerthür vor sich.
Sie war mit einer langen schweren eisernen Klinke versehen. Er bemerkte, wie die Klinke langsam und leise niedergedrückt wurde. Die Thür öffnete sich ein wenig und ging wieder zu, als ob sie nur der Wind bewegt habe, aber er sah deutlich, daß sie aufgeklinkt blieb.
Die Thür öffnete sich zum zweiten Mal ganz leise, bis sie weit genug aufstund, um Jemand einzulassen. Es hatte den Anschein, als ob sie vorsichtig von der andern Seite gehalten würde. Darauf trat die Gestalt eines Mannes herein, der sein Gesicht dem Bett zugewendet hatte und ruhig in der Thür stehen blieb, bis er halblaut, indem er einen Schritt vorwärts that »Vendale!« rief.
»Was nun?« antwortete dieser von seinem Sitz aufspringend. »Wer ist da?«
Es war Obenreizer. Es entfuhr ihm ein Schrei der Ueberraschung, als er Vendale unerwarteterweise aus einer andern Richtung auf sich zukommen sah. »Nicht zu Bett?« sagte er, ihn bei den Schultern ergreifend, als habe er die Absicht mit ihm zu ringen. »Dann ist etwas vorgefallen.«
»Was wollen Sie?« rief Vendale, sich von ihm losmachend. »Vor allen Dingen sagen Sie mir, ob Sie krank sind?«
»Krank? Nein.«
»Ich habe einen bösen Traum gehabt. Weshalb sind Sie auf und angezogen?«
»Mein guter Freund, ich könnte Sie eben so gut fragen: Weshalb sind Sie auf und ausgezogen?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt warum? Ich habe einen bösen Traum gehabt. Ich versuchte weiter zu schlafen, aber es war mir unmöglich. Ich konnte mich nicht dabei beruhigen, liegen zu bleiben, ehe ich mich davon überzeugt hatte, daß Ihnen nichts fehle und doch konnte ich mich nicht entschließen, zu Ihnen zu gehen. Ich habe minutenlang an der Thür gezögert. Man kann leicht über einen Tratrm lachen. wenn man ihn nicht selbst geträumt hat. Wo haben Sie Ihr Licht?«
»Es ist niedergebrannt.«
»Ich habe ein ganzes in meinem Zimmer. Soll ich es holen?«
»Thun Sie es.«
Obenreizers Zimmer lag nahe dabei und er blieb nur wenige Sekunden weg. Er kam mit einem Licht in der Hand zurück, kniete nieder vor dem Kamin und zündete es an. Als er damit beschäftigt war, eine glühende Kohle zur Flamme anzublasem bemerkte Vendale, der ihm zusah daß seine Lippen weiß waren und seinem Willen nicht gehorchten.
»Ja,« sagte Obenreizer. »Es war ein böser Traum. Sehen Sie mich blos an.«
Er war baarfuß. Sein rothes Flanellhemde war am Hals zurückgeschlagen und die Aermel desselben bis über die Ellenbogen aufgestreift, das einzige Kleidungsstück, das er sonst noch trug, bestand aus eng anschließenden, bis an die Knöchel reichenden Unterbeinkleidern. Wildheit und Energie bekundete seine Haltung und seine Augen fuinkelten.
»Wenn wirklich ein Ringen mit einem Räuber hier stattgefunden hätte, wie ich träumte,« sagte Obenreizer, »so war ich dazu angethan, wie Sie sehen.«
»Und auch bewaffnet,« sagte Vendale, nach dem Gürtel seines Gefährten blickend.
»Ein Dolch, den ich immer auf der Reise trage,« entgegnete dieser nachlässig denselben mit seiner linken Hand halb aus der Scheide ziehend und wieder zurückstoßend.
»Tragen Sie keinen?«
»Nichts der Art.«
»Keine Pistolen?« fragte Obenreizer, sich nach dem Tisch umsehend und von dort nach dem unberührten Kopfkissen.
»Nichts dergleichen.«
»Was seid Ihr Engländer vertrauensvoll! Sie möchten gern schlafen?«
»Ich hätte die ganze Zeit über gern geschlafen, aber ich kann nicht.«
»Ich auch nicht, seitdem ich den Traum gehabt habe. Mein Feuer ist erloschen, wie Ihre Kerze. Soll ich bei Ihnen bleiben? Zwei Uhr! Vier wird so bald heran kommen, daß es der Mühe nicht mehr lohnt, zu Bett zu gehen.«
»Ich werde mir die Mühe gar nicht nehmen« sagte Vendale. »Es ist mir sehr willkommen, wenn Sie hier bleiben und mir Gesellschaft leisten.«
Obenreizer begab sich in sein Zimmer, um seine Kleider zu ordnen und kehrte bald in einem Mantel und Pantoffeln zurück. Die Gefährten setzten sich zu beiden Seiten des Kamines einander gegenüber. Vendale hatte das Feuer aus dem Holzkorb in seinem Zimmer wieder aufgefrischt und Obenreizer eine Korbflasche und einen Becher, die ihm zugehörten, aus den Tisch gesetzt.
»Gewöhnlicher Wirtshaus-Liqueur, es thut mir leid,« sagte er im Eingießen. »Er ist unterwegs gekauft und nicht so gut wie der in Cripple Cornet. Aber der Ihrige ist ausgetrunken. Um so schlimmer! Eine kalte Nacht, eine kalte Stunde der Nacht, ein kaltes Land und ein kaltes Haus. Es ist besser wie nichts. Versuchen Sie einmal.«
Vendale ergriff den Becher und versuchte.
»Wie schmeckt er Ihnen?«
»Er hat einen starken Nachgeschmack,« sagte Vendale, den Becher mit einem leichter Schauder zurückgebend. »Er behagt mir nicht.«
" »Sie haben Recht,« sagte Obenreizer kostend und die Lippen probierend. »Er hat einen starken Nachgeschmack. Ich mag ihn auch nicht. Puh! wie er brennt!« Er schleuderte den Rest in das Feuer.
Jeder der Männer stützte den Ellenbogen auf den Tisch, lehnte den Kopf in die Hand und sah in die lodern den Flammen. Obenreizer blieb still und wach, Vendale aber, nach eigenthümlichem nervösen Zucken und Aufschrecken und nachdem er einmal sogar aufgesprungen und wild um sich gesehen hatte, verfiel in seltsam verworrene Träumereien. Er trug seine Papiere in einem ledernen Etui in der Brusttasche seines zugeknüpften Reiserockes. Was er auch in der Lethargie, die ihn beherrschte träumen mochte, es rief ihn immer etwas, was mit den Papieren in Beziehung stehen mußte, aus der Traumwelt zurück, obgleich er nicht zum völligen Erwachen gelangte. Er und Marguerite waren auf den russischen Steppen (eine Person, die ihm dunkel blieb, gab der Stelle den Namen) von der Nacht überrascht worden. Und doch war ihm die Berührung seiner Brust von einer Hand und das leise Befühlen des Taschenbuches während er schlafend am Feuer saß, gegenwärtig. Er hatte Schiffbruch gelitten und befand sich in einem offenen Boot auf der See; er hatte alle seine Kleider eingebüßt und nichts sich zu bedecken, als ein altes Segel und doch warnte ihn eine schleichende Hand, welche alle Taschen an den Kleidern, die er gewöhnlich trug, Vergeblich nach Papieren durchsuchte, sich loszureißen von seinen Träumen. Er befand sich in dem alten Kellergewölbe in Cripple Corner. Dasselbe Bett stand darin, welches doch leibhaftig und wirklich in dem Gastzimmer zu Basel war, und Wilding (nicht todt, wie er bis jetzt geglaubt hatte, und er wunderte sich auch nicht darüber) stieß ihn an und flüsterte: »Sieh den Mann! Merkst Du es denn nicht, daß er ausgestanden ist und das Kopfkissen umwendet? Warum sollte er das Kopfkissen umwenden, wenn nicht, um das Papier zu suchen, das Du auf Deiner Brust trägst? Wache auf!« Und doch schlief er weiter und irrte in andere Träume hinüber.
Beobachtend und still mit dem Ellenbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hand gestützt, sagte sein Gefährte endlich: »Vendale, wir werden gerufen. Es ist vier vorbei.«
Vendale öffnete seine Augen und sah auf das überschattete Antlitz Obenreizers, welches ihm halb zugewendet war.
»Sie sind in einen festen Schlaf verfallen,« sagte Letzterer. »Es ist die Ermüdung vom fortwährenden Reisen und von der Kälte.«
»Ich bin vollständig wach,« rief Vendale aufspringend, doch mit unsicherem Fuß. »Haben Sie gar nicht geschlafen?«
»Ich mag ein wenig geschlummert haben. aber mir ist, als ob ich geduldig das Feuer beobachtet hätte. Ob oder nicht, wir müssen uns waschen und frühstücken und aufbrechen. Vier vorbei, Vendale, vier vorbei!«
Die letzten Worte sagte er in erhobenem Ton, um den Angeredeten zu wecken, der bereits aufs Neue schlief. Auch bei seinen Vorbereitungen, die er für den Tag traf, und beim Frühstück verrichtete Vendale zeitweise Alles mechanisch, während er eigentlich träumend umherging. Erst als sich der dunkle kalte Tag zu Ende neigte, gewann er wieder bestimmtere Eindrücke von der Fahrt. Bis jetzt hatte er nur Schellengeläut, scharfes Wetter, gleitende Pferde, drohende Bergrücken, schwarze Wälder und das Anhalten bei einzelnen Häusern am Wege, um sich zu erfrischen (wo sie einmal durch den Kuhstall gehen mußten, um nach dem darüber liegenden Gastzimmer zu gelangen) dunkel an sich vorübergehen sehen. Ihm war wenig davon in’s Bewußtsein gedrungen, ausgenommen Obenreizers gedankenvolles Wesen, und daß dieser ihn den ganzen Tag über beobachtete.
Als es ihm gelang, seine Narrheit abzuschütteln, befand sich Obenreizers nicht an seiner Seite. Der Wagen hielt vor einem Haus am Wege. Die Pferde wurden gefüttert. Eine Reihe langer schmaler Karten, mit Fässern Wein beladen und von Pferden gezogen, die mit blauem Zeug an Halftern und Kopfgeschirren versehen waren, hielten zu gleichem Zweck hier an. Sie kamen aus der Gegend, nach welcher die Reisenden hinwollten, und Obenreizer, der jetzt nicht gedankenvoll, sondern freundlich und zuthunlich war, befand sich im Gespräch mit dem ersten Karrenführer.
Vendale streckte seine Glieder, das Blut cirkulirte wieder im Körper, und die Lethargie wich von ihm beim schnellen Auf- und Niedergehen in der scharfen Luft. Die Reihe Karten setzte sich in Bewegung: die Karrenführer grüßten Obenreizer alle, als sie an ihm vorüberkamen.
»Wer sind dies« fragte Vendale.
»Unser Kärrner, Leute aus dem Defresnier’schen Geschäft,« erwiderte Obenreizer. »Das waren unsre Weinfässer.« Er sang dabei vor sich hin und zündete sich eine Cigarre an.
»Ich bin heut eine trübselige Gesellschaft gewesen,« sagte Vendale. »Ich weiß selbst nicht, was mir fehlt.«
»Sie haben in der vorigen Nacht nicht geschlafen, da stellen sich öfter Wallungen nach dem Kopf ein, vorzüglich bei solcher Kälte sagte Obenreizer. »Ich habe das vielfältig erlebt. »Was das Schlimmste ist, wir werden unsere Reise umsonst gemacht haben, wie es scheint.«
»Wie so?«
»Das Haus ist in Mailand. Sie wissen. wir haben ein Weingeschäft in Neuschatel und ein Seidengeschäft in Mailand? Nun gut, da Seide plötzlich mächtig vorwärts geht und mehr als Wein, so wurde Defresnier nach MaiIand berufen. Rolland, der andre Compagnom ist seit Defresniers Abreise krank, und die Aerzte haben verboten, Jemand zu ihm zu lassen. In Neuschatel liegt ein Brief für Sie bereit, der Ihnen das Alles mittheilen soll. Ich weiß es von unserem ersten Spediteur, mit dem Sie mich haben sprechen sehen. Er war überrascht, mich hier zu treffen und sagte, er habe den Auftrag, Ihnen die Bestellung zu machen, wenn er Ihnen etwa begegnete. Was werden Sie thun? Wieder umkehren?«
»Weiterreisen,« sagte Vendale.
»Weiterreisen?«
»Ja, weiterreisen. Ueber die Alpen und hinunter nach Mailand.«
Obenreizer hielt im Rauchen ein, um Vendale anzusehen und rauchte dann, langsam fort. Er blickte den Weg hinauf und blickte den Weg hinab, er blickte auch die Steine am Wege an.«
»Mein Geschäft ist ein sehr ernstes,« sagte Vendale. »Mehrere der fehlenden Formulare können bereits zu einem ebenso schlechten oder noch schlimmeren Gebrauch benutzt sein, als dasjenige, welches sich in meiner Hand befindet; ich bin verpflichtet, keine Zeit zu verlieren, da ich dem Hause behilflich sein kann, den Dieb zu entdecken. Nichts soll mich vermögen, wieder umzukehren.«
»Nein?« rief Obenreizer, seine Cigarre aus dem Munde nehmend, um zu lächeln und dem Reisegefährten die Hand entgegenstreckend. »Dann soll auch mich nichts zum Umkehren vermögen. Hoho! Kutscher! Fördert Euch! Schnell! Wir wollen vorwärts!«
Sie fuhren die Nacht hindurch. Es war Schnee gefallen und theilweise hatte es gethaut. Man mußte hauptsächlich einen Fußweg benutzen und oft anhalten, damit die durchnäßten, sich sträubenden Pferde zu Athem kommen konnten. Eine Stunde nach Anbruch des Tages fuhren die Reisenden in das Thor des Gasthauses zu Neuschatel ein, nachdem sie achtundzwanzig Stunden gebraucht hatten, um etwa achtzig englische Meilen zurückzulegen.
Als sie sich eiligst erfrischt und ihre Kleider gewechselt hatten, gingen sie zusammen nach dem Geschäftslokal von Defresnier u. Co. Dort fanden sie den Brief vor, den ihnen der Weinspediteur angekündigt hatte, mit einer Einlage, welche die für die Entdeckung des Fälschers nöthigen Proben zum vergleichen der Handschrift enthielt. Vendales Entschluß vorwärts zu eilen ohne Aufenthalt stand bereits fest, es handelte sich einzig noch darum welchen Paß man wählen sollte, um die Alpen zu überschreiten? Was die beiden Pässe, den St. Goithard und den Simplon anbetraf, so gingen die Aussagen der Führer und Maulthiertreiber weit auseinander, beide Pässe aber waren noch viel zu entfernt, als daß den Reisenden frische Nachrichten darüber zukommen konnten. Ueberdies wußten sie wohl, daß ein Schneefall in kurzer Zeit die genaueste Beschreibung des Weges zu Schanden machen mußte. Aber da im Ganzen die Straße über den Simplon die gangbarste zu sein schien, so beschloß. Vendale dieselbe einzuschlagen. Obenreizer nahm keinen oder wenig Antheil an der Erörterung und gab kaum ein Wort dazu.
Nach Genf. Nach Lausanne. An dem ebnen Uferrand des Sees entlang nach Vevay. Durch das sich zwischen den Fuß der Berge hindurchwindende Thal in das Rhonethal hinein. Die Wagenräder rasselten den Tag hindurch die Nacht hindurch, wie die Räder einer großen Uhr, die die Stunden bezeichnet.
Es trat während der Fahrt kein Wechsel der Witterung ein. Alles war starr gefroren. Die Kette der Alpen hob sich Von einem dunkeln gelblichen Himmel ab. Die Reisenden sahen so viel Schnee auf nahen und fernen Berghöhen, daß ihnen die Reinheit des Sees, des Stromes und Wasserfalls und alle Dörfer farblos und schmutzig erschienen. Aber es fiel weder Schnee noch trat gar Schneetreiben auf ihrem Wege ein. Der dichtere oder leichtere weiße Nebel, der das Thal erfüllte und an Haare und Kleider Eiszapfen hängte, war die einzige wechselnde Erscheinung zwischen ihnen und dem dunklen Himmel. Und bei Tag und bei Nacht rasselten die Räder und rasselten einem von ihnen einen Refrain ins Ohr, der wesentlich verschieden von dem klang, den der Rhein gerauscht hatte: »Die Zeit ist vorbei ihn lebend zu berauben und ich muß ihn morden.«
Endlich gelangten sie in der kleinen armen Stadt Brieg am Fuße des Simplon an. Sie trafen in der Dunkelheit ein und konnten doch noch unterscheiden, wie zwerghaft der Mensch und sein Werk sich ausnehmen gegen die riesigen Berge, die darüber ragen. Hier mußten sie für die Nacht liegen bleiben. Hier gab es Wärme, Feuer, eine Lampe, ein Diner, Wein und viel Hin- und Herreden mit Führern und Maulthiertreibern. Seit vier Tagen war kein menschliches Wesen über den Paß gekommen. Der Schnee über der Schneelinie wurde zu weich für Wagen und nicht hart genug für einen Schlitten erklärt. Es waren außerdem Schneewolken am Himmel. Seit langen Tagen drohten sie dort und es blieb ein Wunder, daß der Schnee noch nicht gefallen war und eine Gewißheit, daß er fallen mußte. Kein Fuhrwerk konnte hinüber. Es war nur möglich die Reise auf Maulthieren oder zu Fuß zu versuchen. Aber die besten Führer mußten genommen und ihnen Preise gezahlt werden, wie sie für gefahrvolle Bergfahrten üblich waren; ob es gelang, die beiden Reisenden hinüberzubringen´oder ob die Nothwendigkeit sie umzukehren zwang, die Preise mußten entrichtet werden. An diesen Verhandlungen nahm Obenreizer durchaus keinen Antheil. Er saß still am Feuer und rauchte bis das Zimmer leer war und Vendale sich an ihn wendete.
»Pah! Die armen Teufel langweilen mich mit ihrem Feilschen,« sagte er statt aller Antwort. »Ueberall dieselbe Geschichte. So treiben sie es jetzt und so trieben sie es, als ich noch ein Bettelknabe war. Wir brauchen sie nicht. Wir brauchen jeder ein Ränzel und jeder einen Alpenstock. Wir brauchen keinen Führer. Wir würden ihn führen, er aber nicht uns. Wir lassen unsere Mantelsäcke hier und gehen zusammen hinüber. Wir sind schon früher auf den Bergen zusammen gewandert und ich bin auf den Bergen geboren. Ich kenne diesen Paß, diese Landstraße auswendig. Verlassen wir die armen Teufel, bemitleiden wir sie und mögen sie mit andern feilschen. Sie dürfen uns nicht mit ihren Versuchen Geld zu ernten aufhalten. Weiter wollen sie doch nichts.«
Vendale, zufrieden alle Streitigkeiten erledigt und den Knoten durchhauen zu sehen, that kräftig, waghalsig, genöthigt vorwärts zu kommen und sehr empfänglich für den letzten Wink, der ihm geworden, willigte sogleich ein. In zwei Stunden hatten sie erstanden, was sit für die Wanderung gebrauchten, hatten ihre Ränzel gepackt und legten sich wiederum zu schlafen.
Bei Tagesanbruch versammelte sich die halbe Stadt in der schmalen Gasse um sie fortwandern zu sehen. Die Leute standen in Gruppen umher und sprachen mit einander. Die Führer und Maulthiertreiber flüsterten für sich und sahen nach dem Himmel; Niemand wünschte ihnen eine glückliche Reise.
Als sie anfingen zu steigen brach ein Sonnenstrahl durch den übrigens unverändert trüben Himmel und verwandelte für einen Augenblick die blanken Spitzen der Kirchthürme des Städtchens zu Silber.
»Eine gute Vorbedeutung!« sagte Vendale (obgleich der Strahl noch während er sprach erlosch). »Vielleicht öffnet unser Beispiel den Paß von dieser Seite.«
»Nein. Es wird uns Niemand folgen,« erwiderte Obenreizer, hinauf zum Himmel und zurück in das Thal sehend. »Wir werden allein da oben sein.«
Auf der Höhe.
Der Weg war ziemlich gut für kräftige Wandersleute und die Lust wurde klarer und leichter zu athmen, je höher man stieg. Aber das trübe Wetter, welches sich festgesetzt hatte, blieb unverändert, wie es schon viele Tage geblieben war. Es schien, als ob die Natur zu einem Stillstand gekommen sei.
Der Sinn des Gehörs, wie des Gesichts versagte bei dem langen Warten auf einen Wechsel. Man vermochte nicht zu bestimmen, was eigentlich von oben her drohe. Die, Stille wurde ebenso drückend und schwer, als die hängenden Wolken —— oder besser die Wolke, denn es schien, als befände sich nur eine einzige am Himmel und als bedecke diese einzige das ganze Firmament.
Obgleich das Licht wie in ein Leichentuch eingehüllt war, so blieb doch die Aussicht frei. Unten in dem Rhonethal konnte man den Strom in seinen vielfachen Krümmungen verfolgen, schreckhaft dunkel und feierlich sah er in seiner bleiernen Farbe, wie eine lichtlose Wüste aus. Hoch und weit über ihnen bedrohten überhängende Schneelawinen die Stätten, über welche die Wandernden schreiten mußten. Zu ihrer Rechten tiefe dunkle Abgründe und der schäumende Bergstrom und ragende Felsen nach allen Seiten. Die riesige Landschaft, durch keinen Wechsel des Lichts, durch keinen Strahl der Sonne belebt, war schrecklich deutlich in ihrer furchtbaren Wildheit. Die Herzen zweier einsamer Männer möchten erbeben, wenn sie sich Meilen und Stunden zwischen einer Legion schweigender und bewegungsloser Menschen hindurch winden müßten —— lauter Menschen wie sie selber —— alle sie starr ansehend mit gerunzelter Stirn. Aber um wie viel schrecklicher, wenn diese Legion aus den großartigsten Schöpfungen der Natur besteht und das Zürnen sich in einem Augenblick zur Wuth verwandeln kann.
Im Weitersteigen wurde zwar der Weg schroffer und schwieriger, aber Vendale’s Laune eine gehobenere: lag doch eine ganze Strecke der Straße schon besiegt hinter ihnen. Obenreizer sprach wenig; er hielt an seinem Entschluß fest.
In Bezug auf Behendigkeit und Ausdauer waren Beide wohl zu dem Unternehmen geschickt. Was der auf den Bergen Geborene aus den Anzeichen des Wetters las, war für den Andern nicht zu entziffern und Obenreizer behielt seine Beobachtungen für sich.
»Kommen wir heut noch hinüber?« fragte Vendale.
»Nein!« erwiderte der Andere. »Bemerken Sie nicht, wie viel tiefer der Schnee hier liegt als eine halbe Meile niedriger? Je höher wir steigen, je mehr wird er sich um unsre Füße lagern.
Das Gehen ist schon jetzt ein Waten und die Tage sind so kurz. Wenn wir das fünfte Schutzhaus erreichen und die Nacht im Hospiz zubringen können, wollen wir von Glück sagen.«
»Ist keine Gefahr vorhanden, daß lieb in der Nacht das Wetter erhebt und uns einschneit?« fragte Vendale besorgt.
»Es lauern genug Gefahren um uns her,« sagte Obenreizer, vorsichtig seinen Blick aufwärts und abwärts schickend, »Um uns Schweigen zur Pflicht zu machen. Haben Sie schon von der Gantherbrücke gehört?«
»Ich bin einmal hinübergegangen.«
»Im Sommer?«
»Ja. In der Reisezeit.«
»Ja so. Es ist etwas andres in jetziger Jahreszeit,« und er setzte höhnisch, als ob er ärgerlich sei, hinzu: »Von dem Stand der Dinge in der jetzigen Jahreszeit auf einem Alpenpaß habt Ihr, Sonntagsreisende, keine Ahnung.«
»Sie sind mein Führer,« sagte Vendale wohlgelaunt.
»Ich vertrane Ihnen.«
»Ich bin Ihr Führer,« sagte Obenreizer, »und werde Sie bis an das Ende Ihrer Reise geleiten. Da liegt die Brücke vor uns.«
Sie waren durch eine Wendung in eine trostlose, finstre Schlucht gelangt, in welcher der Schnee tief unter ihnen, hoch über ihnen und zu beiden Seiten lagerte. Obenreizer stand still, zeigte, indem er sprach, aus die Brücke und betrachtete Vendale mit einem seltsamen Ausdruck.
»Wenn ich, der Führer, Sie voran hinübergeschickt und Sie ermuthigt hätte, ein Freudengeschrei anzustimmen, so würden Sie Centner und wieder Centner Schnee auf sich herabgerissen haben; würde Sie nicht allein getödtet, sondern Sie mit einem Schlage begraben haben.«
»Ohne Zweifel,« sagte Vendale.
»Ohne Zweifel. Aber als Führer ist das nicht meines Amtes. Also gehen Sie schweigend hinüber. Denn so, wie wir es jetzt machen, könnte unsre Unvorsichtigkeit die Lawine auf einen andern als Sie herablocken und mich begraben. Vorwärts!«
Auf der Brücke hatten sich Massen von Schnee aufgehäuft und eben so ungeheure Schneemassen hingen von vorspringenden Felsen herüber, so daß es aussah, als ob sie ihren Weg bei Sturm zurücklegten und der Wind dicke weiße Wolken zusammentriebe. Den Stock geschickt gebrauchend, indem er im Vorwärtsgehen Alles untersuchte, mit gekrümmten Schultern, den Kopf abwärts gebeugt, als ob er schon der bloßen Idee eines Schneesturzes von oben Widerstand leisten müßte, schritt Obenreizer langsam voran. Vendale folgte ihm auf dem Fuß. Sie waren in der Mitte ihres gefahrvollen Weges, als ein gewaltiger Krach erfolgte von einem donnernden Geräusch begleitet. Obenreizer drückte die Hand auf Vendale’s Mund und zeigte den schmalen Gang hinunter, den sie gekommen waren. Der Anblick hatte sich in einem Augenblick völlig verwandelt. Eine Lawine war in den Strom, der in der Schlucht schäumte, niedergestürzt. Das Erscheinen der Fremden in dem einsamen Wirthshause jenseits der Schreckensbrücke, kostete den darin Eingeschlossenen viele Ausrufe des Erstaunens.
»Wir wollen uns nur erholen,« sagte Obenreizer, den Schnee am Feuer aus seinen Kleidern schüttelnd. »Dieser Herr hat sehr dringende Veranlassung hinüberzukommen —— sagen Sie es ihnen, Vendale.«
»Gewiß, ich habe dringende Veranlassung. Ich muß hinüber.«
»Ihr hört es Alle. Mein Freund hat eine dringende Veranlassung hinüberzukommen, wir bedürfen weder Euren Rath noch Eure Hilfe. Ich bin ein eben so guter Führer, wie einer von Euch, meine lieben Landsleute. Jetzt gebt uns zu essen und zu trinken.«
Fast in derselben Weise und fast in denselben Worten gebärdete sich und sprach Obenreizer zu den verwunderten Leuten in dem Hospiz als es dunkel geworden und er und Vendale sich durch die vermehrten Schwierigkeiten des Weges durchgekämpft und endlich ihr Unterkommen für die Nacht erreicht hatten. Alles lief am Feuer zusammen, wo die Wanderer die nassen Schuhe abthaten und den Schnee aus den Mänteln schüttelten.«
»Es ist gut, wenn einer den andern versteht, meine Freunde. Der Herr ——«
»Hat,« sagte Vendale, ihm lächelnd das Wort aus dem Munde nehmend, »dringende Veranlassung hinüber zu kommen. Muß hinüber.«
»Ihr hört! —— hat dringende Veranlassung hinüber zukommen. Muß hinüber. Wir brauchen weder Rath noch Hilfe. Ich bin auf den Bergen geboren und diene zum Führer. Quält uns nicht mit vielen Hin- und Herreden, sondern gebt uns ein Abendbrot, Wein und Betten.«
In der entsetzlichen Nachtkälte derselbe schreckliche Stillstand. Beim Sonnenaufgang derselbe Strahl, der den Schnee röthete und vergoldete. Dieselbe unendliche Einöde von farblosem Weiß; dieselbe unbewegliche Luft; dieselbe eintönige Wolke am Himmel.«
»Wandrer«!« rief eine freundliche Stimme von der Thür aus, nachdem sich Vendale und Obenreizer mit dem Ränzel auf dem Rücken und dem Stock in der Hand wie gestern aufgemacht hatten. »Vergeßt nicht. Es giebt fünf Schutzstellen nahe bei einander auf Eurem gefährlichen Wege; dann kommt das hölzerne Kreuz und dann das nächste Hospiz. Verirrt Euch nicht. Wenn der Tourmente eintreten sollte, sucht sogleich Schutz.«
»Es ist das Handwerk der armen Teufel.« sagte Obenreizer zu seinem Freund, hochmüthig mit der Hand der Stimme winkend, »Sie stecken Alle unter einer Decke! Ihr Engländer nennt uns Schweizer Miethlinge und Söldner. Es sieht in der That so aus, als wären wir’s.«
Sie hatten in ihren Ränzeln solche Erfrischungen, welche überhaupt zu haben und ihnen zweckdienlich erschienen waren. Obenreizer trug als seinen Antheil an dem Gepäck den Wein, Vendale Brot, Fleisch, Käse und eine Flasche Liqueur.
Sie hatten sich eine zeitlang auf und ab durch den Schnee gearbeitet —— der in dem schmalen Engpaß ihnen bis über das Knie ging und sonst überall in unermeßlicher Höhe lag —— und sie arbeiteten sich weiter auf und ab durch den gefährlichsten Theil dieser Verwüstung, bis Schnee zu fallen begann. Zuerst waren es nur einige Flocken, die langsam und einzeln niederwehten. Nach einer kleinen Weile wurden sie dichter und plötzlich ohne bemerkliche Ursache wirbelten sie in spiralförmigen Bogen um sich selbst. Sobald dieser Wechsel eintrat, fing ein eisiger Wind an zu heulen und alle Wuth und alles Getöse, das bis jetzt gebunden gewesen, entfesselte sich über den Wanderern.
Eine der düsteren Galerien, die auf gefährlichen Stellen den Weg schützen, eine jener von festen schweren Bogen gestützten Höhlen, war nahe zur Hand. Sie flüchteten hinein. Der Sturm tobte wild. Das Getöse des Windes, das Getöse des Wassers, das Niederdonnern der stürzenden Schnee und Felsmassen, die schrecklichen Stimmen, mit denen nicht allein diese Kluft, sondern alle Klüfte in dem ganzen ungeheuren Umkreis plötzlich ausgerüstet zu sein schienen, die tiefe Dunkelheit, das gewaltsame Herumwirbeln des Schnees, welches ihn in Spreu zerschellte und zerbrach und die Wandrer blind machte, die Raserei, von der Alles um sie her erfaßt war, als habe jeden Gegenstand unersättliche Zerstörungswuth ergriffen, der schnelle Eintritt der heftigsten Aufregung nach der unnatürlichen Ruhe, die Menge erschreckender Töne nach der Stille, die geherrscht hatte: das alles waren Dinge die (noch dazu am Rande eines grauenvollen Abgrundes) das Blut erstarren machten, wenn es nicht schon dem heulenden Wind, der buchstäblich von Schnee und Eis Körperhaft wurde, gelungen war, es zu erstarren.
Obenreizer, der in der Galerie ohne Aufhören hin- und wiederging, bedeutete Vendale, ihm das Ränzel aufmachen zu helfen. Es konnte einer den andern sehen, aber nicht einer den andern sprechen hören. Vendale willfahrte ihm. Obenreizer zog eine Flasche Wein hervor, goß ein und hielt ihn Vendale hin, indem er ihm verständlich machte, daß er, um sich zu erwärmen, lieber Wein als Branntwein nehmen sollte. Vendale willfahrte ihm auf’s Neue. Es hatte den Anschein, als ob Obenreizer nach ihm tränke und die beiden wanderten danach nebeneinander auf und ab. Beide wußten, daß sich niederlegen oder schlafen ihr Tod sein würde.
Der Schnee trieb massenhaft am unteren Ende der Galerie herein, an dem Ende, zu dem sie hinaus mußten, wenn sie je wieder hinauskamen, denn es lagen größere Gefahren hinter ihnen als vor ihnen. Der Schnee fing bereits an den Bogen zu füllen. Noch eine Stunde und er lagerte so hoch, daß er das wieder aufdämmernde Tageslicht nicht hereinließ, doch fror er und konnte überklettert werden. Die Heftigkeit des Sturmes hatte nach und nach einem regelmäßigen Schneefall Platz gemacht. Der Wind wüthete noch in Zwischenräumen, aber nicht mehr unaufhörlich und wenn er einhielt, fiel der Schnee in ruhigen großen Flecken.
Zwei Stunden mochten sie in ihrem schrecklichen Gefängniß zugebracht haben, als Obenreizer zuvor den Schneewall untersuchend, mit gebücktem Kopf und mit seinem Körper oben an den Felsenboden stehend, hinüber kroch und seinen Ausweg aus der Höhle nähme. Vendale folgte ihm nach, aber ohne Ueberlegung und ohne sich klar zu werden, warum er es that. Denn die Lethargie, die er schon einmal in Basel empfunden, hatte ihn wieder beschlichen und beherrschte alle seine Sinne. Wie weit er von der Galerie entfernt war, oder mit welchen Hindernissen er seitdem gerungen hatte, wußte er nicht. Es kam ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß Obenreizer auf ihn losgesprungen war und sie sich mitten im Schnee in einem verzweifelten Handgemenge befand. Es erwachte in ihm die Erinnerung, dessen, was sein Angreifer im Gürtel trage. Er tappte danach, zog es, stieß nach ihm, kämpfte weiter, stieß zum zweiten Mal nach ihm, riß sich los und stand nun Auge in Auge dem Andern gegenüber.
»Ich habe versprechen Sie an das Ende Ihrer Reise zu führen,« sagte Obenreizer, »und habe mein Versprechen gehalten. Ihre Lebensreise endet hier. Nichts kann Sie retten. Sie schlafen, wo Sie gehen und stehen.«
»Sie sind ein Elender. Was haben Sie mir angethan?«
»Sie sind ein Narr. Ich habe Ihnen einen Trank eingegeben. Sie sind zwiefach ein Narr, denn ich habe es versuchsweise schon einmal vor der Wanderung gethan. Sie sind dreifach ein Narr, denn ich bin der Dieb und der Fälscher und werde nach wenigen Augenblicken die Beweise gegen den Dieb und Fälscher ihrem entseelten Körper entnehmen.«
Der Ueberlistete versuchte die Lethargie von sich zu schütteln, aber sie übte eine so entsetzliche Herrschaft über ihn aus, daß er sich in dem Augenblicke, wo er solche Worte vernahm, nicht darauf besinnen konnte, wer von ihnen beiden der Verwundete war und wessen Blut dort über den Schnee rieselte.
»Was habe ich Ihnen gethan?« fragte er schwer und bedrängt, »daß Sie an mir —— zum gemeinen Mörder werden?«
»Mir gethan? Sie würden mich ruiniert haben, wenn Sie an das Ziel Ihrer Reise gelangt wären. Ihre verwünschte Schnelligkeit ließ mir nicht Zeit, das Geld zurückzahlen zu können. Mir gethan? Sie haben sich in meinen Weg gedrängt, nicht einmal oder zweimal, sondern wieder, und immer wieder. Habe ich Sie nicht anfänglich abschütteln wollen? Sie lassen sich nicht abschütteln, darum müssen Sie sterben.«
Vendale suchte zusammenhängend zu denken, zusammenhängend zu sprechen und versuchte den eisenbeschlagenen Stock aufzulangen, der ihm entfallen war. Als ihm das nicht gelang, versuchte er ohne Stütze vorwärts zu taumeln. Alles vergeblich! Er strauchelte und fiel hart an dem Rande der tiefen Kluft zu Boden. Betäubt, erstarrt, nicht fähig auf den Füßen zu stehen, mit um dunkelten Augen, mit versagendem Gehör, machte er noch eine gewaltsame Anstrengung sich aufzuraffen. Er stützte sich auf seine Hände, während sein Feind ruhig über ihm stand und folgende Worte sprach:
»Sie nennen mich einen Mörder,«« sagte Obenreizer dumpf lachend. »Der Name thut wenig zur Sache. Ich habe mindestens mein Leben gegen das Ihre eingesetzt, denn ich bin mit Gefahren umringt, aus denen vielleicht kein Entrinnen möglich ist. Der Tourmente erhebt sich wieder. Der Schnee beginnt zu wirbeln. Ich muß die Papiere haben. Jeder Augenblick Verzug kann mir das Leben kosten.«
»Halt!« rief Vendale mit schrecklicher Stimme und dem letzten Rest auflodernder Kraft in ihm. Er taumelte empor und hielt die räuberischen Hände, die nach seiner Brust griffen, mit letzter Anstrengung fest. »Halt! Fort von mir! Gott segne meine Marguerite! Hoffentlich er fährt sie niemals, auf welche Weise ich umkam! Zurück von mir und laß mich in Dein Mörderantlitz sehen, daß es mich erinnere —— an etwas —— was noch zu sagen übrig ist.«
Den Anblick dessen, der so hartnäckig mit dem schwindenden Bewußtsein kämpfte und die Furcht, derselbe könne sich noch einmal mit der Kraft von zwölf Männern beseelt aufraffen, hielten den Gegner unbeweglich an seinem Platz. Ihn wild anstarrend, stammelte Vendale die abgebrochenen Worte:
»Das Vertrauen des Todten —— will ich nicht täuschen. —— Geachtete Eltern —— unrechmäßig ererbtes Vermögen —— forschen Sie nach!«
Als sein Kopf herabsank und er wie zuvor an den Rand der Schlucht niedertaumelte, griffen die räuberischen Hände schnell und geschäftig wieder an seine Brust. Er machte eine krampfhafte Anstrengung, um »Nein!« zu rufen, und drängte sich verzweiflungsvoll über den Rand der gähnenden Kluft und versank vor den Händen seines Feindes wie ein schreckliches Traumbild.
Der Bergwind brach auf’s Neue los und beruhigte sich wieder. Die schrecklichen Stimmen der Felsen erstarben. Der Mond ging auf. Leise und still fiel Schnee hernieder.
Zwei Männer und zwei große Hunde kamen aus der Thür des Hospizes. Die Männer sahen sich vorsichtig um und blickten den Himmel an. Die Hunde wälzten sich im Schnee, nahmen ihn in den Mund und scharrten ihn mit den Füßen fort.«
Einer der Männer sagte zu dem andern: »Wir können es, jetzt wagen. Wir werden sie in einer der fünf Galerieen finden. Jeder befestigte einen Korb auf seinen Rücken, jeder nahm eine lange mit starker Eisenspitze beschlagene Stange in die Hand: jeder gürtete sich das mit einer Schlinge versehene Ende eines starken Seiles um, zu dem Zweck, sich aneinander zu befestigen.
Auf einmal hörten die Hunde auf, im Schnee zu wühlen. Sie standen still und sahen den Abhang hinab, hielten ihre Nasen in die Höhe, hielten sie auf den Boden, wurden sehr unruhig und brachen zusammen in ein tiefes lautes Heulen aus.
Die Männer sahen den Hunden in’s Gesicht. Die Hunde sahen mit mindestens derselben Intelligenz den Männern ins Gesicht.
»Zu Hilfe denn! helft! rettet!« riefen die beiden Männer. Die beiden Hunde, befriedigt, sprangen mit tiefem, lang dauerndem Gebell davon.
»Noch zwei solche Rasende,« sagte der eine Mann, bewegungslos vor Staunen, und starrte in das Mondlicht hinein. »Ist es möglich, in diesem Wetter! Und ein Weib dabei!«
Jeder der Hunde hatte den Zipfel eines Frauenkleides im Munde und zog daran. Die Besitzerin desselben liebkoste die Köpfe der Hunde und stieg durch den Schnee, als ob sie an solche Wanderungen gewöhnt wäre. Bei dem großen .Mann, der sie begleitete, war das nicht der Fall, er war erschöpft und außer Athem.
»Ihr lieben Führer, ihr lieben Freunde: aller Reisenden! ich bin eine Schweizerin. Wir suchen zwei Herren, die den Paß überschreiten wollten und das Hospiz gestern Abend erreicht haben müssen.«
»Sie haben es erreicht, Ma’amselle.«
»Dem Himmel sei Dank! dem Himmel sei Dank!«
»Aber sie sind unglücklicherweise weitergegangen, und wir machen uns eben auf den Weg, um sie zu suchen. Wir Haben erst den Tourmente vorübergehen lassen müssen, der hier oben schrecklich gewüthet hat.«
»Ihr lieben Führer und Freunde der Reisenden! Laßt mich Euch begleiten. Laßt mich Euch begleiten um Gotteswillen. Einer der Beiden soll mein Gatte werden. Ich liebe ihn so innig, o, so innig! Ihr seht, ich bin nicht schwach, Ihr seht, ich bin nicht müde. Ich bin ein Bauernkind. Ihr sollt Euch überzeugen, daß ich es verstehe, mich an Euer Seil zu befestigen. Ich kann es mit eigenen Händen. Ich schwöre Euch, muthig und tapfer auszudauern, nur laßt mich mit Euch gehen, laßt mich mit Euch gehen! Wenn ihm ein Unglück zugestoßen ist, so wird meine Liebe ihn auffinden, wenn alles Andere versagt. Auf meinen Knieen, lieben Freunde der Reisenden, beschwöre ich Euch; bei der Liebe, die Eure Mütter zu Euren Vätern im Herzen trugen, laßt mich mit Euch gehen!«
Die guten rauhen Gesellen wurden bewegt. »Genau genommen,« beredeten sie sich leise untereinander, »spricht sie die Wahrheit. Sie kennt Weg und Steg auf den Bergen. Seht, wie wunderbar sie herausgefunden hat! Aber was Monsieur hier anbetrifft, Ma’amselle?«
»Lieber Mr. Joey,« sagte Marguerite, ihn in seiner Muttersprache anredend, »Sie werden im Hause bleiben und uns erwarten. Nicht wahr?«
»Wenn ich genau wüßte, »daß ich Sie einem von Denen anvertrauen könnte´,« murrte Joey Ladle, die bei den Männer mit unverholener Geringschätzung betrachtend. »Aber mit denen würde ich mich um sechs Pfennige boxen und ihnen noch eine halbe Krone für ihre Auslagen schenken. Nein, Miß. Ich will zu Ihnen stehen, so lange ich überhaupt noch stehen kann. Ich will für Sie sterben, wenn ich nichts Besseres zu thun weiß.«
Die Stellung deä Mondes warnte nachdrücklich keine Zeit mehr zu verlieren, und da die Hunde Zeichen der höchsten Unruhe Von sich gaben, so faßten die Männer einen schnellen Entschluß. Das Seil, welches sie verband, wurde mit einem längeren vertauscht, an welchem sich die Genossen festknüpften. Marguerite war die zweite, der Kellermeister der letzte in der Reihe. Sie machten sich auf den Weg nach den Schutzhäusern. Die wirkliche Entfernung dieser Orte vom Hospiz war nicht bedeutend; an allen fünfen vorüber bis zum nächsten Hospiz betrug sie ungefähr zwei Meilen, aber ein weißes Leichentuch bedeckte gespenstig den Weg.
Sie kamen ohne zu irren in der Galerie an, in welcher die beiden Männer Schutz gesucht hatten. Der zweite Schneesturm hatte dergestalt hier gehaust, daß jede Spur: verweht war, doch liefen die Hunde mit den Nasen am Boden hin und her und schienen ihrer Sache gewiß zu sein.
Die Gefährten hielten indessen jenseits der Galerie ihre Tritte ein. Der Sturm hatte hier am wüthendsten getobt. Der Schnee lag aufgehäuft. Die Hunde wurden unsicher und liefen im Kreise herum, als suchten sie eine verlorene Spur.
Die Männer, in dem Bewußtsein, daß sich rechts die große Schlucht befand, hatten sich zu sehr nach links geschlagen und mußten nun mit unendlichen Mühen durch ein tiefes Schneefeld hindurch, um die Straße wieder zu gewinnen. Der Führer der Reihe machte Halt. Er wollte die Wegezeichen auffinden. Einer der Hunde begann in dem Schnee zu wühlen. Man trat hinzu und beobachtete den Vorgang gespannt. In der Meinung, daß jemand hier verschüttet sein konnte, beugte man sich nieder und gewahrte Flecken in dem Schnee, gewahrte auch, daß es rothe Flecken waren.
Der andere Hund blickte über den Rand der Schlucht; an allen Gliedern zitternd streckte er die Vorderpfoten auf dem Boden aus, damit er nicht hinabstürzen könne. Jetzt gesellte sich der Hund, der die rothen Flecken aufgefunden hatte, zu ihm und jetzt liefen sie wimmernd und klagend am, Rande hin und her. Endlich standen beide hart vor dem Abgrund still, legten ihre Köpfe nieder und erhoben ein schmerzvolles Geheul.
»Dort unten liegt jemand,« sagte Marguerite.
»Ich glaube auch,« sagte der Vorderste. »Stellt Euch fest, Ihr beiden Hintermänner, damit wir hinuntersehen können.«
Der Letzte in der Reihe zündete zwei Fackeln an, die er im Korbe bei sich trug und schickte sie vor. Der Führer bekam eine und Marguerite die andere. Sie spähten hinab, bald die Fackeln beschattend, bald sie nach rechts oder links hinwendend, bald sie erhebend, bald sie tief hinabbeugend wo das Mondlicht unten die schwarzen Schatten in der Tiefe nicht zu besiegen vermochte.
Ein durchdringender Schrei Margueritens unterbrach das tiefe Schweigen.
»Mein Gott! Auf jener vorspringenden Stelle, wo die Eisfläche sich über den Abgrund streckt, sehe ich eine menschliche Gestalt!«
»Wo, Ma’amselle, wo?«
»Sehen Sie, dort! auf der Eisfläche unter den Hunden.«
Der Führer zog sich mit dem Ausdruck größter Hoffnungslosigkeit vom Rande zurück. Alle verstummten, aber sie waren nicht unthätig. Marguerite machte sich und den Führer mit geschickten Fingern in wenigen Sekunden vom Seile los.
»steigt mir die Körbe. Sind diese beiden die einzigen Stricke?«
»Die einzigen, die wir hier haben, Ma’amselle; aber im Hospiz ——«
»Wenn er noch lebt —— ich weiß, es ist mein Bräutigam, so muß er sterben, ehe Ihr zurückkehrt. Lieben —— Führer! lieben Freunde der Reisenden! Seht mich an. Beobachtet meine Hände. Wenn sie versagen oder ungeschickt sind, haltet mich mit Gewalt fest, wenn sie aber kräftig und geschickt sind, helft mir ihn zu retten!«
Sie befestigte sich selbst das Seil unter der Brust und unter den Armen, sie formte eine Art Von Mieder daraus, sie schürzte es zusammen, sie legte das Ende des ersten neben das Ende des zweiten Seiles, sie wand und flocht beide zusammen, sie knotete sie, sie setzte ihren Fuß auf den Knoten, sie zog ihn fest und hielt ihn den beiden Männern hin um ihn zu prüfen.
»Sie ift inspirirt,« flüsterte einer dem andern zu.
»Bei der Gnade des Allmächtigen? rief sie aus. »Ihr beide wißt, daß ich die leichteste unter uns bin. Gebt mir den Branntwein und den Wein und laßt mich zu ihm hinunter. Dann eilt und holt mehr Hilfe herbei und ein stärkeres Seil. Ihr habt Euch überzeugt, daß, wenn Ihr es mir herunterlasst —— seht Euch das an, was ich mir selbst umgelegt habe —— ich sicher und fest seinen Körner daran befestigen kann. Todt oder lebendig, ich schaffe ihn hinauf oder sterbe mit ihm. Ich liebe ihn so innig. Braucht es noch mehr?«
Die Männer wollten sich an Marguerites Begleiter wenden, aber der lag besinnungslos im Schnee.
»Laßt mich zu ihm hinab,« sagte sie, sich zwei kleine Tonnen, die sie mitgebracht hatten, umhängend, »oder ich zerschmettre mich! Ich bin ein Bauernkind und kenne keine thörichte Furcht; die Gefahr schreckt mich nicht und ich liebe ihn so innig. Laßt mich hinab!«
»Ma’amselle, Ma’amselle, er stirbt oder ist schon todt.«
»Sterbend oder todt soll meines Gatten Haupt an meiner Brust ruhen. Laßt mich hinab, oder ich stürze mich hinunter.«
Sie waren überwunden und gaben nach. Mit so großer Vorsicht als ihre Geschicklichkeit und die Verhältnisse es erlaubten, ließen sie sie von der Höhe hinabgleiten.Mit ihrer Hand klammerte sie sich an die abschüssige Eiswand an. Sie ließen sie hinab und immer hinab, bis der Ruf heraufschallte:
»Genug!«
»Ist er es wirklich und ist er todt?« fragten sie, über den Rand blickend.
Der Ruf tönte herauf: »Er ist besinnungslos aber sein Herz schlägt. Es schlägt an dem meinen.«
»Wo liegt er?«
Der Ruf tönte herauf: »Auf einer Eisschicht. Sie thaut unter ihm und wird auch unter mir thauen. Eilt Euch. Sollten wir sterben —— ich bin es zufrieden.«
Einer der beiden Männer eilte mit den Hunden in der äußersten Geschwindigkeit, die er aufzubringen vermochte, fort, der andere steckte die brennenden Fackeln in den Schnee und bemühte sich, den Engländer wieder zum Leben zu erwecken. Viel Reiben mit Schnee und einiger Branntwein brachten ihn wieder auf die Füße, aber er blieb abwesend und vermochte sich nicht zu besinnen, wo er war?
Der Wächter stand am Rande des Abhanges, unaufhörlich schallte sein Ruf hinab: »Muth!Sie werden gleich hier sein. Wie geht es?« Die Antwort schallte heraus: »Sein Herz schlägt immer noch an dem meinen. Ich erwärme ihn in meinen Armen. Ich habe mich vom Seil losgemacht, denn das Eis schmilzt unter uns und das Seil würde mich von ihm trennen. Ich fürchte mich nicht.«
Der Mond versank hinter den Spitzen der Berge. Die ganze Schlucht hüllte Finsternis; ein. Der Ruf schallte hinab: »Was macht Ihr?« Die Antwort schallte zurück: »Wir sinken tiefer, aber sein Herz schlägt noch an dem meinen.«
Endlich verkündete Hundegebell und ein Lichtschein auf dem Schnee, daß Hilfe nahte. Zwanzig oder dreißig Männer, Laternen, Fackeln, Bahren, Seile, wollene Decken, Holz, um ein mächtiges Feuer zu entzünden, Wiederbelebungs- und Reizmittel tragend, kamen schnell herbei. Die Hunde liefen von einem Mann zum andern und von einem Gegenstand zum andern; sie liefen an die Schlucht, dumpf heulend: Eilt! eilt! eilt! Der Ruf schallte hinab: »Gott sei Dank. Alles bereit. Was macht Ihr?«
Die Antwort schallte herauf: »Wir sinken tiefer und sind zum Tode erstarrt. Sein Herz schlägt nicht mehr gegen das meine. Daß Niemand herunter komme, um unser Gewicht zu vermehren. Laßt nur das Seil herab.«
Das Feuer brannte hell und Fackelglanz beleuchtete die Seiten der Schlucht. Laternen wurden hinabgelassen und ein starkes Seil. Man konnte sehen, wie sie es um ihn schlang und befestigte.
Durch die Todtenstille ertönte der Ruf: »Aufziehen! leise!« Man sah ihre zarte Gestalt zusammenzucken, als der Leblose in den Lüften schwankte. Kein Freudenruf erschallte. Einige der Männer legten ihn auf die Bahre und andere ließen ein neues starkes Seil hinab. Wieder ertönte der Ruf: »Aufziehen! leise!« durch die Todtenstille. Aber als man sie am Rande der Schlucht empfing, da war ein Jubeln, ein Weinen, ein Gottdanken. Sie küßten ihr die Füße, sie küßten ihre Kleider, die Hunde liebkosten sie, leckten ihr die eisigen Hände und wärmten ihr mit ihren ehrlichen Gesichtern den erstarrten Busen.«
Sie machte sich von Allen los und sank auf die Bahre, mit ihren beiden lieben Händen das Herz bedeckend, was nicht mehr schlug.
Vierter Act
Das Uhrschloß.
Der freundliche Schauplatz war Neuschatel, der freundliche Monat April: der freundliche Aufenthalt das Büreau eines Notars; die freundliche Erscheinung darin, der Notar selbst; ein rosiger herzgewinnender schöner alter Mann, der erste Notar von Neuschatel, weit und breit im Canton unter dem Namen Maitre Voigt bekannt. Persönlich, wie in seinem Beruf, war der Notarius ein allgemein geliebter Mitbürger. Seine große Freundlichkeit und seine große Wunderlichkeit hatten ihn schon vor Jahren zu einem bekannten öffentlichen Charakter in der freundlichen Schweizer Stadt gemacht. Sein langer brauner Ueberrock und seine schwarze Mütze waren zum Ort gehörig und von seiner Schnupftabaksdose nahm man an, daß es, in Bezug auf ihre Gestalt, keine zweite solche in Europa gäbe. Es befand sich noch jemand im Büreau, der nicht so freundlich, wie der Notar aussah: Obenreizer.
Einen eigenthümlich ländlichen Anblick bot das Büreau dar. Es war überhaupt ein Büreau, wie es in England gar nicht vorkommen kann. Es lag auf einem hübschen Hofraum, ein Blumengarten umgab es, Ziegen weideten am Thorweg und eine Kuh hielt Von sechs Schritten Entfernung aus eine gute Freundschaft mit den Schreibern. Maitre Voigts Zimmer, ein glänzendes bunt angestrichenes kleines Gemach, sah mit seinen Holzpanelen an den Wänden wie eine Kinderstube aus. Der Jahreszeit gemäß blickten Rosen, Sonnenblumen und Malven ins Zimmer hinein. Maitre Voigts Bienen summten den ganzen Tag durch das Büreau, kamen zu einem Fenster herein, flogen zum andern wieder hinaus und statteten ihre Besuche fleißig während ihres Tagewerkes ab, als ob ans Maitre Voigts frölicher Laune Honig zu saugen wäre. Eine große Spieldose aus dem Kamin trillerte die Ouvertüre zu Fra Diavolo oder zusammengestellte Melodien aus Wilhelm Tell mit einer Lebendigkeit herunter, der beim Eintritt eines Clienten gewaltsam Einhalt gethan werden mußte; aber in dem Augenblick, wo derselbe den Rücken gewendet hatte, brachen ihre Melodien unbeirrt wieder hervor.
»Muth! Muth! mein lieber Freund!« sagte Maitre Voigt zu Obenreizer in väterliche Weise und klopfte ihm, wie um ihm gut zuzureden auf das Knie. »Sie beginnen morgen hier in meinem Büreau ein neues Leben.«
Obenreizer —— in Trauerkleidung und mit niedergeschlagenem Wesen —— legte seine Hand, die ein weißes Taschentuch hielt, auf die Stelle, wo sein Herz saß. »Die Dankbarkeit ist hier,« sagte er, »aber die Worte nicht, die sie auszudrücken vermögen.«
»Pah! pah! pah! reden Sie nicht Von Dankbarkeit. Mir ist es schrecklich jemand in Noth zu sehen. Sie sind in Noth, und ich strecke Ihnen unwillkürlich meine Hand entgegen. Uebrigens bin ich noch nicht zu alt, um mich meiner jungen Tage zu erinnern. Ihr Vater hat mir meine ersten Kunden zugesendet (Es handelte sich um den halben Morgen eines Weingartens in dem nur selten Trauben reiften.) Bin ich nicht dem Sohn Ihres Vaters verschuldet? Ich schulde ihm eine freundschaftliche Verpflichtung und zahle sie ihm hiermit zurück. Das war hübsch ausgedrückt, nicht wahr?« setzte Maitre Voigt in der besten Laune hinzu. »Erlauben Sie, daß sich mein eigenes Verdienst mit einer Prise Tabak belohne.«
Obenreizer schlug die Augen nieder, als ob er es nicht werth wäre, den Notarius nur schnupfen zusehen.
»Ich bitte Sie um eine Gunst, Sir,« sagte er, als er die Augen wieder aufschlug. »Handeln Sie nicht in der ersten Aufwallung. Sie kennen bis jetzt nur meine Lage im Allgemeinen. Erwägen Sie den Fall für und gegen mich in seinen Einzelheiten, bevor Sie mich in Ihrem Büreau anstellen. Prüfen Sie meinen Anspruch an Ihre Menschenfreundlichkeit mit Ihrem scharfen Verstande und Ihrem vortrefflichen Herzen. Wollen Sie das, so kann ich meinen Kopf gegen meine erbittertsten Feinde hoch heben und meinen Ruf auf den Trümmern der verlorenen Ehre wieder aufbauen.«
»Wie Sie wollen,« sagte Maitre Voigt. »Sie wissen gut zu sprechen, mein Sohn. Sie werden mit der Zeit ein feiner Adookat werden.«
»Der Einzelheiten sind nur wenige,« fuhr Obenreizer fort. »Mein Unglück beginnt mit dem zufälligen Tode meines Verstorbenen Reisegefährten, meines theuren verlorenen Freundes, Mr Vendale.«
Mr. Vendale,« wiederholte der Notarius. »Richtig. Ich habe verschiedene Male in den letzten zwei Monaten den Namen gehört und gelesen; den Namen des unglücklichen Engländers der auf dem Simplon getödtet wurde. Sie haben diese Narben auf Hals und Wange davongetragen.«
»—— Von meinem eigenen Messer,« sagte Obenreizer, die Narben berührend, die ihrer Zeit schreckliche Wunden gewesen sein mußten.
»Von Ihrem eignen Messer,« stimmte der Notarius ein, »als Sie ihn zu retten versuchten. Gut, gut, gut. Es war sehr gut Von Ihnen. Vendale. Ja, Ich habe in der letzten Zeit öfter daran gedacht, wie eigenthümlich es ist, daß ich einmal einen Clienten des Namens hatte.«
»Die Welt ist so eng,« erwiderte Obenreizer und machte sich innerlich einen Gedankenstrich, daß der Notarius früher einen Clienten des Namens gehabt hatte.«
»Wie ich sagte, Sir, mit dem Tode meines lieben verstorbenen Reisegefährten fängt mein Unglück an. Was darauf folgte? Ich rettete mich selbst und begab mich dann nach Mailand. Ich wurde Von Defresnier und Co. kühl empfangen und kurze Zeit darauf meiner Geschäfte bei Defresnier und Co. enthoben. Warum? Den Grund gaben Sie nicht an. Ich fragte, ob meine Ehre angegriffen werde? Keine Antwort. Ich fragte, was ist die Schuld, die mich trifft? Keine Antwort. Ich fragte, wo sind die Beweise gegen mich? Keine Antwort. Ich fragte, was ich davon denken solle? Die Erwiderung lautete: »Es steht Mr. Obenreizer frei zu denken, was er will; was Mr. Obenreizer denkt, ist für Defresnier und Co. von gar keinem Belang. Das war Alles.«
»Richtig. Das war Alles,« stimmte der Notarius eine große Prise Tabak nehmend, ein.
»Aber genügt das, Sir!«
»Das genügt nicht,« sagte Maitre Voigt. »Die Defresnier und Co., sind meine Mitbürger —— sehr geachtete und sehr geschätzte —— aber die Defresnier und Co. dürfen nicht den Ruf eines Menschen stillschweigend zerstören. Eine falsche Anschuldigung kann man zurückweisen, aber wie soll man dem Stillschweigen beikommen?«
»Ihr Sinn für Gerechtigkeit, mein theurer Beschützer,« antwortete Obenreizer, »kehrt das Empörende der Handlungsweise mit einem Wort heraus. Hat es nun damit geendet? Nein. Was folgte hinterher?«
»Es ist wahr, mein armer Junge,« sagte der Notarius mit einem Nicken des Kopfes, welches den Andern trösten sollte. »Ihre Mündel lehnt sich gegen Sie auf.«
»Auflehnen ist nicht das richtige Wort,« entgegnete Obenreizer.« Meine Mündel schreckt vor mir mit Entsetzen zurück. Meine Mündel einzieht sich meiner Autorität und sucht Schutz (und Madame Dor mit ihr) in dem Hause des Englischen Advokaten Mr. Bintrey, desselben, der auf Ihre Aufforderung an meine Nichte sich meiner Autorität zu unterwerfen, erwidert, daß meine Nichte den Aufforderung nicht Folge leisten werde.«
»—— Und der ferner schreibt,« sagte der Notarius, seine große Tabaksdose fortnehmend, um zwischen den Papieren darunter nach Mr. Bintreys Brief zu suchen, »daß er selbst kommen werde, um mit mir Rath zu pflegen.«
»So?« erwiderte Obenreizer erschrocken. »Nicht, Sir? Habe ich nicht gesetzmäßige Rechte an sie?«
»Gewiß, mein armer Junge,« entgegnete der Notarius. »Jeder außer dem Verbrecher hat gesetzmäßige Rechte.«
»Und wer kann mich einen Verbrecher nennen?« sagte Obenreizer mit auffallender Heftigkeit.
»Niemand. Bleibet Sie ruhig, trotzdem, daß man Ihnen Unrecht thut. Wenn das Haus Defresnier Sie einen Verbrecher nennen sollte, gewiß, so kennen wir das Verfahren, welches wir in dem Fall ihm gegenüber einzuschlagen hätten.«
Indem er das sagte, händigte er Bintreys kurzen Brief Obenreizern ein, der denselben durchlas und zurückgab.
»Wenn er sagt,« bemerkte Obenreizer mit wiedergewonnener Fassung, »er werde kommen, um mit Ihnen Raths zu pflegen, so meint der Englische Addokat damit, daß er kommen will und meine Autorität über meine Mündel ableugnen.«
»Glauben Sie?«
»Ich bin davon überzeugt. Ich kenne ihn. Er ist eigensinnig und streitsüchtig. Sagen Sie mir, theurer Sir, ob die Autorität, welche ich über meine Mündel besitze, unangreifbar ist.«
»Durchaus unangreifbar.«
»Ich will darauf bestehen. Ich will es durchsetzen, daß sie sich derselben unterwerfe, denn,« sagte Obenreizer seinen zornigen Ton in den dankbarster Unterwürfigkeit verwandelnd, »ich bin es Ihnen schuldig, Sir, Ihnen, der einen arg beleidigten Mann vertrauensvoll in seinen Schutz und seinen Dienst genommen hat.«
»Nun beruhigen Sie sich,« sagte Maitre Voigt. »Nichts mehr davon und keinen Dank. Ich erwarte Sie morgen früh, ehe der andre Schreiber kommt —— zwischen sieben und acht. Sie finden mich in diesem Zimmer. Ich werde Sie selbst in Ihre Geschäfte einführen. Jetzt gehen Sie! Gehen Sie! Ich habe Briefe zu schreiben. Ich will kein Wort mehr hören.«
Mit dieser großmüthigen Eilfertigkeit entlassen und befriedigt von dem günstigen Eindruck, den er auf den alten Mann gemacht hatte, benutzte Obenreizer seine Muße, auf den Gedankenstrich in seinem Geist zurückzukommen, der ihn daran erinnern sollte, daß Maitre Voigt früher einen Clienten Namens Vendale gehabt habe.
»Ich denke England jetzt genugsam zu kennen,« so war der Gang, den seine Betrachtungen nahmen, als er sich auf eine Bank im Garten niedersetzte. »Der Name ist mir dort nie vorgekommen, ausgenommen ——« er sah unwillkührlich scheu über die Schulter —— »bei ihm. Ist die Welt so eng, daß ich ihn nicht loswerden kann, selbst jetzt, nun er todt ist? Er bekannte zu guter letzt daß er das Vertrauen des Verstorbenen mißbraucht und unrechtmäßiger Weise ein Vermögen geerbt habe. Ich solle nachforschen, sagte er. Ich solle ihn ansehen; mein Antlitz erinnre ihn daran. Warum mein Antlitz, wenn es nicht mich beträfe? Es waren seine Worte; sie sind seitdem nicht aus meinem Ohr gewichen. Kann sich etwas in des alten Dummkopfs Gewahrsam befinden, was darauf Bezug hat? Etwas, das meine äußere Lage wieder herzustellen und sein Andenken zu verwischen vermöchte. Er verweilte lange Zeit in jener Nacht in Basel auf meinen frühesten Erinnerungen. Warum that er es, wenn er nicht einen Grund dazu hatte?«
Die beiden größten Ziegenböcke Maitre Voigts stießen mit den Köpfen nach Obenreizer, um ihn aus den Garten zu treiben, als wollten sie für die geringschätzende Art, mit der ihrem Herrn Erwähnung geschehen, Rache üben. Er stand anf, verließ seinen Platz und ging darauf lange Zeit mit gebeugtein Haupt, in tiefe Gedanken versunken, am Rande des Sees spazieren.
Am nächsten Morgen stellte sich Obenreizer in dem Bureau ein. Er fand den Notarius bereits fertig und mit Papieren beschäftigt, die am vergangenen Abend eingegangen waren. In wenigen klaren Worten legte Maitre Voigt die Art und Weise seines Geschäftsbetriebes dar und weihte ihn in die Pflichten ein, die, wie er erwartete, Obenreizer pünktlich erfüllen werde. Es war in fünf Minuten acht Uhr, als er die vorläufigen Instruktionen für beendet erklärte.
»Ich will Ihnen noch das Haus und die Bureau’s zeigen,« sagte« Maitre Voigt, »aber ich muß zuvor die Papiere fortlegen. Sie kommen von der Municipalbehörde und müssen mit mit besonderer Vorsicht aufbewahrt werden.«
Obenreizer erblickte darin die Gelegenheit, den Ort zu erspähen, in dem des alten Advokaten Privatpapiere lägen.
»Kann ich Ihnen nicht die Mühe abnehmen, Sir?« fragte er. »Kann ich nicht die Schriften nach Ihrer Anweisung aufbewahren?«
Maitre Voigt lachte verstohlen in sich hinein, schloß die Brieftasche, in welcher die Papiere ihm übersendet worden waren und händigte sie Obenreizern ein.
»Versuchen Sie einmal,« sagte er. »Ich bewahre alle meine Papiere von Wichtigkeit dort auf.«
Er wies auf eine schwere mit Nägeln beschlagene Eichenthür am unteren Ende des Zimmers. Als Obenreizer sich mit der Brieftasche in der Hand derselben näherte, gewahrte er zu seinem höchsten Erstaunen, daß kein Mittel irgend einer Art vorhanden war, die Thür von außen zu öffnen: keine Klinke, kein Riegel, kein Schlüssel, und was das Auffallendste war, kein Schlüsselloch.
»Es giebt noch eine andere Thür, die zu dem Zimmer führt?« sagte Obenreizer, sich an den Notar wendend.«
»Nein,« erwiderte Maitre Voigt. Rathen Sie weiter.«
»Es giebt ein Fenster?«
»Nichts derartiges. Das Fenster ist zugemauert. Der einzige Zugang zu dem Zimmer ist der durch die Thür. Geben Sie es auf!« rief Maitre Voigt triumphierend. »Horchen Sie einmal genau, mein guter Freund, und sagen Sie mir, ob Sie nichts darinnen vernehmen?«
Obenreizer horchte einen Augenblick gespannt und sprang dann von der Thür zurück.
Ich weiß!« rief er aus. »Ich hörte davon, als ich bei dem Uhrmacher in der Lehre war. Perrin Brüder haben ihr berühmtes Uhrschloß fertig, und Sie haben es gekauft.«
»Bravo!« sagte Maitre Voigt. »Es ist das Uhrschloß. Da, mein Sohn! Da haben Sie eins von jenen Dingen, die die guten Einwohner der Stadt Papa Voigts Tollheiten nennen. Aber wahr bleibt wahr. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Kein Dieb kann meine Schlüssel stehlen; kein Räuber mein Schloß versehren. Keine Macht der Erde, es müßte denn ein Mauerbrecher oder ein Pulverfaß sein, kann die Thür öffnen, wenn nicht meine kleine Schildwache da drinnen —— mein bester Freund Tick Takt, der geht, wie ich es ihm verschreibe —— ruft: »Offen!« Das schwere Thor gehorcht dem kleinen Tick Takt, und der kleine Tick Tack gehorcht mir. Das,« rief Papa Voigt, ein Schnippchen schlagend, »schützt vor allen Dieben in der Christenheit.«
»Kann ich nicht das Uhrwerk in Thätigkeit sehen? fragte Obenreizer. »Verzeihen Sie meine Neugierde, theurer Sir. Sie wissen ja, daß ich früher ein ziemlich brauchbarer Arbeiter im Uhrmacherhandwerk gewesen bin.«
»Gewiß sollen Sie es in Thätigkeit sehen,« sagte Maitre Voigt. »Wie viel Uhr ist es? In einer Minute acht. Warten Sie noch eine Minute, und Sie werden erleben, wie sich die Thür von selber öffnet.«
In einer Minute öffnete sich wirklich das schwere Thon langsam, leise und still, als ob es von unsichtbaren Händen aufgemacht werde, und man erblickte eine dunkle Kammer dahinter. An drei Seiten füllten Büchergestelle die Wände vom Fußboden bis zur Decke, darauf befan den sich Reihen Von Kasten nach Schweizer Art aus Holz gefertigt und hübsch ausgelegt. Sie trugen Inschriften auf den Rücken (die meisten in geschwungenen farbigen Buchstaben) und wiesen die Namen der Clienten des Notarius auf.
Maitre Vogt zündete eine Kerze an und führte Obenreizer in das Zimmer.
»Sie sollen das Uhrwerk sehen,« sagte er stolz. »Ich besitze die größte Merkwürdigkeit in Europa. Nur wenigen Bevorzugten habe ich das Kunstwerk gezeigt. Dem Sohn Ihres lieben Vaters soll dieser Vorzug werden. Sie find einer der wenigen Begünstigten, die mich in das Zimmer begleiten dürfen. Sehen Sie, da ist es. An der rechten Wand, zur Seite der Thür.«
»Eine gewöhnliche Uhr!« rief Obenreizer aus. »Nein, keine gewöhnliche Uhr. Es ist nur ein Zeiger vorhanden.«
»Aha!« sagte Maitre Voigt. »Keine gewöhnliche Uhr, mein Freund. Nein, nein. Der eine Zeiger geht um das Zifferblatt herum. Wenn ich ihn stelle, so bestimme ich dadurch die Stunde, in welcher die Thür sich öffnen soll. Sehen Sie, der Zeiger steht auf acht. Um acht ist die Thür aufgegangen, wie Sie sich selbst überzeugt haben.«
»Kann sie sich öfter als einmal in vierundzwanzig Stunden öffnen?« fragte Obenreizer.«
»Oefter als einmal?« wiederholte der Notarius mit aufsteigender Heftigkeit. »Sie kennen meinen Freund Tick Tack nicht. Er öffnet mir die Thün so oft ich es verlange. Alles, was er begehrt, ist, daß ich ihn stelle. Die Anweisung zum Stellen befindet sich hier. Sehen Sie, unter dem Zifferblatt ist ein stählerner Halbkreis in die Wand eingelassen, und hier der Zeiger, der Regulator genannt, kann ihn einschreiben, gerade so wie meine Hand ihn leitet. Wollen Sie bemerken, daß sich auf dem Halbkreis Ziffern befinden, nach denen ich mich zu richten habe. Die Zahl l bedeutet: Oeffne einmal während vierundzwanzig Stunden. Die Zahl II bedeutet: Oeffne zweimal und so weiter bis zum Ende. Ich stelle den Regulator jeden Morgen, nachdem ich die Briefe gelesen und mein Tagewerk überschauen kann. Macht es Ihnen Freude, ihn stellen zu sehen? Was haben wir heute? Mittwoch. Gut! Heut ist Schützentag und wenig zu thun. Ich setze einen halben Feiertag an. Nach drei Uhr braucht Niemand mehr zu arbeiten. Erst wollen wir die Brieftasche mit den städtischen Papieren fortlegen So! Es ist kein Grund vorhanden, daß Tick Tack die Thür vor acht Uhr morgen früh wieder eröffne. Gut! Ich stelle den Zeiger des Zifferblattes auf acht und den Regulator wieder auf!. Ich mache die Thür zu, und zu bleibt sie, ohne daß es eine Möglichkeit ist, sie wieder zu öffnen bis morgen früh um acht.«
Obenreizers Scharfblick erkannte sogleich, durch welches Mittel das Uhrschloß zu zwingen war, das Zutrauen seines Herrn zu täuschen und seines Herrn Papiere Obenreizer zur Verfügung zu stellen.
»Halt, Sir!« rief er in dem Augenblick, als der Notarius die Thür schließen wollte. »Mir ist, als ob sich etwas zwischen den Kasten bewege —— dort unten am Boden.«
(Maitre Voigt wendete sich einen Augenblick nach den Büchergestellen um. Ja diesem kurzen Augenblick schob Obenreizers gewandte Hand den Regulator von der Zahl I auf die Zahl II. Wenn des Notarius Blick nicht wieder auf den stählernen Halbkreis fiel, so mußte sich die Thür Abends um acht ebenso gut, als am andern Morgen um acht öffnen und niemand als Obenreizer wußte darum.)
»Ich sehe nichts« sagte Maitre Voigt. Der Kummer hat Ihre Nerven angegriffen, mein Sohn. Die Dunkelheit an den Stellen, wo der Kerzenschein nicht hinbringt oder ein Paar kleine vom Licht gescheuchte Käfer, die zwischen den alten Geheimnissen des Advokaten ihr Wesen treiben, mögen Sie getäuscht haben. Horch! Ich höre Ihren Collegen im Büreau. An’s Werk! an’s Werk! Legen Sie heute den ersten Stein zu dem Gebäude Ihres neuen Glückes!«
Er trieb in bester Laune Obenreizern hinaus, löschte die Kerze mit einem letzten zärtlichen Blick auf seine Uhr, der harmlos den Regulator streifte, und machte die Eichenthür zu.
Um drei wurde das Büreau zugeschlossen. Der Notar und jeder in des Notar’s Dienst (einer ausgenommen) eilte fort um das Scheibenschießen mitanzusehen. Obenreizer hatte vorgegeben nicht in der Laune zu sein um eine öffentliche Lustbarkeit mitzumachen und niemand wußte was aus ihm geworden war. Man glaubte, daß er sich still entfernt habe um einsam spazieren zu gehen.
Das Haus und die Büreau’s waren kaum einige Minuten geschlossen, als sich die Thür eines hellfarbigen Kleiderschrankes in des Notarius hellfarbigem Zimmer öffnete und Obenreizer daraus hervorkam. Er ging an das Fenster, machte die Laden auf und überzeugte sich, daß er durch den Garten ungesehen entschlüpfen könne, kehrte dann vom Fenster zurück und nahm in des Notars Lehnstuhl Platz. Er war in dem Hause eingeschlossen und hatte fünf volle Stunden zu warten ehe acht Uhr herankam.
Er brachte die fünf Stunden hin, so gut er konnte. Mitunter las er in den Büchern und Zeitungen, die auf dem Tische lagen, mitunter sann er nach; mitunter ging er in dem Gemach auf und nieder. Die Sonne neigte sich zum Untergang. Er schloß die Fensterladen, ehe er Licht anzündete. Als die Kerze brannte und die ersehnte Zeit näher und näher heranrückte, saß er mit der Uhr in der Hand, die Augen fest auf die Eichenthür gerichtet.
Um acht öffnete sich die Thür langsam still und geräuschlos.
Er las die Namen, den einen nach dem andern, die auf her äußern Kastenreihe standen. Kein solcher Name wie Vendale. Er nahm die äußern Reihen fort und sah die dahinter befindlichen durch. Es waren ältere abgestoßene Kasten. Die ersten vier, die er besichtigte trugen französische und deutsche Namen, der fünfte trug einen Namen, der fast unleserlich geworden war. Er nahm den Kasten zur sorgfältigen Prüfung in das Zimmer hinein. Da stand von Stockflecken und Staub fast unkenntlich der Name: Vendale. Der Schlüssel hing am Kasten. Er schloß auf. Es befanden sich vier lose Blätter Papier darin. Obenreizer breitete dieselben auf dem Tisch aus und begann sie durchzusehen. Als er kaum eine Minute damit beschäftigt gewesen, verwandelte sich der Ausdruck von Spannung und Eifer auf seinem Gesicht in den höchster Verwunderung und Enttäuschung. Nach kurzem Besinnen schrieb er das auf den Papieren Befindliche ab, legte dieselben an ihren früheren Platz, setzte auch den Kasten an seinen früheren Platz, schloß die Thür, löschte die Kerze und stahl sich fort.
Als die Fußtritte des Diebes und Mörders durch den Garten eilten, langte der Notarius und der, der ihn begleitete, bei der vorderen Thür des Hauses an. Die Laternen anf der Straße waren angezündet. Der Notarius hielt den Hausschlüssel in der Hand.
»Bitte, gehen Sie nicht an meinem Hause vorüber, Mir. Bintrey,« sagte er, »Machen Sie mir die Freude und treten Sie ein. Die ganze Stadt hat heute einen halben Feiertag —— es ist Schützenfest —— aber meine Leute werden sogleich zurück sein. Wie drollig, daß Sie mich gerade um den Weg nach dem Hotel befragen mußten! Lassen Sie uns zusammen essen und trinken, ehe Sie dort einkehren.«
»Danke. Nicht heut Abend,« sagte Bintrey. »Darf ich morgen um zehn zu Ihnen kommen?«
»Es ist mir eine Freude, Sir, so bald Gelegenheit zu erhalten, das Unrecht, welches meinem armen Clienten angethan werden soll, von ihm abzuwehren,« erwiderte der gutmüthige Notarius.
»Ja,« entgegnete Bintrey. »Es ist Alles recht gut mit Ihrem armen Freund —— aber —— ein Wort in Ihr Ohr!«
Er flüsterte dem Notarius einige Worte zu und entfernte sich dann. Als die Wirthschafterin des Notars nach Hause kam, fand sie ihren Herrn regungslos vor der Thür stehen mit dem Schlüssel in der Hand und die Thür noch fest verschlossen.
Obenreizer’s Triumph.
Der Schauplatz verwandelt sich und ist wieder am Fuß des Simplon auf der Schweizer Seite.
In einem abscheulichen Zimmer des abscheulichen kleinen Gasthauses zu Brieg saßen Mr. Bintrey und Maitre Voigt zu dem Zweck einer juristischen Berathung bei einander. Mr. Bintrey suchte in seiner Schatulle umher. Maitre Voigt hielt den Blick auf eine geschlossene Thür gerichtet, welche braun angestrichen war, um Mahagoni vorzustellen und zu den inneren Räumen des Gasthauses führte.
»Könnte er nicht schon hier sein?« fragte der Notar, seine Stellung verändernd und sich nach einer zweiten Thür am andern Ende des Zimmers umsehend, welche gelb angestrichen war, um Tannenholz vorzustellen.
»Er ist da!« antwortete Bintrey, nachdem er einen Augenblick gehorcht hatte.«
Die gelbe Thür wurde von einem Kellner geöffnet und Obenreizer trat ein.
Nachdem er Maitre Voigt mit einer Vertraulichkeit begrüßt hatte, welche den Notar nicht wenig in Verlegenheit setzte, verbeugte er sich ernst und mit gemessener Höflichkeit auch vor Bintrey. »Aus welchem Grunde bin ich von Neuschatel an den Fuß der Berge gebracht worden?« fragte er, den Stuhl einnehmend, den ihm der Englische Advocat angeboten hatte.
»Sie werden über diese Frage, noch ehe unsere Unterredung beendet ist, vollständig aufgeklärt sein. Fürs Erste erlauben Sie mir, daß ich sofort zu unsern Geschäften übergehe. Zwischen Ihnen und Ihrer Nichte, Mr. Obenreizer, hat eine Correspondenz stattgefunden. Ich bin hier, um Ihre Nichte zu vertreten.«
»Mit andern Worten, Sie, ein Mann des Gesetzes, sind hier, um eine Uebertretung des Gesetzes zu vertheidigen.«
»Vortrefflich gesagt!« rief Bintrey. »Wenn alle Leute, mit denen ich zu thun habe, wie Sie wären, so würde mein Beruf noch einmal so leicht sein! Ich bin hier, um eine Uebertretung des Gesetzes zu vertheidigen —— so sehen Sie die Sache an. Ich bin hier, um einen Vergleich zwischen Ihnen und Ihrer Nichte herzustellen —— so sehe ich die Sache an.«
»Es gehören zwei Parteien zu einem Vergleich,« erwiderte Obenreizer. »Ich leugne ab, in diesem Falle eine Partei zu sein. Das Gesetz, verleiht mir ein Recht, während ihrer Minderjährigkeit meiner Nichte Handlungen zu überwachen. Sie ist noch nicht großjährig also nehme ich mein Recht in Anspruch.«
Hier wollte Maitre Voigt einen Versuch zum Reden machen, aber Mr. Bintrey beschwichtigte ihn mit liebreichem Ton und Wesen, etwa wie man ein Lieblingskind beruhigt.
»Nein, mein würdiger Freund, nicht ein Wort. Regen Sie sich nicht unnöthig auf; überlassen Sie mir die Verhandlung. Er wendete sich um und richtete seine Rede wieder an Obenreizer.
»Ich kann Sie mit nichts Anderem, als mit Granit vergleichen, Mr. Obenreizer —— und selbst der verwittert im Lauf der Zeiten. Um des Friedens und der Ruhe willen —— um Ihrer selbst willen —— geben Sie ein Weniges nach. Wie, wenn Sie Ihre Rechte auf eine andere Person übertrügen, die ich kenne und der man zutrauen kann, daß sie Ihre Nichte weder Tag noch Nacht außer Augen lassen werde?«
»Sie verschwenden meine und Ihre Zeit nutzlos,« erwiderte Obenreizer. »Wenn meine Nichte nicht binnen acht Tagen meiner Autorität zurückgegeben wird, so rufe ich die Gesetze an. Und weigern Sie sich dann noch, so hole ich sie mit Gewalt.«
Bei den letzten Worten sprang er auf. Maitre Voigt sah sich nach der braunen Thür um, die zu den inneren Räumen führte.
»Haben Sie Mitleid mit dem armen Mädchen,« bat Bintrey. »Bedenken Sie, daß sie erst vor Kurzem ihren Bräutigam durch einen gräßlichen Tod verlor. Kann nichts Sie bewegen?«
»Nichts.«
Bintrey sprang ebenfalls auf und sah Maitre Voigt an. Maitre Voigts Hand, die auf dem Tische lag, fing an zu zittern. Maitre Voigts Augen hafteten, wie durch unwiderstehlichen Zauber gefesselt, an der braunen Thür. Obenreizer, der ihn argwöhnisch beobachtete, blickte gleichfalls dahin.
»Nebenan horcht Jemand,« sagte er mit einem scharfen Seitenblick auf Bintrey.
»Zwei horchen nebenan,« antwortete Bintrey.
»Wer sind die zwei?«
»Sie werden es sehen.«
Als er die Antwort gegeben, erhob er seine Stimme und sprach die beiden Worte —— die beiden gewöhnlichen Worte, die zu jeder Stunde des Tages auf jedermanns Lippen sind: »Kommt herein!«
Die Thür öffnete sich. Von Marguerite unterstützt —— keine Spur der gebräunten Farbe mehr im Antlitz, den rechten Arm in einer Binde über der Brust befestigt —— trat Vendale vor seinen Mörder, ein vom Tode Erstandener.
In der tiefen Stille, die folgte, war der Gesang eines Vogels im Käfig draußen auf dem Hofe, der einzige Laut, der das Schweigen im Zimmer unterbrach. Maitre Voigt stieß Bintrey an und zeigte auf Obenreizer. »Sehen Sie nur!« flüsterte der Notar.
Der Schreck hatte jede Bewegung an dem Körper des Schurken gelähmt. Todtenblässe bedeckte sein Antlitz, Die einzige Spur Von Farbe lag auf den feuchten rothen Streifen, die die Stellen kennzeichneten an denen ihn sein Opfer auf Wange und Hals getroffen hatte. Sprachlos, athemlos, bewegungslos verharrten Augen und Glieder es schien, als ob der Anblick Vendale’s ihn so tödtlich getroffen habe, wie er denselben zu treffen gemeint hatte.
»Es muß ihn einer anreden,« sagte Maitre Voigt. »Soll ich?«
Selbst in diesem Augenblick bestand Bintrey darauf, daß der Notarius schweige, und er die Leitung des Verfahrens selbst in der Hand behalte. Maitre Voigt durch eine Handbewegung zurückhaltend, gab er Margueriten und Vendale in folgenden Worten die Erlaubniß sich zurückzuziehen: »Euer Erscheinen hat das Nöthige gewirkt,« sagte er. »Eure Entfernung wird jetzt dazu dienlich sein, daß Mr. Obenreizer seine Fassung wieder gewinne.«
Sie war dazu dienlich. Als die beiden das Zimmer verlassen hatten und die Thür sich hinter ihnen schloß, that er, wie von einem Druck erleichtert, einen tiefen Athemzug. Er sah sich nach dem Stuhl um, von dem er aufgesprungen war, und sank hinein.
»Lassen Sie ihm Zeit,« bat Maitre Voigt.
»Nein,« sagte Bintrey. »Ich kann nicht wissen, welchen Nutzen er daraus zieht, wenn ich es thue.« Er wendete sich wieder an Obenreizer und begann: »Ich bin es mir schuldig —— bemerken Sie wohl, ich sage nicht, ich bin es Ihnen schuldig —— Rechenschaft abzulegen für mein Eingreifen in diese Angelegenheit und festzustellen was auf meinen Rath und aus meine alleinige Verantwortlichkeit geschehen ist. Können Sie mich hören?«
»Ich höre.«
»Erinnern Sie Sich Ihrer plötzlichen Abreise mit Mr. Vendale nach der Schweiz,« fuhr Bintrey fort. »Sie hatten England kaum vierundzwanzig Stunden verlassen, als Ihre Nichte eine Unvorsichtigkeit beging, die selbst Ihr Scharfblick nicht vorher sehen konnte. Sie folgte ihrem künftigen Gatten auf seiner Reise ohne eines Menschen Rath und Erlaubniß einzuholen und ohne einen bessern Begleiter um sie zu beschützen, als den ersten Kellermeister in Mr. Vendale’s Geschäft.«
»Warum folgte sie mir auf der Reise? Und wie kam der Kellermeister dazu, sie zu begleiten?«
»Sie folgte Ihnen,« antwortete Bintrey, »weil sich der Argwohn ihrer bemächtigt hatte, daß zwischen Ihnen und Mr. Vendale ernstliche Mißhelligkeiten ausgebrochen seien, welche man vor ihr geheim gehalten habe und weil sie Sie für fähig hielt, wenn esIhrem eignen Interesse oder zur Befriedigung Ihrer Rachlust diente, auch ein Verbrechen zu begehen. Was den Kellermeister anbetrifft, so war es derjenige unter den Leuten in Mr. Vendale’s Hause, an den sie sich (in dem Augenblick, wo Sie abgereist waren) gewandt hatte, um in Erfahrung zu bringen, ob zwischen Ihnen umd dem Herrn des Geschäfts irgend etwas vorgefallen sei? Der Kellermeister wußte etwas zu berichten. Ein unverständiger Argwohn, hervorgerufen durch ein geringfügiges Ereigniß, welches seinem Herrn in den Kellerräumen begegnet war, hatte in des Mannes Kopf die Idee festgesetzt, daß sein Herr von Mörderhand bedroht sei. Ihre Nichte lockte ihm das Bekenntniß ab, durch welches das Entsetzen, was sich ihrer bemächtigt hatte, zehnfach gesteigert wurde. Der Mann, nachdem es ihm klar geworden war, welches Unheil er angerichtet hatte, bot, um wieder gut zu machen, was er sich zu Schulden kommen lassen, das einzige an, was er anzubieten vermochte. »Wenn mein Herr in Gefahr ist, Miß sagte er, »so ist es meine Pflicht ihm zu folgen und mehr als meine Pflicht, Sie zu schützen.« Beide machten sich gemeinsam auf —— und so ist zum ersten mal im Leben ein Aberglaube zu etwas gut gewesen. Er brachte Ihre Nichte zu dem Entschluß zu reisen und diente dazu, ein Menschenleben zu retten. Haben Sie mich bis hierher verstanden?«
»Ich habe Sie verstanden.«
»Die erste Kunde von dem Verbrechen, welches Sie begangen haben,« fuhr Mr. Bintrey fort, »wurde mir durch ein Schreiben Ihrer Nichte. Alles, was Sie zu wissen brauchen, ist, daß Miß Margueriten’s Liebe und Muth den Halbermordeten retteten, und sie bei den Anstrengungen getreulich half, die gemacht wurden, um ihn wieder in’s Leben zurückzurufen. Während er hilflos in Brieg darniederlag, bat sie mich schriftlich, zu ihm zu kommen. Ehe ich abfuhr, theilte ich Madame Dor mit, daß ich erfahren, habe, Miß Obenreizer sei gesund, und daß ich wisse, wo, sie sich aufhalte. Madame Dor erzählte mir dagegen, wie ein Brief an Ihre Nichte ein getroffen sei, auf dem sie Ihre Handschrift erkenne. Ich bemächtigte mich seiner und verabredete mit ihr, wohin sie alle Briefe die möglicherweise noch nachfolgen könnten, zu senden habe. In Brieg angekommen fand ich Vendale außer Gefahr und erbot mich, sogleich einen Tag herbeizuführen, an dem mit Ihnen abgerechnet werden sollte. Defresnier und Co. kündigten Ihnen, weil sie dringenden Argwohn hegten; sie handelten, von einer Erklärung beeinflußt, die ich privatim an sie habe ergehen lassen. Nachdem ich Ihren falschen Charakter dargelegt hatte, mußte es mein nächstes Streben sein, Ihnen das gesetzliche Recht über Ihre Nichte zu entziehen. Um das zu erreichen, machte ich mir kein Gewissen daraus, im Dunkeln die Grube der Ihren Füßen zu graben, —— ja, ich empfand eine gewisse Freude daran, sie mit Ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. Auf meinen Rath wurde die Wahrheit bis zu diesem Tag sorgfältig vor Ihnen verborgen, auf meinen Rath die Falle, in die Sie sich gefangen haben, an diesen Ort aufgestellt, Sie wissen jetzt, so gut wie ich warum? Es gab nur einen sichern Weg die teuflische Selbstbeherrschung, durch die Sie unüberwindlich sind, zu erschüttern. Dieser Weg ist eingeschlagen worden und (mögen Sie mich ansehen, wie Sie wollen) hat zum Ziele geführt. Das Letzte, was nach zu thun übrig bleibt,« schloß Bintrey, zwei schmale beschriebene Zettel aus seiner Schatulle hervorziehend, »ist, Ihre Nichte von Ihnen los zu machen. Sie haben einen Mordversuch und Sie haben einen Diebstahl und eine Fälschung begangen. Wir haben in beiden Fällen die Beweise gegen Sie in Händen. Wenn Sie des Verbrechens überführt sind, so wissen Sie so gut wie ich, was aus Ihren gesetzlichen Rechten über Ihre Nichte wird. Ich für meine Person würde dieses Verfahren in der Sache eingeschlagen haben. Aber Rücksichten, denen ich mich nicht entziehen kann, bestimmen mich dahin, diese Unterredung, wie ich schon gesagt hahe, mit einem Vergleich endigen zu lassen. Unterzeichnen Sie diese Zeilen. Entsagen Sie allen Rechten über Miß Obenreizer, verpflichten Sie sich dahin, niemals wieder in England oder der Schweiz betroffen zu werden, und ich will Ihnen eine Straflosigkeitserklärung ausstellen, welche Sie vor jeder ferneren Verfolgung sicher stellt.«
Obenreizer nahm schweigend die Feder und unterzeichnete die Freigebung seiner Nichte. Bei dem Empfang der Straflosigkeitserklärung erhob er sich, aber machte keine Miene, das Zimmer zu verlassen. Er stand und sah Maitre Voigt mit seltsamem Lächeln auf den Lippen und einem seltsamen Aufleuchten in den überschatteten Augen an.«
»Worauf warten Sie noch?« fragte Bintrey.
Obenreizer deutete auf die braune Thür. »Rufen Sie sie zurück,« antwortete er. »Ich habe, ehe ich fortgehe, noch etwas in Gegenwart der Beiden zu sagen.«
»Sagen Sie es in meiner Gegenwart,« erwiderte Bintrey. »Ich verweigerte, sie zurückzurufen.«
Obenreizer wendete sich an Maitre Voigt. »Erinnern Sie sich, daß Sie mir, als ich das erste Mal bei Ihuen war, mitteilten, einst einen Clienten Namens Vendale gehabt zu haben?« fragte er.
»Nun,« antwortete der Notarius. »Was hat es damit für Bewandtniß?«
»Maitre Voigt, Ihr Uhrschloß hat Sie betrogen.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Daß ich die Briefe und Certificata welche sich in dem Kasten Ihres Clienten befinden, gelesen habe. Ich habe Copien davon abgenommen. Ich habe dieselben bei mir. Ist Grund oder ist kein Grund vorhanden, die Beiden im Nebenzimmer zurückzurufen?«
Für einen Augenblick sah der Notarius vor Erstaunen rathlos, zwischen Bintrey und Obenreizer hin und her. Als er sich gesammelt hatte, nahm er seinen Collegen bei Seite und flüsterte ihm schleunig wenige Worte in’s Ohr. Bintrey’s Antlitz das genau die Verwunderung auf dem Antlitz Maitre Voigtis widerspiegelte —— fing plötzlich an seinen Ausdruck zu verändern. Er eilte mit der Behendigkeit eines Jünglings an die Thüre; die nach den inneren Gemächern führte, trat durch dieselbe in das Nebenzimmer und verweilte eine Minute darin. Darauf kehrte er von Marguerite und Vendale begleitet zurück. »Nun, Mr. Obenreizer,« sagte Bintrey. »Der letzte Zug in dem Spiele ist der Ihre. Thun Sie ihn.«
»Ehe ich aus das Amt des Vormundes dieser jungen Dame Verzicht leiste,« sagte Obenreizer, »habe ich noch ein Geheimniß zu enthüllen, bei dem sie mit interessirt ist. Ich beanspruche nicht, daß sie oder eine Von den andern hier anwesenden Personen meiner bloßen Erzählung Glauben schenken. Ich bin in Besitz von geschriebenen Beweisen, von Copien der Originale, deren Richtigkeit Maitre Voigt bezeugen kann. Behalten Sie das im Gedächtniß und erlauben Sie mir, Sie im Beginn meiner Erzählung auf ein längst vergangenes Datum zurückzuweisen —— auf den Monat Februar im Jahre ein Tausend achthundert und sechsunddreißig.«
»Merken Sie auf das Datum, Mr. Vendale,« sagte Bintrey.
»Mein erster Beweis!« fuhr Obenreizer fort, aus seinem Taschenbuch ein Blatt Papier nehmend. »Abschrift eines Briefes, der von einer englischen Dame an ihre Schwester, eine Wittwe, geschrieben ist. Den Namen der Schreiberin behalte ich für mich, bis ich geendet haben werde. Den Namen der Empfängerin dagegen bin ich willens aufzudecken. Die Adresse des Briefes lautet:
»Mrs. Jane Anne Miller, of Groombridge-wells, England.«
Vendale fuhr zurück und öffnete seine Lippen, um zu sprechen, Bintrey verhinderte ihn daran, wie er Maitre Voigt verhindert hatte. »Nein,« sagte der eigensinnige Advocat. »Ueberlassen Sie es mir.«
Obenreizer fuhr fort:
»Es ist unnütz, Sie mit der ersten Hälfte des Briefes zu langweilen,« sagte er. »Ich kann den Inhalt in zwei Worten wiedergeben. Der Schreiberin Verhältnisse sind folgende: Sie hat lange Zeit mit ihrem Mann, dessen Gesundheit es erfordern, in der Schweiz gelebt. Beide stehen im Begriff sich etwa in einer Woche an den Neuschateller See zu begeben und wollen sich bereit halten, Mrs. Miller in vierzehn Tagen nach ihrem Eintreffen am See, als Gast zu empfangen. Danach geht die Schreiberin auf wichtige häusliche Interessen ein. Ihre Ehe ist kinderlos, sie und ihr Gatte haben seht keine Aussicht mehr Kinder zu bekommen. Sie sind allein und ihnen fehlt ein Lebensinteresse. Sie haben sich entschlossen, ein Kind anzunehmen. Hier fängt der bedeutsame Theil des Briefes an, von hier ab werde ich ihn Wort für Wort vorlesen.«
Er schlug die erste Seite des Briefes um und las wie folgt:
» . . . Willst Du, meine liebe Schwester, uns bei der Ausführung unseres Planes behilflich sein? Da wir Engländer sind, so möchten wir gern ein Englisches Kind erziehen. Ein solches läßt sich, wie ich höre, aus dem Findelhause entnehmen, der Geschäftsführer meines Mannes in London wird Dir mitteilen, wie es zu bewerkstelligen ist. Ich überlasse Dir die Wahl und stelle nur die einzige Bedingung —— daß das Kind noch nicht ein Jahr alt und ein Knabe sei. Ich bitte der großen Mühe wegen, die ich Dir mache, um Verzeihung, und bitte ferner so gut zu sein, das angenommene Kind nebst Deinen eigenen Kindern mit nach Neuschatel zu bringen, wenn Du zu uns kommst.
»Ich muß noch ein Wort über die Wünsche meines Mannes in dieser Angelegenheit hinzufügen. Er ist entschlossen, dem Kinde, welches wir zu unserm eignen machen, jede Beschämung und jeden Mangel an Selbstachtung die ihm die Entdeckung seines wahren Ursprungs später verursachen könnten, zu ersparen. Es soll den Namen meines Mannes führen und in dem Glauben auferzogen werden, daß er in der That unser Sohn sei. Die Erbschaft von dem, was wir besitzen soll ihm gesichert werden —— nicht allein in der Form, die die Englischen Gesetze in solchem Fall verlangen, sondern auch in der Form, die die Schweizer Gesetze vorschreiben, denn wir haben so lange in diesem Lande gelebt, daß es die Frage ist, ob man uns nicht für in der Schweiz Ansässige betrachtet. Das einzige, was noch zu thun übrig bleibt, ist, Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen, um eine Entdeckung, die vielleicht vom Findelhause ausgehen könnte, zu verhindern. Unser Name ist ein sehr ungewöhnlicher und wenn derselbe in den Registern der Anstalt als der Name Diejenigen aufgezeichnet wird, die das Kind angenommen haben, so wäre dabei eine Gefahr für die Folge zu fürchten. Dein Name, meine liebe Schwester, ist der Name vieler tausend Menschen, und wenn Du einwilligtest, den Deinen in das Register zu setzen, so wären wir von der Seite her vor jeder Entdeckung gesichert. Wir begeben uns, nach der Verordnung des Arztes, in einen Theil der Schweiz, wo unsere Verhältnisse gänzlich unbekannt sind und Du, wie ich verstanden habe, bist im Begriff, Dir für die Reise ein neues Kindermädchen zu miethen. Unter diesen Umständen kann das Kind für mein Kind gelten, welches unter der Obhut meiner Schwester zu mir gebracht wird. Die einzige Magd, welche ich aus der alten Behausung mit mir nehme, ist meine Jungfer, in die ich vollständiges Vertrauen setze. Was unsere Advocaten in England und der Schweiz anbelangt, so sind es Leute, deren Beruf Verschwiegenheit verlangt —— und wir können nach dieser Richtung hin ganz unbesorgt sein. Jetzt liegt unsre kleine Verschwörung ganz vor Dir. Schreibe mir umgebend, meine liebe Schwester, um mir zu versichern, daß Du mit uns im Bunde sein willst.« ....
»Halten Sie noch mit dem Namen der Schreiberin des Briefes zurück?« fragte Vendale.
»Ich behalte den Namen bis zum Schluß für mich,« antwortete Obenreizer, »und gehe zu meinem zweiten Beweise über. Ein kleines Blatt Papier diesmal, wie Sie sehen. Eine Notiz, welche dem Schweizer Advocaten gegeben worden, der die in dem von mir vorgelesenen Brief erwähnten Documente, aufgesetzt hat. Sie lautet folgender Maßen:
»Aus dem Findelhaufe in England am 3. März 1836 einen Knaben angenommen, der in der Anstalt Walter Wilding hieß. Die Person, welche das Kind adoptirt hat, ist in dem Register als Mrs. Anne Jane Millen Wittwe, verzeichnet, welche in dieser Angelegenheit für ihre verheirathete, sich in der Schweiz aufhaltende Schwester eingetreten ist. Gelduld!« fuhr Obenreizer fort, als Vendale, sich von Bintrey losmachend, aufsprang. »Ich werde den Namen nicht lange mehr verschweigen. Noch zwei kleine Blättchen Papier und ich bin zu Ende. Dritter Beweis! Certificat des Doktors Ganz, desselben, der noch in Neuschatel prakticirt, vom Juli 1838 datiert. Der Doctor stellt das Zeugnis; aus, (Sie werden es Alle gleich selbst lesen) erstens, daß er den angenommenen Knaben in seinen Kinderkrankheiten behandelt hat; zweitens, daß ein Vierteljahr vor der Ausstellung dieses Certificates der Herr, der das Kind an Sohnes statt adoptierte, gestorben ist; drittens, daß am Tage, an dem das Certificat ausgestellt ist, die Wittwe in Begleitung ihrer Jungfer und des angenommenen Knaben Neuschatel verlassen hat, um nach England zurückzukehren. Noch ein Glied ist nöthig hinzuzufügen, und die Kette meiner Beweise ist geschlossen. Die Jungfer blieb bei ihrer Herrin bis zu dem Tode derselben, der wenige Jahre nachher erfolgte. Die Magd kann die Identität des angenommenen Knaben beschwören. Sie kennt ihn von seiner Kinder- bis zu seiner Jünglingszeit, von seiner Jünglingszeit bis zum Mannesalter, in dem er jetzt steht. Hier ist ihr Adresse in England —— und, Mr. Vendale, zugleich der vierte und letzte Beweis.«
»Warum richten Sie Ihre Rede an mich »?« fragte Vendale, als Obenreizer die geschriebene Adresse auf den Tisch warf.
Obenreizer wendete sich mit plötzlich ausbrechendem, fast wahnsinnigen Triumph zu ihm hin:
»Weil Sie der Mann sind! Wenn meine Nichte Sie heirathen so heirathet sie einen Bastard, der von der öffentlichen Mildthätigkeit erzogen worden ist. Wenn meine Nichte Sie heirathet, so heirathet sie einen Betrüger ohne Namen und Abstammung, der sich für einen Gentleman von Rang und Familie ausgiebt.«
»Bravo!« rief Bintrey. »Vortrefflich ausgedacht, Mr. Obenreizer! Es fehlt nur ein Wort zur Vervollständigung des Ganzen. Sie heirathet —— wie es Dank Ihren Anstrengungen zu Tage gekommen ist —— einen Mann, der ein schönes Vermögen erbt und einen Mann, dessen Ursprung ihn stolzer, wie je auf das Bauernkind machen wird, das er sein Weib nennen will. George Vendale, als gemeinsame Testamentsvollstrecker wollen wir uns gegenseitig Glück wünschen. Unsres theuren verstorbenen Freundes letzter Wunsch auf Erden ist erfüllt. Wir haben den verlorenen Walter Wilding aufgefunden. Wie Mr. Obenreizer sagte —— Sie sind der Mann!«
Die Worte blieben von Vendale unbeachtet. Er war sich für den Augenblick nur einer Empfindung bewußt und hörte nur eine Stimme. Marguerites Hand drückte die seinige, Marguerites Stimme flüsterte ihm zu! »Ich habe Dich nie so geliebt, George, wie ich Dich jetzt liebe!«
Der Vorhang fällt.
Maitag. Ein vergnügtes Treiben ist in Cripple Corner, die Kamine rauchen, der patriarchalische Speisesaal ist mit Blumenkränzen geschmückt und Mrs. Goldstraw, die ehrenwerthe Haushälterin äußerst geschäftig, denn an diesem strahlenden Morgen wird der junge Herr von Cripple Cornet mit seiner jungen Gattin getraut, weit von hier: in der Schweiz, in dem kleinen Städtchen Brieg, am Fuße des Simplon, auf dem sie ihrem Geliebten das Leben gerettet hat.
Lustig läuteten die Glocken in dem Städtchen Brieg, Fahnen waren in den Straßen aufgesteckt Büchsenschüsse wurden gehört und Musik von Blechinstrumenten ertönte. Mit Wimpeln geschmückte Weinfässer rollte man unter ein großes Zeltdach auf den Platz vor dem Gasthaus; es sollte umsonst geschmaust und in Saus und Braus gelebt werden. Welche Fülle von Glockengeläut und Fahnen! Teppiche hängen aus den Fenstern, Schüsse knallen, Blechmusik hallt von allen Seiten wieder. Die kleine Stadt Brieg ist im Taumel, wie die Herzen ihrer einfachen Bewohner.
Die letzte Nacht war eine stürmische gewesen, sie hatte die Berge mit Schnee bedeckt. Aber heute scheint die Sonne glänzend, die milde Luft ist klar, die blanken Kirchthumspitzen der kleinen Stadt Brieg strahlen wie Silber und die Alpen sehen aus, wie weiße Wolkenreihen, die sich auf dem blauen Himmel abheben.
Die einfachen Bewohner der kleinen Stadt Brieg haben eine Ehrenpforte aus grünen Zweigen auf der Straße errichtet, durch welche das neuvermählte Paar, wenn es aus der Kirche kommt im Triumph hindurchziehen soll. Sie trägt nach der Kirchenseite hin die Inschrift: Ehre und Liebe Margueriten Vendale! denn die Leute sind stolz auf sie und für sie begeistert. Die Begrüßung unter ihrem neuen Namen ist eine gut gemeinte Ueberraschung und darum war die Einrichtung getroffen, daß sie, ohne zu wissen warum, auf einem Seitenweg in die Kirche geführt werden sollte; ein Vorhaben, was in der kleinen bergigen Stadt Brieg nicht leicht auszuführen war.
Alles ist in Ordnung, Alles geht und kommt zu Fuß. Im besten Zimmer des Gasthauses, welches festlich ausgeschmückt ist, sind versammelt: die Braut und der Bräutigam, der Neuschateller Notar, der Londoner Advocat, Madame Dor und ein gewisser geheimnißvoller Engländer, allgemein unter dem Namen Monsieur Zhoe —— Ladella bekannt. Seht Madame Dor in einem Paar fleckenloser Handschuhe, die ihr selbst gehören, nicht mit einer Hand in der Luft, sondern beide Arme unt den Hals der Braut geschlungen! Bei dieser Umarmung hatte Madame Dor den Versammelten ihren breiten Rücken zugekehrt, der noch in voller Kraft bestand.
»Vergeben Sie mir, meine Einzige,« bat Madame Dor, »daß ich jemals die Katze gespielt habe.«
»Die Katze, Madame Dor?«
»Eigens dazu angenommen, um mein liebes Mäuschen zu bewachen,« lautete Madame Dor’s Erklärung, welche sie mit einem Seufzer der Reue abgab.
»Aber, Sie sind unsre beste Freundin gewesen! Lieber George, versichere es Madame Dor. Ist sie nicht unsre beste Freundin gewesen?«
»Ohne Zweifel, mein Liebling. Wie wäre es uns ohne Sie ergangen?«
»Sie sind beide großmüthig,« rief Madame Dor, den Trost gern vernehmend und ihn doch zu gleicher Zeit von sich weisend. »Anfänglich habe ich doch die Katze gespielt.«
»Aber die Katze im Feenmärchen, liebe Madame Dor,« sagte Vendale ihre Wange küssend. »Sie sind eine redliche Frau und weil Sie eine redliche Frau sind, so fühlt Ihr Herz Theilnahme für wahre Liebe.«
»Ich möchte Madame Dor ihres Antheiles an den Umarmungem die hier vor sich gehen, nicht berauben,« warf Mr. Bintrey, der die Uhr in der Hand hielt, ein, »und ich bin fern davon, Einwendungen zu machen gegen die Art, sich in der Ecke, wie die drei Grazien zusammenzudrängen; ich will nur bemerken, daß es wohl an der Zeit wäre, sich auf den Weg zu machen. Wie sind Ihre Ansichten über den Gegenstand, Mr. Ladle?«
»Sehr klar, Sir,« erwiderte Joey mit seinem anmuthigsten Grinsen. Ich bin im Ganzen genommen jetzt viel klarer, weil ich so lange auf der Oberfläche gelebt habe. Ich bin niemals halb so lange Zeit auf der Oberfläche gewesen, Sir, aber es hat mir gut gethan. In Cripple Corner bin ich zu tief unten und auf der Spitze des Simplon ein gutes Stück zu weit oben gewesen. Die richtige Mitte, glaube ich, ist hier, Sir und wenn ich je in gesellige Lustbarkeit einstimme während den Tagen, die ich noch zu leben habe, so denke ich es heut zu thun, bei dem Toast: Gott segne Beide.«
»Ich auch!« sagte Bintrey. »Und jetzt Monsieur Voigt wollen wir beide zwei Marsellaiser darstellen: Allons, marchons Arm in Arm!«
Sie gingen zur Thür hinaus, wo Andre sie erwarteten und sie begaben sich friedlich in die Kirche, in der die Trauung des glücklichen Paares statt fand. Während die Ceremonie vor sich ging, wurde der Notar herausgerufen und kehrte erst zurück als sie beendet war. Sich hinter Vendale stellend klopfte er demselben auf die Schulter.«
»Gehen Sie einen Augenblick an die Seitenthür der Kirche, Monsieur Vendale. Allein. Lassen Sie Madame bei mir zurück.«
Vor der bezeichneten Thür standen die beiden uns wohlbekannten Männer aus dem Hospiz. Sie waren mit Schnee bedeckt und den der Wanderung ermüdet. Sie wünschten ihm Glück, dann legte jeder seine große Hand auf Vendales Brust und während der eine demselben fest in’s Auge sah; sagte der andere mit leiser Stimme:«
»Sie ist hier, Monsieur. Ihre Bahre. Ganz dieselbe.«
»Meine Bahre? Warum?«
»Still! daß Madame es nicht höre. Ihr Reisegefährte ——«
»Was ist mit ihm?«
Der Mann sah seinen Cameraden an, der Camerad fuhr in dem Bericht fort. Sie ließen die Hände auf Vendale’s Brust liegen.
»Er hat mehrere Tage im ersten Schutzhaus zugebracht, Monsieur. Das Wetter war bald gut, bald schlecht.«
»So?«
»Er langte vorgestern in unserm Hospiz an und, nachdem er sich auf dem Boden vor dem Feuer liegend in seinen Mantel eingehüllt, durch Schlaf erfrischt hatte, war er entschlossen weiter zu gehen, um noch vor Eintritt der Dunkelheit das andere Hospiz zu erreichen. Er hatte große Furcht vor jenem Theil des Weges und glaubte, es würde schlechtes Wetter geben.«
»So?«
»Er machte sich allein auf den Weg und hatte kaum die Galerie durchschritten, als eine Lawine —— gerade wie die, welche unfern der Gantherbrücke hinter Ihnen niederfiel ——«
»Ihn tödtete?«
»Wir gruben ihn aus. Er war erstickt und alle Glieder waren ihm gebrochen. Aber, Monsieur, um auf Madame zu kommen. Wir haben ihn auf einer Bahre hergetragen, weil wir ihn hier begraben wollen. Wir müssen mit ihm die Straße herauf, aber Madame darf es nicht sehen. Es würde Unheil bringen, wenn wir die Leiche durch die Ehrenpforte trügen, ehe Madame hindurch gegangen ist. Wir wollen die Bahre auf das Pflaster niedersetzen, von hier gerechnet in der zweiten Querstraße rechter Hand. Wir wollen uns alle vorstellen. Daß Madame sich nicht umsieht nach der zweiten Querstraße rechter Hand! »Es ist keine Zeit zu verlieren. Madame wird sich über Ihr Ausbleiben beunruhigen. Adieu!«
Vendale kehrte zu seiner Braut zurück und zog ihre Hand unter seinen völlig geheilten Arm. Ein hübsches Gefolge wartete ihrer vor dem Hauptportal der Kirche. Sie nahmen ihren Platz an der Spitze des Zuges ein und stiegen die Straße hinab unter dem Läuten der Glocken, dem Abfeuern der Gewehre, dem Flattern der Fahnen, dem Schmettern der Instrumente, dem Vivatrufen, Lachen und Weinen der ganzen aufgeregten Stadt. Die Hüte flogen ab, wo sie vorübergingen, man küßte der Braut die Hände, das ganze Volk jubelte ihr zu: »Des Himmels Segen über das theure Kind! Sieh, dort geht sie in Schönheit und Jugend, sie, die so großherzig sein Leben gerettet hat!«
Nicht weit von der zweiten Straße, rechter Hand, sprach er mit ihr und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Fenster der entgegengesetzten Seite. Als sie bei der Ecke vorüber waren sagte er: »Sieh Dich nicht um, mein Liebling. Ich habe meine Gründe zu der Bitte,« und wendete den Kopf zurück. Da, wie er die Straße hinauf sah, erblickte er die Bahre und ihre Träger allein durch den grünen Bogen gehen, während er und sie und der Hochzeitszug hinab schritten dem glänzenden Thal entgegen.
E n d e