Die Blinde



Erstes Kapitel - Madame Pratolungo introducirt sich

Die Begebenheit, welche hier erzählt werden soll, trug sich vor einigen Jahren in einem entfernten Winkel Englands zu.

Die bei dieser Begebenheit mitwirkenden Hauptpersonen sind ein blindes Mädchen, zwei Zwillingsbrüder, ein geschickter Chirurg und eine sonderbare Ausländerin. Diese sonderbare Ausländerin bin ich selbst. Und ich übernehme es aus Gründen, die ich gleich näher angeben werde, selbst, die Geschichte zu erzählen. Zuvor aber will ich den Leser in möglichster Kürze mit meiner Person bekannt machen.

Mein Name ist Pratolungo; ich bin die Wittwe des berühmten südamerikanischen Patrioten Doctor Pratolungo. Von Geburt bin ich Französin. Bevor ich die Gattin des Doctor Pratolungo wurde, hatte ich viele Wechselfälle in meinem Vaterlande durchzumachen. Dieselben endigten damit, daß ich in einem ziemlich gesetzten Alter mir einige Weltkenntniß erworben, mich zu einer tüchtigen Klavierspielerin ausgebildet hatte und ein hübsches kleines Vermögen, welches mir wie meinem guten Papa und meinen jüngern Schwestern unerwarteter Weise von einem Verwandten meiner lieben verstorbenen Mutter hinterlassen worden war, besaß. Zu diesen Eigenschaften gesellte sich noch eine andere, die schätzbarste von allen ins den Augen meines zukünftigen Mannes: eine Durchdringung mit ultraliberalen Principien. Vive la republique!

Die Menschen feiern das Ereigniß ihrer Verheirathung auf verschiedene Weise. Doctor Pratolungo und ich schifften uns nach unserer Verheirathung nach Central Amerika ein und widmeten unsere Flitterwochen in jenen aufrührerischen Gegenden der heiligen Pflicht, Tyrannen zu stürzen.

Die Lebensluft meines edlen Gatten war die Luft der Revolutionen. Seit seiner frühen Jugend hatte er den ruhmwürdigen Beruf eines Patrioten erwählt. Wo immer das Volk im Süden der neuen Welt aufstand und seine Unabhängigkeit erklärte — und in meiner Zeit that jene feurige Bevölkerung das unablässig — weihte der Doctor sich selbst auf dem Altar seines Adoptivvaterlandes. Er war schon fünfzehnmal verbannt und in contumaciam zum Tode verurtheilt worden, als ich ihn in Paris kennen lernte — das Bild heroischer Armuth mit brauner Hautfarbe und einem lahmen Bein. Wie war es möglich, sich in einen solchen Mann nicht zu verlieben? Ich war stolz, als er mir den Antrag machte; gleich ihm mich dem Dienste seines Adovtivvaterlandes zu weihen mich und mein Geld. Denn ach! Alles in dieser Welt kostet Geld, auch der Sturz der Tyrannen und die Rettung der Freiheit. all’mein Geld wurde auf die Unterstützung der heiligen Sache des Volkes verwendet Dictatoren und Flibustier gediehen uns zum Trotz. Noch bevor wir ein Jahr verheirathet waren, mußte der Doctor zum sechszehnten Male fliehen, um der Ausführung eines in sicherer Aussicht stehenden Todesurtheils zu entgehen. Mein Gatte in contumaciam zum Tode verurtheilt! Ich von allen Mitteln entblößt! Das war der Dank der Republik für unsere Aufopferung, so belohnte uns die Republik. Und doch liebe ich die Republik. Und ihr monarchisch gesinnten Menschen, die ihr Euch wohlgenährt und behäbig unter das Joch der Tyrannen beugt, respectirt das!

Dieses Mal suchten wir eine Zufluchtsstätte in England. Die Angelegenheiten Central Amerika’s nahmen ohne uns ihren Fortgang.

Ich dachte daran, Musikunterricht zu geben, aber mein hochberühmter Gatte wollte mich nicht von seiner Seite lassen und ich glaube, wir würden Hungers gestorben sein und zu einem traurigen kleinen Artikel in den englischen Blättern Veranlassung gegeben haben, wenn die Sache nicht anders gekommen wäre.

Mein armer Pratolungo war in Wahrheit gänzlich erschöpft. Er erlag seiner sechszehnten Verbannung und hinterließ mir als Wittwe nichts als seine edlen Gesinnungen. Ich kehrte auf kurze Zeit nach Paris zu meinem guten Vater und meinen Schwestern zurück. Aber es lag nicht in meiner Art, ihnen längere Zeit zur Last zu fallen. Ich kehrte mit Empfehlungen versehen wieder nach London zurück und hatte bei dem Versuch, mir auf ehrenvolle Weise mein Brod zu verdienen, mit unbegreiflichen Widerwärtigkeiten zu kämpfen. Von all, dem Reichthum um mich her, von all’dem verschwenderischen, insolentem prahlerischen Reichthum kam nichts auf mein Theil. Welches Recht hat irgend ein Mensch, reich zu sein? Beweise es mir doch, wenn Ihr könnt, daß irgend ein Mensch ein Recht darauf hat.

Ich will mich nicht bei der Erzählung meiner Widerwärtigkeiten aufhalten, es wird genügen, wenn ich sage, daß ich eines Morgens außer drei Pfund sieben Schilling und vier Pence in meiner Börse, meinem vortrefflichen Temperament und meinen republikanischen Principien, absolut nichts besaß und keine Aussicht hatte, auch nur einen Schilling zu bekommen, wenn ich ihn nicht selbst verdiente. Was thut eine rechtschaffene Frau, welche entschlossen ist, sich durch ihre Arbeit Selbstständigkeit zu erringen, in einer so traurigen Lage? Sie nimmt drei Pfund sechs Schilling aus ihrer bescheidenen kleinen Baarschaft und annoncirt sich in einer Zeitung. Man annoncirt immer seine besten Seiten. O, arme Menschheit! Meine beste Seite war die musikalische. In den Tagen meiner wechselnden Schicksale vor meiner Verheirathung hatte ich zu einer Zeit einen Antheil an einer Modewaarenhandlung in Lyon gehabt; zu einer anderen Zeit war ich Kammerfrau bei einer großen Dame in Paris gewesen; aber in meiner gegenwärtigen Lage waren diese Seiten aus verschiedenen Gründen nicht so präsentabel wie meine musikalische Seite. Ich war keine große Clavierspielerin — weit entfernt! Aber ich war gut unterrichtet und besaß, was man eine anständige Fertigkeit auf dem Clavier nennt. Kurz, ich stellte mich so günstig wie möglich in meiner Annonce dar. Am nächsten Tage borgte ich mir die Zeitungen, um mir die stolze Freude zu verschaffen, mein Geisteserzeugniß gedruckt zu lesen.

Und was entdeckte ich da? Ich fand, was andere unglückliche auf Zeitungsannoncen angewiesene Leute schon vor mir gefunden haben, gerade über meiner Anzeige befand sich eine andere, in welcher gerade das, was ich anbot, gesucht wurde. Man werfe einen Blick in irgend eine Zeitung und man wird finden, daß einander ganz fremde Menschen genau zu einander passen, indem sie ihre Dienste gegenseitig suchen und anbieten, ohne etwas von einander zu wissen. Ich hatte mich annoncirt als:,,Eine höchst musikalische, mit heiterem Temperament begabte Gesellschafterin für eine Dame.« Und da stand gerade über mir ein mir unbekannter hilfsbedürftiger Nebenmensch, der in gedruckten Lettern seinen Hülferuf ergehen ließ nach: »Einer Gesellschafterin für eine Dame, welche sehr musikalisch und von heiterem Temperamente sein muß. Fähigkeitszeugnisse und ausgezeichnete Empfehlungen sind erforderlich.« Das war ja genau das, als was ich mich annoncirt hattet »Reflectirende wollen sich sofort schriftlich melden.« Wieder genau wie in meiner Anzeige! Pfui über mich! Ich hatte drei Pfund sechs Schilling umsonst ausgegeben. Ich warf die Zeitung wie eine Närrin auf den Boden — hob sie dann wie eine verständige Frau wieder aus und meldete mich schriftlich zu der vacanten Stelle.

Mein Brief brachte mich mit einem Advocaten in Berührung Er hüllte sich in ein geheimnißvolles Dunkels es schien bei ihm zu einer berufsmäßigen Gewohnheit geworden zu sein, niemandem irgend etwas mitzutheilen.

Nur tropfenweise machte mich dieser langweilige Mensch mit den Verhältnissen bekannt. Die Dame war ein junges Mädchen, sie war die Tochter eines Geistlichen, sie lebte in stiller Zurückgezogenheit auf dem Lande, ja sie lebte im Hause selbst noch zurückgezogen in einem besonderen Theil desselben. Ihr Vater hatte sich zum zweiten Male verheirathet. Nachdem er aus seiner ersten Ehe außer der jungen Dame keine andern Kinder gehabt, hatte er, vermuthlich zur Abwechselung, eine große Familie aus zweiter Ehe. Umstände machten es für die junge Dame nothwendig, sich von dem geräuschvollen Treiben eines Hauses voll Kinder so entfernt wie möglich zu halten. In dieser Weise ging er mit seinen Mittheilungen vor, bis er nothgedrungen damit herausrücken mußte: die junge Dame sei — blind!

Jung — einsam — blind! Es überkam mich plötzlich wie eine Inspiration Ich fühlte, ich würde dieses Mädchen lieben.

Die Frage nach meinen musikalischen Leistungen gestaltete sich in diesem traurigen Falle zu einer ernsthaften. Das Einzige, was dem armen jungen Mädchen zur Freude gereichte und ihr dunkles Leben erhellte, war Musik. Ihre Gesellschafterin sollte die Werke der großen Meister, welche die Blinde verehrte, gut vom Blatt spielen können und sie würde sich neben die Spielende setzen und zuhören, um dann mach dem Gehör jedes Musikstück nachzuspielen. Ein Musiker von Fach sollte mich prüfen und erklären, ob ich im Stande sei, Mozart, Beethoven und die andern Meister, welche für das Klavier geschrieben haben, gut vorzutragen. Ich bestand diese Prüfung glücklich. Meine Empfehlungen sprachen für sich selbst. Der Advorat selbst, so gern er es auch wollte, konnte nichts daran auszusetzen finden.

Wir kamen überein, daß ich so bald wie möglich zur Probe auf einen Monat zu der jungen Dame reisen solle. Wenn wir uns beide Convenirten so sollte ich nach Ablauf dieser Zeit unter für mich durchaus befriedigenden Bedingungen bleiben. Das war unser Abkommen.

Am nächsten Tage reiste ich mit der Eisenbahn ab. Meinen Instructionen gemäß sollte ich nach der Stadt Lewes in Sussex reisen, dort nach dem Ponnywagen des Vaters meiner jungen Damen fragen, der auf seiner Karte bezeichnet war: Sr. Ehrwürden Tertius Finch. Der Wagen sollte mich nach dem Pfarrhause in Dimchur bringen, welches Dorf in der südlichen Hügelgegend, drei bis vier Meilen von der Küste lag..

Das war Alles was ich wußte, als ich den Eisenbahnwagen bestieg. Sollte ich nach meinem Abenteurerleben — nach den furchtbaren Aufregungen meiner republikanischen Laufbahn zu Lebzeiten meines Gatten, mich jetzt in einem entfernten englischen Dorfe begraben und ein Leben führen so einförmig wie ein Schaf, das auf einsamem Berge weidet. Ach, nach all’ meinen Erfahrungen sollte ich noch erst lernen, daß die beschränkteste Sphäre menschlicher Existenz weit genug ist, um für die größten menschlichen Leidenschaften Raum zu bieten. Ich hatte das Drama des Lebens inmitten des Wirbelwinds tropischer Revolutionen kennen gelernt. Ich sollte es mit all’ seinen aufregenden Peripetien in der frischen Einsamkeit des Hügellandes von Süd England abermals kennen lernen.



Zweites Kapitel - Madame Pratolungo macht eine Land Seereise

Ein wohlgenährter Junge mit echt angelsächsischem flache gelbem Haar; eine kleine, schäbige, grüne Chaise und ein rauhhaariges braunes Pony fielen mir an der Station in Lewes sofort in die Augen. Ich fragte den Jungen: »Bist Du der Diener des Ehrwürdigen Herrn Finch?« und der Junge antwortete mir: »Der bin ich.«

Wir fuhren durch die Stadt, eine hügelige Stadt mit todtenstillen reinlichen Häusern. Kein lebendes Wesen war hinter den ängstlich geschlossenen Fenstern zu erblicken. Kein lebendes Wesen ging durch die in finstren Farben gemalten geschlossenen Hausthüren ein oder aus. Da war kein Theater, kein öffentlicher Vergnügungsort, überhaupt kein öffentliches Gebäude außer einem leeren Rathhause, auf dessen sauberen weißen Stufen ein trübseliger Polizei Officiant saß, der seinen Gedanken nachzuhängen schien. In den Läden waren keine Kunden, aber auch niemand hinter dem Ladentisch, der Kunden hätte bedienen können, wenn welche dagewesen wären. Nur ganz vereinzelt gewahrte ich auf der Straße einen Einwohner, der mich anstarrte und ersichtlich nichts weiter zu thun hatte. Ich fragte den Jungen »Ist dies eine reiche Stadt?« Mit strahlendem Gesicht antwortete der Junge: »Das ist sie.« Wenn das wahr ist, so amüsiren sich die infamen Reichen hier nicht!

Nachdem wir diese Stadt, deren Einwohner sich nicht amüsiren, sondern sich in ihren Häusern begraben, Verlassen hatten, kamen wir aus eine schöne sanft ansteigende Landstraße, auf der man nach beiden Seiten hin die Aussicht auf eine weite Ebene hatte.

Der Anblick einer weiten Ebene ermüdet das Auge eines nach landschaftlichen Schönheiten verlangenden Reisenden bald. Ich habe von meinem armen Pratolungo gelernt, so oft ich mich an einem fremden Orte befinde, den politischen Ueberzeugungen meiner Nebenmenschen nachzuforschen. Da ich nun nicht Anderes zu thun hatte, suchte ich den Jungen auszuforschen. Sein politisches Programm ließ sich, soweit ich es zu ermitteln im Stande war, dahin zusammenfassen: »So Viel Fleisch und Bier, wie ich nur irgend lassen kann, und so wenig Arbeit wie möglich. Wogegen ich als Entgelt meinen Hut berühre, so oft ich dem Squire begegne, und mit dem Beruf zufrieden bin, den es Gott gefallen hat mir anzuweisen — dem elenden Beruf, in Finch’s Diensten zu stehen!«

Allmählig hatten wir den höchsten Punkt des Weges erreicht. Zu unserer Rechten senkte sich der Boden — sanft bis zu einem fruchtbaren Thal, in welchem ein Dorf mit einer Kirche lag; jenseits desselben breitete sich ein schändlicherweise privilegirtes, eingehegtes, aus Rasen und Bäumen bestehendes Stück Land aus, welches ein Tyrann von dem Gemeindeland abgetrennt hatte und welches nun ein Park hieß und inmitten desselben ein Palast, in welchem dieser Feind der Menschheit sich mästete und schwelgte. Zu unserer Linken erstreckte sich eine mit großen Grashügeln bedeckte, prächtige nur durch den Himmel begrenzte Ebene bis an den Horizont. Zu meinem Erstaunen stieg der Junge hier ab, nahm das Pony beim Kopf und führte es bedächtig von der Landstraße ab in die hügelige Graswildniß hinein, in welcher nah’ und fern ein Fußsteig nicht einmal zu entdecken war. Die Chaise fing an sich zu heben und zu senken und zu schaukeln wie ein Schiff auf hoher See. Ich mußte mich mit beiden Händen festhalten, um meinen Sitz zu behaupten. Ich dachte zuerst an mein Gepäck und dann an mich selbst.

»Wie lange geht das so fort?« fragte ich.

»Noch drei Meilen«, antwortete der Junge.

Ich bestand darauf, daß das Schiff — ich meine, die Chaise — stillhalte, damit ich aussteigen könne. Wir banden mein Gepäck mit einem Strick fest und machten uns dann wieder aus den Weg, der Junge beim Kopf des Pferdes und ich hinterher.

O, was das für ein prächtiger Spaziergang war! Welche reine Lust über, welch schönes Gras unter meinen Füßen! Die milde Lust des Inlandes hatte sich hier mit dem scharfen Salzgehalt der Seeluft zu einem köstlichen Lufthauche vereinigt. Der kurze, nach würzigen Kräutern duftende Rasen hob und senkte sich elastisch unter meinen Füßen, die weißen Wolken zogen wie Bergriesen in einer erhabenen Procession an dem blauen Himmel über meinem Haupte vorüber. Das in großen Massen zerstreut auf dem Grase wild wachsende stachliche Gebüsch prangte in prachtvoller gelber Blüthe. So ging es fort, Hügel auf und abwärts, bald nach rechts, bald nach links ablenkend. Ich schaute umher; da war kein Haus, keine Straße, da waren keine Fußsteige, keine Einhegungen, keine Hecken, keine Mauern, keine Landmarken irgend welcher Art. — Rund um uns her, wir mochten schauen wohin wir wollten, war nichts zu sehen als die majestätische Hügeleinöde. Da war kein lebendes Wesen zu sehen als die in der Ferne zerstreut aus dem grünen Grase weidenden, wie Flecken erscheinenden Schafe und die Lerche, die hoch über mir in den Lüften ihren Jubelgesang erschallen ließ. Wahrlich eine herrliche Gegend, die man auf einer Morgenspazierfahrt von dem geräuschvollem von Menschen wimmelnden Brighton erreichen konnte; aber ein in dieser Gegend Unbekannter würde seinen Weg wie bei einer Fahrt auf dem Meere nur mit dem Compaß haben finden können. Je weiter wir auf unserer Landreise vordrangen, desto wilder und schöner wurde die einsame Landschaft. Der Junge wählte seinen Weg wie es ihm gut schien — Abgrenzungen gab es hier nicht. — Ich marschirte im Schweiße meines Angesichts hinterher, von dem Gefährt sah ich bisweilen nur den in der Lust schwebenden Rücken der Chaise, während der Junge und das Pony beide meinen Blicken durch die steile Senkung eines Hügels entzogen waren. Bisweilen wieder hatte ich den umgekehrten Anblick; das ganze Innere der hügelan steigenden Chaise enthüllte sich meinen Blicken und über der Chaise erschien das Pony und über dem Pony der Junge und ach — mein Gepäck, das in den schwachen Banden des Strickes, von dem es umschlungen war, schwankte und schaukelte. Wohl zwanzigmal war ich darauf gefaßt, das Gepäck mit sammt dem Wagen, dem Pony und dem Jungen in die Tiefe hinabrollen zu sehen. Aber nein! Nicht der kleinste Unfall sollte mir den Genuß dieses Tages trüben. Wenn auch politisch verächtlich, hatte der Junge doch sein Gutes — er war ein vollkommen zuverlässiger Ponyfuhrmann und Führer durch das südliche Hügelland.

Als wir auf dem Gipfel des ich glaube fünfzigsten Hügels angelangt waren, fing ich an, mich nach Spuren des Dorfes umzusehen.

Hinter mir lagen die langen Hügelwellen mit den Wolkenschatten über der einsamen Ebene, die wir eben verlassen hatten, vor mir erblickte ich in der purpurnen Ferne eine sanfte weiße Linie, welche das Meer ankündigte, unter mir zu meinen Füßen öffnete sich ein Thal, das tiefer war als irgend eines der vorherigen, und als erstes Zeichen der Anwesenheit von Menschen einen abscheulich häßlichen viereckigen Flecken abgeholzten und bepflügten Landes auf der grasbewachsenen geneigten Ebene zeigte. Ich fragte den Jungen,« ob wir uns jetzt dem Dorfe näherten.

Der Junge blinzelte mit den Augen und antwortete »Da sind wir.«

Ein fabelhafter Junge, dieser Diener des Ehrwürdigen Finch. Ich mochte ihn fragen was ich wollte, immer antwortete dieses jugendliche Orakel in drei einsilbigen Worten.

Wir stiegen in das Thal hinunter.

In seiner Tiefe angelangt, entdeckte ich eine zweite Spur menschlicher Thätigkeit. Siehe da, ein erster gebahnter Weg — ein roher tief in den kalkigen Boden gepflügter Weg für Lastwagen! Wir fuhren quer über diesen Weg und bogen dann um die Ecke eines Hügels. Da traten mir neue Spuren menschlicher Wesen entgegen; zwei kleine Jungen tauchten plötzlich aus einer trockenen Grube auf, in der sie offenbar als Wachen postirt waren, um uns zu melden, sobald wir uns nähern würden. Sie stießen ein gellendes Geschrei aus, und setzten sich sofort in Bewegung, um uns auf einigen nur ihnen bekannten Nichtwegen voranzueilen. Wir bogen abermals in eine andere Wendung des Thales ein und überschritten einen Bach. Ich hielt es für meine Pflicht, mich mit den Namen der einzelnen Punkte bekannt zu machen. Ich fragte nach dem Namen des Bachs. Er hieß »der Hühnerschuß.« Und der große Hügel hier zu meiner Rechten? »Der Windhügel!« Fünf Minuten später sahen wir das erste Haus, es war ein kleines, einsam liegendes, aus Mörtel und Kieselsteinen, wie sie auf den Hügeln gefunden werden, erbaut es Häuschen. Ich fragte ob dieses Häuschen auch einen Namen habe?

Gewiß! Es hieß »Browndown.« Nachdem wir uns noch weitere zehn Minuten immer tiefer und tiefer in die geheimnißvollen grünen Windungen des Thales verloren hatten, wurde endlich das Ziel unserer Reise sichtbar. Der Junge wies mit seiner Peitsche vor sich hin und sagte, indem er auch in diesem feierlichen Augenblick nicht mehr als drei einsilbige Worte vernehmen ließ:

»Da sind wir.«

Das war also Dimchurch! schüttelte den Kalkstaub von meinem Kleiderrock. Vergebens sehnte ich mich nach einem noch so kleinen Spiegel, um mich darin sehen zu können. Da stand die Bevölkerung mindestens fünf bis sechs Personen die sich, von den Wachen benachrichtigt, zusammengeschaart hatte — und es lag mir als Frau ob, mich so vortheilhaft wie möglich zu präsentiren. Unser Weg führte uns längs der kleinen Straße hin. Ich lächelte der Bevölkerung zu und die Bevölkerung starrte mich ihrerseits an. An der einen Seite des Weges bemerkte ich drei oder vier Bauernhäuser mit ein wenig Weideland; dann einen Gasthof mit Namen »die gute Hand« und etwas mehr Weideland, und dann einen ganz, ganz kleinen Fleischerladen mit den Eingeweiden eines Hammels auf einer einzigen blauen Pieschüssel am Fenster und keinem andern Fleisch — und damit war das Dorf zu Ende und über diesen Laden hinaus war wieder nichts als grünes Weide und Hügelland zu sehen. An der andern Seite des Weges war eine Strecke weit nichts zu sehen als eine lange aus Steinen und Mörtel aufgeführte Mauer, welche die Nebengebäude eines Pachthofs umschloß. Auf diese Mauer folgte wieder eine kleine Gruppe von Häusern, denen das Siegel der Civilisation in Gestalt eines Postamts aufgedrückt war. Das Postamt befand sich in einem Laden, in welchem alle möglichen Artikel zu haben waren: Stiefeln und Speck, Zwieback und Flanell, Crinolinen und Tractätchen. Noch etwas weiter und es erschien wieder eine steinerne Mauer, ein Garten und ein Privatwohnhaus, welches sich sofort als das Pfarrhaus zu erkennen gab. Noch etwa weiter erhob sich auf einer Anhöhe eine kleine, einsame Kirche mit einem winzigen runden, weißen Thurm, welchen eine aus rothen Ziegelsteinen bestehende Spitze in Gestalt eines Auslöschers krönte. Und dann kam wieder nichts als Hügel und Himmel. Das war Dimchurch!

Was soll ich von den Einwohnern sagen? Ich glaube, ich muß die Wahrheit bekennen. Unter den Bewohnern fiel mir ein einziger wirklicher Gentleman und das war ein Schäferhund auf. Er allein fühlte sich — gedrungen, mir die Honneurs des Orts zu machen. Er hatte einen Schwanzstumpf, mit dem er mich unter großen Schwierigkeiten anwedelte, und ein gutes rechtschaffenes weiß und schwarz geflecktes Gesicht, das er mir zuthunlich in meine Hand steckte. »Willkommen, Madame Pratolungo, in Dimchurch und entschuldigen Sie die Arbeiter mit ihren Weibern, die da stehen und Sie angaffen. Der gute Gott, der uns Alle erschaffen, hat auch sie erschaffen, nur ist es ihm nicht so gut geglückt wie mit Ihnen und mir.« Ich gehöre zu den wenigen Menschen, welche die Sprache der Hunde, wie sie in ihren Gesichtern geschrieben steht, lesen können. Ich habe die Worte des Schäferhundes getreulich berichtet

Wir öffneten die Pforte des Pfarrhauses und traten ein. So war meine Land Seereise glücklich von Statten gegangen.



Drittes Kapitel - Das arme Fräulein Finch

Das Pfarrhaus glich in einer Beziehung der Erzählung, die ich zu schreiben im Begriff stehe. Es bestand aus zwei Theilen. Der erste Theil, der vordere, welcher aus dem Mörtel und Kiesel der Gegend bestand, hatte kein Interesse für mich; der zweite Theil, der einen rechten Winkel mit der Rückseite des Vordertheils bildete, war augenscheinlich ein altes Gebäude. Es war, wie ich später hörte, seiner Zeit ein Nonnenkloster gewesen. Hier sah man gemüthliche kleine gothische Fenster und dunkle mit Epheu bedeckte Mauern von ehrwürdigem Stein, welche in einer früheren Zeit an einigen Stellen mit zierlichen rothen Backsteinen aus gebessert waren. Ich hatte gehofft, daß ich das Haus von dieser Seite her betreten würde. Aber nein. Der Junge schien einen Augenblick lang nicht zu wissen, was er mit mir anfangen solle, führte mich aber dann an eine Thür der neueren Seite des Gebäudes und zog die Glocke.

Ein unordentlich aussehendes junges Dienstmädchen öffnete mir die Thür.

Vielleicht war die Pflicht, Fremde zu empfangen, etwas neues für diese Person, oder vielleicht wurde sie durch eine Herde von Kindern in schmutzigen Kleidern, welche auf dem Vorplatze auf uns losstürzten, bei dem Anblick einer Fremden aber dann eben so rasch kreischend wieder in unsichtbare hintere Raume verschwanden, außer Fassung gebracht, — jedenfalls schien auch sie durchaus nicht zu wissen, was sie mit mir anfangen solle. Nachdem sie mein Gesicht eine Zeitlang angestarrt hatte, öffnete sie plötzlich eine am Vorplatz liegende Thür und führte mich in ein kleines Zimmer. Aus diesem mir so gebotenem Asyl stürzten bei meinem Eintritt wieder zwei Kinder in schmutzigen Kleidern kreischend heraus. Ich nannte meinen Namen, sobald ich zu Worte kommen konnte. Das Mädchen schien entsetzt über die Länge des Namens. Ich gab ihr meine Karte; sie nahm sie zwischen ihren schmutzigen Zeigefinger und ihren ebenso schmutzigen Daumen, betrachtete sie, als ob es eine außerordentliche Natur merkwürdigkeit sei, drehte sie um, indem sie mit ihrem Zeigefinger und Daumen verschiedene schwarze Flecke darauf drückte, verzweifelte dann ersichtlich daran, über die Bedeutung der Karte ins Klare zu kommen und ging hinaus. Draußen wurde sie, wie ich aus den an mein Ohr dringenden Tönen schloß, durch einen neuen Sturm der Kinder auf dem Vorplatz zurückgehalten. Ich hörte Flüstern, Kichern und dann und wann einen lauten Stoß gegen die Thür. Vermuthlich auf Antrieb der Kinder, jedenfalls von ihnen geschoben, trat das Mädchen plötzlich wieder in die Thür. »Wollen Sie gefälligst mit mir kommen«, sagte sie. Die Kinderschaar zog sich wieder treppenaufwärts zurück. Eines derselben, das meine Karte in der Hand hielt, schwang diese, auf dem ersten Treppenabsatz stehend, hin und her.

Das Mädchen führte mich über den Vorplatz und öffnete eine an der andern Seite desselben liegende Thür. Unangemeldet trat ich so in ein anderes größeres Zimmer Was fand ich hier?

Endlich war das Glück mir günstig gewesen. Mein guter Stern hatte mich zu der Frau vom Hause geführt. Ich machte meinen besten Knix und fand mich einer großen blonden, languissanten lymphatischen Dame gegenüber, die sich in dem Augenblicke meines Erscheinens offenbar die Zeit damit vertrieben hatte, im Zimmer auf und abzugehen. Wenn es wirklich Wassernixen giebt, so war sie gewiß eine. Aus ihrem farblosen weißen Gesicht lag ein feuchter Schimmer und ihre blaßblauen Augen hatten etwas unaussprechlich Wässeriges. Ihr Haar war ungemacht und ihre Spitzenhaube saß ihr ganz schief auf dem Kopfe. Ihr Oberkörper war in eine lose Jacke von blauen Merino gekleidet; ihr Unterkörper von einem Dimiti-Schlafrock von zweifelhaftem Weiß umhüllt. In der einen Hand hielt sie ein schmutziges, reichlich mit Eselsohren versehenes Buch, dem ich es auf der Stelle ansah, daß es ein Leihbibliotheksroman sei. Mit der andern Hand hielt sie ein auf ihrem Arm ruhendes, in Flanell gewickeltes Baby, das an ihrer Brust sog. So trat mir die Frau des ehrwürdigen Finch zuerst entgegen, und so und nicht anders sollte sie mir auch in der Folge immer wieder erscheinen. Niemals ganz angezogen, niemals ganz trocken, immer mit einem Baby in der einen und einem Roman in der andern Hand.

»O! Madame Pratolungo? Ja. Ich hoffe, daß jemand Fräulein Finch angezeigt hat, daß Sie hier sind. Sie hat ihr eigenes Logis und besorgt alle ihre Angelegenheiten selbst. Haben Sie eine gute Reise gehabt?« Sie sprach diese Worte wie abwesend, als ob ihr Geist mit etwas anderem beschäftigt sei. Mein erster Eindruck war, daß sie eine schwache gutmüthige Frau sei und daß sie früher eine untergeordnete Stellung im Leben eingenommen haben müsse.

»Ich danke Ihnen, Frau Finch«, antwortete ich, »die Reise über Ihre schönen Hügel hat mir das größte Vergnügen gemacht «

»O, gefallen Ihnen die Hügel? Entschuldigen Sie meinen Anzug. Ich bin diesen Morgen eine halbe Stunde zu spät aufgestanden. Und wenn man in diesem Hause einmal eine halbe Stunde verloren hat, kann man sie nie wieder einbringen, mag man es versuchen, wie man will.«

Ich sollte bald dahinter kommen, daß Frau Finch regelmäßig jeden Tag eine Stunde verlor und daß es ihr niemals unter irgend welchen Umständen gelang; diese verlorene halbe Stunde wieder einzuholen.

»Ich begreife, Frau Finch. Die Sorge für eine zahlreiche Familie —«.

»Ja, das ist es gerade!« (eine Lieblingsphrase von Frau Finch). »Zuerst kommt Finch; er steht früh auf und arbeitet im Garten. Dann kommt das Waschen — der Kinder und die schreckliche Wirthschaft in der Küche Und Finch kommt herein, wenn es ihm beliebt, und verlangt sein Frühstück. Und natürlich kann ich das Baby nicht verlassen und eine halbe Stunde geht Einem dabei so leicht verloren, daß ich nicht weiß, wie ich sie wieder einholen soll.« In diesem Augenblick fing das Baby an durch gewisse Anzeichen zu erkennen zu geben, daß es mehr mütterliche Nahrung zu sich genommen habe, als sein kindlicher Magen gut vertragen konnte. Ich hielt den Roman, während Frau Finch ihr Taschentuch erst in ihrer Schlafrockstasche, dann hier und dort überall im Zimmer suchte.

In diesem kritischen Augenblicke wurde an die Thür geklopft. Es erschien eine ältliche Frau, welche einen sehr wohlthuenden Contrast zu den Mitgliedern des Hauses bildete, die ich bis jetzt kennen gelernt hatte. Sie war sauber gekleidet und begrüßte mich mit der höflichen Ruhe eines civilisirten Wesens.

»Verzeihen Sie, Madame, meine junge Herrin hat erst eben von Ihrer Ankunft gehört. Wollen Sie die Güte haben, mir zu folgen?«

Ich wandte mich wieder an Frau Finch. Sie hatte ihr Tuch gefunden und hatte die Folgen ihrer Befeuchtung beseitigt und ihr Baby wieder in Ordnung gebracht. Ich gab ihr mit ehrerbietiger Miene den Roman wieder.

»Ich danke Ihnen«, sagte Frau Finch .

»Ich finde, daß Romane mein Gemüth beruhigen. Lesen Sie auch Romane? Erinnern Sie mich daran, ich will Ihnen morgen diesen Roman leihen.«

Ich dankte für diese Freundlichkeit und verließ das Zimmer. An der Thitr wandte ich mich noch einmal um, um die Frau vom Hause beim Hinausgehen zu begrüßen. Frau Finch spazierte schon wieder mit dem Baby in der einen, dem Roman in der anderen Hand, in ihrem nachschleppenden Dimiti.Schlafrock im Zimmer auf und ab.

Wir stiegen die Treppe hinauf und betraten einen kahlen geweißten Vorplatz mit grau gemalten Thüren, die wie ich annahm, zu den Schlafzimmern des Hauses führten. Jede dieser Thüren öffnete sich als wir daran vorbeikamen; aus jeder guckten Kinder hervor, die mich ansahen und ankreischten und dann die Thür wieder zuschlugen. »Wie viele Kinder hat die jetzige Frau Finch?« fragte ich. Die adrette ältliche Frau wurde durch diese Frage veranlaßt still zu stehen und nach zudenken. »Mit dem Baby und zwei Paar Zwillingen und einem etwas schwachsinnigen Siebenmonatskinde sind es im Ganzen vierzehn, Madame.« Als ich das hörte, empfand ich, trotz meiner Ueberzeugung, daß Priester, Könige und Kapitalisten die Feinde der Menschheit sind, ein gewisses Interesse an dem ehrwürdigen Finch. Hatte er nie gewünscht ein Priester der römisch-katholischen Kirche zu sein, dem ein gütiges Verbot das Heirathen unmöglich machte? Während mir diese Frage durch den Kopf ging, nahm meine Begleiterin einen Schlüssel zur Hand und öffnete damit eine schwere eichene Thür am andern Ende des Corridors. »Wir müssen die Thüren verschlossen halten, Madame«, rief sie, »sonst würden die Kinder den ganzen Tag bei uns ein und auslaufen.«

Ich gestehe, daß ich nach dem, was ich bis jetzt von den Kindern gesehen hatte, auf die geöffnete Thür mit einem Gefahr der Dankbarkeit und Achtung blickte Wir bogen um eine Ecke und befanden uns auf dem gewölbten Corridor des älteren Theils des Hauses. Die auf der einen Seite in tiefen Nischen befindlichen Fenster gingen auf den Garten hinaus; jede Nische war mit Topfgewächsen ausgefüllt. Die gegenüberliegende Wand war mit hellen Vorhängen von buntem Kattun heiter decorirt. Die Thüren waren milchweiß mit vergoldeten Rahmungen Der hellgemusterten Matte unter unsern Füßen sah ich ihren südamerikanischen Ursprung sofort an. Der Plafond war von einem zarten Blaßblau mit Borten von Blumengewinden. Nirgends war auf dem ganzen Corridor auch nur das kleinste dunkle Fleckchen zu erblicken. Am unteren Ende des Corridors stand eine ganz in Weiß gekleidete Gestalt, die sich über die Blumen in der Fensternische beugte. Das war das blinde Mädchen, deren dunkle Tage ich zu erheitern gekommen war. Die Bewohner der zerstreut liegenden Dörfer der Umgegend bekundeten ihr Mitgefühl für das blinde Mädchen, indem sie sie stets »das arme Fräulein Finch« nannten. Ich kann sie mir nur unter ihrem hübschen Vornamen vorstellen Für mich ist sie, so oft meine Erinnerung bei ihr verweilt, »Lucilla«. So will ich sie denn auch hier Lucilla nennen. Als mein Blick zum ersten Mal auf ihr ruhte, war sie damit beschäftigt, die vertrockneten Blätter von ihren Blumen abzulesen. Ihr feines Ohr hatte den ihr fremden Klang meiner Fußtritte schon lange, bevor ich dahin gelangte, wo sie stand, bemerkt. Sie richtete sich auf und kam mir rasch entgegen; auf ihren Wangen zeigte sich eine leichte Röthe, die aber alsbald wieder verschwand. Ich hatte in früheren Jahren einmal die Dresdner Bildergallerie besucht. Je näher Lucilla auf mich zutrat, desto lebhafter wurde ich an die Perle jener Sammlung »die Sixtinische Madonna« erinnert. Die schöne breite Stirn, die eigenthümliche Fülle des Fleisches zwischen Augenbrauen und Augenlidern, die zarten Umrisse des unteren Theils des Gesichts, die feingeschnittenen Lippen, die Farbe der Haut und des Haares, Alles erinnerte in ganz frappanter Weise an die liebliche Gestalt des Dresdener Bildes. Der Theil des Gesichts aber, bei dem die Aehnlichkeit in trauriger Weise aufhörte, waren die Augen. Die göttlich schönen Augen der Raphael’schen Madonna fehlten ihrem lebendigen Ebenbilde. Es war nichts Mißgestaltetes, nichts, wovor man hätte zurückschrecken können, an meiner blinden Lucilla. Die armen trüben, blinden Augen hatten einen matten, starren, ausdruckslosen Blick — das war Alles. Ueber ihnen, unter ihnen, neben ihnen bis an die Ränder ihrer Augenlider war Alles Schönheit, Leben. In ihnen aber — war es todt! Von diesem einzigen Mangel abgesehen, war mir nie, ein reizenderes Geschöpf vorgekommen. Sonst war nichts an ihrer Erscheinung mangelhaft. Sie hatte die angenehme Höhe, die wohlproportionirte Gestalt und die Länge der Gliedmaßen, welche allen Bewegungen eines Weibes ohne Weiteres Grazie verleihen. Ihre Stimme war entzückend klar, heiter, sympathisch. Diese Stimme und ihr Lächeln, das der Schönheit ihres Mundes noch einen besonderen Reiz verlieh, gewannen mein Herz, noch ehe sie mir nahe genug gekommen war, um ihre Hand in die meinige zu legen.

»O, liebes Kind«, sagte ich in meiner ungenirten Weise, »wie freue ich mich, Sie zu sehen.«

Kaum waren mir diese Worte entschlüpft, so hätte ich mir wegen der brüsten Worte, mit denen ich sie sofort an, ihre Blindheit erinnerte, die Zunge ausreißen mögen. Ich fühlte mich sehr erleichtert, als sie durch nichts zu erkennen gab, daß sie meinen Verstoß so wie ich selbst empfunden habe.

»Darf ich Sie aus meine Art sehen?« fragte sie mit sanfter Stimme, indem sie ihre hübsche weiße Hand empor hielt. »Darf ich ihr Gesicht berühren?«

Ich setzte mich ohne weiteres auf die Fensterbank. Ihre weichen rosigen Fingerspitzen schienen im Nu mein ganzes Gesicht zu betasten. Zu drei verschiedenen Malen ließ sie ihre Hand rasch über mein Gesicht fahren, während sich auf ihrem eigenen Gesichte gleichzeitig die gespannteste Aufmerksamkeit auf das, was sie that, malte.

»Reden Sie wieder!« sagte sie plötzlich, während sie ihre Hand noch vor meinem Gesichte hielt.

Ich fing an etwas zu sagen, aber sie verschloß mir den Mund alsbald mit einem Kuß, indem sie vergnügt ausrief: »Nicht weiter. Ihre Stimme sagt meinen Ohren, was Ihr Gesicht meinen Fingern sagt. Ich weiß, Sie werden mir gefallen. Kommen Sie und sehen Sie sich die Zimmer an, die wir zusammen bewohnen werden.«

Als ich aufstand, schlang sie ihren Arm um meine Taille, zog ihn aber sogleich wieder zurück und machte eine ungeduldige Bewegung mit den Fingern, als ob sie dieselben verletzt habe.

»Haben Sie sich an einer Nadel gestochen?« fragte ich.

»Nein, nein, was für eine Farbe hat das Kleid, das sie tragen?«

»Dunkelviolett.«

»O, das wußte ich; bitte, tragen Sie keine dunklen Farben. Ich habe in meiner Blindheit einen wahren Abscheu gegen Alles, was dunkel ist. Bitte, liebe Madame Pratoluqo, tragen Sie mir zu Gefallen hübsche helle Farben!«

Dabei umschlang sie wieder liebkosend, dieses Mal jedoch — meinen Nacken, wo ihre Hand auf meinem leinenen Kragen ruhen konnte.

»Sie ziehen sich vor Tisch anders an, nicht wahr?« flüsterte sie. »Lassen Sie mich für Sie auspacken und ein Kleid wählen, daß mir gefällt.«

Jetzt konnte ich mir die glänzende Decoration des Corridors erklären!

Wir betraten die Zimmer, ihr Schlafzimmer, mein Schlafzimmer und unser zwischen beiden liegendes Wohnzimmer. Ich war darauf gefaßt, sie so zu finden wie sie wirklich waren, so freundlich, wie Spiegel, Vergoldungem hellfarbige Verzierungen und heitere Ninppes aller Art sie machen konnten. Sie glichen mehr den Zimmern in meiner Heimath als den Zimmern des schmuck und farblosen England. Das einzige, was mich noch in Erstaunen setzte, war der Gedanke, daß all dieser schöne gefällige Einige Schmuck in Lucilla’s Wohnung eigens auf den Wunsch eines jungen Mädchens angeordnet war; das nicht sehen konnte. Spätere Erfahrungen sollten mich lehren, daß die Blinden ein Phantasieleben führen können und ihre Lieblingsideen und Illusionen haben wie wir Anderen auch.

Um mein dunkelviolettes Kleid nach Lucilla’s Wunsch wechseln zu können, mußte ich nothwendig erst meine Koffer haben. Soviel ich wußte, hatte der Junge, der mich hergebracht, mein Gepäck zugleich mit dem Pony nach dem Stall gebracht. Noch bevor Lucilla klingeln konnte, um sich nach dem Verbleib meiner Sachen zu erkundigen, erschien die ältliche Frau, die mich hinaufgeführt, uns aber schweigend verlassen hatte, als wir miteinander auf dem Corridor sprachen, wieder, gefolgt von dem Jungen und einem Stallknecht, welche meine Sachen brachten. Außer meinem Gepäck brachten sie auch noch verschiedene Packete von in der Stadt gekauften Sachen für ihre junge Herrin und eine in weißes Papier gewickelte Flasche mit, welche wie eine Medicinflasche aussah, und welche im Laufe des Tages noch ihre Rolle spielen sollte.

»Das ist meine alte Amme«, sagte Lucilla, indem sie mir ihre Aufwärterin vorstellte. »Zillah versteht sich ein wenig auf Alles, Kochen mit einbegriffen Sie hat darin in einem Londoner Clubhause Unterricht genommen. Sie müssen Zillah um meinetwillen gern haben, Madame Pratolungo. Sind Ihre Koffer offen?«

Indem sie das fragte, legte sie sich vor den Koffern auf die Knie. Kein Mädchen im vollsten Besitz seiner Sehkraft hätte sich mehr damit amüsiren können als es Lucilla that. Dieses Mal jedoch sollte sie die wunderbare Feinheit ihres Tastsinns im Stiche lassen. Von zweien meiner Kleider, welche zufällig ein ganz gleiches Gewebe, aber eine verschiedene Farbe hatten, wählte sie das dunkle als das vermeintlich helle aus. Ich sah daß ich sie tief betrübte, als ich sie auf ihr Versehen aufmerksam machte. Die nächste Vermuthung jedoch, die sie aussprach, gab ihr ihre Zuversicht auf das sichere Gefühl ihrer Fingerspitzen wieder. Sie entdeckte die Streifen in einem Paar heller Strümpfe und wurde dadurch wieder heiter gestimmt.

»Halten Sie sich nicht lange bei Ihrer Toilette auf«, sagte sie, indem sie mich verließ. »Wir essen in einer halben Stunde zu Mittag. Französische Gerichte zu Ehren Ihrer Ankunft. Ich esse gern gut; ich bin was man bei Ihnen gourmande nennt. Und hier sehen Sie die traurigen Folgen.« « Damit legte sie einen Finger an ihr hübsches Kinn. »Ich werde fett; ich bin mit einem Doppelkinn bedroht und das mit zweiundzwanzig Jahren! Abscheulich! Abscheulich!«

Mit diesen Worten verließ sie mich. Und das war der erste Eindruck, den ich von »dem armen Fräulein Finch« empfing.



Viertes Kapitel - Begegnung mit dem Manne im Zwielicht

Unser kleines angenehmes Diner war schon lange vorüber. Wir hatten geplaudert und zwar, wie es Frauen zu thun pflegen, nur über uns selbst. Der Tag ging seinem Ende entgegen. Die untergehende Sonne ergoß eben ihren letzten rothen Schimmer über unser hübsches Wohnzimmer, als Lucilla, wie wenn ihr plötzlich etwas einfiele, aufsprang und klingelte.

Zilla erschien. »Die Flasche aus der Apotheke«, sagte Lucilla. »Ich hätte schon vor Stunden daran denken sollen.«

»Wollen Sie die Flasche Susannen selbst bringen, liebes Kind?«

Es freute mich zu hören, daß die alte Amme so so familiär mit ihrer jungen Herrin verkehrte. Es war das so durchaus unenglisch. Nieder mit dem teuflischen System der Sonderung der Stände in diesem Lande!

»Jawohl, ich will sie selbst hinbringen.«

»Soll ich mit Ihnen gehen?«

»Nein, nein. Dazu ist gar keine Veranlassung.« Dann wandte sie sich zu mir mit den Worten: »Sie sind wohl nach Ihrem Marsche über die Hügel zu müde, um noch auszugehen?«

Ich hatte zu Mittag gegessen; und etwas geruht, war daher völlig bereit, wieder auszugehen und sagte das.

Lucilla’s Gesicht erheiterte sich. Aus irgend einem besonderen Grunde war ihr ersichtlich daran gelegen gewesen, mich zu überreden, mit ihr auszugehen.

»Es handelt sich nur um einen Besuch bei einer armen gichtischen Frau im Dorfe«, sagte sie. »Ich habe etwas zum Einreiben für sie und kann ihr das nicht gut schicken, sie ist alt und eigensinnig. Wenn ich es ihr selbst bringe, so glaubt sie an die Heilkraft des Mittels, wenn es ihr aber ein Anderer bringt, so wirft sie es unfehlbar bei Seite. Ueber unserem angenehmen langen Geplauder hatte ich die Frau ganz vergessen. Wollen wir uns fertig machen?«

Kaum hatte ich die Thür meines Schlafzimmers hinter mir geschlossen, als an dieselbe geklopft wurde. War es Lucilla? Nein, es war die alte Amme, die mit einer geheimnißvollen Miene, den Finger, wie zu einer vertraulichen Mittheilung, auf den Mund gelegt, auf den Fußspitzen eintrat.

»Verzeihen Sie, Madame,« fing sie flüsternd an: »Mir scheint, Sie sollten wissen, daß meine junge Herrin einen besonderen Zweck dabei hat, daß sie heute Abend mit Ihnen ausgeht. Sie brennt wie wir Alle vor Neugierde. Gestern Abend hat sie mich mit sich genommen, und bediente sich meiner Augen, um damit zu sehen, aber meine Augen haben sie nicht befriedigt. Nun will sie es mit Ihren Augen versuchen.«

»Was erregt denn Fräulein Lucilla’s Neugierde so sehr«, fragte ich.

»Das ist natürlich genug, das arme liebe Kind«, fuhr die Alte fort; indem sie ihren Gedankengang verfolgte, ohne die geringste Notiz von meiner Frage zu nehmen. »Keiner von uns kann etwas über ihn herausbringen Er geht gewöhnlich in der Dämmerung spazieren, Sie können daher ziemlich sicher darauf rechnen, ihn heute Abend zu treffen und selbst beurtheilen, Madame, was mit einem so unschuldigen Geschöpf, wie Fräulein Lucilla, am Besten bei der Sache zu thun ist.«

Diese sonderbare Antwort erweckte nun meine Neugierde auf’s Aeußerste.

»Beste Frau«, sagte ich, »Sie vergessen, daß ich eine Fremde bin. Ich weiß ja nichts von der Sache. Hat dieser geheimnißvolle Mann einen Namen? Wer ist er denn?!«

Kaum hatte ich diese Frage gethan, als wieder an die Thür geklopft wurde Zillah flüsterte mir eifrig zu: »Machen Sie keinen Gebrauch von dem, was ich Ihnen gesagt habe. Sie werden ja selbst sehen. Ich habe nur im Interesse meiner jungen Herrin mit Ihnen gesprochen.« Sie humpelte fort und öffnete die Thür, und da stand Lucilla mit ihrem zierlichen Gartenhute auf dem Kopfe, meiner wartend.

Wir traten durch unsern eigenen Eingang in den Garten und gelangten durch eine Pforte in der Mauer in das Dorf.

Nach der Warnung, die ich von der Amme er erhalten hatte, durfte ich nicht daran denken, irgend welche Fragen an Lucilla zu richten, wenn ich nicht Gefahr laufen wollte, gleich am ersten Tage, wo ich in unsere kleine Familie eingetreten war, Unheil anzurichten. Ich hielt meine Augen weit offen und harrte der Dinge, die da kommen würden. Ich beginn übrigens gleich bei unserm Fortgehen einen Verstoß, ich bot Lucilla meine Hand, um sie zu führen. Sie brach in lautes Lachen aus.

»Liebe Madame Pratolungo«, ich kenne den Weg besser als Sie. Ich streife hier überall in der Gegend umher, ohne einen andern Führer als den da.« Da bei hielt sie einen zierlichem elfenbeinernen Spazierstock, an welchem eine hellseidene Troddel befestigt war, empor. Mit ihrem Spazierstock in der einen, ihrer Medizinflasche in der andern Hand und ihrem kecken Hütchen auf dem Kopfe, gab sie das reizendste Bild ab, das ich seit lange gesehen hatte. »Sie müssen mich führen, liebes Fräulein!« sagte ich, indem ich ihren Arm ergriff. Wir gingen in das Dorf. Nichts was auch nur die entfernteste Aehnlichkeit mit einer mysteriösen Gestalt gehabt hätte, begegnete uns in der Dämmerung. Die wenigen vereinzelten Arbeiter welche ich bereits gesehen hatte, sah ich wieder, sonst nichts. Lucilla verhielt sich schweigend, argwöhnisch schweigend, wie ich nach dem, was Zillah mir gesagt hatte, annahm. thr Blick war, wie ich mir einbildete, der einer Person, welche mit gespannter Aufmerksamkeit auf etwas horcht. Als wir vor dem Häuschen der gichtkranken Frau angelangt waren, hielt sie an und trat ein, während ich draußen auf sie wartete. Die Einreibung dauerte nicht lange. Lucilla war gleich wieder da und sie ergriff jetzt meinen Arm von selbst. »Mögen Sie noch etwas weiter gehen?« fragte sie. »Es ist so angenehm und kühl um diese Zeit des Abends.«

Was es auch sein mochte, woraus sie es abgesehen hatte, jedenfalls suchte sie dieses Etwas jenseits des Dorfes. In der feierlichen friedlichen Dämmerung verfolgten wir die einsamen Windungen des Thales, durch welche mein Weg mich am Morgen geführt hatte. Als wir dem kleinen einsam gelegenen Häuschen, welches ich bereits als »Browndown« kennen gelernt hatte, gegenüber anlangten, fühlte ich, wie ihre Hand unwillkürlich meinen Arm fester drückte. »Aha«, dachte ich bei mir«, hat Browndown etwas damit zu thun?«

»Sieht die Landschaft heute Abend sehr öde aus?« fragte sie, indem sie ihr Stöckchen in die Luft schwang.

Der wahre Sinn dieser Frage, wie ich sie auffaßte, war: »Sehen Sie irgend jemand, der aus dem Hause kommt?« Indessen kam es mir nicht zu, ihrer Frage einen besonderen Sinn unterzulegen, bevor sie noch den Augenblick für gekommen gehalten hatte, mir ihr Geheimniß anzuvertrauen. Ich antwortete nur: »Mir erscheint die Aussicht sehr schön, liebes Fräulein.«

Sie schwieg wieder und versank in ihre Gedanken. Wir bogen in eine neue Windung des Thales ein und hier endlich kam uns eine menschliche Gestalt, die Gestalt eines einzelnen Mannes von der andern Seite entgegen.

Als wir einander näher kamen, bemerkte ich, daß es ein in ein helles Jagdröckchen gekleideter Herr war, der einen kegelförmigen italienischen Filzhut auf dem Kopfe trug. Als er uns noch ein wenig näher gekommen war, sah ich, daß er jung, und bei noch größerer Annäherung, daß er schön, wenn auch von etwas weibischer Schönheit war. Alsbald vernahm Lucilla seine Fußtritte, erröthete und preßte wieder unwillkürlich ihre Hand auf meinen Arm. Hier war also endlich der geheimnißvolle Gegenstand, von welchem Zillah mit mir gesprochen hatte! Ich habe, ich nehme keinen Anstand, es auszusprechen, ein gutes Auge für Mannesschönheit. Ich sah ihn an, als er an uns vorüberging. Nun kann ich feierlich versichern, daß ich keine häßliche Frau bin. Gleichwohl sich ich, als sich unsere Augen begegneten, wie sich das Gesicht des fremden Herrn plötzlich zu einem Ausdruck verzog, der mir deutlich sagte, daß ich einen unangenehmen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Nicht ohne Schwierigkeit, denn meine Begleiterin hielt meinen Arm fest und schien geneigt, still zu stehen, beschleunigte ich meine Schritte, so daß ich rasch an ihm vorüber kam wobei ich, glaube ich, nicht verfehlte, ihm durch meinen Gesichtsausdruck zu erkennen zu geben, daß ich die Veränderung seines Gesichtsausdrucks bei meinem Anblick als eine Impertinenz betrachtete. Dem sei übrigens wie ihm wolle, nach einer kurzen Weile hörte ich seine Schritte hinter uns; der Mann war umgekehrt und war uns gefolgt. Er trat an Lucilla’s andere Seite und zog den Hut.

»Verzeihen Sie, Madame«, sagte er. »Sie haben mich eben angesehen.«

Bei dem ersten Wort, das er sprach, fühlte ich, wie Lucilla zusammenfuhr. Ihre auf meinem Arme liegende Hand fing in Folge einer mir unbegreiflichen Aufregung zu zittern an. In der zwiefachen Bestürzung über Lucilla’s Erregung und der so unerwartet gegen mich erhobenen Beschuldigung, einen Mann dadurch, daß ich ihn angesehen hatte, beleidigt zu haben, erlitt ich den merkwürdigsten Verlust, der einer Frau begegnen kann, den Verlust der Sprache .

Er ließ mir keine Zeit, wieder zu mir zu kommen. Er fuhr ohne weiteres mit dem, was er zu sagenhatte, fort, indem er im Ton eines vollkommen wohl erzogenen Mannes, ohne irgend etwas Unheimliches im Blick oder etwas Sonderbares in seinem Benehmen zu zeigen, sprach:

»Entschuldigen Sie, wenn ich es wage, eine sehr sonderbare Frage an Sie zu richten:

»Waren Sie zu fällig am 3. vorigen Monats in Exeter?«

Ich hätte weniger oder mehr als eine Frau sein müssen, wenn ich jetzt nicht den Gebrauch meiner Zunge wiedergefunden hätte.«

»Ich bin in meinem Leben nicht in Exeter gewesen«, antwortete ich. »Darf ich Sie nun meinerseits fragen, warum Sie diese Frage an mich richten?«

Anstatt mir zu antworten, sah er Lucilla an.

»Verzeihen Sie mir abermals. Vielleicht daß diese junge Dame —?«

Er stand offenbar im Begriff zu fragen, ob Lucilla in Exeter gewesen sei, als er plötzlich inne hielt. In dem aufregenden Interesse, mit welchem der ganze Vorgang sie erfüllte, hatte sie ihm ihr volles Gesicht zugekehrt. Ihre Augen hatten noch Ausdruck genug, um ihre eigene traurige Geschichte in ihrer stummen Sprache zu erzählen. Als der Fremde das Schicksal dieser Augen in ihnen las, nahm sein Blick, der noch eben etwas scharf Forschendes gehabt hatte, einen, tief betrübten Ausdruck an. Er zog wieder den Hut und verneigte sich gegen mich in der ehrerbietigsten Weise.

»Ich habe«, sagte er sehr ernst, »Ihre und der jungen Dame Verzeihung zu erbitten. Bitte, verzeihen Sie mir. Mein sonderbar es Benehmen findet seine Entschuldigung in etwas, was ich mir selbst nicht zu erklären weiß. Ich fühlte mich unglücklich, als Sie mich ansahen. Ich kann nicht sagen warum. Guten Abend.«

Wie Jemand, der verwirrt und verschämt ist, wandte er sich rasch ab und ging seines Weges. Ich kann nur wiederholen, daß in seinem Benehmen nichts Sonderbares oder Beunruhigendes lag. Man kann den Mann, wie er sich uns präsentirte, gerechter Weise und ohne Uebertreibung nur als einen vollkommenen Gentleman im Vollbesitz seines Verstandes bezeichnen. Ich sah Lucilla an. Sie stand, ihr blindes Antlitz gen Himmel gerichtet, selbstverloren, wie ein verzückter Mensch.

»Wer ist der Mann?« fragte ich.

Meine Frage schien sie plötzlich aus« ihrem Himmel zu reißen und wieder auf die Erde zu bringen. »O«, sagte sie tn vorwurfsvollem Tone, »wir klang seine Stimme noch im Ohr und nun ist sie verklungen.

Wer ist Er?« fügte sie nach einer kurzen Pause meine Frage wiederholend hinzu. »Das weiß niemand. Er zählen Sie mir doch, wie er aussieht. Ist er schön? Er muß schön sein, mit einer solchen Stimme!«

»Haben Sie seine Stimme heute zum ersten Male gehört?« fragte ich.

»Ja, er ging gestern, als ich mit Zillah spazieren ging, an uns vorüber.,Aber er sprach nicht. Wie sieht er aus? Bitte, erzählen Sie mir doch wie er aussieht!«

In ihrem Tone lag etwas leidenschaftlich Ungeduldiges, das mich warnte, sie nicht zu reizen. Es fing an dunkel zu werden. Es schien mir gerathen vorzuschlagem nach Hause zurückzukehren. Sie erklärte sich bereit, Alles zu thun, was ich wünsche, wenn ich ihr nur den unbekannten Mann beschreiben wolle. Auf dem ganzen Rückwege hatte ich fortwährend so viele Fragen zu beantworten, daß mir zu Muthe ward, als sei ich ein bei einer gerichtlichen Verhandlung von den Advocaten in ein geschicktes Kreuzverhör genommener Zeuge. Lucilla schien durch das Ergebniß des Verhörs einstweilen befriedigt zu sein. »Ach!« rief sie aus, indem sie das Geheimniß verrieth, das ihre alte Amme mir anvertraut hatte, »Sie verstehen Ihre Augen zu gebrauchen. Zillah konnte mir nichts sagen.«

Als wir wieder zu Hause waren, nahm ihre Neugierde eine andere Richtung »Exeter«, sagte sie nachdenklich »Er erwähnte Exeter. Mir geht es gerade wie Ihnen, ich war nie in meinem Leben dort. Lassen Sie uns doch einmal sehen, was wir aus Büchern über Exeter erfahren können?« Sie sandte Zillah nach dem Vorderhause ab, um sich von ihrem Vater ein geographisches Wörterbuch zu erbitten Ich folgte der Alten auf den Vorplatz und beruhigte sie, indem ich ihr zuflüsterte: »Ich habe Ihr Geheimniß bewahrt; der Mann begegnete uns in der Dämmerung, wie sie es herausgesehen hatten. Ich habe mit ihm gesprochen und bin jetzt eben so neugierig, wie Sie. — Holen Sie, bitte, das Buch.«

Lucilla hatte mich, die Wahrheit zu gestehen, mit ihrer Hoffnung angesteckt, das geographische Worterbuch könne uns vielleicht behilflich sein, die merkwürdige Frage des Fremden in Betreff des 3ten vorigen Monats und seine sonderbare Behauptung, daß ich ihn durch meine auf ihn gerichteten Blicke betrübt habe, zu erklären. Zwischen der Amme, die sich außer Athem gelaufen hatte und Lucilla, die vor gespannter Aufmerksamkeit nicht zu athmen wagte, sitzend, schlug ich in dem Wörterbuche den Buchstaben auf und las laut das Folgende vor:

Exeter. Stadt und Seehafen in Devonshire. Ehemals der Sitz der westfächlischen Könige. Hat einen bedeutenden Handel, sowohl im In- wie im Auslande. Einwohnerzahl 33738. Die Assisen für Devonshire finden im Frühjahr und Sommer statt.«

»Und was kommt dann weiter?« fragte Lucilla erwartungsvoll.

Ich schloß das Buch und antwortete wie der Junge, der mich hergefahren hatte, mit drei einsilbigen Worten: »Sonst nichts mehr!«



Fünftes Kapitel - Der Mann bei Kerzenlicht

Es war dunkel geworden, daß ich kaum noch lesen konnte. Zillah zündete die Kerzen an und zog die Fenstervorhänge zu. Tiefes Schweigen, welches einer gründlichen Enttäuschung zu folgen pflegt, herrschte im Zimmer.

»Wer mag er nur sein?« wiederholte Lucilla nun wohl zum hundertsten Male. »Und wieso kann Ihr Blick ihn betrübt haben? Sinnen Sie doch nach, Madame Pratolungo!«

Der letzte Satz in dem Artikel,,Exeter« präoccupirte mich ein wenig wegen des darin enthaltenen Wortes »Assisen«. Als Lucilla ihre Aufforderung, meine Devinitionsgabe anzustrengen, an mich richtete, hatte ich wieder eine andere Inspiration. Ich rieth auf der Stelle, der Fremde sei ein interessanter Verbrechen der entflohen sei, um der Verurtheilung durch die Assisen zu entgehen.

Die würdige alte Zillah sprang auf, überzeugt, daß ich mit meiner Annahme den Nagel aus den Kopf getroffen habe. »Gott steh’ uns bei!« rief die Alte. »Ich habe die Gartenthiir nicht zugeriegelt!«

Sie rannte zum Zimmer hinaus, um uns, ehe es zu spät wäre, vor Raub und Mord zu schützen. Ich sah Lucilla an. Sie saß in ihrem Stuhle zurück gelehnt, mit einem verächtlichen Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht. »Madame Pratolungo«, sagte sie, »eben haben Sie zum ersten Male, seit Sie hier sind etwas Thörichtes gesprochen.«

»Nicht so rasch, wenn ich bitten darf, liebes Fräulein«, erwiderte ich. »Sie haben erklärt, daß nichts über diesen Mann bekannt sei. Nun, damit meinen Sie, nichts, was Sie befriedigt. Er ist doch vermuthlich nicht vom Himmel gefallen? Der Zeitpunkt, in welchem er hierher gekommen ist, muß doch bekannt sein. Und ebenso, ob er allein oder in Gesellschaft hergekommen ist. Ferner, wie und wo er eine Wohnung im Dorfe gefunden hat. Bevor ich zugeben kann, daß ich mit meiner Vermuthung auf ganz falscher Fährte bin, muß ich hören, was die Leute in Dimchurch bis jetzt über diesen Mann in Erfahrung gebracht haben. Wie lange ist er schon hier?«

Lucilla schien sich anfänglich wenig für die rein praktische Auffassung der Frage, wie ich sie eben entwickelt hatte, zu interessiren.

»Er ist jetzt seit einer Woche hier«, warf sie nach lässig hin.

»Kam er, wie ich, über die Hügel her?«

»Ja.«

»Natürlich mit einem Führer?«

Bei dieser Frage richtete sich Lucilla plötzlich in ihrem Stuhle auf. »Mit seinem Bruder« antwortete sie. »Mit seinem Zwillingsbruder, Madame Pratolungo.

Jetzt richtete auch ich mich in meinem Stuhle auf .

Das Auftreten feines Zwillingsbruders in der Geschichte war schon an und für sich eine Verwickelung. Da waren also zwei entwichene Verbrecher statt eines!

»Wie fanden sie den Weg hierher? war meine nächste Frage.

»Das weiß niemand.«

»Wohin gingen sie zunächst, als sie herkamen?«

»In die »Gute Hand«, das kleine Wirthshaus im Dorfe. Der Wirth erzählte Zillah, die beiden Herren sähen sich merkwürdig ähnlich. Es sei unmöglich, sie von einander zu unterscheiden, die Aehnlichkeit sei selbst für Zwillinge erstaunlich. Sie kamen früh Morgens an, als die Schenkstube noch leer war und hatten eine lange vertrauliche Unterhaltung mit einander. Als diese vorüber war, klingelten sie dem Wirth und fragten ihn, ob er ein Schlafzimmer im Hause übrig habe. Sie werden selbst gesehen haben, daß die »Gute Hand« nur eine Bierschenke ist. Der Wirth hatte ein Zimmer übrig, ein elendes Stübchen, das kein Schlafzimmer für einen Gentleman war. Einer der Brüder miethete gleichwohl das Zimmer.«

»Und was wurde aus dem anderen Bruder?«

»Der ging noch an demselben Tage sehr ungern fort. Sie nahmen den zärtlichsten Abschied von einander. Der Bruder, welcher heute Abend mit uns gesprochen hat, bestand auf der Abreise des Anderen, sonft würde ihn dieser nicht verlassen haben. Sie vergossen beide Thränen —«.

»Sie haben noch etwas Schlimmeres gethan«, sagte die alte Zillah, die in diesem Augenblicke wieder ins Zimmer trat. »Ich habe unten alle Thüren und Fenster festgeschlossen. Er kann jetzt nicht hinein, liebes Kind, wenn er es auch versucht..

»Wieso haben sie denn noch etwas Schlimmeres gethan?« fragte ich.

»Sie haben sich geküßt«, sagte Zillah mit dem Ausdruck des tiefsten Widerwillens.

»Vielleicht sind es Fremde?« schlug ich vor. »Haben sie ihre Namen genannt?«

»Der Wirth fragte den Zurückbleibenden nach seinem Namen«, erwiderte Lucilla. »Er nannte sich »Dubourg«.

Diese Antwort bestärkte mich in meiner Vermuthung »Dubourg« ist in Frankreich ein so gewöhnlicher Name wie »Jones« oder »Thompson« in England. Gerade so ein Name, wie ihn ein Mann, der nicht gekannt sein will, sich bei uns beilegen würde. Sollte dieser Verbrecher ein Landsmann von mir sein? Nein, er hatte durchaus nicht mit fremdem Aceent, sondern das reinste Englisch gesprochen; darüber konnte kein Zweifel obwalten. Und doch hatte er sich einen französischen Namen gegeben. Sollte er sich damit absichtlich einer Insulte gegen meine Nation schuldig gemacht haben? Ja, nicht damit zufrieden, sich mit unzähligen Verbrechen befleckt zu haben, hatte er dem Register seiner Scheußlichkeiten noch eine Insulte gegen meine Nation hinzugefügt?

»Nun?« nahm ich wieder auf. »Wir haben diesen unentdeckten Spitzbuben allein im Wirthshaus gelassen, ist er noch dort?«

»Wo denken Sie hin!« rief die alte Amme. »Er hat sich hier in der Gegend häuslich niedergelassen; er hat Browndown gemiethet!«

Ich wandte mich gegen Lucilla. »Browndown gehört doch jemandem«, sagte ich, indem ich es wagte, wieder eine Vermuthung auszusprechen. »Halt es denn jemand vermiethet, ohne sich nach dem Miether zu erkundigen?«

»Browndown gehört einem Herrn in Brighton«, antwortete Lucilla. »Und der Herr wurde wegen Auskunft über den Miether an ein wohlbekanntes Haus in London, eine der großen kaufmännischen Firmen in der City verwiesen. Daran knüpft sich der unerklärlichste Punkt des ganzen Geheimnisses. Der Chef des Londoner Hauses erklärte: »Ich kenne Herrn Dubourg seit meiner Kindheit. Er hat seine Gründe, zu wünschen, in der größten Zurückgezogenheit zu leben. Ich stehe dafür, daß er ein ehrenwerther Mann ist, dem Sie ruhig Ihr Haus vermiethen können. Mehr darf ich Ihnen nicht mittheilen.« Mein Vater kennt den Eigenthümer von Browndown und dieser hat ihm die erhaltene Auskunft wörtlich so mitgetheilt. Ist das nicht eigenthümlich? Am nächsten Tage wurde ihm das Haus auf sechs Monate vermiethet. Es ist elend meublirt. Herr Dubourg hat sich verschiedene Sachen von Brighton kommen lassen. Außer dem Mobiliar ist heute noch eine Kiste aus London in dem Hause angekommen die so fest vernagelt war, daß nach dem Zimmermann geschickt werden mußte, um sie zu öffnen. Der Zimmermann berichtete, daß die Kiste mit dünnen goldenen und silbernen Platten angefüllt sei und daß sich dabei noch ein Kasten mit eigenthümlichen Werkzeugen befände, deren Gebrauch dem Zimmermann völlig unbekannt sei. Herr Dubourg verschloß diese Dinge in ein an der Rückseite des Hauses gelegenes Zimmer und steckte den Schlüssel in die Tasche; Er schien vergnügt; er pfiff ein Lied und sagte: »Nun wird die Sache gehen!« Das wissen wir von der Wirthin in der »Guten Hand«. Sie kocht ihm das Essen und ihre Tochter hält ihm das Haus in Ordnung. Sie gehen Morgens zu ihm und kehren Abends wieder nach ihrem Hause zurück. Er hat weiter keine Bedienung bei sich. Nachts ist er ganz allein. Ist das nicht interessant? Ein Geheimmniß mitten im alltäglichen Leben, es intriguirt Jedermann.«

»Sie müssen hier sonderbare Leute sein, mein liebes Kind,« erwiderte ich, »in einem so einfachen Fall, wie diesem, etwas Geheimnißvolles zu finden«

»Einfach?« erwiderte Lucilla außer sich vor Erstaunen.

»Unzweifelhaft führt Alles, die Gold: und Silber Platten die eigenthümlichen Werkzeuge, das zurückge zogene Leben und das Nachhauseschicken der Dienstboten am Abend, zu demselben Scshlnß Meine Vermuthung zist richtig; der Mann ist ein entlaufen er Verbrecher kund sein Verbrechen besteht in Falschmünzerei. Man ist ihm in Exeter auf die Spur gekommen er hat sich dem Arm der Gerechtigkeit zu entziehen gewußt und er will hier wieder von Frischem anfangen. Sie können ja thun, was Ihnen gefällt. Wenn ich einmal kleine Münze brauchen sollte, so würde ich mich hüten sie mir hier in der Gegend zu verschaffen«

Lucilla lehnte sich wieder in ihren Stuhl zurück Es war klar, daß sie mich in Betreff f des Herrn Dubourg für ebenso böswillig, wie unversserlich auf falscher Fährte wähnte.

»Ein Falschmünzer, den der Chef eines der ersten Handlungshäuser in London für seinen ehrenwerthen Mann erklärt«, rief sie aus. »Wir Engländer sind gelegentlich sehr excentrisch, aber unsere nationale Verrücktheit hat doch ihre Grenzen, Madame Pratolungo, und Sie haben mit Ihrer Annahme diese Grenzen bereits überschritten. Wollen wir ein wenig musiciren?«

Sie sagte das in einem etwas empfindlichen Tone. Herr Dubourg war der Held ihres Romans Jeder von mir gemachte Versuch, ihn in ihrer Achtung herab zusetzen war ihr empfindlich. Gleichwohl beharrte ich bei meiner ungünstigen Meinung von ihm. Bei unserer Meinungsverschiedenheit handelte es sich, wie ich es ihr hätte sagen können, um die Frage, ob der Londoner Kaufmann Glauben verdiene oder nicht. Nach ihrer Ansicht bot sein Reichthum eine genügende Gewähr für seine Redlichkeit. Nach meiner gut socialistischen Ansicht sprach gerade dieser Umstand entschieden gegen ihn. Kapitalist und Falschmünzer, beide sind jeder in seiner Art Räuber. Ob der Kapitalist den Falschmünzer oder der Falschmünzer den Kapitalisten empfiehlt, gilt mir ganz gleich. In beiden Fällen sind, wie es in einem englischen Stück vortrefflich heißt, die Ehrlichen das weiche behagliche Kissen, auf welchem diese Spitzbuben sich ausruhen und mästen. Ich stand im Begriff, Lucilla diese meine weitere und liberalere Auffassung des Gegenstandes mitzutheilen. Aber ach! Es war nur zu klar, daß das arme Kind von den beschränkten Vorurtheilen der Gesellschaft, in welcher sie lebte, angesteckt war. Wie sollte ich mich am ersten Tage unseres Beisammenseins der Gefahr einer Veruneinignng aussetzen? Nein, das durfte nicht geschehen! Ich gab dem allerliebsten hübschen, blinden Mädchen einen Kuß; wir gingen zusammen nach dem Klavier und ich verschob den Versuch, aus Lucilla eine gute Socialistin zu machen, auf eine passendere Gelegenheit. Wir hätten das Klavier ebenso gut uneröffnet lassen können. Es wollte mit der Musik durch aus nicht gehen. Ich spielte so gut ich konnte, Mozart, Beethoven, Schubert, Chopin. Sie hörte mir mit dem besten Willen, Vergnügen daran zu finden, zu; sie dankte mir zu wiederholten Malen; sie versuchte es, auf meine Bitte selbst zu spielen und wählte die ihr vertrauten Compositionen, welche sie auswendig wußte. Vergebens! Der abscheuliche Dubourg, der ihr ganzes Interesse in Anspruch genommen hatte, war nicht zu verdrängen. Sie versuchte und versuchte, aber es wollte nicht gehen. Seine Stimme klang ihr noch in den Ohren und das war die einzige Musik, für welche sie diesen Abend Sinn hatte. Ich setzte mich wieder ans Klavier und fing noch einmal an zu spielen. Plötzlich schlug sie mir die Hände von den Tasten und sagte flüsternd: »Ist Zillah hier?« Ich sagte ihr, daß Zillah das Zimmer verlassen habe. Da legte sie ihr reizendes Köpfchen auf meine Schulter, seufzte krampfhaft und brach in die Worte aus: »Ich kann nicht anders, ich muß fortwährend an ihn denken. Zum ersten Male in meinem Leben fühle ich mich unglücklich! nein — glücklich! O, was müssen Sie von mir denken! Ich weiß nicht, was ich rede. Warum ermuthigten Sie ihn, mit uns zu sprechen? Ohne Sie hätte ich vielleicht nie seine Stimme gehört.« Sie richtete sich mit einem kleinen Schauer wieder auf und beruhigte sich. Mit der einen Hand fuhr sie über die Tasten hin und spielte leise. »Seine reizende Stimme«, flüsterte sie träumerisch, während sie spielte, »o, seine reizende Stimme!« Dann hielt sie wieder inne und sagte, indem sie ihre Hand von den Tasten herab sinken ließ und meine Hand erfaßte, halb zu sich selbst, halb zu mir: »Ist das Liebe?«

Meine Pflicht als respectable Frau war mir klar vorgezeichnet; ich mußte ihr eine Lüge sagen. »Es ist nichts weiter, liebes Kind«, sagte ich, »als zu große Aufregung und zu große Ermüdung. Morgen sollen Sie wieder mein junges Fräulein sein, heute Abend müssen Sie nur mein Kind sein. Kommen Sie, lassen Sie mich Sie zu Bett bringen«

Sie fügte sich mit einem müden Seufzer. O, wie lieblich sie aussah, das unschuldige bekümmerte Wesen, als sie in ihrer reizenden Nachttoilette vor ihrem Bette kniete und ihr Nachtgebet sprach. Ich bekenne es offen, ebenso rasch im Lieben wie im Hassen zu sein. Als ich ihr gute Nacht gesagt und sie verlassen hatte, fühlte ich, daß ich sie nicht zärtlicher hätte lieben können, wenn sie mein eigenes Kind gewesen wäre. Jeder meiner Leser ist, wenn er nicht ein äußerst zurückhaltendes Wesen hat, wohl einmal Leuten von meiner Art begegnet, die ihm bei einer Fahrt auf der Eisenbahn oder als Nachbarn an der table d’hôte sofort die vertraulichsten Mittheilungen über alle ihre Privatangelegenheiten gemacht haben. Ich glaube, ich werde es bis an mein Ende nicht aufgeben, bei einer vorüber gehenden Begegnung mit Fremden alsbald Freundschaft mit ihnen zu schließen. Der niederträchtige Dubourg! Wenn ich an jenem Abende nach Browndown hätte gelangen können, hätte ich gern an ihm gethan, was eine mexikanische Magd, die ich in der centralamerikanischen Periode hatte, mit ihrem betrunkenen Manne that, der eine Art von Hausirer war und mit Peitschen und Stöcken handelte. Eines Abends nähte sie ihn als er, seinen Rausch verschlafend, auf dem Bette lag, fest in sein Betttuch ein, holte dann seinen ganzen Waarenvorrath aus der Ecke des Zimmers hervor und schlug denselben auf ihm kurz und klein, bis er von Kopf bis zu Fuß zu einer gallertartigen Masse zusammengeprütgelt war. Da mir dieses Hilfsmittel nicht zu Gebote stand, setzte ich mich in meinem Schlafzimmer hin und überlegte, was ich, wenn die Angelegenheit mit Dubourg sich noch weiter fortspinnen sollte, zunächst zu thun haben würde.

Ich habe bereits erwähnt, daß Lucilla und ich den ganzen Nachmittag recht nach Frauenart damit zugebracht hatten, über uns selbst zu plaudern. Zum; besseren Verständniß des Gedankenganges, den ich bei meinen Erzählungen verfolgte, will ich hier der Hauptsache nach das erzählen, was mir Lucilla über ihre eigenthümliche Stellung in dem Hause ihres Vaters mitgetheilt hatte.



Sechstes Kapitel - Ein Käfig voll von Finch’s...

Es giebt nach meinen Erfahrungen große Familien von zweierlei Art. Familien, deren Glieder alle einander bewundern, und solche, deren Glieder sich unter einander verabscheuen. Ich für meinen Theil ziehe die zweite Art vor. Ihre Zänkereien sind ihre Sache und sie haben einen Vorzug, den die erstere Art nicht besitzt, den nämlich, daß sie bisweilen im Stande sind, die guten Eigenschaften von Personen zu erkennen, welche nicht das Glück haben, ihre Blutsverwandten zu sein. Die Familien, deren Glieder sich alle unter einander bewundern, sind mit einer unerträglichen Selbstgefälligkeit behaftet. Wenn man mit solchen Leuten zufällig von Shakespeare als einem Typus höchster geistiger Begabung spricht, kann man sicher sein, daß ein weibliches Mitglied der Familie Einem zu verstehen geben wird, man würde ein viel schlagenderes Beispiel angeführt haben, wenn man sie auf ihren »lieben Papa« verwiesen hätte. Geht man aber mit einem männlichen Mitgliede dieser Familie spazieren und sagt von einer vor übergehenden Dame: »Welch’ ein reizendes Geschöpf!« so kann man sich darauf verlassen, daß der Mann über unsere Einfalt lächelt und verwundert fragt: ob man nie seine Schwester in Balltoilette gesehen habe? Das sind die Familien, deren Glieder, wenn sie getrennt sind, täglich mit einander correspondiren. Sie lesen uns Auszüge aus ihren Briefen vor und sagen: »Wo ist der Schriftsteller, der so zu schreiben versteht?« Sie reden in unserer Gegenwart von ihren Privatangelegenheiten und scheinen zu meinen, daß wir uns dafür interessiren müßten; sie amüsiren sich über Tisch über ihre eigenen Witze und können nicht begreifen, daß wir uns nicht auch amüsiren. In häuslichen Kreisen dieser Art sitzen die Schwestern gewöhnlich auf dem Schoße ihrer Brüder und erkundigen sich die Männer so ungenirt nach den körperlichen Beschwerden ihrer Frauen, als wenn sie mit ihnen allein wären. Wenn wir einmal in einem fortgeschritteneren Stadium der Civilisation angelangt sein werden, wird der Staat dafür sorgen, daß diese unerträglichen Menschen in Käfige gesperrt und daß an die Straßenecken Anschlagszettel geklebt werden, auf welchen zu lesen stehen wird: »Man hüte sich vor Numero Zwölf: da wohnt eine Familie die sich im Zustande gegenseitiger Bewunderung befindet.«

Aus Lucilla’s Mittheilungen ersah ich, daß die Finchs zu der zweiten oben erwähnten Art großer Familien gehören. Kaum ein einziges Mitglied dieser Familie stand mit dem andern auch nur auf einem Sprechfuß. Und einige von ihnen waren Jahrelang von einander getrennt gewesen, ohne auch nur ein einziges Mal die Post für die Beförderung eines noch so knappen Ausdrucks ihrer Gefühle gegen einander in Anspruch genommen zu haben. Die erste Frau des ehrwürdigen Finch war ein Fräulein Batchford gewesen; die Mitglieder ihrer Familie, welche zur Zeit ihrer Verheirathung nur aus einem Bruder und aus einer Schwester bestanden, waren mit dieser Partie sehr unzufrieden; der Rang eines Finch — ich lache über diese erbärmlichen Rangunterschiede —, wurde in diesem Falle dem Range eines Batchford nicht ebenbürtig befunden. Nichtsdestoweniger heirathete Fräulein Batchford den Ehrwürdigen Finch; ihr Bruder und ihre Schwester lehnten es ab, der Trauung beizuwohnen. Das war der erste Zank. Lurilla wurde geboren; der ältere Bruder des Ehrwürdigen Finch, der mit keinem anderen Mitgliede der Familie sprach, trat mit dem christlichen Vorschläge hervor, sich über der Wiege des neugebornen Kindes die Hände zu reichen. Der Vorschlag wurde von den großherzigen Batchfords angenommen. Erste Versöhnung. Die Zeit verging; der Ehrwürdige Finch, der damals ein kärglich besoldeter Pfarrgehilfe an einer Kirche in der Nähe einer großen Fabrikstadt war, fühlte einen Mangel, nämlich den Mangel an Geld, und nahm sich eine Freiheit, nämlich die Freiheit, von seinem Schwager Geld zu borgen. Herr Batchford, der ein reicher Mann war, betrachtete diese Eröffnung, wie wohl kaum bemerkt zu werden braucht, in dem Lichte einer Insulte. Fräulein Batchford trat auf die Seite ihres Bruders. Das war der zweite Zank. Wieder verging die Zeit. Die erste Frau Finch starb. Der ältere Bruder des ehrwürdigen Finch, der noch immer mit den übrigen Mitgliedern der Familie auf dem schlechtesten Fuße stand, machte einen zweiten christlichen Vorschlag, nämlich sich über dem Grabe der verstorbenen Frau die Hände zu reichen. Auch dieser Vorschlag wurde von den trauernden Bartchfords angenommen. Und eine zweite Versöhnung erfolgte. Wieder verging die Zeit. Der Ehrwürdige Finch, der nun Wittwer war und eine Tochter hatte, machte die Bekanntschaft eines Bewohners der großen Stadt, in deren Nähe er ale Pfarrgehilfe fungirte, welcher gleichfalls Wittwer war und eine Tochter hatte. Dieser Wittwer war seinem social-politisch-religiösen Stande nach ein radicaler baptistischer Schuster. Der Ehrwürdige Finch, der noch immer an Geldmangel litt, setzte sich über das Alles weg und heirathete die Tochter mit einer Mitgift von dreitausend Pfund. Dieses Verfahren entfremdete ihm für immer nicht nur die Batchfords, sondern auch den friedenstiftenden älteren Bruder. Dieser vortreffliche Christ stand von nun an mit seinem Bruder wie mit der übrigen Familie auf gespanntem Fuße. Die Folge davon war die vollständige Isolirung des Ehrwürdigen Finch. Die zweite Frau Finch gab regelmäßig jedes Jahr Gelegenheit sich die Hände zu reichen, nicht nur über einer Wiege, sondern bisweilen über zwei Wiegen. Aber diese so verdienstliche Fruchtbarkeit blieb doch fruchtlos! Dieselbe führte zu nichts als einer Art von Compromiß; Lucilla, aus welche bei der raschen Zunahme der zweiten Familie des Rectors wenig mehr geachtet wurde, erhielt Erlaubniß, ihre mütterliche Tante und ihren mütterlichen Onkel jedes Jahr zu bestimmten Zeiten zu besuchen. Das arme Kind, welches allem Anscheine nach bei seiner Geburt im vollen Besitze seiner Sehkraft gewesen, war noch vor vollendetem ersten Lebensjahre unheilbar erblindet. In allen an deren Beziehungen war sie ihrer Mutter auffallend ähnlich. Der ledige Onkel Batchford und seine alte ledige Schwester faßten beide die zärtlichste Zuneigung zu dem Kinde. »Unsere Nichte Lucilla«, sagten sie, »hat unsere innigsten Hoffnungen erfüllt, sie ist eine Batchford, keine Finch!« LucillaIs Vater aber, der um diese Zeit zum Pfarrer von Dimchurch befördert war, sagte nur: »Laßt sie nur reden. Wartet nur ein wenig und die Sache wird uns Geld bringen.« Und Geld brauchte er allerdings sehr; bei der Fruchtbarkeit von Frau Finch, welche Jahr für Jahr die Zahl ihrer Wiegen um eine vermehrte, bis der im Jahrgehalt stehende Hausarzt selbst der Sache überdrüssig wurde und eines Tages äußerte: »Es ist nicht wahr, daß Alles ein Ende hat; die Vervielfältigungsfähigkeit von Frau Finch hat kein Ende.«

Lucilla wuchs heran und hatte das zwanzigste Jahr erreicht, bevor sich die Hoffnungen ihres Vaters verwirklichten und Geld zum Vorschein kam. Onkel Batchford starb unverheirathet und hinterließ sein Vermögen seiner ledigen Schwester und seiner Nichte zu gleichen Theilen. Die Zinsen, deren Lucilla nach Eintritt ihrer Volljährigkeit sich zu erfreuen haben sollte, betrugen jährlich fünfzehnhundert Pfund. Diese Erbschaft war jedoch an zwei in dem Testament sehr ausführlich entwickelte Bedingungen geknüpft. Diese Bedingungen liefen darauf hinaus: Erstens es dem ehrwürdigen Finch vollkommen unmöglich zu machen, unter irgend welchen Umständen einen Heller des Lueilla hinterlassenen Vermögens von ihr zu erben und zweitens, Lucilla, so lange sie unverheirathet bleibe, während eines Zeitraums von drei Monaten in jedem Jahr aus dem Hause ihres Vaters zu entfernen und unter die Obhut ihrer ledigen Tante zu stellen.

Das Testament sprach sich über den Zweck dieser letzten Bedingung in der unumwundensten Weise aus: »Ich sterbe wie ich gelebt habe«, hieß es in dieser letztwilligen Verfügung Onkel Batchford’s, »als ein Anhänger der Hochkirche und ein Tory. Mein Vermächtniß an meine Nichte soll nur unter folgenden Bedingungen gültig sein, nämlich: daß sie während eines bestimmten, periodisch wiederkehrenden Zeitraums den religiös dissentirenden und politisch radicalen Einflüssen im Hause ihres Vaters entzogen und unter die Obhut einer englischen Dame gestellt werde, welche mit den Vortheilen der Geburt und Erziehung den Besitz reiner und ehrenwerther Principien verbindet « u.s.w. u.s.w.

Man kann sich vorstellen, was der Ehrwürdige Finch empfand, als er an der Seite seiner Tochter nebst den andern Leidtragenden der Verlesung des Testaments beiwohnte und dies mit anhören mußte. Er erhob sich als echter Engländer und hielt eine Anrede an die Versammlung. »Meine Damen und Herren«, sagte er, »ich gebe zu, daß ich in der Politik liberalen Grundsätzen huldige und daß die Familie meiner Frau zu den Dissenters gehört. Als ein Beispiel für die in Folge dieser Richtungen in meinem Hause herrschenden Grundsätze erlaube ich mir Ihnen zu erklären, daß meine Tochter dieses Vermächtniß mit meiner vollen Genehmigung acceptirt, und daß ich Herrn Batchford vergebe.« Mit diesen Worten gab er seiner Tochter den Arm und verließ mit ihr das Zimmer. Er hatte, wohlgemerkt, genug gehört, um gewiß zu sein, daß Lucilla, solange sie unverheirathet sei, mit ihrem Einkommen thun könne, was sie wolle. Noch bevor sie nach Dimchurch zurückgekehrt waren, hatten der Ehrwürdige Finch mit seiner Tochter ein Arrangement dahin getroffen, daß sie eine voll kommen unabhängige Stellung in dem Pfarrhause erhalten, dagegen ihrem Vater jährlich die Summe von 500 Pfund als ihren Beitrag zur Wirthschaft tragen solle. Bei dieser Mittheilung empfand ich das tiefste Bedauern darüber, daß Finch mit seinen liberalen Principien nicht den Dritten im Bunde mit meinem armen Pratolungo und mir in Central-Amerika gebildet habe. Wenn wir uns seines Raths hätten erfreuen können, würden wir die heilige Sache der Freiheit gerettet haben, ohne einen Heller dafür aus zugeben.

Der bis dahin unbewohnte alte Theil des Pfarrhauses wurde, natürlich auf Lucilla’s Kosten, in Ordnung gebracht und möblirt. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstage waren die Reparaturen vollendet und wurde die erste Rate des mit Lucilla ausbedungenen Hausstandsgeldes bezahlt und die Tochter als eine unabhängige Einwohnerin in dem Hause ihres Vaters installirt. Um den Leser in den Stand zu setzen, die Schlauheit des von Finch getroffenen Arrangements ganz würdigen zu können, sei hier noch bemerkt, daß Lucilla, als sie heranwuchs, ein: steigende Abneigung gegen den Aufenthalt im väterlichen Hause gezeigt hatte. In ihrer Blindheit war ihr das ewige lärmende Getümmel der Kinder lästig; zwischen ihr und ihrer Stiefmutter bestand nicht die geringste Sympathie und mit ihrem Verhältniß zu ihrem Vater stand es nicht viel anders. Sie empfand Mitleid mit seiner Armuth und behandelte ihn mit der Nachsicht und der Achtung, auf die er als ihr Vater Anspruch hatte. Was aber wahre Liebe und Verehrung betrifft — nun darüber will ich lieber schweigen. Ihre glücklichsten Tage waren die mit ihrem Onkel und ihre Tante verlebten; ihre Besuche bei den Batchfords hatten sich mit jedem Jahre weiter ausgedehnt. Wenn ihr Vater es nicht bei seinem Appell an die Sympathien der Tochter geschickt so einzurichten verstanden hätte, ihr das fernere Verbleiben im väterlichen Hause unter völliger Wahrung ihrer Unabhängigkeit als möglich vorzustellen, würde sie nach erreichter Volljährigkeit entweder ganz zu ihrer Tante gezogen sein oder sich selbständig etablirt haben. So aber hatte sich der Pfarrer unter für beide Theile acceptablen Bedingungen seine 500 Pfund jährlich gesichert und, was noch mehr war, er hatte seine Tochter beständig unter Augen; denn, wohlgemerkt, es gab eine schreckliche, ihm in der Zukunft drohende Möglichkeit, die nämlich, einer Verheirathung Lueilla’s.

Das war zu der Zeit, wo ich im Pfarrhause eintraf, die eigenthümliche Stellung Lucilla’s. Man wird es daher jetzt begreiflich finden, wie völlig rathlos ich war, als ich mir am Abende des Tages meiner Ankunft das Vorgefallene durch den Kopf gehen ließ und mich fragte, was mir in der Angelegenheit des geheimnißvollen Fremden demnächst zu thun obliege. Ich hatte Lueilla alleinstehend gefunden, in ihrer Blindheit hilflos, abhängig von Andern und in dieser traurigen Lage ohne eine Mutter oder eine Schwester oder selbst eine Freundin, an deren Busen sie vertrauensvoll ruhen, auf deren Rath und Beistand sie sich hätte verlassen können. Der erste Eindruck, den ich auf sie gemacht hatte, war ein günstiger gewesen, ich hatte sofort ihre Zuneigung gewonnen, wie sie die meinige. Ich hatte sie, ohne zu ahnen was in ihr vorging, auf einem Abendspaziergange begleitet. Ich hatte ganz zufällig einen Fremden vermocht, das imaginäre Interesse, das sie bereits an ihm nahm, dadurch zu verstärken, daß ich ihn veranlaßte, zum ersten Male in ihrer Gegenwart laut zu reden.

In einem Augenblicke nervöser Aufregung und in reiner Verzweiflung jemanden Anderes zu finden, dem sie sich anvertrauen konnte, hatte das arme, thörichte, einsame, blinde Mädchen mir ihr Herz geöffnet. Was sollte ich thun? Wenn es ein gewöhnlicher Fall gewesen wäre, würde die ganze Angelegenheit einfach lächerlich gewesen sein. Aber Lucilla’s Fall’war kein gewöhnlicher. Das Gemüth der Blinden ist durch ihr grausames Schicksal nothwendig nach innen gekehrt. Sie leben ein von dem unsrigen gesondertes, ach wie hoffnungslos gesondertes Leben, in ihrer eigenen dunkeln Welt, von welcher wir nichts wissen. Welchen Trost konnte die äußere Welt Lucilla gewähren? Keinen! Es war eine Folge ihrer traurigen Freiheit, daß sie unablässig ungestört bei dem idealen Geschöpf ihrer eigenen Phantasie verweilen konnte. Innerhalb der engen Grenzen des einzigen Eindrucks, weichen sie von diesem Manne durch die Schönheit seiner Stimme in sich hatte aufnehmen können, konnte ihre Phantasie in dem undurchdringlichen Dunkel ihres Daseins schrankenlos arbeiten. Welch’ ein Bild! Mich schaudert, indem ich es entwerfe. O, ich weiß sehr wolle wie leicht es ist, der Sache eine ganz andere Seite abzugewinnen und über die Thorheit eines Mädchens zu lachen, welches zuerst seine Einbildungskraft mit dem Bilde eines ihr ganz Fremden erhitzt und sich dann, sobald sie ihn sprechen hört, in seine Stimme verliebt! Wenn man aber hinzu nimmt, daß dieses Mädchen blind ist, daß sie auf die Welt ihrer Einbildungskraft angewiesen ist und das sie zu Hause niemanden hat, der einen heilsamen Einfluß auf sie ausüben könnte, wird man auch dann in einem solchen Zustande nichts der Theilnahme Würdiges finden? Was mich betrifft, so fand ich, obgleich ich einer leichtherzigen Nation angehöre, die Alles wegzulachen gewohnt ist, an jenem Abend, als ich mich bei meiner Nachttoilette im Spiegel sah, mich entsetzlich ernst und alt aussehend. Ich sah mein Bett an. Pah! wozu sollte ich zu Bett gehen? Lucilla war ihre eigene Herrin; es stand ihr voll kommen frei, demnächst allein nach Browndown zu gehen und sich in die Gewalt eines möglicher Weise ehrlosen und ränkesüchtigen Menschen zu geben. Wer war ich? Nur ihre Gesellschafterin. Ich hatte kein Recht einzuschreiten, und doch würde man mich, wenn irgend etwas vorfallen sollte, tadeln. Es ist leicht, zu sagen, »man hätte etwas thun sollen.« Wen konnte ich um Rath fragen? Die würdige alte Amme war nur eine Dienerin. Konnte ich mich an die lymphatische Dame mit dem Baby in der einen und dem Roman in der andern Hand wenden? Alberner Gedanke! An ihre Stiefmutter durfte ich nicht denken. Und ihr Vater? Nach dein, was ich bis jetzt von ihm gehört, konnte ich keine günstige Meinung von der Fähigkeit des Ehrwürdigen Finch haben, in einer Angelegenheit dieser Art erfolgreich einzuschreiten. Gleichviel, er war doch ihr Vater, und ich konnte es immerhin einmal mit ihm versuchen. Als ich Zillah’s Fußtritte draußen auf dem Corridor vernahm, ging ich zu ihr hinaus.

Im Laufe einer kleinen Unterhaltung gedachte ich beiläufig des Herrn vom Hause Wie kam es, daß ich ihn noch nicht gesehen hatte? Das hatte den sehr triftigen Grund, daß er zum Besuch eines Freundes nach Brighton gegangen war. Es war Dinstag und er wurde am »Predigttage«, das heißt am Sonnabend derselben Woche zurück erwartet. Ich kehrte etwas aufgeregt in mein Zimmer zurück. In diesem Zustande pflegt mein Geist mit wunderbarer Freiheit zu arbeiten. Ich hatte wieder eine Inspiration. Herr Dubourg hatte sich heute Abend die Freiheit genommen, mit mir zu sprechen: Gut. Ich beschloß, am nächsten Tage allein nach Browndown zu gehen und mir die Freiheit zu nehmen, mit Herrn Dubourg zu sprechen. War mir dieser Entschluß nur durch mein Interesse für Lucilla eingegeben, oder hatte meine Neugierde die ganze Zeit über unter der Oberfläche gearbeitet und, mir selbst unbewußt, meine Erwägungen beeinflußt? Ich ging zu Bett, ohne mich das zu fragen. Ich rathe meinen Lesern, sich auch zur Ruhe zu begeben.



Siebentes Kapitel - Der Mann bei Tageslicht

Als ich an jenem Abende mein Licht aus löschte, beging ich ein Versehen; ich verließ mich darauf, daß, ich am nächsten Morgen zeitig aufwachen würde. Ich hätte Zillah bitten sollen, mich zu wecken.

Es vergingen Stunden, bevor ich die Augen schließen konnte und mein Schlaf war, als er endlich kam, äußerst unruhig bis Tagesanbruch. Da erst schlief ich fest ein. Als ich wieder aufwachte und nach meiner Uhr sah, fand ich zu meinem Schrecken, daß es bereits zehn Uhr sei.

Ich sprang aus dem Bette und klingelte der alten Amme. Ich fragte sie, ob Lucilla zu Hause sei.

Nein, lautete die Antwort, sie sei ein wenig spazieren gegangen

»Allein?«

»Ja, allein«

»Wohin ist sie gegangen?«

»Ja der Richtung des Thales von Browndown zu.«

Ich zog sofort meine Schlüsse.

Dank meiner Trägheit, welche mich die kostbaren Morgenstunden im Bette hatte verschlafen lassen, war Lucilla mir zuvorgekommen. Das einzige, was mir zu thun übrig blieb, war, ihr so rasch wie möglich zu folgen. Eine halbe Stunde später machte ich allein einen kleinen Spaziergang, und nahm ebenfalls meinen Weg in der Richtung des Thales von Browndown zu.

Ländliche Stille herrschte rund um das kleine einsame Haus. Ich ging an demselben vorüber und bog in die nächste Windung des Thales ein. Kein menschliches Wesen war zu sehen. Ich kehrte um und ging wieder nach Browndowm um zu recognosciren. Ich stieg die Anhöhe hinan, auf welcher das Häuschen lag, und näherte mich demselben von der Rückseite her. Alle Fenster standen offen; ich horchte. Denke niemand, daß ich dabei irgend welche Scrupel empfand. Nur eine Thörin hätte bei einer solchen Gelegenheit etwas derart empfinden können. Ich horchte mit beiden Ohren, durch ein Fenster an der Seite vernahm ich den Klang von Stimmen. Ich trat geräuschlos auf dem Rasen näher und hörte Dubourgs Stimme. Eine Frauen stimme antwortete ihm. Aha, ich hatte sie also ertappt.

»Wunderbart« hörte ich ihn sagen. »Ich glaube, Sie haben Augen in Ihren Fingerspitzen. Nehmen Sie jetzt einmal dies in die Hand und versuchen Sie ob Sie mir sagen können, was es ist.«

»Eine kleine Vase«, antwortete sie in so ruhigem Tone, als ob sie ihn seit Jahren gekannt hätte. »Warten Sie, lassen Sie mich fühlen, was für Metalles ist. Silber? Nein, Gold .Haben Sie diese Vase wirklich auch selbst gemacht wie den Kasten.«

»Ja Eine sonderbare Liebhaberei, nicht wahr getriebene Arbeiten in Gold und Silber zu machen. Vor Jahren traf ich in Italien einen Mann, der mich diese Kunst lehrte. Es machte mir damals Vergnügen und macht mir noch heute Vergnügen. Als ich im vorigen Frühjahr in der Reconvalescenz von einer Krankheit war, verfertigte ich diese Vase aus dem Metall und versah sie mit den darauf befindlichen Ornamenten.

»Da ist mir also wieder ein Geheimniß enthüllt«, rief sie aus. »Jetzt weiß ich, wozu Sie sich jene Gold — und Silberplatten aus London haben kommen lassen. Wissen Sie auch, in welchem Ruf Sie hier stehen? Es giebt hier Leute, die Sie im Verdacht haben, ein Falschmünzer zu sein!«

Beide brachen wie muntere Kinder in ein lautes Lachen aus. Ich muß bekennen, ich wünschte auch im Zimmer zu sein. Aber nein, ich hatte meine Pflicht als respectable Frau zu erfüllen. Meine Pflicht war mich noch etwas näher an das Fenster heranzuschleichen und zu sehen, ob irgend welche Vertraulichkeiten zwischen diesen beiden jungen munteren Leuten gewechselt würden. Die eine Hälfte des offenen Fensters war durch eine Jalousie geschützt. Ich stellte mich hinter die Jalousie und guckte hinein. O Pflicht, peinliche, aber nothwendige Pflicht! Dubourg saß, den Rücken gegen das Fenster gekehrt, Lucilla stand ihm gegenüber und kehrte mir ihr Gesicht zu. Ihre Wangen glühten vor Vergnügen; in ihrer Hand hielt sie die hübsche kleine goldene Vase. Ihre gewandten kleinen Finger fuhren rasch über die selbe hin, gerade wie sie am Abend vorher über mein Gesicht gefahren waren.

»Soll ich Ihnen das Muster aus Ihrer Vase beschreiben?« fuhr sie fort.

»Können Sie das wirklich?«

»Urtheilen Sie selbst. Das Muster besteht aus Blättern, auf denen in gewissen Zwischenräumen Vögel sitzen. Warten Sie, mich dünkt ich habe solche Blätter schon einmal an der Mauer des alten Theils des Pfarrhauses gefühlt. Epheu?«

Erstaunlich; es sollen wirklich Epheublätter sein.«

»Aber die Vögel«, nahm sie wieder auf, »ich werde mich nicht beruhigen, bis ich Ihnen auch gesagt habe, was es für Vögel sind. Habe ich nicht ganz ähnliche Vögel von Silber, nur viel größer, weil sie als Behälter für Pfeffer, Senf, Zucker und so weiter dienen? Eulen!« rief sie triumphirend aus, »kleine Eulen, die in Nestern aus Epheublättern sitzen. Was für ein reizendes Muster! Ich habe nie von etwas Aehnlichem gehört.«

»Behalten Sie die Vase« sagte er. »Sie würden mich dadurch ebenso sehr ehren wie erfreuen, behalten Sie die Vase.«

Sie stand auf und schüttelte den Kopf, ohne ihm jedoch die Vase zurückzugeben.

»Ich würde sie annehmen können, wenn Sie nicht ein Fremder wären«, sagte sie. »Warum theilen Sie uns nicht mit, wer Sie sind und was Sie für Gründe haben, ganz allein in diesem einsamen Häuschen zu wohnen?«

Er stand vor ihr mit gesenktem Kopf und seufzte schwer.

»Ich weiß, ich müßte mich erklären antwortete er, »ich darf mich nicht wundern, wenn die Leute Verdacht gegen mich schöpfen«, er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann sehr ernst fort: »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Nein, Ihnen nicht!«

»Warum nicht?«

»Fragen Sie mich nicht!«

Sie fühlte mit ihrem elfenbeinernen Stock nach dem Tisch und setzte mit sichtlichem Widerstreben die Vase auf denselben nieder. »Guten Morgen, Herr Dubourg«, sagte sie.

Schweigend öffnete er ihr die Thür des Zimmers.

An die Seitenmauer des Hauses gelehnt, sah ich sie unter dem bedeckten Eingange des Hauses erscheinen und den kleinen ummauerten Platz vor dem Hause überschreiten. Als sie auf den jenseits desselben liegen den Rasen trat, wandte sie sich um und redete ihn noch einmal an.

»Wenn Sie mir Ihr Geheimniß nicht mittheilen wollen«, sagte sie, »würden Sie es jemand Anderen würden Sie es einer Freundin von mir anvertrauen?«

»Welcher Freundin?« fragte er.

»Der Dame, welcher Sie gestern Abend mit mir begegneten.«

Er zauderte einen Augenblick und sagte dann: »Ich fürchte, ich habe die Dame beleidigt.«

»Das wäre ja nur ein Grund mehr für Sie sich — zu erklären«; erwiderte sie. »Wenn Ihre Auskunft nur, meine Freundin befriedigt, so könnte ich Sie bitten, « uns zu besuchen, könnte sogar die Vase von Ihnen annehmen.« Mit diesem sehr deutlichen Wink ging sie nun, nachdem sie ihm die Hand gereicht hatte, wirklich fort. Ihre bei dieser Gelegenheit bewiesene vollkommene Selbstbeherrschung, ihre ebenso kühne wie naive, bequeme Vertraulichkeit im Verkehr mit diesem Fremden setzte mich in das höchste Erstaunen. »Ich werde Ihnen noch diesen Morgen meine Freundin schicken«, sagte sie in gebietenden Tone, indem sie mit ihrem Spazierstock auf den Rasen schlug. »Ich bestehe darauf, daß Sie ihr die volle Wahrheit mittheilen.« Dabei gab sie ihm ein Zeichen, daß er sie nicht weiter begleiten möge, und trat ihren Rückweg nach dem Dorfe an. War es nicht in der That erstaunlich? Statt daß ihre Blindheit sie, wie man hätte erwarten sollen, in Gegenwart eines ihr unbekannten Mannes befangen gemacht hätte, schien dieselbe gerade die entgegengesetzte Wirkung zu haben. Ihre Blindheit machte sie furchtlos. Er blieb auf der Stelle, wo sie ihn verlassen hatte, stehen und beobachtete sie, bis sie seinen Blicken ganz entrückt war. Sein Benehmen gegen sie in und außerhalb des Hauses war, wie ich anerkennen muß, ebenso bescheiden wie rücksichtsvoll gewesen. Schüchtern war bei ihrer Unterhaltung nur er gewesen. Ich trug ein kurzes Kleid, welches kein Geräusch auf dem Grase verursachte. Ich ging längs der Umfassungsmauer hin und trat, ohne daß er mich hätte gewahr werden können, von rückwärts an ihn heran. »Das reizende Geschöpf«, sagte er zu sich selbst, indem er sie noch mit den Blicken verfolgte. In dem Augenblick, wo er diese Worte aussprach, berührte ich mit meinem Sonnenschirm seine Schulter.

»Herr Dubourg«, sagte ich, »ich komme, um Ihre Mittheilung der Wahrheit entgegenzunehmen.«

Er fuhr heftig zusammen und stand mir in sprach losem Entsetzen gegenüber, indem er wiederholt die Farbe wechselte wie ein junges Mädchen. Wer die Frauen kennt, wird es begreiflich finden, daß dieses Benehmen, weit entfernt, mich milder gegen ihn zu stimmen, mich nur ermuthigte, ihn zu überrumpeln.

»Halten Sie es für ein ehrenhaftes Benehmen, mein Herr«, fuhr ich fort, »in Ihrer gegenwärtigen Stellung an diesem Orte eine junge Dame, die Ihnen vollkommen fremd ist, eine junge Dame, deren Leiden ihr ein Recht auf noch größere Rücksicht und Achtung als die ihrem Geschlechte im Allgemeinen schuldige giebt, in Ihr Haus zu locken?«

Seine wechselnde Farbe ging in ein zorniges Roth über.

»Sie sind sehr ungerecht gegen mich«, antwortete er. »Es ist eine schmähliche Verleumdung, zu behaupten, daß ich es an Achtung gegen die junge Dame habe fehlen lassen. Ich empfinde die aufrichtigste Bewunderung und das tiefste Mitleiden für sie. Die Umstände rechtfertigen, was ich gethan habe; ich hätte nicht anders handeln können. Ich verweise Sie an die junge Dame selbst.« Seine Stimme wurde lauter und lauter; er fühlte sich aufs Tiefste durch mich gekränkt. Brauche ich noch ausdrücklich zu sagen, daß ich bei der Aussicht, nahezu von ihm überrumpelt zu werden, ohne zu erröthen, meine Taktik veränderte und es mit ein wenig Höflichkeit versuchte?

»Wenn ich ungerecht gegen Sie gewesen bin, mein Herr«, erwiderte ich, »so bitte ich Sie um Verzeihung. Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß ich mich befriedigt erklären werde, wenn ich von Ihnen selbst erfahre, welches die Umstände sind, deren Sie eben Erwähnung thaten.«

Diese Worte besänftigten seine verletzte Würde. Sein Benehmen wurde wieder sanfter. »Die Wahrheit ist«, sagte er, »daß ich meine Bekanntschaft mit der jungen Dame einem bissigen kleinen Hunde verdanke, welcher den Leuten im Wirthshause gehört. Der Hund war der Person, welche mir hier aufwartet, gefolgt und erschreckte die Dame, als sie vorüberging und er auf sie losfuhr und sie anbellte. Nachdem ich den Hund weggejagt hatte, bat ich sie einzutreten und sich niederzusestzen, bis sie sich erholt haben würde. Bin ich dafür zu tadeln? Ich leugne nicht, daß ich das lebhafteste Interesse für die junge Dame empfand und daß ich mein Bestes that, sie zu unterhalten, so lange sie mich mit ihrer Gegenwart in meinem Hause beehrte. Darf ich fragen, ob ich Sie jetzt befriedigt habe?«

So gern ich bei meiner ungünstigen Meinung von ihm beharren wollte, sah ich mich doch jetzt genöthigt, mir selbst einzugestehen, daß diese Meinung falsch war. Seine Erklärung war sowohl ihren Ausdrücken, wie seinem Ton und Benehmen nach die eines Gentleman. Und überdies war er, obgleich ein wenig zu weibisch, nach meinem Geschmack doch ein so schöner Mann! Sein natürlich gelocktes Haar war von einem schönen hellen Kastanienbraun. Seine Augen waren von dem hellsten Braun, das ich jemals gesehen habe und hatten einen eigenthümlich gewinnenden bescheidenen Ausdruck. Sein Teint war so milchweiß und fleckenlos, daß man denselben bei einem Manne geradezu auffallend nennen mußte, es war der Teint einer Frau oder wenigstens eines Knaben. Er sah in der That mehr wie ein Knabe, denn wie ein Mann aus; sein glattes Gesicht war gänzlich bartlos. Wenn er mich gefragt hätte, würde ich ihn, der in der That drei Jahre älter als Lucilla war, für jünger als sie gehalten haben.

»Wir sind auf eine etwas sonderbare Weise mit einander bekannt geworden, mein Herr«, sagte ich, »Sie haben gestern Abend gegen mich eine eigenthütmliche Sprache geführt und ich habe mich heute gegen Sie einer übereilten Sprache schuldig gemacht. Nehmen Sie meine Entschuldigung an und lassen Sie uns versuchen, ob wir nicht schließlich einander Gerechtigkeit widerfahren lassen können. Ich habe Ihnen, ehe wir uns trennen, noch etwas mehr zu sagen. Finden Sie es höchst auffallend von einer Frau, wenn ich Ihnen vorschlage, jetzt auch mir einen Stuhl in Ihrem Hause anzubieten?«

Er lachte in der freundlichstem besten Laune und ging mir in’s Haus voran. Wir betraten das Zimmer, in welchem er Lucilla empfangen hatte und setzten uns auf die beiden am Fenster stehenden Stühle, auf welchen sie gesessen hatten, mit dem Unterschiede, daß ich mich des Sitzes zu bemächtigen wußte, den er vorher eingenommen hatte, so daß er sein Gesicht dem Lichte zukehren mußte.

»Herr Dubourg«, fing ich an, »Sie werden bereits errathen haben, daß ich mit angehört habe, was Fräulein Finch Ihnen beim Abschiede sagte?«

Er verneigte sich schweigend zum Zeichen, daß dem so sei und fing an in nervöser Aufregung mit der Vase zu spielen, welche Lucilla auf dem Tische hatte stehen lassen.

»Was beabsichtigen Sie zu thun?« fuhr ich fort, »Sie haben von dem Interesse gesprochen, welches Sie an meiner jungen Freundin nehmen. Wenn dieses Interesse aufrichtig ist, so wird Sie dasselbe dahin führen, die junge Dame durch Erfüllung ihrer Bitte günstig für Sie zu stimmen. Sagen Sie mir, bitte, offen: Wollen Sie uns besuchen als ein Gentleman, welcher zwei Damen überzeugt hat, daß sie ihn als Freund und Nachbar empfangen können? Oder wollen Sie die Güte haben, den Pfarrer von Dimchurch zu avertiren, daß seine Tochter in Gefahr ist, einem Menschen von zweifelhaftem Charakter zu gestatten, ihr seine Bekanntschaft aufzudrängen?« Er stellte die Vase wieder auf den Tisch und wurde todtenblaß.

»Wenn Sie wüßten, was ich gelitten habe«, sagte er, »wenn Sie durchgemacht hätten, was ich habe erdulden müssen«, seine Stimme versagte ihm, seine sanften braunen Augen wurden feucht, sein Kopf sank ihm auf die Brust. Er sprach nicht weiter.

Wie alle Frauen mag ich Männer gern männlich sehen. Nach meiner Ansicht lag etwas Schwächliches und Weibisches in der Art, wie dieser Dubourg meinen Vorschlag aufnahm. Es erweckte nicht nur kein Mitleid bei mir, sondern war in Gefahr, ein Gefühl der Verachtung in mir hervorzurufen.

»Ich habe auch gelitten«, antwortete ich. »Ich habe auch Schweres erdulden müssen. Aber der Unterschied zwischen uns ist der, daß mein Muth nicht er schöpft ist. An Ihrer Stelle würde ich, wenn ich mir bewußt wäre, ein ehrenwerther Mann zu sein, auch nicht einen Augenblick einen Schatten von Verdacht auf mir ruhen lassen. Es möchte kosten, was es wolle, ich würde mich rechtfertigen. Ich würde mich schämen, zu weinen, ich würde reden.«

Das fruchtete. Er sprang auf.

»Haben Hunderte von grausamen Augen Sie angestarrt?« brach er leidenschaftlich aus. »Hat man auf Sie, wo Sie sich blicken ließen, erbarmungslos mit den Fingern gezeigt? Hat man Sie an den Schandpfahl der Zeitungen gestellt? Hat Ihre Photographie an allen Schaufenstern geprangt und der Welt Ihre Schande verkündet?« Er sank auf einen Stuhl und rang die Hände in wilder Verzweiflung »O, die Welt!« rief er aus, »die schreckliche Welt! Ich kann ihr nicht entgehen, ich kann mich selbst hier nicht verbergen. Auch Sie müssen mich wie alle Uebrigen an gestarrt haben.« Er weinte, indem er mich zornig an blickte. »Ich sah es sofort, als Sie gestern Abend an mir vorübergingen.«

»Ich habe Sie nie früher gesehen«, antwortete ich. »Was Ihre Portraits betrifft, so sind mir dieselben völlig unbekannt. Ich war, bevor ich hierher kam, viel zu unglücklich und von Sorgen gequält, als daß mich hätte ergötzen können, in die Schaufenster zu blicken. Sie sind mir bis auf Ihren Namen völlig unbekannt. Wenn Sie sich selbst achten, so sagen Sie mir, wer Sie sind. Heraus mit der Wahrheit, mein Herr! Sie wissen so gut wie ich, daß Sie schon zu weit gegangen sind, um wieder inne zu halten.«

Ich ergriff seine Hand. Sein leidenschaftlicher Ausbruch hatte mich in die höchste Aufregung versetzt; ich wußte kaum mehr was ich sagte oder that. In diesem kritischen Augenblick regten wir einander zu wahnsinniger Leidenschaftlichkeit auf. Seine Hand schloß sich krampfhaft bei der Berührung mit der meinigen.

Seine Augen blickten wild in die meinigen.

»Lesen Sie Zeitungen?« fragte er.

»Ja.«

»Haben Sie darin . . .?«

»Ich habe den Namen »Dubourg« nicht gelesen.«

»Ich heiße auch nicht »Dubourg«.«

»Wie denn?«

Jetzt beugte er sich über mich und flüsterte mir seinen Namen in’s Ohr. Jetzt war es an mir, entsetzt aufzuspringen. »Guter Gott!« rief ich aus »Sie sind der Mann, der vorigen Monat unter der Anklage des Mordes vor den Assisen stand und der ganz nahe daran war, auf das Zeugniß einer Uhr hin gehängt zu werden!«



Achtes Kapitel - Die meineidige Uhr

Wir sahen uns schweigend an. Beide mußten wir uns eine Weile sammeln. Ich will diese Pause benutzen, um hier zwei Fragen zu beantworten, welche sich dem Leser aufgedrängt haben werden. Wie kam Dubourg dazu, unter der Anklage des Mordes vor den Assisen zu stehen und welcher Zusammenhang bestand zwischen dieser ernsten Angelegenheit und dem falschen Zeugniß einer Uhr?

Die Antwort auf diese beiden Fragen wird sich in der Erzählung finden, welche ich die »meineidige Uhr« nenne .

In der kurzen Erzählung dieses Zwischenfalls, welchen ich einem in meinem Besitz befindlichen officiellen Berichte entnehme, werde ich unsern neuen Bekannten in Browndown bei seinem angenommenen Namen nennen, den ich ihm auch ferner beilegen werde. Erstens war es der Mädchenname seiner Mutter, den er ein Recht zu führen hatte, wenn es ihm so beliebte. Zweitens geht unser häusliches Drama in Dimchurch bis auf die Jahre 1858 und 1859 zurück und wirkliche Namen haben jetzt, wo Alles vorüber ist, für niemand ein Interesse mehr. Mit »Dubourg« haben wir angefangen, mit »Dubourg« wollen wir bis zum Schluß fortfahren.

Vor einigen Jahren wurde in der Nähe einer gewissen Stadt im Westen Englands an einem Sonnabend ein Mann auf einem Felde ermordet gefunden. Der Name des Feldes war Pardon Feld.

Der Mann war ein kleiner Zimmermann und Bauunternehmer in der Stadt gewesen, der eines sehr zweifelhaften Rufes genoß. An dem fraglichen Abende ging ein entfernter Verwandter desselben, der von einem Herrn in der Nachbarschaft zur Einnahme von Pachtgeldern verwendet wurde, zufällig über einen Zauntritt, der von dem Felde auf eine Landstraße führte, und sah einen Herrn das Feld über eben diesen Tritt etwas eilig verlassen. Er erkannte in dem Herrn den ihm nur von Ansehen bekannten Herrn Dubourg.

Die beiden gingen einander an der Landstraße in entgegengesetzter Richtung vorüber. Etwas später, wie es heißt eine halbe Stunde, hatte der Renteneinnehmer Veranlassung, auf derselben Landstraße wieder zurück zu gehen. Als er wieder bei dem Zauntritt anlangte, hörte er lautes Rufen und betrat Feld, um zu sehen, was es gebe. Er fand, daß mehrere Personen von dem andern Ende des Feldes zu einem Knaben hinliefen, der an einer entfernten Stelle des Feldes hinter einer Viehhürde stand, und ein entsetzliches Geschrei ausstieß. Zu den Füßen des Knaben lag, das Gesicht gegen die Erde gekehrt, der Leichnam eines Mannes mit schrecklich eingeschlagenem Kopf. Unter ihm lag seine Uhr, an der Kette aus der Uhrtasche heraus hängend. Die Uhr war, offenbar in Folge der Erschütterung des Falles, mit welchem der Besitzer auf sie niedergestürzt war, um halb neun Uhr stehen geblieben Der Körper war noch warm. Außer der Uhr fanden sich noch andere Werthsachen bei der Leiche. Der Renteneinnehmer erkannte in dem Todten sofort den obenerwähnten Zimmermann und Bauunternehmer. Bei der Vornntersuchnng wurde das Stillestehen der Uhr um halb neun Uhr als ein sicheres Indicium dafür betrachtet, daß der Schlag, welcher den Mann getödtet hatte, um jene Zeit geführt sei.

Die nächste Frage war, ob jemand um halb neun Uhr in der Nähe des Leichnams gesehen worden sei. Der Renteneinnehmer erklärte, daß er gerade um jene Zeit Herrn Dubourg das Feld eilig verlassen gesehen habe. Gefragt, ob er in jenem Augenblick auf seine Uhr gesehen habe, gestand er, daß er das nicht gethan habe; aber gewisse vorangegangene Umstände, welche sich nach seiner Angabe seinem Gedächtnisse eingeprägt hatten, setzten ihn in den Stand, auch ohne auf seine Uhr gesehen zu haben, der Wahrheit seiner Behauptung sicher zu sein. Man drang in ihn in Betreff dieses wichtigen Punktes, aber er beharrte bei seiner Erklärung: um halb neun Uhr habe er Herrn Dubourg das Feld eiligst verlassen gesehen! Um halb neun Uhr war die Uhr des Ermordeten stehen geblieben.

Die nächste Frage war, ob noch irgend eine andere Person um jene Zeit auf dem Felde oder in der Nähe gesehen worden sei.

Es war kein Zeuge zu finden, der irgend jemand anderen in der Nähe des fraglichen Ortes gesehen hatte. Die Waffe, mit welcher der Schlag geführt worden war, hatte man nicht gefunden. Es fragte sich dann, da offenbar Raub nicht das Motiv des Verbrechens gewesen war, ob man von irgend jemand wisse, daß er einen Groll gegen den Ermordeten gehegt habe. Es war kein Geheimniß, daß derselbe mit Männern und Weibern von zweifelhaftem Ruf verkehrt habe; aber gegen keine dieser Personen lag ein specieller Verdacht vor.

Bei dieser Sachlage blieb nichts anderes übrig, als Herrn Dubourg, welcher inner- und außerhalb der Stadt als ein junger Mann von unabhängigem Vermögen wohlbekannt war und sich vortrefflichen Rufes erfreuete, zu ersuchen, einige Auskunft über sich zu ertheilen.

Er gab sofort zu, daß er über das Feld gegangen sei. Aber im Widerspruch mit der Behauptung des Renteneinnehmers erklärte er, daß er einen Augenblick, bevor er den Zauntritt überstiegen nach seiner Uhr gesehen habe und es nach derselben genau ein Viertel nach acht Uhr gewesen sei. Fünf Minuten später, also zehn Minuten bevor nach dem Zeugniß der Uhr des Todten der Mord begangen worden, habe er eine Dame, welche in der Nähe des fraglichen Feldes wohne, besucht und sei bei derselben geblieben, bis es nach seiner Uhr, nach welcher er beim Verlassen des Hauses der Dame wieder gesehen habe, ein Viertel vor neun Uhr gewesen sei.

Er behauptete also sein Alibi. Die Freunde des Herrn Dubourg waren von seiner Unschuld vollkommen überzeugt. Um auch dem Gericht diese Ueberzeugung beizubringen, erschien es unerläßlich, die Dame als Zeugin zu vernehmen. Inzwischen wurde Herrn Dubourg eine andere rein formelle Frage vorgelegt; die nämlich, ob er irgend etwas über den Ermordeten wisse. Mit einem gewissen Anschein von Bestürzung gestand Herr Dubourg, daß er sich von einem Freunde habe überreden lassen, den Mann mit einer gewissen Arbeit zu beschäftigen. Durch fernere Fragen wurde er zur Angabe der folgenden Thatsachen veranlaßt:

Daß die betreffende Arbeit sehr schlecht gemacht gewesen sei, daß der Mann einen exorbitanten Preis für dieselbe gefordert habe, daß derselbe sich, als Dubourg ihm wegen dieser Ueberforderung Vorstellungen gemacht, grob und impertinent benommen habe, daß ein Wortwechsel zwischen ihnen entstanden sei, daß Dubourg den Mann am Rockkragen gepackt und zum Hause hinausgeworfen habe, daß er den Mann im Zorn einen infamen Schuft gescholten und ihm gedroht habe, ihn so zu prügeln, daß er kaum mit dem Leben davon kommen solle, (oder wie er sich im ähnlichen Sinne ausgedrückt haben möge) falls er sich je wieder in der Nähe seines Hauses blicken lassen sollte; daß er seit jenem Streit, welcher sechs Wochen vor der Ermordung stattgefunden, nie wieder den Mann weder gesprochen, noch mit Augen gesehen habe.

Nach der damaligen Lage der Sache wurden diese, Umstände als für Herrn Dubourg ungünstige betrachtet; aber er konnte sich auf sein »Alibi« und auf seinen guten Namen berufen, und niemand zweifelte an einem für Dubourg günstigen Ausgang. Die Dame erschien als Zeugin. Als sie mit Herrn Dubourg confrontirt und genöthigt wurde; sich über die Zeitfrage zu er klären, widersprach sie ihm, auf das Zeugniß der Kaminpendüle gestützt auf das Entschiedenste. Ihre Aussage lief wesentlich auf Folgendes hinaus: sie habe, als Herr Dubourg zu ihr in’s Zimmer getreten sei, auf ihre Pendüle geblickt und gedacht, es sei etwas spät für einen Besuch. Die erst Tags zuvor von dem Uhrmacher regulirte Pendüle habe fünfundzwanzig Minuten vor neun Uhr gezeigt. Ein angestellter Versuch ergab, daß es gerade fünf Minuten erforderte um raschen Schritts von dem Zauntritt nach dem Hause der Dame zu gehen. So wurde denn also die Angabe des Renteneinnehmers, der selbst ein respectabler Zeuge war, in der Aussage dieser Zeugin von angesehener Stellung und vorzüglichem Ruf unterstützt. Die Pendüle ging, wie sich bei einer demnächst vorgenommenen Untersuchung ergab, richtig. Die Aussage des Uhrmachers ergab, daß er den Uhrschlüssel im Verwahrsam habe und daß er, seit er die Uhr am Tage vor dem Besuche des Herrn Dubourg aufgezogen und gestellt, noch nichts wieder mit derselben vorgenommen habe. Nachdem so die Richtigkeit der Uhr festgestellt worden, schien sich daraus der unabweisliche Schluß zu ergeben daß Herr Dubourg überführt sei, zu der Zeit wo der Mord begangen worden, auf dem Felde gewesen zu sein; ferner, seiner eigenen Aussage gemäß mit dem Ermordeten nicht lange vor seinem Tode einen Streit gehabt zu haben, der mit einer thatsächlichen Mißhandlung und mit einer Drohung von seiner Seite geendet hatte, und endlich den Versuch gemacht zu haben, durch eine falsche Zeitangabe ein Alibi nachzuweisen. Es blieb nichts übrig, als ihn unter der Anklage der Ermordung des Bauunternehmers auf dem »Pardon-Felde« vor die Assisen zu verweisen. Die Proreßverhandlungen füllten zwei Tage aus. In der Zwischenzeit waren keine neuen Thatssachen an den Tag gekommen. Die Zeugenaussagen lauteten ebenso wie bei der Voruntersuchung, wurden aber jetzt sorgfältiger gesichtet. Herr Dubourg hatte den doppelten Vortheil für sich, sich den Beistand des ersten Advocaten im Gerichtsbezirk sichern zu können und die lebhafteste Sympathie bei den Geschworenen zu erwecken, welche das regste Interesse an seiner Lage nahmen und eifrigst nach Beweisen für seine Unschuld aussahen. Am Ende des ersten Tages hatten die Zengenaussagen so entschieden zu seinen Ungunsten gelautet daß sein eigener Vertheidiger an dem Ausgange verzweifelte.

Als der Gefangene am zweiten Tage seinen Platz auf der Anklagebank einnahm, gab es unter den Zuhörern im Gerichtssaal nur eine Ueberzeugung. Jedermann sagte: »Die Pendule wird ihn an den Galgen bringen.« Es war beinahe zwei Uhr Nachmittags und die Verhandlungen sollten gerade auf eine Stunde vertagt werden, als man sah, wie der Anwalt des Angeklagten dem für ihn plaidirenden Advocaten ein Papier einhändigte. Dieser erhob sich unter Anzeichen, der Aufregung, welche die Neugierde der Anwesenden erregten. Er verlangte die sofortige Vernehmung einer neuen Zeugin, deren Aussage zu Gunsten des Angeklagten zu wichtig sei, als daß die Vernehmung auch nur einen Augenblick verschoben werden dürfe. Nach einer kurzen Unterredung zwischen dem Richter und den Advocaten beider Parteien entschied sich der Gerichtshof für die Fortsetzung der Sitzung. Die Zeugin erschien; es war ein junges Mädchen von zartem Aussehen. An jenem Abend, als der Angeklagte der Dame seinen Besuch gemacht hatte, stand sie bei der Dame als Hausmädchen im Dienst. Am nächsten Tage hatte sie einen ihr schon vorher von ihrer Herrin zugestandenen achttägigen Urlaub angetreten und hatte denselben, zu einem Besuch ihrer in dem Westen von Cornwall wohnenden Eltern benutzt. Dort sei sie krank geworden und habe sich bisher noch nicht hinreichend wieder erholt um zu ihrem Dienst zurückzukehren. Nach diesem Vorbericht über ihre Person machte das Hausmädchen die folgenden merkwürdigen Angaben in Betreff der Pendüle ihrer Herrin. An dem Morgen des Tages, an welchem Herr Dubourg seinen Besuch gemacht habe, habe sie das Kaminsims gereinigt. Sie habe mit dem Staubtuch die Stelle des Simses, auf welcher die Pendüle stand, gerieben, habe dabei zufällig an dem Pendel gerührt und denselben zum Stillstehen gebracht. Bei einer früheren Gelegenheit wo ihr dasselbe begegnet habe sie dafür heftige Vorwürfe erhalten. Aus Furcht daß eine Wiederholung ihrer Unvorsichtigkeit an einem Tage, nachdem die Pendüle von einem Uhrmacher regulirt worden sei, vielleicht die Zurücknahme des Urlaubs zur Folge haben könne, habe sie beschlossen, die Sache womöglich selbst wieder in Ordnung zu bringen. Nachdem sie die Pendüle von unten, her angestoßen, auf diese Weise aber den Pendel nicht wieder zum Gehen habe bringen können, habe sie versucht, die Pendüle aufzuheben und sie zu schütteln. Es war eine marmorne Pendüle, auf welcher eine Bronzefigur stand und sie war so schwer, daß das Mädchen genöthigt war, etwas zu suchen, was ihr als Hebel dienen könne Ein solcher Gegenstand war im Augenblick nicht leicht zu finden. Als es ihr endlich gelungen war, einen dazu passenden Gegenstand, aufzutreiben, machte sie es möglich, die Pendüle einige Zoll hoch zu heben und dann wieder hinzustellen und sie so wieder zum Gehen zu bringen. Demnächst mußte sie natürlich die Zeiger verschieben. Auch dabei stieß sie auf ein Hinderniß Der Glasdeckel über dem Zifferblatt wollte sich nicht öffnen lassen. Nachdem sie vergebens nach einem Instrumente gesucht das ihr dazu verhelfen könne, habe sie von dem Diener, ohne ihm zu sagen, wozu sie denselben brauchen wolle, einen kleinen Grabstichel erhalten, damit habe sie den Glasdeckel nachdem sie unversehens den metallenen Rand desselben geschrammt geöffnet und habe die Zeiger nach ungefährem, Ermessen gestellt. Sie war in jenem Augenblick in der Furcht daß ihre Herrin sie auffinden mochte, etwas aufgeregt gewesen. Später am Tage habe sie dann gefunden, daß sie den während ihres Versuchs, die Uhr wieder in Ordnung zu bringen, verflossenen Zeitraum überschätzt habe. Sie hatte die Zeiger gerade eine Viertelstunde zu weit vorgeschoben. Eine sichere Gelegenheit die Uhr wieder im Geheimen richtig zu stellen, habe sich erst unmittelbar vor dem Schlafengehen gefunden. Da erst habe sie die Zeiger wieder zurück schieben können Zu der Zeit, wo Herr Dubourg ihre Herrin besucht habe, sei die Uhr, wie sie positiv auf ihren Eid erklärte, eine Viertelstunde zu früh gegangen.

Die Uhr habe nach der Aussage ihrer Herrin fünfundzwanzig Minuten vor neun gezeigt, während es in der That, wie Herr Dubourg behauptet habe, zwanzig Minuten nach acht Uhr gewesen sei.

Befragt, warum sie diese merkwürdige Aussage nicht schon früher vor dem Untersuchungsrichter zu Protocoll gegeben habe, erklärte sie, daß in dem entfernten Cornishen Dorfe, nach welchem sie am nächsten Tage gegangen und wo sie dann durch ihre Krankheit zurückgehalten sei, niemand weder von der Untersuchung, noch von dem Proceß etwas gehört habe. Sie würde auch jetzt noch nicht hier erschienen sein, um über die so wichtigen Umstände ihre eben beschworene Aussage zu machen, wenn nicht der Zwillingsbruder des Angeklagten sie Tags zuvor aufgefunden und nachdem sie ihm aus seine Fragen mitgetheilt hatte, was sie eben in Betreff der Pendüle ausgesagt habe, darauf bestanden hätte, daß sie diesen Morgen die Reise hierher mit ihm mache. Diese Aussage entschied in der That den Proceß. Als das Mädchen mit seiner Aussage zu Ende war, machte die dichtgedrängte Menge ihren Gefühlen durch laute Ausbrüche des Beifalls Luft. Das Mädchen wurde natürlich in ein scharfes Kreuzverhör genommen. Man erkundigte sich nach ihrem Ruf; man suchte und fand eine Bestätigung in der Aussage in Betreff des Grabstichels und der Schrammen auf dem Rahmen des Glasdeckels. Der Proceß endigte damit, daß die Geschworenen am zweiten Tage zu später Stunde den Angeklagtem ohne ihre Loge zu verlassen, für »nichtschuldig« erklärten. Es war nicht zu Viel gesagt, daß sein Bruder ihm das Leben gerettet hatte. Sein Bruder allein hatte von Anfang bis zu Ende hartnäckig, dem Zeugniß der Pendüle mißtraut. Er hatte alle Menschen mit unaufhörlichen Fragen gequält, hatte nach Beginn des Processes die Abwesenheit des Hausmädchens entdeckt und war aus der Stelle abgereist, das Mädchen aufzusuchen und zu befragen, ohne einen bestimmten Anhalt, einfach entschlossen, in der unermüdlichen Stellung der einen Frage nicht nachzulassen, mit welcher er alle Menschen verfolgte: »Die Pendüle wird meinen Bruder an den Galgen bringen, können Sie mir etwas über die Pendüle mittheilten.«

Vier Monate später klärte sich das Geheimniß des Verbrechens auf. Einer der schlechtberufenen Genossen des Ermordeten bekannte sich auf seinem Sterbebette zu der That. Die Umstände der That boten nichts Interessantes oder Bemerkenswerthes dar. Der Zufall, welcher einen Unschuldigen in Gefahr gebracht, hatte den Schuldigen straflos ausgehen lassen. Ein elendes Weibsbild, ein durch Eifersucht hervorgerufener Streit und der Mangel an Zeugen der That, das waren die sehr gewöhnlichen Umstände, die zu der Tragödie im »Pardon Felde« geführt hatten.



Neuntes Kapitel - Der Held des Processes

»Sie haben es mir abgepreßt. Jetzt wo ich Ihnen Ihren Willen gethan habe, lassen Sie mich mit meinen Gefühlen allein und gehen Sie!« Das waren die ersten Worte, mit denen mich der Held des Criminalprocesses anredete, sobald er wieder im Stande war zu sprechen. Er ging mit einem eigenthümlich trotzig resignirten Ausdruck nach der andern Seite des Zimmers und blickte von dort auf auf mich, wie ein Mensch, der mit einer ansteckenden Krankheit behaftet ist und einen gesunden Nebenmenschen vor der Gefahr der Berührung mit sich bewahren möchte.

»Warum soll ich gehen?« fragte ich .

»Sie sind ein kühnes Weib«, sagte er, »daß Sie den Muth haben, in demselben Zimmer mit einem Menschen zu bleiben, auf welchen die Leute als auf einen Mörder mit Fingern gedeutet haben und welcher unter der Anklage eines todteswürdigen Verbrechens vor Gericht gestanden hat.«

Derselbe krankhafte Gemüthszustand, welcher ihn nach Dimchurch geführt und ihn veranlaßt hatte, mich am vorhergehenden Abende in der von mir erzählten Weise anzureden, brachte ihn jetzt, wie mir schien, gegen mich als gegen eine Person auf, welche sich seines leidenschaftlichen Temperaments als eines Mittels, bedient habe, ihm die Wahrheit abzuzwingen. Was sollte ich mit einem Menschen in dieser Gemüthsverfassung anfangen? Ich entschloß mich zu einem Verfahren, das man sprichwörtlich »den Stier bei den Hörnern packen« nennt.

»Ich sehe nur einen Mann hier«; antwortete ich »einen Mann, der von der Anklage eines Verbrechens, das er zu begehen unfähig war, ehrenvoll freigesprochen worden ist, einen Mann, der Anspruch auf mein Interesse und meine Sympathie hat. Reichen Sie mir die Hand, Herr Dubourg.« Ich sprach in einem guten, herzlichen Tone und bekräftigte meine Worte durch einen guten, herzlichen Händedruck Der arme, schwache, vereinsamte, verfolgte junge Mensch ließ seinen Kopf wie ein Kind auf meine Schulter sinken und brach in Thränen aus.

»Verachten Sie mich nicht«, sagte er, sobald er wieder Worte finden konnte. »Es kann einen Menschen wohl zu Boden werfen, wenn er auf der Anklagebank gesessen hat und wenn Hunderte von hartherzigen Menschen ihn, ohne daß er es verdient hätte, mit Entsetzen angestarrt haben. Ueberdies fühle ich mich sehr einsam, Madame, seit mich mein Bruder verlassen hat.«

Wir setzten uns wieder neben einander nieder. Sein Wesen bot die sonderbarste Mischung von Extremen, die mir jemals vorgekommen waren. Wenn man ihn zu einem der leidenschaftlichen Ausbrüche brachte, zu denen er so leicht aufflammte, so erschien er wie ein Tiger, wenn er sich aber dann wieder zu seiner gewöhnlichen milden Temperatur abgekühlt hatte, er schien er wie ein wahres Lamm.

»Eines ist mir auffallend, Herr Dubourg«, fuhr ich fort, »ich begreife nicht recht —«.

»Nennen Sie mich nicht Herr Dubourg«, unter brach er mich. »Sie erinnern mich damit an die Schande, die mich genöthigt hat, diesen Namen anzunehmen. Nennen Sie mich bei meinem Vornamen. Es ist ein fremder Name Ihrem Accente nach müssen Sie eine Fremde sein und werden mich daher um meines fremden Namens willen nur um so lieber haben. Ich bin nach einem Bruder meiner Mutter auf den Namen Oscar getauft; meine Mutter war aus Jersey. Nennen Sie mich Oscar. Was also begreifen Sie nicht?«

»Ich begreife nicht«; nahm ich wieder auf, »daß Ihr Bruder Sie in Ihrer gegenwärtigen Lage hier ganz allein läßt.«

Bei diesen Worten wäre er beinahe wieder in Wuth gerathen.

»Kein Wort gegen meinen Bruder«, rief er zornig aus. »Mein Bruder ist das edelste Wesen, das Gott je geschaffen hat. Das werden Sie selbst zugeben müssen. Sie wissen ja, was er für mich gethan hat. Ich würde ohne diesen Engel unfehlbar gehängt worden sein.«

Ich gab zu, daß sein Bruder ein Engel sei und dieses Zugeständniß beschwichtigte ihn sofort.

»Die Leute sagen, man könne uns nicht von einander unterscheiden«, fuhr er fort, indem er seinen Stuhl freundschaftlich dicht an meinen heranrückte. »Ach,« die Leute sind so oberflächlich. Dem Aeußern nach sind wir allerdings ganz gleich. Sie haben gehört, daß wir Zwillinge sind. Aber damit hat auch zu meinem Unglück die Aehnlichkeit ein Ende. Nugent, mein Bruder erhielt diesen Namen nach meinem Vater, Nugent ist ein Held, Nugent ist ein Genie. Ich wäre gestorben, wenn er sich nicht nach dem Criminalproreß meiner angenommen hätte. Ich hatte Niemanden als ihn. Wir sind Waisen und haben keine weiteren Geschwister. Nugent empfand die mir angethane Schmach noch bitterer als ich, aber er wußte sich zu beherrschen. Freilich traf ihn der Schimpf auch noch empfindlicher als mich; ich will Ihnen sagen warum. Nugent war auf dem besten Wege, unsern Familiennamen, den Namen, welchen wir jetzt aufzugeben genöthigt sind, zu einem weltberühmten zu machen. Er ist Maler, Landschaftsmaler, haben Sie nie von ihm gehört? Nun da werden Sie bald von ihm hören. Was glauben Sie wohin er gegangen ist? Zu den Wilden in Amerika, um dort Studien zu neuen Bildern zu machen. Er wird der Gründer einer neuen Schule der Landschaftsmalerei, in einer so großartigen Auffassung, wir sie nie erstrebt worden ist, werden. Der liebe Junge! Wissen Sie, was er zu mir sagte, als er hier von mir Abschied nahm? Edle Worte, wahrhaft edle Worte:l »Oscar, ich werde unseren angenommenen Namen berühmt machen. Du sollst in ehrenvoller Weise bekannt, Du sollst berühmt werden als der Bruder von Nugent Dubourg.« Denken Sie, ich hätte mich einer solchen Carrière hindernd in den Weg stellen können? Konnte ich einen solchen Mann, der mir so viel geopfert hatte, dazu verurtheilen, hier zu vegetiren, nur um mir Gesellschaft zu leisten? Was liegt daran, ob ich mich einsam fühle oder nicht. Wer bin ich? O, wenn Sie gesehen hätten, wie er das entsetzliche Allbekanntsein, welches uns nach dem Proceß verfolgte, ertrug! Ueberall hielten ihn die Leute für mich, starrten ihn an und deuteten mit den Fingern auf ihn. Keine Klage entfuhr ihm, er lachte darüber. »So viel gebe ich auf die öffentliche Meinung«, sagte er, mit den Fingern schnalzend. Das ist doch Geistesstärke, nicht wahr? Er reiste von Stadt zu Stadt, aber überall fanden sich die Photographien, die Zeitungen, überall war die ganze nichtswürdige Geschichte — »ein Roman aus dem wirklichen Leben« nannten sie es — Jedermann schon vor Nugent’s Eintreffen bekannt. Er verlor nie den Muth. »Wir werden schon noch einen Ort finden«, pflegte er heiter zu sagen, »Du brauchst Dich gar nicht darum zu bekümmerm Oscar, ich sorge für Dich. Ich verspreche Dir, ich schaffe Dir einen Zufluchtsort, gerade wie Du ihn brauchst.« Er zog überall Erkundigungen ein und machte endlich diesen einsamen Ort, welchen Sie bewohnen, ausfindig. Ich fand die Gegend hübsch, als wir zusammen über die Hügel gingen — für ihn war sie längst nicht großartig genug. Wir verirrten uns. Ich fing an, mich zu ängstigen, aber er machte sich gar nichts daraus. »Ich bin ja bei Dir«, sagte er, »und mich verläßt mein Glück nicht. Paß’ auf wir werden nächstens über ein Dorf stolpern!« Sie werden es kaum glauben, wenn ich Ihnen sage, dass wir zehn Minuten später, genau wie er es vorher ge sagt hatte über diesen Ort stolperten. Als ich ihn endlich vermocht hatte, mich zu verlassen, ging er doch nicht von mir, ohne mich guten Leuten empfohlen zu haben. Er empfahl mich dem Wirth des Gasthauses hier. Er sagte zu ihm: »Mein Bruder hat eine zarte Gesundheit, mein Bruder wünscht zurückgezogen zu leben; ich werde Ihnen dankbar sein, wenn Sie sich um meinen Bruder bekümmern.« War das nicht gütig? Der Wirth schien ganz gerührt davon zu sein. Nugent weinte, als er von mir Abschied nahm. O, was gäbe ich darum, wenn ich sein Herz und seinen Geist hätte. Aber es ist doch auch schon etwas, sein Gesicht zu haben, nicht wahr? Das sage ich mir oft, wenn ich mich im Spiegel sehe. Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen so viel vorplaudere, aber wenn ich einmal von Nugent zu reden anfange, weiß ich nie ein Ende zu finden.«

Ein Zug in dem sonst unergründlichen Wesen dieses jungen Menschen war also deutlich ausgesprochen; er betete seinen Zwillingsbruder an.

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Es würde auch mir klar gewesen sein, daß Herr Nugent Dubourg es verdiene, angebetet zu werden, wenn ich mich damit hätte aussöhnen können, daß er seinen Bruder an einem Orte wie Dimchurch sich selbst überlassen hatte. Ich mußte mich des großen Dienstes erinnern, welchen er seinem Bruder bei dem Criminalproceß geleistet hatte, um es über mich zu gewinnen, ihm die Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mein Urtheil über ihn bis zu einer persönlichen Bekanntschaft zu suspendiren.

Nachdem ich diesen Art der Großmuth vollbracht hatte, nahm ich die erste sich darbietende Gelegenheit wahr, um die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand zu leiten. Ich kenne nichts Langweiligeres, als die Mittheilung über die Tugenden einer abwesenden und uns unbekannten Person. »Ist es wahr« fragte ich, »daß Sie Browndown auf sechs Monate gemiethet haben? Wollen Sie sich wirklich in Dimchurch niederlassen?«

»Ja«, antwortete er, »wenn Sie mein Geheimniß bewahren wollen. Die Leute hier wissen nichts von mir. Sagen Sie ihnen, bitte, nicht, wer ich bin! Sie würden mich von hier forttreibem wenn Sie es thäten.«

»Ich muß aber doch Fräulein Finch sagen, wer Sie sind«, erwiderte ich.

»Nein, nein, nein!« rief er eifrig aus. »Ich kann den Gedanken, daß sie darum wissen sollte, nicht ertragen. Ich bin so entsetzlich beschimpft worden. Was würde sie von mir denken?«

Es folgte ein neuer Erguß seiner entzückten Bewunderung Lucilla’s, untermischt mit erneuten Bitten, seine Geschichte vor Jedermann geheim zu halten. Ich verlor die Geduld bei seinem gänzlichen Mangels an Charakterstärke und gesundem Menschenverstand.

»Mein lieber Oscar; ich möchte Sie wohl ohrfeigen«, sagte ich, »Sie befinden sich in Betreff dieser Angelegenheit in einem nichtswürdig krankhaften Gemüthszustande. Haben Sie nichts Anderes zu denken? Haben Sie keinen Beruf? Müssen Sie nicht für Ihren Unterhalt arbeiten?«

Ich sprach, wie man sieht, in ziemlich starken Ausdrückem denen ich noch durch einen entsprechenden Ton und eben solche Manieren den gehörigen Nachdruck verlieh. Herr Oscar Dubourg sah mich mit der verwirrten Miene eines Menschen an, dessen Geist sich plötzlich eine Fülle neuer Ideen gewaltsam aufdrängt. Er gab bescheiden die für ihn demüthigende Wahrheit zu. Seit seinen Kinderjahren hatte er immer nur die Hände in die Tasche zu stecken gebraucht, um jederzeit Geld zu finden, ohne daß er jemals nöthig gehabt hätte, es vorher zu verdienen. Sein Vater war ein beliebt er Porträtmaler gewesen und hatte eine Dame, deren Portrait er gemalt, eine Erbin geheirathet. Oscar und Nugent fanden sich beim Tode ihrer Eltern in der verabscheuungswürdigen Lage unabhängiger Gentlemen. Die Würde der Arbeit war etwas diesen unglücklich verwöhnten jungen Leuten Unbekanntes.

»Ich verachte einen reichen Müssiggänger«, sagte sich zu Oscar in in meiner republikanischen Strenge. »Sie bedürfen des veredelnden Einflusses der Arbeit, um einen Mann aus sich zu machen. Kein Mensch hat ein Recht, müssig zu gehen, Keiner ein Recht, reich zu sein. Sie würden sich in einem weniger krankhaften Gemüthszustande befinden, mein junger Manu, wenn Sie Ihr Brot und Ihren Käse verdienen müßten, bevor Sie es essen.«

Er starrte mich mit kläglicher Miene an. Die edlen Gesinnungen, welche ich von meinem verstorbenen Gatten überkommen hatte, brachten Herrn Oscar Dubourg völlig außer Fassung. »Seien Sie mir nicht böse«, sagte er in seiner unschuldigen Weise. »Meinen Käse würde ich auch nicht essen können, wenn ich ihn mir verdiente, ich kann keinen Käse vertragen. Uebersdies beschäftige ich mich so gut ich kann.« Er nahm seine kleines goldene Vase von dem hinter ihm stehenden Tische und erzählte mir, was ich ihn schon Lucilla hatte erzählen hören, als ich am Fenster horchte. »Sie würden mich diesen Morgen bei der Arbeit gefunden haben«, fuhr er fort, »wenn nicht die dummen Menschen, die mir meine Metallplatten schicken, ein Versehen gemacht hätten. Die Legirung sowohl des Goldes wie des Silbers ist diese Mal ganz Verkehrt. Ich muß die Platten wieder zurückschicken und einschmelzen lassen, bevor ich irgend etwas damit anfangen kann. Sie liegen schon alle bereit, um heute, wenn der Fracht wagen kommt, wieder abgeschickt zu werden. Wenn es hier Bedürftige giebt, die Geld brauchen, so werde ich ihnen mit dem größten Vergnügen etwas von dem meinigen abgeben. Es ist nicht meine Schuld, daß mein Vater meine Mutter heirathete. Und was kann ich dafür, daß er Jedem von uns, meinem Bruder und mir eine jährliche Einnahme von zweitausend Pfund hinter lassen hat?«

Zweitausend Pfund! Und der berühmte Pratolungo hatte nie vor seiner Verbindung mit mir gewußt, was es heißt, fünf Pfund zu seiner Verfügung haben. Ich blickte nach der Zimmerdecke empor. In meiner gerechten Entrüstung vergaß ich Lucilla und ihre Neugier in Betreff Oscar’s — vergaß ich Oscar und seine Angst, daß Lucilla entdecken möchte, wer er sei. Ich öffnete meine Lippen, um zu reden. Im nächsten Augenblicke würde ich meine Donnerkeile gegen das ganze infame System der modernen Gesellschaft geschleudert haben, wenn ich nicht durch die merkwürdigste und unerwartetste Unterbrechung, die jemals einer Frau die Lippen geschlossen hat, zum Schweigen gebracht worden wäre.



Zehntes Kapitel - Erstes Auftreten von Jicks

Plötzlich trat durch die offene Thüre des Zimmers leise und ruhig ein pausbäckiges kleines Mädchen, das nicht mehr als höchstens drei Jahre alt sein konnte. trug weder Hut noch Mütze aus dem Kopfe. Ein schmutziges Kinderkleid bedeckte die ganze kleine Gestalt vom Kinn bis zu den Füßen. Diese merkwürdige Erscheinung schritt mit einer zerlumpten und sehr unrespectabel aussehenden Puppe, welche sie mit ihrem einen Arm fest umschlungen hielt, bis in die Mitte des Zimmers vor; sah zuerst Oscar und dann mich starr an, trat dann an meine Knie heran, legte mir die unrespectable Puppe auf den Schooß, deutete aus einen neben mir leer stehenden Stuhl und nahm die Rechte der Gastfreundschaft mit den Worten in Anspruch:

»Ich will sitzen.«

Wie war es unter diesen Umständen noch möglich, das infame System der modernen Gesellschaft anzugreifen? Jetzt konnte ich nichts thun, als Jicks küssen.

»Kennen Sie das Kind?« fragte ich, während ich dasselbe auf den Stuhl hob.

Oscar lachte laut auf. Gleich mir sah er diese mysteriöse junge Dame jetzt zum ersten Male; gleich mir fragte er sich, was der merkwürdige Spitzname, unter welchem sie sich eingeführt hatte, wohl zu bedeuten haben könne. Wir sahen das Kind an; es hielt seine Beine, welche in ein Paar kleine bestäubte durch löcherte Stiefeln ausliefen, ausgestreckt gerade vor sich hin, erhob seine dunkeln runden, von einem Wetterdach ungekämmter Flachshaare überschatteten Augen, sah uns wieder ernst an und nahm unsere Gastfreundschaft zum zweiten Male mit den Worten in Anspruch: »Jicks will etwas zu trinken haben.«

Während Osrar in die Küche lief, um etwas Milch zu holen, gelang es mir, ausfindig zu machen, wer »Jicks« sei. Etwas, ich kann nicht genau sagen was, in der Art, wie das Kind mit seiner Puppe in das Zimmer hineingeschlendert war, erinnerte mich an die lymphatische Dame im Pfarrhause, wie sie mit dem Baby in der einen und dem Roman in der andern Hand vor und rückwärts schlenderte.

Ich nahm mir die Freiheit, Jicks’ Kleid etwas genauer zu untersuchen und entdeckte in der einen Ecke desselben das Zeichen »Selina Finch.« Neben mir saß also, wie ich vermuthet hatte, ein Mitglied der zahlreichen Familie Frau Finch’s, das, wie mir schien, reichlich jung war, um ganz allein ohne Kopfbedeckung die Umgegend von Dimchurch zu durch streifen. Oscar kam mit einem Becher Milch zurück Das Kind bestand darauf; den Becher selbst in die Hände zu nehmen, leerte denselben ohne abzusetzen bis aus den letzten Zug, holte tief Athem, sah mich mit einem weißen Schnurrbart auf der Oberlippe an und kündigte das Ende seines Besuchs mit den Worten an: »Jicks will wieder hinunter.«

Ich half unserer kleinen Freundin vom Stuhl hinunter. Sie nahm ihre Puppe und blieb einen Augenblick in Gedanken versunken stehen. Was hatte sie jetzt vor? Darüber sollten wir nicht lange in Ungewißheit bleiben. Plötzlich legte sie ihre heiße, fette, kleine Hand in die meinige und versuchte es, mich mit sich zum Zimmer hinaus zu ziehen.

»Was willst Du?« fragte ich.

Jicks antwortete in einem unübersetzbar zusammen gesetzten Wort: »Mann Hott, hott.«

Ich ließ mich zum Zimmer hinauszerren, um «»Mann Hott, hott« zu sehen, zu spielen, oder zu essen; bestimmt zu sagen, was ich eigentlich damit sollte, war unmöglich Das Kind zog mich über den Vor platz vor die Hausthür. Hier hielt der Fuhrmann mit dem Wagen, welcher die zur Zurücksendung nach London bestimmte Kiste mit Gold — und Silberplatten auf nehmen sollte und von dessen Eintreffen wir des weihen Rasenbodens wegen nichts gehört hatten. Ich sah Oscar an, der mir gefolgt war. Jetzt verstanden wir nicht nur das meisterhaft zusammengesetzte Wort Jicks, welches, den Wagen als unwichtig außer Acht lassend, Mann und Pferd bedeutete, sondern auch die höfliche Zuvorkommenheit, mit welcher Jicks zu uns gekommen war und uns, nachdem sie sich ausgeruht und etwas getrunken hatte, von einem Umstande in Kenntniß setzte, welcher von uns unbemerkt geblieben war. Das merkwürdige Kind war, wie der Fuhrmann selbst erzählte, bis nach Browndown geschlendert, um zu sehen, was er hier machen werde, und hatte ihn vorhin befragt und auszuforschen gesucht. Jicks war ein öffentlicher Charakter in Dimchurch, der Fuhrmann kannte sie ganz genau. Man hatte ihr ihres Umherstreifens wegen den Spitznamen »Gipsy« gegeben und hatte diesen Namen in ihrem eigenen Dialekt in Jicks umgeändert. Sie war auf keine Weise im Pfarrhause zu halten; man hatte dort seit langer Zeit jeden Versuch als hoffnunglos aufgegeben. Früher oder später kam sie aber immer wieder zum Vorschein, oder es brachte sie jemand nach Hause, oder einer der Schäferhunde fand sie unter einem Gebüsch eingeschlafen und schlug Lärm. »Was in dem Kopfe des Kindes vorgeht«, sagte der Fuhrmann, indem er Jicks mit einer Art abergläubischer Verehrung ansah, »das weiß nur der liebe Gott. Sie hat ihren eigenen Willen und ihre eigene Art und Weise. Sie ist ein Kind und ist auch kein Kind. Mit drei Jahren ist sie ein Räthseh das niemand von uns lösen kann. Und das ist Alles, was ich von ihr weiß.«

Während der Fuhrmann uns diese Ausschlüsse gab traten der Zimmermann, welcher die Kiste zugenagelt hatte, und sein Sohn zu uns. Sie gingen mit Oscar ins Haus und kamen, die Kiste mit dem kostbaren Metall, welche für einen zu schwer war, gemeinschaftlich tragend, wieder heraus. Nachdem die Kiste auf den Wagen gehoben war, setzten sich auch die beiden Zimmerleute, Vater und Sohn, welche sich zu ihrer kleinen Fahrt nach Brighton der Fuhrgelegenheit bedienen wollten, in den Wagen. Der ältere Zimmermann, ein großer dicker Mann, sagte spaßend zu Oscar: »Die Gegend zwischen hier und Brighton ist sehr einsam, Herr Dubourg. Unserer drei werden nicht zu viel sein, um Ihre kostbare Kiste sicher an die Eisenbahn zu bringen.« Oscar nahm die Sache ernsthaft und fragte: »Giebt es hier in der Gegend Räuber?« »Du lieber Gott«, erwiderte der Fuhrmann, »Räuber würden hier Hungers sterben, wir haben ja nichts, was des Raubens werth wäre.«

Jicks, welche Alles, was vorging, bis auf die kleinsten Einzelheiten mit dem lebhaftesten Interesse beobachtete, nahm es auf sich, den Männern das Zeichen zur Abfahrt zu geben. Das wunderliche Kind machte gegen seinen Freund, den Fuhrmann gewandt, mit seiner fetten kleinen Hand eine befehlende Geberde und rief so laut es konnte: »Weg!« Der Fuhrmann legte mit einem komischen Ausdruck von Respect seine Hand an den Hut und rief Jicks zu: »AlIes in Ordnung,Fräulein, Zeit ist Geld, nicht wahr?« Er knallte mit der Peitsche und der Wagen rollte über den dichten dicken Rasen geräuschlos davon.

Es war Zeit für mich, nach dem Pfarrhause zurückzukehren und die umherstreifende Jicks diesmsl in die Arme ihrer Familie zurückzuführen. Ich wandte mich zu Oscar, um ihm Adieu zu sagen.

»Ich wollte, ich könnte mit Ihnen gehen «, sagte Oscar.

»Sie werden so gut wie ich im Pfarrhause aus und eingehen können«, antwortete ich, »sobald man dort erfahren haben wird, was diesen Morgen zwischen Ihnen und mir vorgegangen ist. Sie haben von dem, was ich darüber mittheilen werde, nichts zu fürchten, sondern können nur dadurch gewinnen. Machen Sie sich frei von Hirngespinnsten und argwöhnischen Gedanken, die ihrer unwürdig sind. Morgen werden wir gute Nachbarn, Ende der Woche werden wir gute Freunde sein. Für jetzt sage ich Ihnen Lebewohl!«

Ich kehrte mich um, um Jicks bei der Hand zu nehmen. Aber während ich mit Oscar gesprochen hatte, war das Kind entschlüpft und keine Spur von ihm zu sehen. Noch ehe wir einen Schritt thun konnten, um unsere verlorene kleine Zigeunerin zu suchen, drang ihre Stimme von der hinter uns liegenden Seite des Hauses her in schrillen und zornigen Tönen zu uns. »Geht weg«, hörten wir das Kind ungeduldig rufen, »häßliche Männer, geht weg!«

Wir gingen um die Ecke des Hauses und fanden hier zwei schäbig aussehende Fremde, die sich an die Seitenmauer des Hauses lehnten. Ihre leichenhaften Gesichter, ihr thierischer Ausdruck und ihr von übelriechendem Schmutz starrender Anzug ließen mich in ihnen Exemplare des niedrigsten Lumpengesindels, das die Welt noch hervorgebracht hat, des in London aufwachsenden Lumpengesindels erkennen. Da standen sie lungernd, die Hände in den Taschen und den Rücken an die Mauer gelehnt, wie wenn sie sich vor einem Wirthshause sonnten, und da stand Jicks vor ihnen auf dem Rasen mit weit ausgespreizten Beinen, vertrat trotz ihres jugendlichen Alters das Eigenthumsrecht und hieß die Schufte fortgehen.

»Was macht Ihr hier?« fragte Oscar in scharfem Tone.

Einer der Kerle schien im Begriff, eine impertinente Antwort zu geben; aber der andere jüngere und noch gemeiner aussehende hielt ihn zurück und ergriff zuerst das Wort:

»Wir haben einen langen Marsch gemacht, Herr«, sagte der Kerl in einem unverschämt demüthigen Ton, »und haben uns die Freiheit genommen, uns an Ihrer Mauer auszuruhen und unsere Augen an der Schönheit Ihres jungen Fräuleins hier zu weiden.« Dabei deutete er auf das Kind. Jicks aber ballte die Faust gegen ihn und hieß ihn in noch leidenschaftlicherem Tone als vorher fortgehen.

»Im Dorfe ist ein Wirthshaus«, sagte Oscar, »seid so gut, Euch da auszuruhen, mein Haus ist kein Wirthshaus.«

Der ältere Mann machte einen zweiten Versuch zu reden und setzte mit einem Fluch an; aber der Jüngere hielt ihn zurück.

»Sei still, Jim«, sagte der dem anderen überlegene Lump. »Der Herr empfiehlt das Getränk im Wirthsause. Komm laß uns auf die Gesundheit des Herrn trinken.« Dabei wandte er sich gegen das Kind und zog den Hut mit einer tiefen Verneigung. »Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, mein Fräulein. Sie gehören gerade zu der Art von Frauenzimmern, die mir gefallen. Bitte, verloben Sie sich nicht, bis ich wiederkomme.«

Sein roher Kamerad fand diesen feinen Scherz so komisch, daß er plötzlich in ein schallendes Gelächter ausbrach. Arm in Arm gingen die beiden Schufte in der Richtung des Dorfes von dannen. Unsere komische kleine Jicks aber wurde ganz plötzlich zu einer tragischen und schrecklichen Gestalt.

Das Kind empfand die Unverschämtheit der beiden Kerle, als ob es ihre Worte wirklich verstanden hätte. Noch nie in meinem Leben habe ich ein so junges Geschöpf in einer so leidenschaftlichen Aufregung gesehen. Sie hob einen Stein auf und warf mit demselben, noch bevor ich ihr Einhalt thun konnte, nach den Kerlen. Sie schrie und stampfte mit den Füßchen auf den Boden, bis sie purpurroth im Gesicht war. Dann warf sie sich hin und wälzte sich wüthend auf dem Rasen umher. Sie beruhigte sich nicht eher, als bis ihr Oscar unüberlegter Weise ein Versprechen gab, an das er noch oft erinnert werden sollte, nämlich nach der Polizei zu schicken und die beiden Männer für ihre Frechheit, über Jicks zu lachen, gehörig durchprügeln zu lassen. Sie stand auf, trocknete sich die Augen mit ihren Handknöcheln und sah Oscar mit einem drohenden Blicke an. »Vergiß nicht«, sagte das merkwürdige Kind, dessen Busens noch unter dem schmutzigen Ueberzug wogte, »die Männer sollen Prügel haben und Jicks soll es sehen.«

Ich sagte Oscar im Augenblick nichts davon, aber ich konnte mich auf dem Heimwege eines geheimen Unbehagens über das Erscheinen der beiden Männer in der Nähe von Browndown nicht erwehren. Es war unmöglich, zu erfahren, wie lange sie sich schon in der Nähe des Hauses versteckt gehalten haben mochten, als das Kind sie entdeckte. Möglicherweise hatten sie durch das offene Fenster gehört, was Oscar in Betreff seiner kostbaren Metallplatten zu mir gesagt hatte und hatten vielleicht gesehen, wie die schwere Kiste auf den Wagen gepackt worden war. Das sichere Eintreffen der Kiste in Brighton machte mir keine Sorge; die drei Männer im Wagen waren Manns genug, um dieselbe zu schützen. Meine Befürchtungen galten der Zukunft.

Oscar lebte ganz allein in einem mehr als eine halbe Meile vom Dorfe entfernten einsamen Hause. Seine Liebhaberei für die Anfertigung getriebener Arbeit von kostbarem Metall konnte eine gefährliche Anziehungskraft üben, sobald sie über die idyllische Einsamkeit von Dimchurch hinaus bekannt wurde. Zu diesem Argwohn gesellte sich noch ein anderer; ich fragte mich, ob die beiden Kerle sich wohl nur zufällig in unserer entlegenen Gegend umhertrieben, oder ob sie wohlüberlegter Weise zu einem bestimmten Zweck nach Browndown gekommen seien.

Von diesen Zweifeln gequält, fragte ich, als ich bei meinem Eintritt in die Pforte zum Pfarrhause mit meiner kleinen Begleiterin zufällig auf die alte Amme Zillah stieß, dieselbe ohne Weiter es: »Kommen hier nach Dimchurch viele Fremde?«

»Fremde?« wiederholte die Alte, »außer Ihnen, Madame, haben, wir hier seit Jahr und Tag keinen Fremden gesehen.«

Ich nahm mir vor, Oscar bei« der ersten passen den Gelegenheit einen warnenden Wink zu geben.



Elftes Kapitel - Blinde Liebe

Lucilla saß, als ich ins Wohnzimmer trat, am Clavier.

»Ich habe mich nach Ihnen gesehnt«, sagte sie. »Ich habe das ganze Haus nach Ihnen durchsuchen lassen. Wo sind Sie gewesen?«

Ich sagte ihr, wo ich gewesen sei.

Mit einem Schrei des Entzückens sprang sie auf.

»Sie haben ihn dahin gebracht, Ihnen sein Vertrauen zu schenken; Sie haben alles herausgebracht;: Sie haben zwar nur gesagt: »Ich bin in Browndown gewesen«, aber ich habe es an Ihrer Stimme gehört, daß Sie Alles wissen. Heraus damit,heraus damit!«

Ich erzählte ihr nun, während Sie regungslos dastand und kaum zu athmen wagte, Alles was zwischen Oscar und mir vorgegangen war. Kaum war ich mit meinem Berichte fertig, als sie hochroth und leidenschaftlich aufgeregt nach der Thür ihres Schlafzimmers eilte.

»Was wollen Sie thun?« fragte ich

»Ich will meinen Hut und meinen Stock holen «

»Wollen Sie ausgehen?«

»Ja.«

»Wohin?«

»Können Sie das noch fragen? Natürlich nach Browndown!«

Ich bat sie, einen Augenblick zu warten und mich erst anzuhören. Ich brauche wohl kaum hinzuzufügen, daß ich mit ihr zu reden wünschte; um ihr klar zu machen, daß es unschicklich für sie sein würde, an einem und demselben Tage einen ihr fremden Mann zum zweiten Male zu besuchen. Ich erklärte ihr unumwunden, daß eine solche Handlungsweise hinreichen würde, ihren Ruf in Gefahr zu bringen. Das Ergebniß meiner Einmischung war merkwürdig und höchst interessant; es zeigte mir, daß die Tugend der Bescheidenheit — ich rede wohlgemerkt nicht von der Tugend der Wohlanständigkeit — ein künstliches Gewächs ist und daß die Entwickelung dieser Tugend nicht durch den Einfluß der Rede, sondern durch den des Gefühles bewirkt wird. Man stelle sich vor, daß ich in der ebenerwähnten Weise mit einem anderen zum ersten Male verliebten Mädchen spräche, was würde das Mädchen thun? Es würde sicherlich in eine unruhige Verwirrung gerathen und aller Wahrscheinlichkeit nach, während es mir zuhörte, lieblich erröthen. Aber Lucilla’s hübsches Gesicht zeigte nur einen Ausdruck, den der Enttäuschung, vielleicht untermischt mit etwas Erstaunen. Ich hielt sie schon damals für das, was sie, wie ich mich später überzeugte, wirklich war: das reinste Geschöpf, das die Erde jemals getragen hat. Und doch zeigte sich bei ihr keine Spur von der natürlichen und ein Mädchen so gut kleidenden Verwirrung, keine Spur von dem lieblichen, dem Weibe eigenen Wechseln der Farbe, das ich so sicher erwartet hatte, und dabei war sie, wohlgemerkt, von ungewöhnlich feinfühliger und impulsiver Natur, und sonst bei den geringfügigsten Anlässen sehr leicht erregt und immer bereit, ihrer Erregung Ausdruck zu geben. Was hatte das zu bedeuten? Es zeigte sich mir hier eine eigenthümliche Wirkung des schrecklichen Leidens, welches ihr Leben verdunkelte, und es bedeutete, daß Bescheidenheit wesentlich der Ausfluß unseres Bewußtseins davon ist, daß die Augen Anderer uns beobachten und daß Blindheit aus dem einfachen Grunde nie verschämt ist, weil sie — nicht sehen kann! Das bescheidenste Mädchen ist im Dunkeln kühner gegen ihren Geliebten. Ein Mädchen oder eine Frau, die zum ersten Male in einem Actsaale als Modell sitzen soll und sich vor dieser Schaustellung ihrer Reize entsetzt, läßt sich schließlich doch überreden, ein Künstleratelier zu betreten, wenn man ihr die Augen verbindet. Meine arme Lucilla hatte immer eine Binde vor den Augen, sie konnte ihren Geliebten nie sehen. Sie war mit den Leidenschaften eines Weibes aufgewachsen und hatte doch nie die Grenzen der furchtlosen und reinen Unschuld eines Kindes überschritten. O, wenn jemals einem Menschen ein heiliges Pfand anvertraut war, so mußte ich mich als den Hüter eines solchen Pfandes betrachten! Ich konnte es nicht ertragen, das arme hübsche blinde Gesicht nach meinen letzten Worten mit einem solchen Ausdruck der Unempfindlichkeit mir zugekehrt zu sehen Ich ergriff ihren Arm und zog sie aus meinen Schooß: »Liebes Kind«, sagte ich sehr ernst, »Sie dürfen heute nicht wieder zu ihm gehen.«

»Ich habe ihm aber so viel zu sagen«, antwortete sie ungeduldig. »Ich möchte ihm sagen, wie tief ich für ihn empfinde und wie sehr es mir am Herzen liegt, sein Leben, wenn es mir möglich ist, glücklicher zu gestalten.«

»Meine liebe Lucilla! Das dürfen Sie einem jungen Manne nicht sagen. Das wäre so gut, als wenn sie ihm geradeheraus erklärten, das sie ihn lieben!«

»Ich liebe ihn!«

»Still, still. Behalten Sie das für sich, bis Sie gewiß sind, daß er Ihre Liebe erwidert. Es gebührt dem Manne, mein Liebling, und nicht dem Weibe, bei solchen Gelegenheiten seine Gefühle zuerst zu offenbaren.«

»Das ist sehr hart für die Frauen. Wenn sie zuerst fühlen, sollten sie auch ihre Gefühle zuerst aus sprechen dürfen.« Sie schwieg einen Augenblick nachdenklich und sprang dann plötzlich von meinem Schooße auf, indem sie ungestüm rief: »Ich muß ihn sprechen. Ich muß ihm sagen, daß ich seine Geschichte gehört habe und daß ich darnach nicht schlechten sondern nur besser von ihm denke!«

Wieder wollte sie fort, « um ihren Hut zu holen. Meine einzige Hoffnung sie zurückzuhalten, beruhte auf der Möglichkeit, sie zu einem Compromiß zu bewegen.

»Schreiben Sie ihm ein Billet«, sagte ich, bedachte dann aber plötzlich, daß sie blind sei.

»Sie sollen mir dictiren«, fügte ich hinzu, »ich will für Sie schreiben. Begnügen Sie sich damit für heute um meinetwillen, Lucilla.

Das arme Kind gab mit einigem Widerstreben nach.

Aber sie weigerte sich eifersüchtig, mich für sie schreiben lassen.

»Mein erstes Billet an ihn muß ganz von mir geschrieben sein«, sagte sie, »ich kann schreiben auf meine eigene weitläufige Manier. Es dauert lange; und ist langweilig, aber es geht doch. Sehen Sie! einmal her.«

Sie ging mir voran an einen in einer Ecke des Zimmers stehenden Schreibtisch, setzte sich und hielt eine Weile nachdenklich die Feder in der Hand. Plötzlich übergoß ihr unwiderstehlich liebliches Lächeln wie ein Strom von Licht ihr Antlitz »O!« rief sie, »jetzt weiß ich, wie ich ihm sagen will, was ich denke «

Indem sie die von ihrer rechten Hand gehaltene Feder mit den Fingern der linken leitete, schrieb sie langsam in großen kindischen Lettern das Folgende:

»Lieber Herr Oscar, ich habe Alles über Sie er fahren. Bitte, schicken Sie mir die kleine goldene Vase.

Ihre Freundin Lucilla.«

Sie couvertirte und adressirte den Brief und klatschte vor Freude in die Hände »Er wird verstehen, was das zu bedeuten hat«, sagte sie fröhlich.

Es war vergebens, ihr zum zweiten Mal Vorstellungen zu machen. Ich klingelte, — natürlich unter Protest, denn was sollte man davon denken, daß sie ein Geschenk von einem Herrn annehmen wollte, welchen sie diesen Morgen zum ersten Mal gesprochen hatte, — und der Stallknecht wurde mit dem Brief nach Browndown geschickt. Indem ich diese Concession machte, sagte ich mir:

»Ich will Oscar schon im Zaum halten, er ist der lenksamere von Beiden!«

Die Zeit bis zur Rückkehr des Stallknechts war nicht leicht auszufüllen Ich schlug vor, etwas zu: musiciren; aber Lucilla war noch zu voll von der Angelegenheit, die ihr Interesse so ganz in Anspruch nahm. Plötzlich fiel es ihr ein, daß ihr Vater und ihre Stiefmutter beide davon unterrichtet werden müßten, daß Herr Dubourg vollkommen würdig sei, in dem Pfarrhause als Gast empfangen zu werden; sie beschloß, ihrem Vater zu schreiben.

Bei dieser Gelegenheit machte sie keine Schwierigkeit, mir zu dictiren und mich für sie schreiben zu lassen. Wir brachten zusammen einen enthusiastischen, etwas überschwänglichen Brief zu Stande. Ich war keineswegs sicher, daß wir damit dem ehrwürdigen Finch eine günstige Meinung von unserem neuen Nachbarn beibringen würden. Indessen das war nicht meine Sache. Ich erschien bei dieser Angelegenheit in einem sehr günstigen Lichte, als die besonnene fremde Dame, welche darauf bestanden hatte, Nachforschungen anzustellen. Ueberdies war es für mich eine Ehrensache, in einem Briefe, den ich für eine Blinde schrieb, an dem, was mir dictirt wurde, kein Wort zu ändern. Als der Brief fertig war, schrieb ich die Adresse des Hauses in Brighton, in welchem sich Herr Finch damals gerade aufhielt und wollte eben das Couvert schließen, als mich Lucilla zurückhielt.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte sie, »schließen Sie den Brief noch nicht.«

Ich begriff nicht recht, warum ich das Couvert noch offen lassen sollte und warum Lucilla ein wenig verlegen aussah, als sie mir untersagte, den Brief zu schließen, Ich erhielt bald einen neuen unerwarteten Aufschluß über den Einfluß, den Blindheit auf die von ihr Betroffenen übt. — Nachdem wir miteinander Rath gehalten hatten, waren wir übereingekommein daß ich Frau Finch von der Aufklärung des Geheininisses in Browndown benachrichtigen solle. Lucilla gestand offen, daß sie keinen besonderen Geschmack an der Gesellschaft ihrer Stiefmutter finde, und ebensowenig an der jedem sich lange bei dieser fruchtbaren Dame Aufhaltenden, unvermeidlich obliegenden Verpflichtung, ihr Schnupftuch aufzuheben oder ihr Baby zu halten. Ich erhielt einen Schlüssel zu der Verbindungsthür zwischen den beiden Theilen des Hauses und ging fort. Ehe ich meinen Auftrag ausrichtete, ging ich einen Augenblick in mein Schlafzimmer, um meinen Hut und meinen Sonnenschirm wegzulegen. Als ich wieder an der Thür des Wohnzimmers vorüberkam, fand ich, daß dieselbe von Jemandem, der das Zimmer nach mir betreten hatte angelehnt gelassen war und hörte ich Lucilla sagen: »Nimm den Brief aus dem Couvert und lies ihn mir vor.«

Ich ging weiter über den Corridor an der Thür vorüber, sehr langsam, wie ich bekennen muß, und hörte, wie die alte Amme Lucilla die ersten Sätze des Briefes, den ich unter ihrem Dictat geschrieben hatte, laut vorlas. Der unüberwindliche Argwohn der Blinden, welche, in fortwährendem Mißtrauen gegen die Personen um sie her, immer fürchten, von einem der Glücklichen, die sehen können betrogen zu werden, hatte Lucilla getrieben, mich, selbst in einer so geringfügigen Angelegenheit, wie dieser Brief es war, hinter meinem Rücken aus die Probe zu stellen. Sie bediente sich Zillahs Augen, um sich zu vergewissern, daß ich wirklich Alles, was sie dictirt hatte, geschrieben habe, gerade wie sie sich bei vielen späteren Gelegenheiten meiner Augen bediente, um sich zu vergewissern, daß Zillah Aufträge zu häuslichen Besorgungen pünktlich ausgeführt habe. Keine noch so lange Erfahrung von der treuen Ergebenheit derer, welche mit ihnen leben, beruhigt die Blinden ganz.

Wie traurig muß es sein, in ewiger Finsterniß zu leben!

In dem Augenblick, wo ich die Verbindungsthür öffnete, war es, als hätte ich gleichzeitig alle Thüren der Schlafzimmer im Pfarrhause geöffnet.

Kaum hatte ich den Vorplatz betreten, als die Kinder aus einem Zimmer nach dem anderen wie Kaninchen aus ihren Höhlen hervor huschten.

»Wo ist Eure Mama?« fragte ich.

Die Kaninchen antworteten mir mit einem allgemeinen Gekreisch und huschten wieder in ihre Höhlen zurück.

Ich ging die Treppe hinunter, um mein Glück im Erdgeschoß zu versuchen. Aus dem Fenster des Treppenabsatzes hatte man eine Aussicht auf den Vordergarten. Ich sah hinaus und erblickte unsere kleine Zigeunerin, die pausbackige Jicks, ganz allein im Garten umherstreifen, offenbar um die nächste Gelegenheit zu erspähen, wo sie sich ungesehen davonmachen könnte.

Dieses merkwürdige kleine Geschöpf machte sich nichts aus der Gesellschaft der andern Kinder. Zu Hause pflegte sie nachdenklich in einer Ecke des Zimmers zu sitzen und ihre Mahlzeiten, wenn irgend möglich, auf dem Fußboden zu nehmen. Außerhalb des Hauses streifte sie umher bis ihre Kräfte erschöpft waren, und legte sich dann wie ein kleines Thier an die erste beste Stelle zum Schlafen. Sie blickte zufällig auf, während ich am Fenster stand. Als sie meiner ansichtig wurde, deutete sie mit der Hand nach der Pforte des Pfarrhauses. »Was giebts?« fragte ich. Die kleine Zigeunerin antwortete: »Jicks will da hinaus.«

In demselben Augenblick benachrichtigte mich das Geschrei eines Baby von unten her, daß ich mich in nächster Nähe von Frau Finch befinde. Ich ging dem Geschrei nach, bis ich an die Schwelle einer offenstehen den großen Speisekammer am äußersten Ende des Vorplatzes gelangte. In der Mitte der Kammer saß Frau Finch, damit beschäftigt, der Köchin Haushaltsgegenstände zu verabreichen. Dieses Mal war sie mit einem Unterrock begleitet und in einen Shawl gehüllt, und hatte das Baby und den Roman, flach auf dem Rücken liegend, auf dem Schoß.

»Acht Pfund Seife? Ich möchte wohl wissen, wo das Alles bleibt!« stöhnte Frau Finch unter dem Accompagnement des schreienden Baby’s. »Fünf Pfund Soda für das Waschhaus? Man sollte glauben, wir besorgten die Wäsche für das ganze Dorf. Sechs Pfund Lichte? Sie müssen die Lichte essen wie die Russen; wer hat je gehört, daß man sechs Pfund Lichte in einer Woche verbrennt? Zehn Pfund Zucker? Wer bekommt denn all’ den Zucker? Ich nehme nie Zucker, ich bekomme das ganze Jahr keinen Zucker zu kosten. Vergeudung, nichts als Vergeudung!« Bei diesen Worten blickte Frau Finch nach der Thür und wurde meiner ansichtig. »O, Madame Pratolungo! Wie geht es Ihnen? Gehen Sie nicht fort; ich bin gerade fertig. Eine Flasche Wichse? Meine Schuhe sehen ja aus, daß es eine Schmach für das ganze Haus ist. Fünf Pfund Reis? Wenn ich indische Dienstboten hätte, würden fünf Pfund Reis ein Jahr lang für dieselben ausreichen. Hier, bringen Sie die Sachen nach der Küche. Entschuldigen Sie meinen Anzug, Madame Pratolungo. Wie soll ich mich anziehen, bei Allem was ich zu thun habe? Wie sagen Sie? Meine Zeit muß sehr in Anspruch genommen sein? Ach, das ist es ja gerade! Wenn man des Morgens eine halbe Stunde verloren hat und sie nicht wieder einbringen kann, nicht zu gedenken des Ausgebens in der Speisekammer und des Verspätens des Mittagessens für die Kinder und des verdrießlichen Baby’s, so zieht man rasch einen Unterrock an, wirft sich einen Shawl über und läßt die Dinge gehen wie sie gehen wollen. Wo mag nur mein Schnupftuch geblieben sein? Hatten Sie wohl die Güte, zwischen den Flaschen hinter Ihnen nachzusehen? O, hier ist es schon; das Baby liegt darauf. Darf ich Sie bitten, mir das Buch einen Augenblick zu halten? Ich glaube das Baby wird ruhiger sein, wenn ich es anders herumliege.«

Bei diesen Worten legte Frau Finch das Baby auf den Bauch und klopfte es weidlich auf den Rücken Aber der nicht zu beschwichtigende Säugling schrie nur um so lauter. Seine Mutter schien dieses Geschrei durchaus nicht zu rühren. Die resignirte häusliche Märtyrerin blickte ruhig zu mir auf, während ich, den Roman in der Hand, fassungslos vor ihr stand.

»O, das ist eine sehr interessante Geschichte«, fuhr sie fort. »Es kommt natürlich sehr viel Liebe darin vor. Sie kommen deshalb her, nicht wahr? Ich erinnere mich, ich versprach gestern, Ihnen das Buch zu leihen.«

Noch ehe ich antworten konnte erschien die Köchin, wieder, um sich noch weitere Haushaltungsgegenstände zu holen. Frau Finch wiederholte die Forderungen der Köchin eine nach der anderen in Tönen der Verzweiflung.

»Noch eine Flasche Essig? Ich glaube Sie begießen den Garten mit Essig. Noch mehr Stärke? Ich bin überzeugt, daß bei der Wäsche der Königin nicht so viel Stärke wie bei uns verbraucht wird. Sandpapier? Sandpapier wird in diesem verschwenderischen Hause wie Makulatur behandelt. Ich werde es dem Herrn sagen. Wenn es so fortgeht, kann ich wahrhaftig nicht mit meinem Hausstandsgelde auskommen. Gehen Sie nicht fort, Madame Pratolungo, ich werde gleich fertig sein. Wie, Sie müssen fort? O, dann legen Sie, bitte das Buch wieder auf meinen Schoß und werfen Sie doch einmal einen Blick hinter jenen Sack; der erste Band ist heute Morgen da hinuntergefallen und ich habe noch keine Zeit gehabt, ihn wieder aufzuheben. — Sandpapier? Meinen Sie, ich könnte Sandpapier hexen? Haben Sie den ersten Band gefunden? Ach, da ist er! Ganz mit Mehl bedeckt; der Sack wird wohl ein Loch haben. — Zwölf Bogen Sandpapier in einer Woche gebraucht! Wozu? Ich möchte doch wohl wissen wozu? Vergeudung, schmähliche, sündhafte Vergeudung!«

In diesem Stadium von Frau Finchs Gejammer machte ich mich mit dem Buche davon und verschob die Mittheilung in Betreff Oscar Dubourgs auf eine passendere Gelegenheit. Die letzten Worte, die ich beim Hinausgehen noch durch das Geschrei des Baby hindurch vernahm, betrafen noch immer den verschwenderischen Verbrauch von Sandpapier. Vergießen wir eine Thräne über Frau Finchs Leiden und überlassen wir sie ihren Jeremiaden über häusliche Verschwendung in der duftigen Atmosphäre ihrer Speisekammer.

Ich hatte eben Lucilla über das Fehlschlagen meiner Expedition nach dem Vorderhause berichtet, als der Stallknecht mit der goldenen Vase und einem Briefe zurückkehrte. Oscar’s Antwort war nach dem Vorbilde von Lucillais Billet geflissentlich kurz gefaßt. »Sie haben mich wieder zu einem glücklichen Menschen gemacht. Wann darf ich der Vase folgen?« Diese beiden Sätze bildeten den ganzen Brief.

Zu einer zweiten Discussion mit Lucilla gab die Frage Veranlassung, ob es schicklich sei, daß wir Oscar in Abwesenheit des Ehrwürdigen Finch empfingen. Alles was ich erreichen konnte, war, daß ich sie über redete zu warten, bis sie wenigstens von ihrem Vater gehört haben werde, wogegen ich mich bereit erklären mußte, am nächsten Morgen wieder in der Richtung nach Browndown mit ihr spazieren zu gehen. Durch diese neue Concession gelang es mir, sie zu beruhigen.

Sie hatte sein Geschenk empfangen, sie hatte Briefe mit ihm gewechselt; das war für den Augenblick genug, um sie zu befriedigen.

»Glauben Sie, daß er auf dem Wege ist, sich in mich zu verlieben?« fragte sie mich, ehe sie sich mit ihrer goldenen Vase ins Bett legte, grade wie sie als Kind ein neues Spielzeug mit sich ins Bett genommen haben würde. »Lassen Sie ihm Zeit, liebes Kind«, antwortete ich. »Nicht Jedem ist es gegeben, in einer so ernsten Angelegenheit wie diese so rasch vorzugehen wie Ihnen.« Mein Scherz übte keine Wirkung auf sie. »Nehmen Sie die Kerze fort«, sagte sie. »Ich bedarf ihrer nicht, ich kann ihn mit meinem inneren Auge sehen.« Sie legte sich bequem auf ihrem Kissen zurecht und klopfte mir mit neckischem Trotz auf die Wange, als ich mich über sie beugte. »Gestehen Sie nur, daß ich jetzt gegen Sie im Vortheil bin«, sagte sie. »Sie können im Dunkeln nicht ohne Ihre Kerze sehen; ich könnte in diesem Augenblick durch das ganze Haus gehen, ohne einen einzigen Fehltritt zu thun.«

Ich glaube aufrichtig, an jenem Abend war das »arme Fräulein Finch« das glücklichste Mädchen der Welt!



Zwölftes Kapitel

Ein häuslicher Aufruhr nöthigte uns am nächsten Morgen, unsern beabsichtigten Spaziergang nach Browndown einige Stunden aufzuschieben.

Die alte Amme Zillah war während der Nacht krank geworden; die Mittel, die wir zur Hand hatten, gewährten ihr so wenig Erleichterung, daß wir am Morgen zum Arzt schicken mußten, der in einiger Entfernung von Dimchurch wohnte. Da dieser die erforderliche Medicin erst von seiner Wohnung holen lassen mußte, wurde es fast ein Uhr Nachmittags, bevor die verordneten Mittel ihre Wirkung thaten und die Amme sich hinlänglich erholt hatte, um uns zu ermöglichen, sie der Pflege der Magd zu überlassen.

Wir hatten die nöthige Toilette für unsern Spaziergang gemacht, wobei natürlich Lucilla viel früher fertig war als ich, und waren eben an der Gartenpforte angelangt als wir von jenseits der Gartenmauer her eine sonore Baßstimme sagen hörten: »Glauben Sie mir, mein werther Herr, die Sache hat nicht die mindeste Schwierigkeit. Ich brauche nur eine Anweisung an meine Banquiers nach Brighton zu schicken.«

Lucilla fuhr zusammen und faßte mich am Arm.

»Mein Vater!« rief sie mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens aus. »Mit wem spricht er?«

Ich hatte den Schlüssel zur Gartenpforte bei mir. »Was für eine prächtige Stimme Ihr Vater hat«, sagte ich, während ich den Schlüssel aus der Tasche nahm und die Pforte öffnete. Vor uns standen Arm in Arm, als hätten sie sich von Jugend auf gekannt Lucilla’s Vater und Oscar Dubourg. Der Ehrwürdige Finch eröffnete die Verhandlungen, indem er seine Tochter zärtlich umarmte, mit den Worten:

»Mein liebes Kind, Deinen sehr interessanten Brief erhielt ich diesen Morgen. Sobald ich ihn gelesen hatte, fühlte ich, daß ich gegen Herrn Dubourg eine Pflicht zu erfüllen habe. Als Pfarrer von Dimchurch lag es mir erklärlich ob, einen bekümmerten Bruder zu trösten. Ich fühlte in der That, wenn ich so sagen darf, ein Verlangen, die Hand der Freundschaft diesem schwer geprüften Manne darzureichen. Ich borgte mir den Wagen meines Freundes und fuhr direct hierher. Wir haben eine lange und herzliche Unterhaltung mit einander gehabt; ich habe Herrn Dubourg mit hergebracht; er muß zu uns gehören. Mein liebes Kind, Herr Dubourg muß zu uns gehören. Laß mich Dich vorstellen. Meine älteste Tochter, Herr Dubourg!«

Er vollzog die Ceremonie der Vorstellung mit so unterschütterlichem Ernst als glaube er wirklich, daß seine Tochter und Oscar sich jetzt zum ersten Male sähen. In meinem Leben hatte ich keinen gemeiner aussehenden Menschen gesehen als diesen Pfarrer. Er reichte mir kaum bis an die Schulter und war von einer so jammervollen Magerkeit daß er aussah wie eine Personification des Hungers. Er hätte sich nur in Lumpen zu kleiden gebraucht um in den Straßen London’s sein Glück zu machen; sein Gesicht war ganz mit Pockennarben bedeckt; sein kurzes häßliches Haar stand steif und gerade in die Höhe, wie die Haare eines Besens. Seine kleinen weißlich grauen Augen hatten einen unruhigem inquisitorischen hungrigen Blick, der etwas unbeschreiblich Irritirendes und Unbehagliches hatte. Sein einziger äußerer Vorzug war seine herrliche Baßstimme, die aber zu der ganzen Erscheinung des Mannes durchaus nicht paßte. Bis man sich an den Contrast gewohnte, hatte es etwas fast Unerträgliches, diese vollen, prächtigen tiefen Töne aus dem schmächtigen kleinen Körper herauskommen zu hören. Das berühmte lateinische Wort enthält eine bessere Schilderung des Ehrwürdigen Finch, als ich sie zu geben im Stande bin; er war in Wahrheit: Nichts als Stimme »Madame Pratolungo, nicht wahr?« fuhr er fort, in dem er sich zu mir wandte. »Es freut mich ungemein, die Bekanntschaft der umsichtigen Gesellschafterin und Freundin meiner Tochter zu machen. Sie müssen zu uns gehören, wie Herr Dubourg. Erlauben Sie mir, Sie mit Herrn Dubourg bekannt zu machen: Madame Pratolungo, Herr Dubourg. Dies ist der ältere Theil des Pfarrhauses, mein werther Herr Dubourg. Wir haben ihn wieder in Stand setzen lassen, es war, — wie lange ist es doch her? — richtig, es war gerade nach der vorletzten Entbindung meiner Frau.« (Ich merkte bald daß Herr Finch die Zeit immer nach den Entbindungen seiner Frau berechnete). »Sie wer den den Bau im Innern sehr merkwürdig und interessant finden. Lueilla, mein Kind! Es hat der Vorsehung gefallen, mein werther Herr Dubourg, meiner Tochter das Augenlicht zu versagen. Unerforschliche Vorsehung! — Lucilla, wir sind hier an dem Theil des Hauses, der Dir gehört; reiche Herrn Dubourg den Arm und geht voran. Mache die Honneurs des Hauses, mein Kind. Madame Pratolungo, erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Arm reiche. Ich bedaure, daß ich bei Ihrer Ankunft nicht anwesend war, um Sie im Pfarrhause zu bewillkommnen; betrachten Sie sich, ich bitte recht sehr darum, als ganz zu uns gehörig.«

Er stand still und stimmte sein gewaltiges Organ zu einem vertraulichen Gemurmel herab: »Ein herrlicher Mensch dieser Herr Dubourg, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr er mir gefällt; und welch eine traurige Geschichte. Verkehren Sie fleißig mit Herrn Dubourg, meine liebe Pratolungo; mir zu Gefallen, verkehren Sie fleißig mit Herrn Dubourg.«

Er sagte das mit dem Ausdruck der tiefsten Besorgniß; noch mehr, er bekräftigte es durch einen zärtlichen Druck meiner Hand. Ich habe meiner Zeit viele verwegene Menschen kennen gelernt; aber die Verwegenheit des Ehrwürdigen Finch, welcher die Stirn hatte, sich uns gegenüber beharrlich zu stellen, als ob er unsern Nachbar entdeckt habe, und als ob Lucilla und ich völlig unfähig seien, ohne seinen Beistand Oscar zu verstehen und zu würdigen, übertraf Alles, was ich in dieser Art je erlebt hatte. Ich fragte mich, was sein für Lucilla und mich gleich unerwartetes Benehmen zu bedeuten haben möge. Das, was ich durch seine Tochter über seinen Charakter erfahren hatte, in Verbindung mit dem, was wir ihn außerhalb der Gartenmauer hatten sagen hören, ließ mich vermuthen, daß der Schlüssel zu seinem Benehmen in einem Geldinteresse liege.

Wir ließen uns im Wohnzimmer nieder. Der einzige unter uns, der sich ganz behaglich zu fühlen schien, war Herr Finch. Er ließ seine Tochter und seinen Gast keinen Augenblick allein. »Mein liebes Kind, zeige Herrn Dubourg dies, zeige Herrn Dubourg das. Meine Tochter besitzt dies, meine Tochter besitzt das;« so ging es eine Weile fort. Oscar schien durch die überwältigenden Aufmerksamkeiten seines neuen Freundes ein wenig erschreckt zu sein. Lucilla war, wie ich sehen konnte, innerlich aufgebracht daß sie im Aufträge ihres Vaters Oscar Aufmerksamkeiten erweisen mußte, die sie ihm gern aus freien Stücken erwiesen hätte.

Was mich betrifft, so fing ich bereits an, der patronisirenden Höflichkeit des kleinen Pfaffen mit der mächtigen Stimme überdrüssig zu werden und wir fühlten uns alle erleichtert als eine Botschaft von Frau Finch eintraf, welche ihren Gatten ersuchen ließ sofort in den vorderen Theil des Pfarrhauses zu ihr zu kommen, um eine häusliche Angelegenheit mit ihr zu besprechen. Gezwungen, uns zu verlassen, hielt der Ehrwürdige Finch seine Abschiedsrede. Indem er Oscars Hand mit einer Art von väterlicher Zärtlichkeit in seinen beiden Hände nahm, sprach er mit einer so volltönenden Herzlichkeit daß die Glas- und Porzellansachen auf Lucilla’s Nipptisch durch seine brausenden Baßtöne in Schwingungen versetzt wurden.

»Trinken Sie doch Thee bei uns, mein werther Herr; ohne Umstände heute Abend um sechs Uhr. Wir müssen versuchen, Sie durch fröhliche Gesellschaft und ein wenig Musik aufzuheitern Lucilla, mein liebes Kind, Du wirst Herrn Dubourg etwas vorspielen, nicht wahr? Und Madame Pratolungo wird es, wenn ich Sie darum bitte gewiß auch thun; wir werden es verstehen, selbst unser stilles Dimchurch für unseren Nachbar angenehm zu machen. Wie sagt der Dichter: »Das Glück ist nicht an einen Ort gebunden; denn nirgends wird es oder überall gefunden.« Wie erhebend und wie wahr! Auf Wiedersehen!«

Glas und Porzellan hörten aus zu klirren; die kleinen dürren Beine des Herrn Finch trugen ihn zum Zimmer hinaus.

Kaum hatte er den Rücken gewendet, als Lucilla und ich Oscar mit derselben Frage bestürmten. Was war der Inhalt seiner Unterredung mit dem Pfarrer gewesen? Die Männer sind alle gleich unfähig, die Fragen der Frauen genügend zu beantworten, wenn es sich bei diesen Fragen um kleine Einzelheiten handelt. Eine Frau an Oscar’s Stelle würde im Stande gewesen sein, uns nicht nur die ganze Unterhaltung mit dem Pfarrer, sondern jeden noch so geringfügigen Umstand, welcher dieselbe begleitete, zu berichten. Aus unserem unzulänglichen Gewährsmann aber konnten wir nur die allgemeinsten Umrisse der Unterhaltung herausbringen. Das Coloriren und Ausfüllen dieser Umrisse blieb uns selbst überlassen.

Oscar bekannte, daß er dem Pfarrer in seiner Dankbarkeit für den freundlichen Besuch und die bewiesene Theilnahme sein ganzes Herz eröffnet und diesen ehrenwerthen Geistlichen, der ein vortrefflicher Geschäftsmann zu sein scheinte, vollständig au fait über seine Angelegenheiten gesetzt habe. Zum Dank dafür hatte der ehrenwerthe Finch sich auch seinerseits in der offensten Weise ausgesprochen. Er hatte ein trauriges Bild von der armseligen Lage Dimchurchs als Pfründe entworfen und hatte in so beweglichen Ausdrücken von dem verfallenen Zustande der alten und interessanten Kirche gesprochen, daß der einfältige Oscar von innigster Theilnahme ergriffen, auf der Stelle in der Gestalt einer Anweisung einen Beitrag zu dem Fonds;für die Reparatur des alten Thurmes geleistet hatte. Sie waren eben noch mit dem Thurm und dem Beitrag beschäftigt gewesen, als wir die Gartenpforte öffneten und sie hineinließen. Nun begriff ich die Handlungsweise unseres ehrwürdigen Freundes; es war klar, daß der Pfarrer sich über die finanziellen Verhältnisse Oscar’s etwas näher hatte unterrichten wollen und daß er sich jetzt für überzeugt hielt, es würde, wenn er die beiden jungen Leute zu einem lebhaften Verkehr ermuntere, um mich seines eigenen Ausdruckes zu bedienen, »vielleicht zu Gelde führen«. Er hatte nach meiner Ueberzeugung den Kirchthurm nur als Fühler voransgesandt, um seiner Zeit einen Angriff von mehr persönlicher Natur auf Oscar’s wohl gefüllte Börse folgen zu lassen. Noch mehr, er war nach meiner Ansicht scharfsichtig genug, um nach dem Ergebniß der Sondirung des Charakters seines jungen Freundes vorauszusehen, daß er von einer dauernden Verbindung Oscar’s mit seiner Tochter keine Verminderung, sondern eine Vermehrung seiner Einnahme zu gewärtigen habe.

Ob Lucilla auch ihrerseits zu demselben Schlusse gelangte, darüber wage ich mich nicht positiv auszusprechen. Ich kann nur berichten, daß sich auf ihren Zügen eine große Unbehaglichkeit malte, als uns die erwähnten Thatsachen mitgetheilt wurden und daß sie die erste Gelegenheit wahrnahm, um der Unterhaltung über ihren Vater ein Ende zu machen.

Was Oscar anlangt, so genügte es ihm, daß er sich seinen Platz als Freund des Hauses gesichert hatte. Er verabschiedete sich von uns in der besten Stimmung. Ich beobachtete ihn und Lucilla scharf, als sie einander Adieu sagten. Ich sah deutlich, wie sie ihm die Hand drückte. Bei der Geschwindigkeit, mit der die Dinge sich bis dahin gestaltet hatten, fragte ich mich, ob der Ehrwürdige Finch wohl beim Thee in seiner Amtstracht erscheinen und seinen schwer geprüften jungen Freund und seine Tochter zwischen der ersten und zweiten Tasse Thee trauen werde!

Bei unserer abendlichen Zusammenkunft fiel in dessen nichts Bemerkenswerthes vor.

Nur das muß ich noch erwähnen, daß Lucilla und ich beide zu Ehren der Gelegenheit sehr elegant gekleidet waren, wobei Frau Finch eine vortreffliche Folie für uns abgab.

Sie hatte einen ungeheuren Anlauf genommen und war — halb angezogen Ihre Abendtoilette bestand aus einem alten grünseidenen Rock und der unvermeidlichen blauen Merinojacke: »Ich verliere immer alle meine Sachen«, flüsterte mir Frau Finch ins Ohr; »ich besitze eine Taille zu diesem Rock, kann sie aber nirgends finden.« Die gewaltige Stimme des Pfarrers erschallte unaufhörlich; der kleine Mann mit seinen hochtrabenden Redensarten sprach in immer tieferen Baßtönen bis selbst die Theetassen auf dem Tische vor diesem gewaltigen Redestrom klirrend zusammenfuhren. Die älteren Kinder, welche an dem Familienfest Theilnehmen durften, aßen, bis sie nicht mehr essen konnten, starrten uns an und gingen dann zu Bett. Oscar kam mit Jedem gut fort. Frau Finch nahm ein natürliches Interesse an ihm, als einem Zwilling, obgleich sie andererseits auch überrascht und unangenehm berührt davon war, daß seine Mutter mit diesem Zwillingspaare angefangen und aufgehört hatte; Lucilla saß in stummer Glückseligkeit da, ganz eingenommen von dem unaussprechlichen Genuß, Oscar reden zu hören; für sie barg die Stimme des Geliebten so viel beglückende Abwechselung, wie für uns der Anblick eines geliebten Gesichtes. Später am Abend musicirten wir ein wenig und da hörte ich zum ersten Mal, wie reizend Lucilla spielte; sie war mit einer echt musikalischen Anlage geboren und ihr Anschlag war von einer Feinheit, wie selbst die größten Virtuosen sie selten besitzen. Oscar war entzückt. Mit einem Wort, der Abend war sehr gelungen.

Ich wußte es möglich zu machen, unserem Gaste, als er sich verabschiedete, wie ich es mir vorgenommen hatte, ein vertrauliches Wort in Betreff der einsamen Lage seiner Wohnung zu sagen. Jene Befürchtungen für Oscar’s Sicherheit in seinem einsamen Hause, welche bei mir, wie früher erwähnt, durch die Entdeckung der beiden Strolche in ihrem Versteck an der Mauer erweckt worden waren, präorcupirten mich noch immer und trieben mich, ihn zu ermahnen, irgend welche Vorsichtsmaßregeln zu treffen, bevor die kostbaren Metallplatten, welche er zum Schmelzen nach London zurückgeschickt hatte, wieder eintreffen würden. Er gab mir die erwünschte Gelegenheit, als er nach seiner Uhr sah und sich dafür entschuldigte, daß er seinen Besuch bis zu einer auf dem Lande so entsetzlich späten Stunde, bis Mitternacht ausgedehnt habe.

»Wartet Ihr Diener auf Sie?« fragte ich, indem ich mich stellte, als ob ich von seinen häuslichen Einrichtungen nichts wisse.

Er zog einen großen plumpen Schlüssel aus der Tasche und sagte: »Das ist mein einziger Diener in Browndown; um vier oder fünf Uhr Nachmittags haben die Leute aus dem Gasthofe Alles für mich gethan, was ich brauche; nach dieser Zeit bin ich ganz allein im Hause.«

Er reichte uns die Hand zum Abschiede; der Pfarrer gab ihm das Geleit bis zur Hausthür; ich schlüpfte hinaus, während sie die letzten Worte mit einander sprachen und trat zu Oscar, als er allein durch den Garten ging.

»Ich muß einen Augenblick frische Luft schöpfen«, sagte ich; »ich will Sie bis an die Gartenpforte begleiten.«

Er fing sofort an, von Lucilla zu reden; zu seiner Ueberraschung kam ich aber ohne weiteres auf seine Wohnung in Browndown zurück

»Halten Sie es für richtig«, fragte ich, »Nachts ganz allein in einem Hause wie das Ihrige zu sein? Warum halten Sie nicht einen Diener?«

»Ich hasse fremde Menschen antwortete er. »Ich l bin unendlich viel lieber allein.

»Wann erwarten Sie Ihre Gold- und Silberplatten zurück?«

»In ungefähr acht Tagen.«

»Wie hoch schätzen Sie den Werth derselben?«

»Auf ungefähr fiebzig bis achtzig Pfund.«

»In acht Tagen also«, sagte ich, »werden Sie Gegenstände im Werthe von siebzig bis achtzig Pfund in Browndown haben, Gegenstände, die ein Dieb nur einzuschmelzen braucht, um jeder Besorgniß vor Entdeckung enthoben zu sein.«

Oscar stand still und sah mich an.

»Was fällt Ihnen nur ein?« fragte er, »es giebt ja keine Diebe an diesem primitiven Orte.«

»Es giebt aber Diebe an anderen Orten, die hier her kommen können«, antwortete ich, »haben Sie die beiden Kerle vergessen, die wir gestern entdeckten, wie sie sich in der unmittelbaren Nähe von Browndown herumtrieben?«

Er lächelte. Ich hatte in ihm die Erinnerung an einen komischen Moment wachgerufen, weiter nichts.

»Nicht wir haben sie entdeckt«, sagte er, »sondern jenes sonderbare Kind. Was meinen Sie, wenn ich zu meiner Bewachung Jicks zu mir ins Haus nehme?«

»Ich scherze nicht«, erwiderte ich; »ich habe in meinem ganzen Leben keine verdächtiger aussehenden Strolche gesehen, als diese beiden Kerle. Das Fenster stand offen, als Sie mir erzählten, daß die Platten umgeschmolzen werden müßten. Die Kerle können so gut wie wir wissen, daß Ihr Gold und Silber nach einiger Zeit wieder bei Ihnen eintreffen wird.«

»Was Sie für eine lebhafte Einbildungskraft haben«, rief er aus, »Sie sehen ein paar schäbige Touristen von Brighton, die eine Excursion nach Dimchurch gemacht haben und machen ohne weiteres aus diesen harmlosen Leuten ein paar zu Raub und Mord verschworene Einbrecher. Sie und mein Bruder Nugent würden recht zu einander passen; seine Einbildungskraft geht auch immer mit ihm durch, gerade wie die Ihrige.«

»Lassen Sie sich von mir rathen«, erwiderte ich ernst. »Schlafen Sie nicht mehr in Browndown, ohne eine lebende Seele im Hause bei sich zu haben.«

Er war in ausgelassen guter Laune; er küßte mir die Hand und dankte mir in seiner überschwänglichen Weise für das Interesse, das ich an ihm nähme. »Gut«, sagte er, als er die Gartenpforte öffnete, »ich will mir eine lebende Seele ins Haus nehmen, ich will mir einen Hund anschaffen.«

Wir nahmen Abschied von einander; ich hatte ihm gesagt, was mich quälte, mehr konnte ich nicht thun, und am Ende war es ja ganz möglich, daß seine Art die Dinge anzusehen, richtig und die meinige falsch war.



Dreizehntes Kapitel - Jicks’ zweites Auftreten

Es vergingen weitere fünf Tage, während welcher Zeit wir unsern Nachbar fortwährend sahen; entweder Oscar kam ins Pfarrhaus oder wir gingen nach Browndown. Der Ehrwürdige Finch wußte sich meisterlich das Ansehen zu geben, als ahne er nichts; er wartete ruhig, bis die Beziehungen der beiden jungen Leute zu einem richtigen Liebesverhältniß herangereift sein möchten, und wirklich gingen diese Beziehungen unter Lucilla’s Einfluß rasch einer solchen entscheidenden Gestaltung entgegen. Niemand tadle mein armes blindes Mädchen dafür, daß sie den Mann, welchen sie liebte, ohne Scheu zur Erwiderung ihrer Liebe ermuthigte; er war als Courmacher der zurückhaltendste Mann, der mir je vorgekommen ist. Je mehr er sich in sie verliebte, desto schüchterner und mißtrauischer gegen sich selbst wurde er. Ich gestehe, daß ich keine Freundin von bescheidenen Männern bin und ich muß aufrichtig bekennen, daß Herr Oscar Dubourg bei näherer Bekanntschaft nicht sehr in meiner Achtung stieg. Indessen Lucilla verstand ihn, und das war genug. Sie wollte sich in ihrem Geiste ein möglichst getreues Bild von ihm verschaffen; mit Jedem im Hause, die Kinder einbegriffen, nahm sie ein Kreuzverhör über Dubourgs persönliche Erscheinung vor, wie sie auch, mich bereits ein solches Kreuzverhör hatte bestehen lassen. Ueber seine Züge und feine Gesichtsfarbe, seine Höhe und seine Breite; seine Art sich zu kleiden und seine Schmucksachen, — über alle diese Punkte verschaffte sie sich nach jeder Richtung hin die detaillirteste Auskunft. Es gewährte ihre eine besondere Genugthuung, von allen Seiten zu hören, daß er einen hellen Teint habe; sie hatte in ihrer Blindheit einen unüberwindlichen Widerwillen gegen dunkle Farben, gleichviel ob dieselben sich an Lebenden oder leblosen Gegenständen fanden. Sie war völlig außer Stande, einen Grund für diesen Widerwillen anzugeben; sie konnte ihn nur aussprechen.

»Ich habe die sonderbarsten Instinkte in Betreff einiger Dinge, sagte sie mir eines Tages; »ich wußte es zum Beispiel an jenem köstlichen Abend, wo ich zu erst den Klang von Oscar’s Stimme hörte, gleich, das heißt, ich fühlte im Innersten, daß er hell und blond sei. Das Gefühl ging auf geradem Wege von meinem Ohr in mein Herz und ließ mich ihn mit meinem innern Auge sehen, gerade wie Ihr Alle ihn mir seitdem geschildert habt. Mama sagt mir, sein Teint sei heller als der meinige; finden Sie das auch? Ich bin so glücklich darüber. Ist Ihnen je eine so sonderbare Person vorgekommen? Ich habe die wunderlichsten Ideen in meinem blinden Kopfe; für mich sind Leben und Schönheit unzertrennlich von hellen und Tod und Verbrechen von dunkeln Farben. Wenn ich je einen Mann mit dunklem Teint heirathen und später mein Gesicht wieder erlangen sollte, würde ich davonlaufen.«

Dieses sonderbare Vorurtheil gegen Menschen von dunklem Teint war mir aus persönlichen Gründen nicht angenehm. Dieses Vorurtheil stand mit meinem eigenen Geschmack durchaus nicht im Einklange. Unter uns, der selige Doctor Pratolungo hatte einen schönen mahagonibraunen Teint.

Was im Uebrigen die Dinge in Dimchurch anlangt, so finde ich in meinem Tagebuche über jene fünf Tage wenig Bemerkenswerthes verzeichnet; wir wurden durch keine zweite Erscheinung der beiden Strolche in Browndown erschreckt und nahm Oscar keine Veränderung mit seinen häuslichen Einrichtungen vor. Unsere kleine umherstreifende Jicks beehrte ihn wiederholt mit ihrem Besuche; bei jeder Gelegenheit erinnerte ihn das Kind mit ernster Miene an sein vorschnelles Versprechen, sich an die Polizei zu wenden, und die beiden häßlichen fremden Männer, die über sie gelacht hatten, körperlich züchtigen zu lassen. Die ersten Fragen, mit welchen die junge Dame regelmäßig, so oft sie Oscar mit einem Morgenbesuch beehrte, die Unterhaltung eröffnete, waren: »Wann sollen die Männer ihre Prügel bekommen?« und »Wann soll Jicks es sehen?«

Am sechsten Tage trafen die Gold und Silber platten aus der Londoner Fabrik wieder ein. Am nächsten Morgen erhielt ich von Oscar ein Billet folgenden Inhalts:

»Liebe Madame Pratolungo!

Ich muß Ihnen zu meinem Bedauern mit theilem daß mir in der verflossenen Nacht nichts zugestoßen ist. Meine Schlösser und Riegel sind in guter Ordnung; meine Gold und Silberplatten stehen sicher in meiner Werkstatt und ich selbst verzehre eben mein Frühstück mit unabgeschnittener Kehle. — Ihr ganz ergebener

Oscar.«

Darnach blieb mir nichts weiter zu« sagen. Jicks mochte dabei beharren, sich der beiden übelaussehenden Fremden zu erinnern; ältere und klügere Leute dachten nicht weiter an diese Kerle.

Es kam der Sonnabend, der zehnte Tag seit jenem denkwürdigen Morgen, an dem ich Oscar in dem kleinen Seitenzmmer in Browndown genöthigt hatte, sich gegen mich auszusprechen. Am Vormittage besuchte er uns im Pfarrhause; Nachmittags gingen wir nach Browndown, um ihn ein neues Stück in Gold getriebener Arbeit anfangen zu sehen, einen Handschuhkasten, der dazu bestimmt war, nach seiner Vollendung Lucilla’s Toilettentisch zu zieren. Wir verließen Oscar, emsig bei seiner Arbeit sitzend und entschlossen, bis Dunkelwerden damit fortzufahren.

Am Frühabend setzte sich Lucilla ans Klavier und ich machte einen verabredeten Besuch im Vorderhause des Pfarrhauses.

Frau Finch hatte beschlossen, eine vollständige Reform mit ihrer Garderobe vorzunehmen; sie hatte mich gebeten, ihr dabei mit meinem französischen Geschmack als vertraute Rathgeberin an die Hand zu gehen. »Ich kann mir keine neuen Sachen anschaffen«, sagte die arme Frau; »aber aus dem, was ich habe, ließe sich gewiß viel machen, wenn eine geschickte Hand sich mit den nöthigen Veränderungen befassen wollte.« Wer hätte einem so kläglichen Appell wiederstehen können? Ich ließ mir in stiller Ergebung das Baby, die übrigen Kinder und den Roman gefallen und begab mich, mit Scheere und Musterpapier bewaffnet, reich an Ideen, in Frau Finchs Wohnzimmer, während der Ehrenwürdige Finch auf seinem Zimmer damit beschäftigt war, eine Predigt zu verfassen. Wir hatten eben mit der Arbeit begonnen, als eines der älteren Kinder mit einer Botschaft aus der Kinderstube erschien. Es war Vesperzeit für die Kinder und Jicks war wie gewöhnlich nicht vorhanden; man hatte sie zuerst in den unteren Räumen des Hauses und dann im Garten gesucht, hatte aber nirgends eine Spur von ihr gefunden; Niemand war davon überrascht oder beunruhigt. Wir sagten: »Ach, sie ist gewiß wieder nach Browndown gegangen!« und vertieften uns wieder in die Bestandtheile von Frau Finch’s leidender Garderobe. Ich hatte eben decretirt, daß die blaue Merinojacke ausgedient haben und in den Ruhestand versetzt werden solle, als durch die offene Thür, welche nach dem Hintergarten führte, ein Klageruf an mein Ohr drang. Ich hielt inne und sah Frau Finch an. Der Klageruf erscholl abermals lauter und aus größerer Nähe und dieses Mal deutlich erkennbar als das Wimmern eines Kindes. Die Stubenthür war angelehnt geblieben, als der Abgesandte der Kinderstube uns wieder verlassen hatte; ich stieß die Thür auf und vor mir auf dem Vorplatz stand Jicks. Jeder Nerv erzitterte mir bei dem Anblick des Kindes. Das arme kleine Ding war bleich und zitterte vor Angst und Aufregung; sie war unfähig zu reden. Als ich niederknieete, um sie durch Liebkosungen zu beschwichtigen, ergriff sie mit einer krampfhaften Bewegung meine Hand und versuchte es, mich in die Höhe zu ziehen; ich stand wieder auf; sie stieß abermals ihr dumpfes Geschrei in noch lauteren Tönen aus und suchte mich zum Hause hinaus zuzerren. Sie war so schwach, daß sie bei diesem Versuch stolperte. Ich nahm sie auf den Arm; mit einer meiner Hände berührte ich, als ich sie mit dem Arm umschlang, das obere Ende ihres Kleidchens gerade unter ihrem Halse und fühlte etwas an meinen Fingern; ich sah näher zu. Barmherziger Gott! Sie waren mit Blut befleckt! Ich drehte das Kind um, mein Blut erstarrte; ihre Mutter, die hinter mir stand, stieß einen Schrei des Entsetzens aus.

Das weiße Kleidchen des lieben kleinen Dinges war überall mit frischem Blut befleckt und bespritzt. Es war nicht ihr eigenes Blut; an ihrem Körper war keine Schramme zu finden. Ich sah die schrecklichen Zeichen genauer an.

Sie waren offenbar absichtlich, wie es schien, mit dem Finger auf ihrem Kleide gemacht. Ich trug das Kind hinaus in’s Helle. Die Blutspuren bildeten Buchstaben; man hatte ihr mit schwachen Schriftzügen auf den Rücken ihres Kleides ein Wort geschrieben. Ich konnte, etwas dem Buchstaben »H« Aehnliches erkennen; dann kam ein völlig unleserlicher Buchstabe, dann etwas, das ein »l« und ein »f« bedeuten konnte, und dann ein letzter Buchstabe, in welchem ich ein »e« erkannte.

Sollte das Wort »Hilfe« heißen? — Ja, auf dem Rücken des Kinderkleides stand mit in Blut getauchtem Finger geschrieben — »Hilfe!«



Vierzehntes Kapitel - Entdeckungen in Browndown

Ich brauche wohl kaum zu sagen, zu welchem Schluß ich gelangte, sobald ich wieder hinreichend zu mir gekommen war, um überhaupt denken zu können. Dank meiner abenteuerlichen Vergangenheit habe ich mir die Gewohnheit angeeignet, mich bei ernsten Vorkommnissen aller Art rasch zu entschließen. Im gegenwärtigen Falle mußte nach meiner Ansicht zunächst augenblicklich Hilfe nach Browndown geschafft, dann aber das Vorgefallene vor Lucilla geheim gehalten werden, bis ich wieder zurückkehren und sie auf die Entdeckung vorbereiten konnte. Ich sah Frau Finch an; sie war hilflos auf einen Stuhl nieder gesunken.

»Ermannen Sie sich!« sagte ich und schüttelte sie Es war keine Zeit, Ohnmachten und hysterischen Zufällen Theilnahme zu erweisen; das Kind lag noch in meinen Armen und das arme Ding war von der Anstrengung und dem Schrecken ganz erschöpft; Ich konnte nichts anfangen, bis ich mich von dieser Last befreit hatte. Frau Finch blickte zitternd und schluchzend zu mir auf. Ich setzte ihr das Kind auf den Schoß.

Jicks machte einen schwachen Versuch, sich einer Trennung von mir zu widersetzen, gab aber bald jeden Widerstand auf und ließ ihr Köpfchen auf die Brust ihrer Mutter sinken. »Können Sie ihr das Kleidchen ausziehen?« fragte ich und schüttelte Frau Finch dabei und dieses Mal gehörig. Die Aufforderung zu einer hausfräulichen Beschäftigung schien eine belebende Wirkung auf sie zu üben. Sie sah nach dem in einer Ecke des Zimmers in seiner Wiege liegenden Baby und nach dem auf einem Stuhl in einer andern Ecke des Zimmers liegenden Roman. Die Anwesenheit dieser beiden ihr so vertrauten Gegenstände schien sie zu ermnthigen; sie schauderte, unterdrückte einen Seufzer, kam wieder zu Athem und fing an, dem Kinde sein Kleidchen auszuziehen.

»Legen Sie das Kleid sorgfältig bei Seite,« sagte ich »und reden Sie mit niemand über das Vorgefallene bis ich zurückkomme. Sorgen Sie, daß das Kind keinen Schaden nimmt; beruhigen Sie sie und warten Sie hier auf mich. Ist Herr Finch in seinem Arbeitszimmer?«

Frau Finch unterdrückte abermals einen Seufzer und sagte »Ja«. Das Kind machte eine letzte Anstrengung »Jicks will mit Dir gehen«, sagte die kleine Zigeuner in mit schwacher Stimme. Ich eilte zum Zimmer hinaus und überließ die drei Baby’s, das große, das kleine und das kleinste, sich selber.

Nachdem ich an die Thür des Arbeitszimmers geklopft hatte, ohne eine Antwort zu erhalten, öffnete ich dieselbe und trat ein. Der Ehrwürdige Finch war in einem bequemen Lehnstuhl, mit den zur Aufnahme seiner Predigt bestimmten weißen Blättern vor sich, in einen gesunden Schlaf verfallen, und sprang jetzt plötzlich erwachend auf. Der Pfarrer von Dimchurch fand sofort das Bewußtsein seiner Würde wieder.

»Ich bitte um Vergebung; Madame Pratolungo, ich war ganz in Gedanken vertieft. Fassen Sie Ihr Anliegen, wenn ich bitten darf, kurz.« Bei diesen Worten deutete er mit einer vornehm selbstbewußten Handbewegung auf die leeren Blätter und fügte in seinem tiefsten Baßton hinzu: »Predigttag!«

Ich erzählte ihm in kurzen Worten, was ich auf dem Kleide seines Kindes gesehen und theilte ihm meine Besorgnisse in Betreff des in Browndown Vorgefallenen mit. Er wurde todtenbleich. Nie habe ich: ein solches Entsetzen gesehen, wie die Gesichtszüge des Ehrwürdigen Finch in diesem Augenblicke darboten.

»Fürchten Sie eine Gefahr?« fragte er. »Es sind Sie der Meinung, daß sich verbrecherische Menschen dort im Hause oder in der Nähe befinden?«

»Ich bin der Meinung, daß hier kein Augenblick zu verlieren ist«; antwortete ich. »Wir müssen nach Browndown gehen und uns unterwegs zur Hilfsleistung so viele geeignete Leute mitnehmen, wie wir bekommen können.«

Ich öffnete die Thür und wartete einen Augenblick auf ihn. Herr Finch, der ersichtlich noch von dem Gedanken an die verbrecherischen Menschen präoccupirt war, machte ein Gesicht, als ob er sich in diesem Augenblick hundert Meilen von seinem eigenen Pfarrhause entfernt wünsche. Aber er war der Herr des Hauses, der angesehenste Mann am Orte; wie die Dinge standen, blieb ihm nichts anderes übrig, als seinen Hut zu nehmen und mit mir zu kommen. Wir gingen zusammen ins Dorf. Zum ersten Mal in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft fand ich meinen ehrwürdigen Begleiter schweigsam. Wir erkundigten uns nach dem einzigen Polizei Officianten, der in dem Districte fungirte; er war eben an seiner Runde begriffen.

Wir fragten weiten ob der Doctor wohl in Dimchurch sei? Nein, es war heute nicht der Tag, wo er nach Dimchurch kam. Der Wirth zur »Gut in Hand« war mir als ein tüchtiger und respectabler Mann genannt worden und ich proponirte Herrn Finch, im, Wirthshause vorzusprechen und den Wirth mitzunehmen. Bei diesem Vorschlag klärte sich Herrn Finch’s Gesicht sofort auf; das Gefühl seiner Wichtigkeit stieg wieder in ihm, wie das Quecksilber in einem Thermometer.

»Das wollte ich gerade vorschlagen«, sagte er. Gootheridge in der »Guten Hund« ist ein für seinen Stand respectabler Mann. Lassen Sie uns Gootheridge auf alle Fälle mitnehmen. Fürchten Sie nichts, Madame Pratolungo, wir stehen Alle in Gottes Hand; es ist ein wahres Glück für Sie, daß Sie mich zu Hause getroffen haben. Was hätten Sie wohl ohne mich anfangen wollen? Ich bitte recht sehr, fürchten Sie sich nicht. Sollten uns Spitzbuben in den Weg kommen, ich habe ja, wie Sie sehen, meinen Stock bei mir; ich bin nicht groß, aber ich habe die Körperkraft eines starken Mannes; mein Körper ist so zu sagen ganz Muskel; fühlen Sie nur einmal!«

Dabei hielt er mir einen seiner dürren kleinen Arme hin, der ungefähr halb so groß wie mein Arm war. Wäre sich nicht viel zu bekümmert gewesen, um zu Scherzen aufgelegt zu sein, ich würde ohne Zweifel erklärt haben, daß ich es in der Begleitung eines solchen Ausbundes von Stärke für überflüssig halte, den Wirth zu incommodiren. Ich darf nicht behaupten, daß Herr Finch merkte, was in mir vorging, ich kann nur versichern, daß er, sobald wir des Wirthshauses ansichtig wurden, sich beeilte, Gootheridge eifrig und heftig zu rufen. Der Wirth trat aus dem Hause und erklärte sich, sobald er gehört hatte, um was es sich handle, sofort bereit, mit uns zu gehen .

»Nehmet! Sie Ihr Gewehr mit«, sagte Herr Finch.

Gootheridge that wie ihm geheißen wurde; wir gingen raschen Schrittes nach Browndown.

»War Ihre Frau oder Ihre Tochter heute in Browndown fragte ich den Wirth.

»Ja, Madame, sie waren beide in Browndown. Sie haben dort wie gewöhnlich ihre Arbeit gethan, und haben das Haus schon vor länger als einer Stunde verlassen.«

»Hat sich während ihrer Anwesenheit dort irgend etwas Ungewöhnliches zugetragen?«

»Nichts daß ich wüßte, Madame!«

Ich dachte einen Augenblick nach und wagte es, noch einige weitere Fragen an Herrn Gootheridge zu richten. Ich fragte, ob man diesen Abend irgend welche Fremde hier gesehen habe?«

»Ja, Madame« vor ungefähr einer Stunde fuhren zwei Fremde in einer Chaise an meinem Hause vorüber.«

»In welcher Richtung?«

»Der Wagen kam von der Brightoner Landstraße her und fuhr in der Richtung nach Browndown zu.«

»Haben Sie die Fremden angesehen?«

»Nicht genau« Madame« ich war gerade beschäftigt.«

Ein schrecklicher Argwohn, daß die beiden Fremden in der Chaise die beiden Männer sein möchten, die ich damals hinter der Mauer versteckt gesehen hatte, drängte sich mir auf. Ich sagte nichts weiter, bis wir bei dem Hause angelangt waren. Alles war ruhig; das einzige Zeichen von etwas Ungewöhnlichem waren die deutlichen Radspuren auf dem Rasen vor dem Hause in Browndown. Der Wirth war der erste, der diese Wagenspuren bemerkte. »Der Wagen muß vor dem Hause gehalten haben, Herr Pfarrer«, sagte er zu dem Ehrwürdigen Finch gewandt. Dieser schien wieder seine Sprache verloren zu haben; Alles was er hervorzubringen vermochte, als wir uns der Thür des einsam und öde daliegenden Hauses näherten, waren die mit äußerster Anstrengung gesprochenen Worte: »Bitte, lassen Sie uns vorsichtig sein!«

Der Wirth langte zuerst an der Thür an; ich folgte ihm, während der Pfarrer in einer kleinen Entfernung die Arrièregarde bildete und auf seine Deckung durch die hinter ihm liegenden Hügel bedacht war. Gootheridge klopfte laut an die Thür und rief: »Herr Dubourg!« Es erfolgte keine Antwort; es herrschte eine schreckliche Stille; ich vermochte die Ungewißheit nicht länger zu ertragen, schob den Wirth bei Seite und er faßte den Griff der unverschlossenen Thür.

»Lassen Sie mich vorangehen« Madame«, sagte Gootheridge; und dieses Mal schob er mich bei Seite. Ich folgte ihm auf dem Fuße; wir traten ins Haus und riefen wieder. Abermals erfolgte keine Antwort; wir blickten in das kleine Wohnzimmer, welches an der einen, und in das Eßzimmer, welches an der andern Seite des Vorplatzes lag, beide waren leer. Wir gingen weiter nach der Rückseite des Hauses, wo das Zimmer lag, welches Oscar seine Werkstätte nannte; als wir in dieselbe eintreten wollten, zeigte es sich, daß die Thür verschlossen war. Wir klopften an und riefen wieder, aber es blieb unheimlich still. Ich steckte meinen Finger in das Schlüsselloch; der Schlüssel steckte nicht darin. Ich knieete, nieder und guckte durch dass Schlüsselloch. Aber kaum hatte ich das gethan, als ich auch schon in wildem Entsetzen wieder aufsprang.

»Erbrechen Sie die Thür!« schrie ich. »Ich habe feine Hand auf dem Fußboden liegen gesehen!«

Der Wirth war wie der Pfarrer nur ein kleiner Mann, und die Thür war, wie Alles in Browndown, von der plumpsten und schwerfälligsten Construction. Ohne geeignetes Werkzeug würden wir alle drei zu schwach gewesen sein, die Thür zu erbrechen. In dieser schwierigen Lage erwies sich der Ehrwürdige Finch zum ersten und einzigen Male nützlich.

»Warten Sie, meine Freunde!« sagte er, »wenn die Pforte zum Hintergarten offen ist, können wir durch das Fenster ins Zimmer gelangen.«

Weder der Wirth, noch ich hatten an das Fenster gedacht. Wir eilten um das Haus herum an die Rückseite und sahen, daß die Spuren der Wagenräder die selbe Richtung verfolgten. Die Pforte in der Gartenmauer stand weit offen. Wir durchschritten den kleinen Garten und konnten durch das bis auf den Boden reichende Fenster der Werkstätte, wie es der Pfarrer vorausgesagt hatte, in dieselbe gelangen; so betraten wir das Zimmer.

Da lag der arme unglückliche Oscar, bewußtlos in einer Lache seines eigenen Bluts. Allem Anscheine nach hatte ihn ein Schlag auf der linken Seite des Kopfes auf der Stelle zu Boden geworfen. Ob die Wunde nicht nur die Kopfhaut, sondern auch den Schädel verletzt habe, war ich nicht im Stande zu beurtheilen. Ich hatte mir im Dienste der heiligen Sache der Freiheit an der Seite meines edlen Pratolungo einige Erfahrungen in der Behandlung von Kranken gesammelt; kaltes Wasser, Essig und Leinen zum Verbinden, nach denen ich verlangte, fanden sich im Hause. Gootheridge fand den Thürschlüssel in einer Ecke des Zimmers liegend; er schaffte mir Wasser und Essig, während ich die Treppe hinauf in Oscar’s Schlafzimmer lief und mir einige von seinen Handtüchern holte. Nach wenigen Minuten hatte ich eine kalte Compresse auf die Wunde gelegt und wusch Oscar’s Gesicht mit Essig und Wasser. Er war noch immer bewußtlos, — doch er lebte. Der Ehrwürdige Finch, der nicht die geringste Hilfe leistete, hielt es für seine Pflicht, Oscar den Puls zu fühlen. Er that es mit einer Miene, als ob das unter den obwaltenden Umständen die einzige verdienstliche Handlung sei, die er vornehmen könne und als ob niemand außer ihm den Puls fühlen könne. »Ein wahres Glück«, sagte er, indem er die langsamen schwachen Schläge am Handgelenk des armen Oscar zählte, »ein wahres Glück, daß ich zu Hause war. Was hätten Sie wohl ohne mich anfangen wollen?«

Was uns jetzt zunächst oblag, war natürlich zum Arzt zu schicken und uns Leute zu verschaffen, die uns behilflich sein könnten, Oscar die Treppe hinan in sein Bett zu tragen. Gootheridge erklärte sich bereit, sich ein Pferd zu verschaffen und den Doktor zu holen. Wir verabredeten, daß er mir seine Frau und deren Bruder, um mir beim Hinauftragen Oscar’s zu helfen, schicken solle. Nachdem wir diese Verabredung getroffen hatten, blieb uns nur noch das eine zu thun, uns von der lästigen Gegenwart des Ehrwürdigen Finch zu befreien. Jetzt wo die Anwesenheit verdächtiger Individuen im Hause nicht mehr zu fürchten war, ertönte die gewaltige Stimme des kleinen Mannes wieder unnterbrochen, wie eine in der Nachbarschaft arbeitende Dampfmaschine. Ich hatte wieder eine Eingebung. Auf dem Boden sitzend und Oscar’s Kopf in meinem Schoße haltend, gab ich meinem ehrwürdigen Begleiter etwas zu thun. »Sehen Sie sich doch einmal im Zimmer um«, sagte ich, »ob die Kiste mit den Gold und Silberplatten hier ist?«

»Fassen Sie sich, Madame Pratoluugo«, sagte er, »keine nervöse aufgeregte Vielgeschäftigkeit, wenn ich bitten darf; ich habe mich der Sache angenommen und es versteht sich von selbst, daß ich auch nach der Kiste sehen werde.«

»Gewiß!« stimmte ich bei. »Ich zweier auch nicht, daß die Kiste fort sein wird!«

Diese Erwidernng veranlaßte ihn, sofort geschäftig im Zimmer hin und her zu laufen. Von der Kiste war keine Spur zu finden! Damit war mir jeder Zweifel benommen; die beiden Spitzbuben, die wir damals an die Mauer gelehnt gefunden, hatten meine schlimmsten Befürchtungen in entsetzlicher Weise gerecht fertigt.

Als Frau Gootheridge und ihr Bruder eintrafen, trugen wir Oscar auf sein Zimmer; wir legten ihn aufs Bett, nachdem wir ihm seine Cravatte abgenommen und das Fenster geöffnet hatten, so daß die frische Luft ungehindert über ihn wegstreichen konnte. Er gab noch kein Zeichen des wiederkehrenden Bewußtseins von sich, aber sein Puls fuhr fort, wenn auch schwach zu schlagen.

Sein Zustand schien sich nicht zu verschlimmern. Auf die Ankunft des Arztes durften wir vor Ablauf einer Stunde nicht hoffen; ich fand es daher nothwendig, sofort nach dem Pfarrhause zurückzukehren und Lucilla mit aller nöthigen Vorsicht die traurige Wahrheit mitzutheilen, denn es stand zu befürchten, daß sie sonst, nachdem sich die Nachricht im Dorfe verbreitet haben würde, die Sache aus die denkbar ungeeignetste Weise durch einen der Dienstboten erfahren möchte. Zu meiner größten Genugthuung bat mich Herr Finch, als ich mich erhob um fortzugehen, zu entschuldigen, wenn er mich nicht begleite. Es war ihm aufgegangen, daß ihm als Pfarrer die Pflicht obliege, den Behörden sofort von dem in Browndown begangenen Verbrechen Anzeige zu machen. Er ging zu dem nächstwohnenden Friedensrichter und ich kehrte nach dem Pfaarhause zurück und ließ Oscar unter der Obhut von Frau Goetheridge und ihrem Bruder. Herrn Finch’s letzte Worte beim Abschiede erinnerten mich noch einmal daran, daß wir unter den obwaltenden traurigen Umständen wenigstens für Eines dankbar sein mußten.

»Ein wahres Glück, Madame Pratolungo, daß ich zu Hause war; was hätten Sie wohl ohne mich angefangen!«



Fünfzehntes Kapitel - Ereignisse am Krankenbette

Ich bin, wie man sich gütigst erinnern wolle, meinem ganzen Wesen nach Französin und daher immer bestrebt mir soviel wie möglich trübe Eindrücke fern zu halten. Aus diesem Grunde kann ich mich wirklich nicht entschließen, zu schildern, was zwischen meiner blinden Lucilla und mir vorging, als ich unser hübsches Wohnzimmer betrat. Es rührte mich damals zu Thränen und es würde mich und vielleicht auch den Leser wieder zu Thränen rühren, wenn ich berichten wollte, was das zarte junge Wesen litt, als ich ihr die traurige Nachricht mittheilte. Ich will es nicht in Abrede stellen; ich habe eine unüberwindliche Abneigung gegen Thränen Sie greifen die Nase an und meine Nase ist das Beste an meinem Gesichte. Laßt uns, meine schönen Freundinnen unsere Augen dazu gebrauchen, Eroberungen zu machen, nicht aber zum Weinen.

Es genüge, daß, als ich nach Browndown zurückkehrte, Lucilla mich begleitete. Es war das erste Mal, daß ich an Lucilla eine Regung von Eifersucht auf uns Glückliche, die wir sehen konnten, beobachtete. Kaum hatte sie Oscars Zimmer betreten, als sie darauf bestand, sich so nahe an das Bett zu setzen, daß sie uns, während wir den Verwundeten pflegten, hören oder berühren könnte. Sie setzte sich auch sofort an den bis jetzt von Frau Gootheridge eingenommenen Platz und fing an Oscars Gesicht und Stirn mit kaltem Wasser zu besprengen. Sie war selbst auf mich eifersüchtig, als sie entdeckte, daß ich die Umschlägel auf der Wunde anfeuchtete. Ich reizte sie dadurch, das Antlitz des armen bewußtlos daliegenden Kranken ohne Rücksicht auf unsere Gegenwart zu küssen; die Wirthin aus der »Guten Hand « war eine Frau nach meinem Sinn; sie wußte allen Dingen eine heitere Seite abzugewinnen. »Sie ist in ihn verliebt, nicht wahr?« flüsterte sie mir zu, da dürfen wir uns wohl auf eine Hochzeit in Dimchurch gefaßt machen.«

Bei dem Küssen und dem Geflüster wurde es dem einzigen anwesenden Manne, Frau Gootheridge’s Bruder, sehr unbehaglich; er gehörte zu der großen und respectabeln Classe von Engländern, die nicht wissen, was sie mit ihren Händen anfangen, oder wie sie ein Zimmer verlassen sollen. Es that mir leid; er war wirklich ein hübscher Mann.

»Gehen Sie doch ein wenig in den Garten und rauchen Ihre Pfeife, Herr Gootheridge«, sagte ich; »wir wollen Sie aus dem Fenster rufen, wenn wir Ihrer hier oben bedürfen.« Frau Gootheridges Bruder warf mir einen Blick voll unaussprechlicher Dankbarkeit zu und machte sich davon, als wenn man ihn aus einer Falle, in die er sich verfangen, befreit hätte.

Endlich erschien der Arzt.

Gleich seine ersten Worte gewährten uns eine unbeschreibliche Erleichterung. Die Hirnschale unseres armen Freundes war nicht verletzt; es hatte eine Erschütterung des Gehirns stattgefunden und in der Haut befand sich eine offenbar mit einem stampfen Instrumente beigebrachte Wunde. Für die Wunde hatte ich vor Ankunft des Doctors Alles gethan, was erforderlich war; was das Gehirn anlangte, so hoffte der Arzt, daß Zeit und sorgfältige Pflege Alles wieder in — Ordnung bringen werde.

»Seien Sie guten Muths, meine Damen«, sagte dieser Engel von einem Mann, »es ist nicht der mindeste Grund vorhanden, sich wegen des Patienten Sorge zu machen.

Vier oder fünf Stunden, nachdem wir ihn am Fußboden der Werkstätte gefunden hatten, kam Oscar wieder zu sich, das heißt, er öffnete die Augen und blickte wie abwesend umher.

Der Geist des Armen war noch ganz irre. Er erkannte niemanden. Er machte mit seinen Fingern die Bewegung des Schreibens und sagte in dringendem Tone immer wieder: »Geh’ nach Hause, Jicks, geh’ nach Hause«, in der Idee, daß er noch hilflos am Boden liege und das Kind uns zu Hilfe rufen solle. Später am Abend schlief er ein. Den ganzen nächsten Tag zeugten seine Aeußerungen noch von Geistesabwesenheit; erst am nächstfolgenden Tage kam er langsam wieder zu vollem Bewußtsein Lucilla erkannte er zuerst! Sie war gerade damit beschäftigt, sein schönes kastanienbraunes Haar zu bürsten, da streichelte er zu ihrer unaussprechlichen Freude ihre Hand und murmelte ihren Namen. Sie flüsterte ihm etwas in’s Ohr, was das bleiche Gesicht des jungen Mannes erröthen und seine matten Augen vor Freude strahlen machte. Einige Tage später gestand sie mir, daß sie ihm zugeflüstert habe: »Werden Sie besser um meinetwillen!« Sie schämte sich durchaus nicht, so deutlich gesprochen zu haben, im Gegentheil, sie triumphirte darüber und sagte in sehr entschiedenem Tone: »Lassen Sie mich nur machen, ich will ihn erst heilen und dann sein Weib werden.«

Eine Woche später befand er sich wieder im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte, war aber noch entsetzlich schwach und erholte sich nur sehr langsam von der Erschütterung, die er erlitten hatte.

Er war jetzt im Stande, uns bruchstückweise zu erzählen, was in der Werkstätte vorgefallen war.

Nachdem Frau Gootheridge und ihre Tochter zur gewöhnlichen Zeit das Haus verlassen hatten, war er auf sein Zimmer gegangen, hatte sich dort eine Weile aufgehalten und war dann wieder hinunter gegangen. Als er sich der Werkstätte näherte, klangen ihm aus dem Zimmer flüsternde Stimmen entgegen; es war ihm sofort klar, daß hier etwas nicht in Ordnung sei. Er versuchte sachte die Thür zu öffnen und fand sie verschlossen. Die Räuber hatten offenbar diese Vorsichtsmaßregel gebraucht, um von niemand im Hause bei ihrer Diebesarbeit überrascht zu werden. Der einzige andere Weg, in das Zimmer zu gelangen, war der, dessen wir uns bedient hatten. Ost er ging um das Haus herum in den Hintergarten und sah hier vor der Pforte eine offene Chaise halten. Dieser Umstand erschien ihm höchst auffallend; hätte er nicht die Thür der Werkstätte in so mysteriöser Weise verschlossen gefanden, so würde er bei dem Anblick des Wagens nichts weiter geargwohnt haben, als die Ankunft einiger unerwarteter Besucher. Begierig, das Räthsel zu lösen, stieg er durch das Fenster in das Zimmer, und sah hier die beiden Männer vor sich stehen, welche Jicks zehn Tage vorher an die Gartenmauer gelehnt gefunden hatte.

Als er sich dem Fenster näherte, kehrten sie ihm beide den Rücken zu und waren eifrig damit beschäftigt, die Kiste, welche die Metallplatten enthielt, mit Stricken festzubinden. Bei seinem Eintreten erhoben sie sich und vertraten ihm den Weg. Dieser Raub bei hellem Tageslicht machte Oscar’s leicht erregbares Blut sofort heftig aufwallen; er stürzte auf den jüngeren von den beiden Gesellen, der ihm gerade am nächsten stand, zu. Der Spitzbube sprang bei Seite, so daß Oscar ihn nicht erreichen konnte, ergriff einen auf dem Tische bereit liegenden, mit Blei gefüllten ledernen Schaft, einen sogenannten »Todtschläger« und schlug Oscar damit auf den Kopf, bevor er noch wieder zu sich kommen und dem Mann entgegentreten konnte.

Was sich von jenem Augenblick an bis dahin, wo er nach der ersten Erschütterung des Schlages wieder zur Besinnung gekommen war, zugetragen hatte, wußte er nicht. Er fand sich schwindlich und blutend auf dem Boden liegen und sah das Kind, welches, während er besinnungslos dagelegen hatte, ins Zimmer geschlendert sein mußte, und nun starr vor Entsetzen vor ihm stand. Der Gedanke sich ihrer zu bedienen, um sich Hilfe zu verschaffen, kam ihm wie eine Eingebung, so bald er sie erkannt hatte. Er bewog das Kind durch schmeichelndes Zureden, sich so nahe an ihn heranzuwagen, daß er es mit der Hand erreichen konnte tauchte seinen Finger in das Blut, das seinem Kopfe entströmte, und schrieb damit aus den Rücken des Kinderkleides die schreckliche Botschaft, welche ich herausbuchstabirt hatte. Nachdem er das gethan hatte, nahm er seine letzten Kräfte zusammen, um Jicks sanft an das offene Fenster zu schieben, und sie anzuweisen, nach Hause zu gehen; während er noch die Worte »geh’ nach Hause, geh’ nach Hause«, wiederholte, fiel er von Blutverlust erschöpft wieder in Ohnmacht, sah aber noch oder bildete sich ein zu sehen, wie das Kind starr vor Entsetzen hartnäckig im Zimmer stehen blieb. Wann, der Muth und die Einsicht ihr gekommen waren, nach Hause zu laufen, davon, wie von allem Uebrigen, was sich seitdem ereignet hatte, wußte er natürlich nichts. Sein nächster mit Bewußtsein empfangener Eindruck war, wie schon erwähnt, der Anblick der an seinem Bette sitzenden Lucilla.

Diesem von Oscar erstatteten Berichte folgte eine ergänzende Mittheilung der Polizei. Die Behörden waren thätig und die Dorfbewohnerschaft befand sich tagelang in einem Zustande fieberhafter Aufregung. Nie hat wohl bei einem Verbrechen eine gründlichere Nachforschung stattgefunden, und nie ist wohl ein dürftigeres Ergebniß erzielt worden. Es wurde nichts Wesentliches, was ich nicht schon selbst herausgefunden hatte, entdeckt. Man gewann die Ueberzeugung, daß; wie ich es vermuthet hatte, der Raub ein wohlüberlegter gewesen sei. Obgleich keiner im Pfarrhause die Diebe gesehen hatte, so wurden sie doch, wie von der Behörde festgestellt wurde, an jenem Tage, wo die unglückliche Kiste mit den Metallplatten zuerst in Browndown abgeliefert worden war, in Dimchurch gesehen. Nachdem sie mit Muße das Haus untersucht, und sich mit den häuslichen Gewohnheiten der Bewohner desselben bekannt gemacht hatten, waren die Spitzbuben zum zweiten Male — ohne Zweifel, um den Raub zu begehen — damals in’s Dorf gekommen, als wir sie entdeckt hatten. Als sie ihren Plan durch die unerwartete Rücksendung der Gold und Silberplatten nach London vereitelt sahen, hatten sie ihre Zeit abgewartet, waren mit der Kiste wieder nach Browndown gekommen, und hatten, Dank der einsamen Lage des Hauses und dem mörderischen Schlage, mit welchem sie Oscar bewußtlos zu Boden streckten, ihren Zweck erreicht.

Mehr als ein Zeuge war auf der Straße von Brighton ihrer Chaise mit der Kiste begegnet. Als sie aber den Wagen wieder zu dem Fuhrwerksbesitzer brachten, von welchem sie denselben gemiethet hatten, war von der Kiste nichts mehr zu sehen. Complicen in Brighton waren ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach behilflich gewesen, die Metallplatten aus der Kiste zu entfernen und in gewöhnliche Reisekoffer, die keine besondere Aufmerksamkeit an der Eisenbahnstation erregen konnten, zu verpacken. So lautete die Erklärung der Polizei, und gleichviel ob sie nun richtig oder unrichtig war, so stand fest, daß die Spitzbuben nicht gefaßt wurden und daß der räuberische Einbruch in Oscars Haus auf die lange Liste der Verbrechen gesetzt werden muß, welche so geschickt ausgeführt werden, daß der Arm des Gesetzes die Thäter nicht erreicht.

Wir für unsern Theil kamen Alle darin überein, Lucilla’s Beispiel zu folgen und uns nicht in nutzlosen Klagen zu ergehen, sondern dankbar dafür zu sein, daß Oscar ohne ernste Verletzung davongekommen war. Das Uebel war nun einmal geschehen. In dieser philosophischen Stimmung sahen wir die Sache an, während unser Patient sich erholte; wir brüsteten uns Alle mit unserem so ungemein verständigen Verhalten und, — ach, wir armen kurzsichtigen Menschen! Wir waren Alle in einem verhängnißvollen Irrthum befangen. Weit entfernt, sein Ende erreicht zu haben, hatte das Uebel erst angefangen. Die eigentlichen Folgen des in Browndown verübten Raubes sollten sich noch erst zeigen und sollten ihre eigenthümliche und traurige Wirkung jedem Mitgliede des kleinen in Dimchurch versammelten Kreises fühlbar machen.



Sechzehntes Kapitel - Die Folgen des Raubes

Fünf bis sechs Wochen nach dem erlittenen Unfall durfte Oscar sein Zimmer verlassen und war von seiner Wunde geheilt Während dieser Zeit war Lucilla ihrem Programme, Oscar zu heilen, um ihn dann zu heirathen, beharrlich treu geblieben. Nie habe ich eine ähnliche Pflege gesehen und werde auch wohl nie etwas Aehnliches wieder sehen. Von früh bis spät wußte sie ihn auf die eine oder die andere Art zu zerstreuen und ihn bei guter Laune zu erhalten.

Das reizende Geschöpf verstand es sogar, ihre Blindheit zu einem Mittel der Erheiterung ihres Geliebten zu machen; bisweilen setzte sie sich vor Oscar’s Spiegel und ahmte alle die unzähligen kleinen Künste einer eitlen Kokette, die sich für ihre Eroberungen schmückt, mit so wunderbarer Wahrheit und einem so echt komischen Geberdenspiel nach, daß man hätte schwören mögen, sie sei im Vollbesitz ihrer Sehkraft; dann wieder gab sie Oscar Proben ihrer außerordentlichen Fähigkeit, auf dem Klang der Stimme einer Person die Entfernung zu berechnen, in welcher sich diese Person befand. Bei diesen Versuchen mußte ich mich zum Opfer hergeben; nachdem Lucilla eines der Bouquetta die sie immer selbst vor Oscar’s Bett zu legen pflegte, in die Hand genommen hatte, wies sie mich an, mich geräuschlos an irgend eine beliebige Stelle des Zimmers zu begeben und ihren Namen auszusprechen. Kaum hatte ich den Namen ausgesprochen, als auch schon das Bouquet mir in’s Gesicht flog. So oft sie dieses Experiment auch versuchte, nie verfehlte sie ihr Ziel und nie ließ sie in der Kundgebung ihrer kindischen Freude über ihre eigene Geschicklichkeit nach. Niemand anders durfte Oscar seine Medicin geben; sie hörte an dem Klang der in den Löffel gegossenen Flüssigkeit, ob der Löffel voll war. Als Oscar wieder im Bette auf sitzen durfte, konnte sie ihm, wenn sie am Kopfende des Bettes stand, nach der verschiedenen Wirkung der Luftströmung das ihr Gesicht, je nachdem er sich vorüberbeugte oder zurücklehnte, sagen, wie nahe sein Kopf dem ihrigen sei. Jn derselben Weise war sie durch die verschiedene Wirkung der Luft aus ihre Stirn und ihre Wangen im Stande, so gut wie Oscar zu sagen wann die Sonne schien und wann sie von Wolken verhüllt war.

Das ganze Gewirre von kleinen Gegenständen die sich in einem Krankenzimmer ansammeln, wußte sie nach eine m ihr eigenthümlichen System in der besten Ordnung zu erhalten. Es machte ihr das größte Vergnügen, das Zimmer spät Abends, wo wir Sehende in unserer Hilslosigkeit daran denken mußten, Licht anzuzünden, aufzuräumen. In der Dämmerungsstunde schwebte sie, für uns noch eben erkennbar, im Zimmer hin und her, bald sichtbar, wenn sie am Fenster vor überging, bald in das Dunkel der entfernteren Theile des Zimmers verloren und fing an, die Gegenstände die während des Tages gebraucht worden waren, von dem Tische abzuräumen und diejenigen, welche während der Nacht gebraucht werden würden, darauf hinzustellen. Wir durften nicht eher Licht anzünden, als bis sie uns das Zimmer wie durch Feenhände geordnet zeigen konnte. Wenn wir uns überrascht zeigten, lachte sie schalkhaft und sagte, sie bedaure die armen unnützen Menschen aufrichtig, die nichts ohne Licht thun könnten. Dasselbe Vergnügen, das es ihr gewährte, das Zimmer im Dunkeln aufzuräumen, machte es ihr auch, im Dunkeln durch das ganze Haus zu gehen und sich mit jedem Winkel desselben vom Dach bis zum Keller gründlich bekannt zu machen. Sobald Oscar wohl genug war, um wieder hinunterzugehen bestand sie darauf, ihn zu führen.

»Sie waren so lange auf Ihr Zimmer angewiesen«, sagte sie, »daß Sie das übrige Haus vergessen haben müssen. Nehmen Sie meinen Arm und kommen Sie mit mir. Jetzt sind wir auf dem Vorplatz, vergessen Sie nicht; hier führt eine Stufe hinunter und hier führt wieder eine Stufe hinauf; hier auf dem oberen Treppenabsatze müssen Sie um eine scharfe Ecke biegen und hier ist eine häßliche Falte im Treppenteppich, über die Sie fallen könnten.« So brachte sie ihn nach seinem eigenen Wohnzimmer, als ob er blind und sie sehend wäre.

Wer hätte einer solchen Pflegerin widerstehen können? Ist es zu verwundern, als ich einen Augenblick an jenem Tage das Zimmer verlassen hatte, daß ich seinen Ton vernahm, der eine höchst verdächtige Aehnlichkeit mit einem Kusse hatte? Ich hatte sie stark im Verdacht, daß sie auch hierbei der führende Theil gewesen sei; denn sie war so eigenthümlich ruhig und er sah so eigenthümlich bestürzt aus, als ich wieder in’s Zimmer trat. Eine Woche nach Oscars Genesung beschloß Lucilla die Kur ihres Patienten, mit anderen Worten, Oscar machte ihr einen Heirathsantrag. Ich bin fest überzeugt, daß er es nicht ohne Hilfe zu Stande gebracht haben würde, diesen Wendepunkt in einer so zarten Angelegenheit herbeizuführen und daß Lucilla ihm diese Hilfe leistete.

Ich will es dahin gestellt sein lassen, ob ich darin Recht oder Unrecht habe, die Thatsache aber kann ich verbürgen, daß Lueilla, als sie mir an einem lieblichen Herbstmorgen die Neuigkeit mittheilte, in einer so ans gelassenen Laune war, daß sie vor Freude tanzte und was noch unschicklicher war, mich in meinen respektablen Jahren mit ihr zu tanzen zwang. Sie faßte mich um die Taille und walzte mit mir auf dem Rasen, während Frau Finch in der abgesetzten blauen, Jacke, das Baby in der einen und den Roman in der andern Hand, dabei stand und uns beide mahnte, daß wenn wir eine halbe Stunde damit verlören, auf dem Rasen herumzuwirbeln, wir die verlorene Zeit in diesem Hause nie wieder einbringen würden. Trotzdem fuhren wir fort zu tanzen, bis wir ganz außer Athem waren. Nur die vollständigste Erschöpfung konnte Lucilla bändigen. Was mich betrifft, so bin ich, glaube ich, die rascheste Person meines Alters, die es giebt. Ich höre den Leser fragen, wie alt ich denn sei? Ja, das ist der einzige Punkt, über welchen ich immer die strengste Discretion beobachte. Setzen wir meine Raschheit auf Rechnung meiner französischen Nationalität, meines ruhigen Gewissens, meiner vortrefflichen Verdauung und fahren wir in unserer Erzählung fort.

Im Laufes jenes Tages fand in Browndown eine vertrauliche Unterhaltung zwischen Oscar und dem Ehrwürdigen Finch statt. Was bei dieser Gelegenheit zwischen beiden verhandelt wurde, erfuhr ich nicht. Als der Pfarrer wieder zu uns kam, trug er den Kopf hoch und stolzirte selbstbewußt auf seinen dürren kleinen Beinen einher. Er umarmte seine Tochter in pathetischem Schweigen und reichte mir die Hand mit einem heiteren Lächeln der Herablassung welche des größten Schwindlers, der je auf einem Thron gesessen hat, Ludwig des Vierzehnten, würdig gewesen wäre. Als er endlich seiner väterlichen Erregung Herr wurde und zu reden begann, ertönte seine Stimme so gewaltig, daß ich wirklich fürchtete, sie werde ihn zersprengen. Der Dunst von Worten, in den er sich hüllte, lief, wenn man ihn verdichtet zu Papier bringt, auf die beiden folgenden Sätze hinaus: Erstens begrüßte er in Oscar, als ob er an seinen eigenen Kindern noch nicht genug habe, einen neuen Sohn; zweitens erblickte er dies Hand der Vorsehung in allem, was geschehen war. Zu meiner Schande mußte ich bekennen, daß ich nichts erblickte, als — die Hand Finch’s und Oscars Tasche.

Der Tag der Hochzeit war noch nicht definitiv festgesetzt; es war nur im Allgemeinen verabredet, daß die Hochzeit in etwa sechs Wochen stattfinden solle. Diese Zeit sollte zu einem doppelten Zweck verwendet werden: Die Advocaten sollten sie dazu benutzen, den Heirathscontract vorzubereiten und Oscar sollte bis dahin wieder vollständig hergestellt sein.

In Betreff dieses letzteren Punktes waren wir Alle nicht ohne Besorgniß. Ost aus Wunde war geheilt und seine geistigen Fähigkeiten waren wieder ganz die alten. Aber trotz alledem war etwas bei ihm nicht ganz in Ordnung. Jene eigenthümlichen Gegensätze in seinem Charakter, deren ich schon früher Erwähnung gethan habe, äußerten sich jetzt stärker als je. Der Mann, welcher, als sein Blut in Wallung gewesen, den Muth gehabt hatte, sich allein und unbewaffnet mit zwei Räubern zu messen, konnte jetzt das Zimmer, in welchem der Kampf stattgefunden hatte, nicht betreten,: ohne am ganzen Leibe zu zittern. Er, der mich verlacht hatte, als ich ihn bat, nicht allein in seinem Hause zu schlafen, hatte jetzt zwei Männer, einen Gärtner und einen Diener, zu seinem Schutze ins Haus genommen und fühlte sich auch so noch nicht sicher. In seinen Träumen sah er sich beständig von dem Spitzbuben mit dem Todtschläger angegriffen oder blutend auf dem Boden liegen und Jicks schmeichelnd zureden, ihm so nahe zu kommen, daß er sie mit der Hand erreichen konnte. Wenn einer von uns nur entfernt darauf hindeutete, daß er seine Lieblingsbeschäftigung wieder aufnehmen möchte, hielt er sich die Ohren zu und bat uns inständigst, seine Erinnerungen an die schreckliche Vergangenheit nicht wieder wachzurufen. Er wollte nicht einmal seine Kiste mit Werkzeugen ansehen. Auf unsere Frage, was dieser Zustand zu bedeuten habe, erklärte der Arzt, daß Oscar’s Nervensystem erschüttert sei, und gestand offen, daß dabei nichts zu thun sei, als die Zeit ihren günstigen Einfluß üben zu lassen. Ich für meinen Theil war, wie ich bekennen muß, geneigt, Oscar’ Zustand ziemlich streng zu beurtheilen. Nach meiner Ueberzeugung wäre es seine Pflicht gewesen, sich Zwang anzuthun. Er erschien mir zu indolent, um das seinige zur Besserung seines Zustandes zu thun. Zwischen Lucilla und mir kam es wiederholt zu lebhaften Erörterungen über Oscar. Eines Abends, als wir abwechselnd plaudernd und spielend am Klavier saßen, war sie gründlich böse auf mich, weil ich nicht so unbedingt mit ihrem Liebling sympathisirte wie sie. »Ich habe etwas bemerkt, Madame Pratolungo«, sagte sie erröthend und in gereiztem Tone zu mir, »Sie haben Oscar von Anfang an keine Gerechtigkeit widerfahren lassen.«

Man achte wohl an diese anscheinend unbedeutenden Worte. Die Zeit wird kommen, wo sie uns bedeutungsvoller erscheinen werden.

Die Vorbereitungen für die Hochzeit nahmen ihren Fortgang. Die Advocaten legten ihren Entwurf eines Ehecontracts vor und Osrar schrieb seinem Bruder, um demselben die bevorstehende Veränderung in seinem Leben und die Umstände, welche dieselbe herbeigeführt hatten, mitzutheilen.

Den Ehecontract bekam ich nicht zu sehen, schloß aber aus gewissen Anzeichen, daß Oscars vollkommene Uneigennützigkeit in Geldsachen von seinem künftigen Schwiegervater ausgebeutet worden sei. Der Ehrwürdige Finch hatte, wie mir erzählt wurde, bei der Durchlesung des Documents Thränen vergossen und Lucilla verließ das Studierzimmer ihres Vaters nach dort stattgehabter Unterhaltung in leidenschaftlicherer Entrüstung, als ich sie noch je bei ihr gesehen hatte.

»Fragen Sie mich nicht, was es giebt!« murmelte sie zwischen den Zähnen. »Ich schäme mich, es Ihnen zu sagen.« Als Oscar etwas später zu ihr ins Zimmer trat, fiel sie — fiel sie thatsächlich vor ihm auf die Knie. Ihres ganzen Wesens hatte sich eine so leidenschaftliche Aufregung bemächtigt, daß sie im Augenblick nicht mehr wußte, was sie that. »Ich bete Dich an«, brach sie aus, indem sie seine Hand mit krampfhaften Küssen bedeckte; »Du bist der edelste Mensch auf der Welt. Ich kann nimmermehr Deiner würdig werden.« Die Erklärung dieser überschwenglichen Reden und Handlungen ließ sich nach meiner Ansicht kurz dahin zusammenfassen, daß Oscar’s Geld in die Tasche des Pfarrers fließen und die Tochter des Pfarrers als Mittel dienen sollte, diese Transactioan bewerkstelligen.

Die Zeit der Vorbereitungen zur Hochzeit verfloß; Woche auf Woche verging; Alles war längst für die Hochzeit bereit und doch fand die Hochzeit nicht statt. Weit entfernt, wie der Arzt es voraus gesagt hatte, mit Hilfe der Zeit wieder seinen früheren Gesundheitszustand zu erlangen, wurde Oscars Befinden fort während schlimmer. Alle dies Symptome nervöser Aufregung, welche ich bereits früher geschildert habe, traten, anstatt sich zu verlieren, immer stärker bei ihm hervor. Er wurde immer magerer und bleicher. Im Beginn des Monats November mußten wir wieder zum Arzt schicken. Die Frage, welche ihm dieses Mal vorgelegt werden sollte, ging auf Lucilla’s Wunsch da hin, ob nicht eine Luftveränderung angezeigt sei.

Ein Umstand, der mir entfallen ist, verzögerte die Ankunft des Arztes. Oscar hatte den Gedanken, den Arzt an diesem Tage zu sehen, bereits ganz aufgegeben und war zu uns ins Pfarrhaus gekommen, als der Doctor plötzlich an dem Pfarrhause vorüberfuhr. Man hielt ihn an, bevor er nach Browndown weiter fuhr und er hatte eine Besprechung mit seinem Patienten in Lucillas Wohnzimmer.

Lucilla, die mit mir in meinem Schlafzimmer wartete, wurde ungeduldig Sie bat mich, an die Thür des Wohnzimmers zu klopfen und zu fragen, ob sie etwa der Consultation beiwohnen dürfe. Ich fand den Doctor und seinen Patienten am Fenster stehend, in einer ruhigen Unterhaltung begriffen. Offenbar war nichts vorgekommen, was einen von Beiden im Mindesten hätte aufregen können. Oscar sah ein wenig bleich und angegriffen aus, war aber gleich seinem ärztlichen Rathgeber vollkommen ruhig.

»Im nächsten Zimmer«, sagte ich, »ist eine junge Dame, welche sehr begierig ist, das Ergebniß Ihrer Consultation zu erfahren.«

Der Doctor sah Oscar an und lächelte.

»Wir haben Fräulein Finch in der That nichts mitzutheilen«, sagte er. »Herr Dubourg und ich haben seinen Zustand wieder gründlich durchgesprochen und sind zu keinem neuen Ergebniß gelangt. Sein Nervensystem hat sich nicht so rasch wieder beruhigt, wie ich es erwartet hatte; das thut mir leid, beunruhigt mich aber nicht im Mindesten; bei seinem Alter kann man sicher auf eine völlige Wiederherstellung rechnen. Er muß Geduld haben und die junge Dame muß sich gleichfalls gedulden. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Haben Sie etwas dagegen, daß Herr Dubourg eine Luftveränderung versucht?« fragte ich.

»Durchaus nichts. Er kann gehen, wohin er Lust hat und sich die Zeit vertreiben, wie es ihm gut scheint. Sie Alle nehmen Herrn Dubourgs Fall etwas zu ernst. Bis auf eine an und für sich gewiß unangenehme Verstimmung der Nerven fehlt ihm wirklich nichts. Es findet sich keine Spur eines organischen Leidens bei ihm. Der Puls fuhr der Doctor fort, indem er seinen Finger leicht an Oscar’s Handgelenk legte, »ist vollkommen befriedigend. In meinem Leben habe ich keinen ruhigeren Puls gefühlt.«

Während er das sagte, zeigte sich plötzlich auf Oscar’s Gesicht eine schreckliche Verzerrung der Muskeln.

Seine Augen waren widerlich nach oben gerichtet. Sein ganzer Körper verzog sich, wie wenn eine Riesenhand ihn gepackt hätte, vom Scheitel bis zur Zehe nach der rechten Seite hin. Noch bevor ich ein Wort sagen konnte, lag er in Krämpfen am Boden zu den Füßen seines Arztes.

»Guter Gott, was ist das?« rief ich aus.

Der Doktor löste Oscar’s Cravatte und entfernte die MöbeL die sich in seiner Nähe befanden, betrachtete dann einen Augenblick den auf dem Fußboden in Zuckungen daliegenden und sich windenden Mann.

»Können Sie nichts thun?« fragte ich.

Er schüttelte ernst den Kopf. »Nichts.«

»Was ist es denn?«

»Ein epileptischer Zufall.«



Siebzehntes Kapitel - Der Ausspruch des Arztes

Noch bevor wir ein weiteres Wort hatten wechseln können, betrat Lucilla das Zimmer. Wir sahen einander an. Hätten wir reden können, wir würden in jenem Augenblick, glaube ich, beide gesagt haben:

»Gott sei Dank, daß sie blind ist!«

»Habt Ihr mich Alle vergessen?« fragte sie. »Oscar, wo bist Du? Was sagt der Doctor?«

Sie trat näher heran und würde über den am Boden sich windenden Oscar gestolpert sein, wenn ich nicht meine Hand auf ihren Arm gelegt und sie zurück gehalten hätte.

Plötzlich ergriff sie meine Hand mit der ihrigen. »Sie zittern! Warum zittern Sie?« fragte sie. Ihr feiner Tastsinn ließ sich nicht täuschen; vergebens leugnete ich, daß irgend etwas vorgefallen sei, meine Hand hatte mich verrathen. »Hier ist etwas nicht in Ordnung!« rief sie aus; »Oscar hat mir nicht geantwortet.«

Der Doctor kam mir zu Hilfe

»Es ist durchaus nichts Beunruhigendes«, sagte er. »Herr Dubourg ist nicht ganz wohl.«

Sie wandte sich mit einem plötzlichen Zornesausbruch gegen den Doctor.

»Sie täuschen mich«, rief sie; »ihm ist ein ernster Unfall begegnet; sagen Sie mir die Wahrheit! O, es ist schmachvoll, es ist herzlos von Ihnen beiden, ein unglückliches blindes Geschöpf wie mich zu betrügen!«

Während der Dortor noch zauderte, sagte ich ihr die Wahrheit.

»Wo ist er?« fragte sie, indem sie mich an beiden Schultern packte und in ihrer leidenschaftlichen Aufregung schüttelte. Ich flehete sie an, ein wenig zu warten; ich versuchte es, sie zum Niedersetzen auf einen Stuhl zu bewegen; sie aber schob mich mit einer verächtlichen Geberde bei Seite und knieete mit vorgestreckten Händen auf den Fußboden nieder. »Ich werde ihn finden«, murmelte sie, »ich werde ihn Euch zum Trotz finden.« Sie fing an über den Fußboden hinzukriechen und mit den Händen vor sich herzutasten.

Es war ein schrecklicher Anblick. Ich ging ihr nach und richtete sie mit Gewalt wieder auf.

»Ringen Sie nicht mit ihr«, sagte der Doctor. »Lassen Sie sie nur herkommen. Er ist jetzt ruhig.«

Ich sah Oscar an; das Schlimmste war vorüber; er war erschöpft und ganz ruhig. Der Stimme des Doctors folgend, gelangte Lucilla an die Stelle, wo Oscar lag. Sie setzte sich neben Oscar auf den Boden und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Seine Berührung übte eine ähnliche Wirkung auf sie, wie sie ein Sehender, dem man längere Zeit die Augen verbunden hätte, in dem Augenblick empfinden würde, wo man ihm die Binde abnähme. Befreiung von angstvoller Ungewißheit durchströmte ihr ganzes Wesen, sie war wieder sie selbst, die sanfte Lucilla.

»Es thut mir leid, daß ich mich außer Fassung habe bringen lassen«, sagte sie mit der einfachen Natürlichkeit eines Kindes; »aber Sie wissen nicht, wie hart es ist, getäuscht zu werden, wenn man blind ist.« Bei diesen Worten beugte sie sich über Oscar hin und fuhr ihm mit ihrem Schnupftuch leicht über die Stirn. »Doctor«, fragte sie, »wird sich dieser Zufall wieder holen?«

»Das hoffe ich nicht «

»Sind Sie Ihrer Sache gewiß?«

»Das kann ich nicht behaupten.«

»Was hat den Zufall herbeigeführt?«

»Ich fürchte per Schlag auf den Kopf.«

Sie fragte nichts weiter; der Ausdruck der Spannung auf ihrem Gesichte machte plötzlich der Ruhe des Nachdenkens Platz. Es schien etwas ihre Gedanken zu beschäftigen nach der letzten Antwort des Doctors, das sie ganz in sich versenkte.

Als Oscar wieder zu sich kam, überließ Lucilla es mir, seine ersten sehr natürlichen Fragen zu beantworten. Als er sich dann direct an sie wandte, antwortete sie ihm freundlich, aber kurz; es schien in jenem Augenblick etwas in ihr vorzugehen, was sie selbst vor ihm verschlossen machte. Als der Doctor vorschlug, Oscar nach Browndown zurückzubringen, bestand Lucilla nicht, wie ich vermuthet hatte, darauf, ihn zu begleiten. Sie nahm zärtlich von ihm Abschied, aber sie ließ ihn gehen. Während er, noch sehnsüchtig nach ihr zurückblickend, an der Thür zögerte, ging sie langsam nach dem entgegengesetzten Ende des Zimmers, ganz in ihre eigene dunkle Welt versenkt, in ihren Gedanken gegen ihn wie gegen uns abgeschlossen. Der Doctors versuchte es, sie aus ihrer Träumerei aufzurütteln.

»Sie dürfen die Sache nicht zu ernst nehmen«, sagte er, indem er an das Fenster, an welchem sie stand, herantrat und die Stimme so sinken ließ, daß Oscar ihn nicht hören konnte. Er hat Ihnen selbst gesagt, daß er sich jetzt wohler und leichter fühlt, als vor dem Zufall. Dieser hat ihm keinen Schaden gethan, sondern ihm nur Erleichterung gebracht. Es ist keine Gefahr, ich versichere Sie auf meine Ehre, Sie haben nichts zu fürchten.«

»Können Sie mich auf Ihre Ehre auch noch einer anderen Sache versichern?« fragte sie, indem sie jetzt auch ihrerseits die Stimme sinken ließ. »Können Sie mir aufrichtig versichern, daß diesem ersten Zufall nicht ähnliche folgen werden?«

Der Doctor parirte diese Frage.

»Ich will«, antwortete er, »ehe ich mich darüber entschieden ausspreche, mit einem anderen Arzte consultiren. Bei meinem nächsten Besuch werde ich einen Arzt aus Brighton mitbringen.«

Oscar der bis jetzt, von der Veränderung in Lucilla’s Wesen betroffen, gewartet hatte, öffnete die Thür; der Doctor folgte ihm und sie verließen uns.

Lucilla setzte sich an’s Fenster, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte ihre Stirn in ihre Hände. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr. Im bitterem Ton murmelte sie vor sich hin das eine Wort: »Lebewohl!« .

Ich näherte mich ihr, denn ich fand es für nothwendig, sie daran zu erinnern, daß ich im Zimmer sei.

»Wem rufen Sie ein Lebewohl zu?« fragte ich, indem ich mich neben sie setzte.

»Seinem und meinem Glück«, antwortete sie, ohne ihr Gesicht von ihren Händen zu erheben. »Jetzt kommen für Oscar und für mich die trüben Tage.«

»Warum denken Sie das? Sie haben doch gehört, was der Doctor gesagt hat.«

»Der Doetor weiß nicht, was ich weiß.«

»Was wissen Sie.«

Sie hielt einen Augenblick inne und sagte dann, indem sie plötzlich ihr Stillschweigen brach: »Glauben Sie an ein Verhängniß?«

»Ich glaube an nichts, was die Menschen ermuntert, an sich selbst zu verzweifeln«, erwiderte ich.

Sie fuhr fort, ohne aus meine Worte zu achten:

»Was hat den Zufall, der ihn vorhin hier überkam, veranlaßt? Der Schlag, der ihn aus den Kopf getroffen hat, und diesen Schlag erhielt er bei dem Versuch, das, was ihm und mir gehörte, zu vertheidigen. Womit war er an jenem Tage beschäftigt gewesen, als die Diebe in sein Haus eindrangen? Er hatte an dem Kasten gearbeitet; der für mich bestimmt war. Sehen Sie nicht, wie die Ereignisse sich zu einem Ringe verketten? Ich glaube, der Ansall wird bald zu noch anderen Ereignissen führen; es wird noch etwas Anderes kommen, sein und mein Leben zu trüben. Für uns wird es keinen Hochzeitstag geben. Die Hindernisse thürmen sich vor uns auf. Das nächste Unglück steht uns nahe bevor, Sie werden es erleben!« Bei diesen Worten fuhr sie schaudernd zusammen und setzte sich, von mir zurückweichend, kauernd in die Fensternische.

Es war nutzlos, mit ihr zu streiten und schlimmer als nutzlos, dazusitzen und sie zu ermuntern, noch weiter zu reden. Ich stand auf.

.

»Es gebt eine Sache, an die ich fest glaube«, sagte ich heiter. »Ich glaube an die frische Luft in den Hügeln. Kommen Sie lassen Sie uns ein wenig spazieren gehen!«

Sie drückte sich noch fester in ihre Ecke und schüttelte den Kopf .

»Lassen Sie mich«, brach sie ungeduldig aus, »lassen Sie mich allein!« Kaum hatte sie das gesagt, als sie es auch schon bereute; sie stand auf, umschlang meinen Hals mit ihren Armen und küßte mich. »Ich wollte nicht so unfreundlich reden«, sagte das sanfte zärtliche Mädchen, »Schwester, mein Herz ist schwer! Noch nie ist mein künftiges Leben meinen blinden Augen so dunkel erschienen wie jetzt.« Eine Thräne entrann diesen armen blinden Augen und fiel auf meine Wange. Plötzlich wandte sie ihr Gesicht ab. »Verzeihen Sie mir«, murmelte sie, »und lassen Sie mich gehen.« Noch ehe ich ihr antworten konnte, war sie fortgegangen, um sich in ihr Zimmer zu verschließen. Das liebliche Mädchen! Man konnte nur das tiefste Mitleid mit ihr haben, man mußte sie lieben!

Ich ging allein spazieren; sie hatte mich mit ihren abergläubischen Ahnungen einer trüben Zukunft nicht angesteckt, aber ein trauriges Wort hatte sie gesagt, welchem ich zustimmen mußte. Nach dem, was ich in ihrem Zimmer mit angesehen hatte, schien mir der Hochzeitstag in der That in eine weitere Ferne gerückt als je zuvor.



Achtzehntes Kapitel - Traurige Familienverhåltnisse

Keine fünf Tage waren vergangen, als sich schon Lucilla’s traurige Besorgnisse in Betreff Oscar’s bestätigten. Er hatte einen zweiten epileptischen Anfall.

Die versprochene Consultation mit dem Brightoner Arzte fand statt. Der neue Arzt machte uns wenig Hoffnung. Die rasche Aufeinanderfolge der beiden Anfälle war nach seiner Ansicht ein schlimmes Zeichen. Er gab allgemeine Verordnungen für Oscar’s Behandlung und überließ es seiner eigenen Entscheidung, ob er es mit einer Ortsveränderung versuchen wolle. Keine solche Veränderung, schien der Arzt zu meinen, würde einen unmittelbaren Einfluß auf die epileptische Disposition üben. Der allgemeine Gesundheitszustand des Patienten würde sich in Folge dessen vielleicht heben, das sei aber auch Alles. Was die Heirath an langte, so erklärte er ohne Zaudern, daß wir daran fürs Erste nicht denken dürften.

Lucilla nahm den Bericht über das Ergebniß der ärztlichen Consultation mit einer versteckten Resignation auf, die mich tief betrübte. »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen sagte, als er seinen ersten Anfall hatte«, rief sie. »Unsere Sommerzeit ist vorüber, unser Winter ist gekommen.

Sie sagte das wie jemand, der einem kommenden Ereignisse hoffnungslos entgegensieht, der fest überzeugt ist, daß ihm ein Unglück bevorsteht. Erst als Oscar eintrat, ermannte sie sich. Er war höchst begreiflicher Weise in einer sehr gedrückten Stimmung; alle seine Aussichten waren ihm vorläufig zerstört. Lucilla that mit Erfolg ihr Bestes, ihn aufzuheitern; meinerseits versuchte ich es vergebens, ihn zu überreden, Browndown zu verlassen und sich an einem lustigeren Orte zu zerstreuen. Er hatte eine ängstliche Scheu vor neuen Gesichtern und neuen Umgebungen. In der Gesellschaft dieser beiden trübseligem schwerbedrückten jungen Menschen fing selbst die mir angeborene Heiterkeit zu schwinden an. Wenn wir alle drei inmitten einer Wildniß in die Tiefe eines ausgetrockneten Brunnens gerathen wären, wir hätten unsere Aussichten kaum mit größerer Muthlosigkeit ansehen können, als wir es jetzt thaten. Zum Glück waren Oscar wie Lucilla leidenschaftliche Freunde der Musik. Wir nahmen in jenen Tagen des Unglück Zuflucht zum Clavier als unsern besten Trost. Lucilla und ich spielten abwechselnd und Oscar hörte uns zu; wir musicirten viel, waren aber übrigens einsilbig und verstimmt.

Der Ehrwürdige Finch fand sich mit seinem Antheil an unseren jetzigen Prüfungen durch möglichst laute Reden ab. Wer den kleinen Pfarrer in jenen Tagen hörte, hätte glauben sollen, niemand empfinde unser häusliches Unglück so schmerzlich wie er. Es war der Mühe werth, ihn am Tage der ärztlichen Consultation zu sehen, wie er in dem Wohnzimmer seiner Frau auf- und abstolzirte und seine, aus seiner Frau und mir bestehende Zuhörerschaft haranguirte. Frau Finch saß in der einen Ecke im Unterrock und Shawl mit dem Baby und Roman und ich in der andern Ecke, um einer an mich gerichteten Anfrage gemäß mit dem Pfarrer zu berathen, mit andern Worten, um es mit, anzuhören, wie Herr Finch erklärte, daß er derjenige sei, welchen die über unserm Hause hängende Wolke des Unglücks am tiefsten überschatte.

»Ich verzweifle, ich versichere Sie, Madame Pratolungo, ich verzweifle daran, Ihnen einen Begriff davon zu geben, wie tief mich dieser traurige Zustand der Dinge ergreift. Sie sind sehr gut gegen uns gewesen; Sie haben uns die Theilnahme einer wahren Freundin bewiesen. Aber Sie können sich unmöglich eine Vorstellung davon machen, wie schwer dieser Schlag mich betroffen hat. Ich bin zerschmettert, Madame Pratolungo.« Das sagte er in meiner Erke zu mir; dann wandte er sich an seine Frau in ihrer Ecke und wiederholte: »Liebe Frau, ich bin zerschmettert. Es giebt keinen anderen Ausdruck, um meinen Zustand erschöpfend zu bezeichnen — zerschmettert.« Dann stellte er sich in die Mitte der Stube und sah abwechselnd mich und seine Frau erwartungsvoll an. Sein Gesicht und sein ganzes Benehmen sagten deutlich: »Wenn diese beiden Frauen jetzt in Ohnmacht fallen, so werde ich das, nach dem was ich ihnen eben mitgetheilt habe, nur sehr angemessen und natürlich finden.« Ich wartete ab, was die Frau vom Hause thun würde; Frau Finch aber sank nicht mit dem Baby und dem Roman ohnmächtig zu Boden. Dadurch ermuthigt, erlaubte auch ich mir, ruhig sitzen zu bleiben. Ich machte ein möglichst klägliches Gesicht; Frau Finch blickte ehrfurchtsvoll zu ihrem Gatten auf, als ob sie ihn für dass edelste Wesen halte und hielt schweigend das Schnupftuch vor die Augen. Das befriedigte Herrn Finch und er fuhr fort: »Meine Gesundheit hat gelitten, ich versichere Sie, Madame Pratolungo, meine Gesundheit hat gelitten. Seit diesem traurigen Vorfall ist meine Verdauung gestört, das Gleichgewicht meiner Kräfte geschwunden, die Regelmäßigkeit meiner Functionen gebrochen. Ich bin lediglich in Folge dieser traurigen Angelegenheit von Anfällen eines krank haften Appetits geplagt. Ich muß zu ganz ungewöhnlichen Zeiten meine Mahlzeiten nehmen; mein Frühstück mitten in der Nacht, Mittagessen um vier Uhr Morgens; ich muß auch jetzt etwas zu mir nehmen.« Herr Finch hielt entsetzt über diese Entdeckung plötzlich inne und versank mit finster zusammengezogenen Brauen, indem er die Hand krampfhaft gegen die unteren Knöpfe seiner verschossenen Weste preßte, in tiefes Nachdenken Frau Finchs wasserblaue Augen blickten mit einem feucht melancholischen Ausdruck ehrlicher Trauer zu mir hinüber. Der Pfarrer schien plötzlich durch die Berathung mit seinem Magen erleuchtet zu sein, stolzirte auf die Thür zu, riß sie weit auf und rief mit einer Donnerstimme die Treppe hinab: »Koche mir ein weiches Ei!« Er ging wieder in die Mitte des Zimmers, hielt mit einem scharf auf mich gerichteten strengen Blick eine zweite Berathung mit seinem Magen, stolzirte in wüthender Eile wieder nach der Thür und brüllte eine Contreordre die Küchentreppe hinab: »Kein Ei! Gieb mir einen geräucherten Häring!«

Er kam zum zweiten Male ins Zimmer zurück; dieses Mal schloß er die Augen und legte die Hand wie zerstreut aus den Kopf. Wieder wandte er sich abwechselnd an Frau Finch und an mich. »Sieh doch selbst, Frau, sehen Sie nur, Madame Pratolongo, in welchem Zustande ich mich befinde. Es ist wahrhaft bejammernswerth; bei den geringfügigsten Dingen kann ich zu keinem Entschlusse kommen. Erst glaubte ich, ich müsse ein weiches Ei essen, dann meinte ich, mir würde ein geräucherter Häring gut thun und jetzt weiß ich gar nicht mehr was ich will, auf mein Ehrenwort als Geistlicher und Gentleman, ich weiß nicht, was ich will. Ein krankhafter Appetit während des ganzen; Tages, eine krankhafte Schlaflosigkeit während der ganzen Nacht. Welcher Zustand! Ich habe keine Ruhe, ich störe meine Frau Nachts, ich störe Dich Nachts, Frau. Wie viele Male muß ich mich, seit dieses Unglück uns betroffen hat, im Bett umherwälzen, bevor ich einschlafe? Acht Mal? Bist Du Deiner Sache gewiß? Uebertreibe nicht! Bist Du gewiß, daß Du die Male gezählt hast? Ach, Du gute Seele! Ich kann mich nicht erinnern, ich versichere Sie, Madame Pratolungo, ich kann mich nicht erinnern, jemals eine so totale Erschütterung meines ganzen Organismus er fahren zu haben wie jetzt. In einem annähernd ähnlichen Zustande befand ich mich vor einigen Jahren bei der fünft letzten Entbindung meiner Frau. War es nicht bei Deiner fünft letzten Entbindung, Frau, oder war es bei Deiner sechst letzten? Deiner fünft letzten? Bist Du Deiner Sache gewiß? Leitest Du nicht unsere Freundin irre? Du hast Recht, Du gute Seele! Damals hatte mein Zustand seinen Grund in pecuniären Verlegenheiten, Madame Pratolungo. Diese pecuniären Verlegenheiten überwand ich damals. Wie soll ich aber mein jetziges Mißgeschick überwinden? Mein Plan für Oscar und Lucilla war vollkommen fertig. Die künftige Gestaltung meiner Verhältnisse zu meinen verheiratheten Kindern lag schon in der angenehmsten Klarheit vor mir; ich sah meine eigene Zukunft, ich sah die Zukunft meiner Familie vor mir. Und was sehe ich jetzt? Alles wie mit einem Schlage vernichtet. Unerforschliche Vorsehung!« Er hielt inne und erhob Augen und Hände fromm zur Zimmerdecke.

Die Köchin erschien mit dem geräucherten Häring.

»Unerforschliche Vorsehung«, wiederholte Herr Finch in einem etwas leisern Tone. »Iß den Häring, ehe er kalt wird, lieber Mann«, sagte Frau Finch.

Der Pfarrer hielt wieder inne. Seine ruhelose Zunge trieb ihn, mit seinen Reden fortzufahren; sein undisciplinirter Magen verlangte nach dem Häring. Die Köchin nahm den Deckel von der Schüssel. Herrn Finchs Nase schlug sich sofort auf die Seite seines Magens. Er ließ es bei der »unerforschlichen Vorsehung« bewenden und« schüttete Pfeffer auf seinen Häring.

Nachdem ich so berichtet habe, wie der Pfarrer angesichts des Unglücks, welches die Familie betroffen hatte, sprach, habe ich mein Bild nur noch durch die Angabe dessen, was der Pfarrer demnächst that, zu vervollständigen. Er borgte zweihundert Pfund von Oscar und hörte alsbald auf, sich mitten am Tage geräucherte Häringe zu bestellen und Frau Finch Nachts im Schlafe zu stören.

Die trüben Herbsttage gingen zu Ende und die langen Winterabende nahmen ihren Anfang. Unsere Aussichten für die Zukunft gestalteten sich keineswegs freundlicher. Vergebens boten die Aerzte alles auf, einen Zustand der Besserung Oscar’s herbeizuführen. Die schrecklichen Zufälle wiederholten sich wieder und wieder. Die Tage vergingen und unser trübes Leben nahm seinen einförmigen Fortgang. Ich war geneigt, mit Lucilla anzunehmen, daß irgend eine Krisis nahe hervorstehen müsse. »So kann es nicht fortgehen«, pflegte ich bei mir zu denken, namentlich wenn ich sehr hungrig war. »Bevor das Jahr zu Ende geht, muß sich etwas ereignen.«

Der Monat December kam und es ereignete sich endlich etwas. Mit den traurigen Verhältnissen in der Familie des Pfarrers trafen gleich traurige Verhältnisse in meiner eigenen Familie zusammen. Ich erhielt einen Brief von einer meiner jüngeren Schwestern aus Paris. Derselbe enthielt beunruhigende Nachrichten über eine mir sehr thenre Person, deren ich bereits im Beginn dieser Erzählung gedacht habe, über meinen lieben Papa. War der ehrwürdige Urheber meiner Tage gefährlich krank? Ach nein! Das nicht gerade, aber ihn hatte das nächst einer tödtlichen Krankheit Schlimmste betroffen; er war sterblich verliebt in ein übelberufenes junges Frauenzimmer und das in einem Alter von fünfundsiebzig Jahren! Was soll ich von meinem alten Vater sagen; er ist eine urkräftige Natur. Papa hat ein jugendfrisches, nie alterndes Herz.

Ich bedaure, den Leser mit meinen Familienangelegenheiten behelligen zu müssen; aber dieselben verknüpfen sich, wie man sehen wird, allmählig auf das Engste mit den Angelegenheiten Oscar’s und Lucillais. Ich sehe mich unglücklicher Weise dazu verurtheilt, diese Geschichte nicht erzählen zu können, ohne früher oder später die einzige, freilich liebenswürdige Schwäche des heitersten, angenehmsten und bestconservirten Mannes seiner Zeit zu berühren.

Ach, ich muß jetzt auf Eierschalen gehen, das weiß ich wohl! Das englische Gespenst mit Namen »Schicklichkeit« schleicht sich auf meinem Schreibtisch an mich heran und flüstert mir wüthend ins Ohr: »Madame Pratolungo, wenn Sie die Wangen der Unschuld erröthen machen, so ist es von dem Augenblick an mit Ihnen und Ihrer Geschichte vorbei.« O, ihr leicht entzündlichen Wangen der Unschuld, übet dieses eine Mal Nachsicht und ich will versuchen, ob ich die Sache nicht erzählen kann, ohne bei Euch Anstoß zu erregen! Darf ich den guten Papa als einen Priester im Tempel der Venus, welcher unaufhörlich Weihrauch auf dem Altar der Liebe verbrennt, bezeichnen? Nein, »Tempel der Venus« ist heidnisch und »Altar der Liebe« ist kein schicklicher Ausdruck; sehen wir daher von diesen Bezeichnungen ab. Nur soviel will ich von meinem ewig jungen Vater sagen, daß sein Leben von Jugend auf eine einzige ununterbrochen Huldigung der Reize des schwächeren Geschlechts gewesen war und daß meine Schwestern und ich, die wir ja selbst diesem Geschlechte angehörten, es nicht über uns gewinnen konnten, ihn deshalb zu verlassen. Er war ein so schöner, herzlicher, liebenswürdiger Mann, der nur einen Fehler hatte, und dieser eine Fehler war ein Compliment für die Frauen, welche ihn natürlich wieder anbetetent! Wir fanden uns in unser Schicksal vier Jahre nach dem Tode unserer Mutter gewöhnten wir uns darin, in fortwährender Furcht von der Möglichkeit zu leben, daß er eine von den hunderten gewissenloser Dirnen, die sich seiner bemächtigt hatten, heirathen und, was noch schlimmer gewesen wäre, sich wegen dieser Weiber mit Männern duelliren möchte, die seine Enkel hätten sein können. Papa war so empfindlich und so tapfer! Unendlich oft war an mich als die Tochter, welche den stärksten Einfluß auf ihn übte, die Aufforderung ergangen, mich ins Mittel zu legen, und ebenso oft war es mir gelungen, ihn auf die eine oder auf die andere Weise aus den Banden, in die er sich hatte schlagen lassen, zu erlösen; immer aber hatte die Sache auf dieselbe traurige Weise mit einer Entschädigung durch Geld geendigt, wobei ich über das betreffende Frauenzimmer, das schamlos genug war, eine Schädigung einzugestehen, mein Verdict dahin abgebe: »Es geschieht ihr recht!«

Der vorliegende Fall war eine Wiederholung aller früheren Fälle. Meine Schwestern hatten vergebens Alles aufgebotem der Sache Einhalt zu thun; mir blieb nichts übrig, als mich selbst auf den Schauplatz zu begeben, um meine Thätigkeit vielleicht damit zu beginnen, daß ich das betreffende Frauenzimmer mit Ohrfeigen tractirte, jedenfalls aber damit zu endigen, daß ich dem Weibe die Taschen füllte.

Meine Entfernung in diesem Augenblicke war für meine blinde Lucilla mehr als eine Verdrießlichkeit, sie verursachte ihr wahren Kummer. Am Morgen meiner Abreise umschlang sie mich mit einer leidenschaftlichen Zärtlichkeit, als ob sie entschlossen sei, mich nicht von sich zu lassen.

»Was soll ich ohne Sie anfangen?« sagte sie, »es ist hart für mich, in diesen traurigen Tagen den Trost threr Stimme entbehren zu sollen. Ich werde mich jedes Haltes beraubt fühlen, wenn Sie nicht mehr bei mir sind. Wie lange werden Sie fortbleiben?«

»Ich brauche einen Tag zur Reise nach Paris«, antwortete ich, »einen Tag zur Rückreise, macht zwei, fünf Tage, wenn es in dieser Zeit möglich ist, die Dirne niederzuschmettern und Papa zu erlösen, macht sieben Tage. Sagen wir also, wenn es irgend möglich ist, nicht länger als eine Woche.«

»Sie müssen, gleichviel was geschehen möge, vor Neujahr zurück sein.« »Und warum?«

»Ich muß meinen jährlichen Besuch bei meiner Tante machen. Ich habe ihn zweimal aufgeschoben und muß daher durchaus vor Jahresschluß nach London gehen, um dort meine vorgeschriebenen drei Monate in Fräulein Batchford’s Hause zu verlieben. Ich hatte gehofft, vor Jahresschluß Oscar’s Frau zu sein«, sie hielt einen Augenblick inne, um die Festigkeit ihrer Stimme wie der zu gewinnen. »Das ist jetzt Alles vorbei, wir müssen uns trennen. Wenn ich aber Sie nicht hier lassen kann, um ihn während meiner Abwesenheit zu trösten und für ihn zu sorgen, so bleibe ich, mag daraus entstehen was da will, in Dimchurch.«

Wenn sie zur festgesetzten Zeit in Dimchurch blieb, ohne verheirathet zu sein, so bedeutete das in Gemäßheit der testamentarischen Bestimmungen ihres Onkels soviel wie den Verlust ihres Vermögens. Wenn der Ehrwürdige Finch sie gehört hätte, so würde er nicht einmal haben ausrufen können: »Unerforschliche Vorsehung«, er würde vor Schreck auf der Stelle das Bewußtsein verloren haben.

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»Fiirchten Sie nichts,« Lucilla«, antwortete ich, »ich werde vor der für Ihre Abreise festgesetzten Zeit wieder hier sein. Ueberdies geht es mit Oscar bis dahin vielleicht besser; er wird vielleicht im Stande sein, Ihnen nach London zu folgen und Sie bei Ihrer Tante zu besuchen.«

Sie schüttelte den Kopf mit einem so tief traurigen Ausdruck des Zweifels, daß ich mich der Thränen nicht erwehren konnte. Ich küßte sie zum letzten Male und eilte davon.

Mein Weg führte mich zuerst nach Newhaven und dann über den Kanal nach Dieppe. Ich hatte, glaube ich, selbst nicht gewußt, wie theuer mir Lucilla geworden war, bis ich bei der ersten Wendung des Weges nach Brigthon das Pfarrhaus aus dem Gesichte verlor. Meine angeborene Festigkeit verließ mich. Mich marterte eine böse Ahnung, daß sich während meiner Abwesenheit ein großes Unglück ereignen werde. Ich er staunte über mich selber, mich, die Wittwe des Spartaners Pratolungo, als ich wie eine gewöhnliche Frau in Thränen ausbrach! Früher oder später müssen wir empfindsamen Seelen das Vorrecht der Liebe Alle mit einem Herzeleid bezahlen. Gleichviel, Herzeleid oder nicht, man muß, so lange man in dieser Welt ist, etwas lieben. Ich liebte Lucilla. Vor Lucilla liebte ich meinen Pratolungo; vor Pratolungo — nun ich denke, man wird es mir erlassen, noch weiter zurückzugehen.



Neunzehntes Kapitel - Fernere Folgen des Raubanfalls

Ueber das, was während meines Pariser Aufenthalts vorging, kann ich mich sehr kurz fassen.

Unter den vielerlei Einzelheiten, die sich in meiner Erinnerung an die Befreiung meines guten Papa knüpfen, brauche ich nur bei einer einzigen länger zu verweilen.

Mit Papa sah die Sache diesmal sehr schlimm aus. Der ehrwürdige Liebhaber war so weit gegangen, Alles aufzubieten, um sich wieder zu verjüngen, hatte sich neue Zähne, eine neue Perrücke, einen neuen Teint und eine neue Gestalt, das Letztere vermittelst des Ankaufs einer neuen Schnürbrust angeschafft. Ich muß gestehen, daß ich ihn kaum erkannte, so fabelhaft und unnatürlich jung sah er aus. Vergebens bot ich Alles auf, meinen früheren Einfluß auf ihn geltend zu machen. Er umarmte mich mit der rührendsten Zärtlichkeit; er gab den edelsten Gefühlen gegen mich Ausdruck; aber in Betreff seiner beabsichtigten Heirath war er unerschütterlich. Das Leben erschien ihm nur unter einer Bedingung erträglich. Die Geliebte oder der Tod — so lautete das Losungswort dieses alten Vulcans.

Was die Sache noch hoffnungsloser erscheinen ließ, war der Umstand, daß die Geliebte frech genug war, sofort ihre Trumpfkarte auszuspielen.

Ich will gegen die Person gerecht sein: Sie verschanzte sich in einer durchaus unangreifbaren Position; sie autorisirte uns, die Partie, wenn wir könnten, rückgängig zu machen. »Ich verweise Sie an Ihren Vater; ich bitte Sie, sich es gesagt sein zu lassen, daß ich ihn nicht zu heirathen wünsche, wenn seine Töchter dagegen etwas einzuwenden haben. Er braucht nur zu sagen: »Entbinde mich meines Worts«, und er soll auf der Stelle frei sein.« Gegen ein solches Vertheidigungssystem war nichts zu machen, wir wußten so gut wie sie, daß unser bethörter Vater das entscheidende Wort nicht sprechen würde. Unsere einzige Chance war, keine Kosten zu scheuen, um Nachforschungen über das frühere Leben dieser Dame anzustellen und so unwiderlegliche Beweise gegen sie vorzubringen, daß selbst die thörichte Verblendung eines Greises dieselben nicht für Lügen werde erklären konnte.

Wir gaben Geld aus, wir stellten Nachforschungen an, wir schafften uns die nöthigen Beweise. Damit vergingen vierzehn Tage, nach Verlauf welcher Zeit wir das nöthige Material in Händen hatten, um unserem guten Papa die Augen zu öffnen. Im Laufe dieser Untersuchung kam ich mit vielen sonderbaren Leuten in Berührung, unter Anderen mit einem Manne, der mich bei seinem ersten Anblick durch etwas er schreckte, das mir bei aller meiner Erfahrung noch nie vorgekommen war. Die Gesichtsfarbe des Mannes war nämlich keine der gewöhnlichen Nuancen menschlicher Hautfarbe, sondern bot den widerlichen, ich möchte fast sagen, teuflischen Anblick eines fahlen Schwarzblau. Der Mann erwies sich als ein höchst freundlicher, intelligenter und dienstfertiger Mensch; als ich aber zum ersten Male seiner ansichtig wurde, erschrak ich dermaßen über seine furchtbare Gesichtsfarbe, daß ich einen Schrei des Entsetzens nicht unter drücken konnte. Er nahm nicht nur meine unabsichtliche Rücksichtslosigkeit in der nachsichtigsten Weise auf, sondern erklärte mir, wie er zu dieser sonderbaren Gesichtsfarbe gekommen sei; so daß ich ganz à mon aise mit ihm wurde, noch bevor ich auf die delicate Untersuchung, welche uns zusammengeführt hatte, näher einging.

»Ich bitte um Verzeihung, daß ich Sie auf meine Entstellung nicht habe vorbereiten lassen, bevor ich ins Zimmer trat«, sagte der unglückliche Mensch. »Es giebt in allen Ländern der Erde Menschen von einer der meinigen ähnlichen Gesichtsfarbe, und ich vermuthete daher, daß Sie in Ihrem Leben schon ähnlichen Individuen begegnet wären. Die blaue Farbe meiner Haut ist die Wirkung innerlich genommenen Höllensteins. Höllenstein ist nämlich die einzige Medicin, durch welche Menschen von einem sonst unheilbaren Leiden befreit werden können. Wer mit diesem Leiden behaftet ist, hat nur die Wahl, es zu behalten oder sich die schrecklichen Folgen dieser Kur gefallen zu lassen.«

Er sagte mir nicht, worin sein Leiden bestanden habe, und ich mochte ihn, wie ich wohl kaum zu bemerken brauche, nicht weiter darnach fragen. Ich gewöhnte mich bei längerem Verkehr mit ihm an seine Entstellung und würde meinen blauen Mann ohne Zweifel über andere Dinge, welche mein Interesse in höherem Grade in Anspruch nahmen, vergessen haben, wäre nicht meine Aufmerksamkeit unerwarteter Weise auf die Wirkungen des Höllensteins als Medizin bei einer späteren Gelegenheit und unter für mich sehr überraschenden Umständen wieder gelenkt worden. Nachdem ich Papa vom Rande des vielleicht zwanzigsten Abgrundes, an welchem er in seinem Leben gestanden, gerettet hatte, mußte ich noch einige Tage bleiben, um ihn mit der Bitterkeit einer ihm wider seinen Willen zu Theil gewordenen Befreiung auszusöhnen. Wer es nicht mit angesehen hat, würde es nicht glauben, wie er litt; er knirschte mit seinen kostspieligen Zähnen, er riß sich seine vortrefflich gemachten Haare aus; er würde in seiner leidenschaftlichen Aufregung ohne Zweifel auch seine Schnürbrust gesprengt haben, wenn ich ihm dieselbe nicht fortgenommen und zum halben Preise wieder verkauft und so wenigstens neben den großen Verlusten einen kleinen Profit aus unserer Calamität erzielt hätte. Was man auch beginne, in dieser elenden Welt dreht sich Alles um Geld, einerlei, ob man für die Freiheit des Volkes sterbe oder ob man seinen Papa aus den Schlingen der Liebe befreie. Giebt es keine Abhilfe dagegen? Laßt mich Euch ein Wort ins Ohr flüstern: »Wartet nur bis zur nächsten Revolution!«

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In der Zeit meiner Abwesenheit hatte ich natürlich mit Lucilla correspondirt. Ihre Briefe waren sehr traurig und sehr kurz und schilderten den Zustand der Dinge in Dimchurch als sehr betrübend. Die schrecklichen epileptischen Zufälle hatten sich bei Oscar in immer kürzeren Zwischenräumen und mit immer größerer Heftigkeit wiederholt. Sobald ich wieder an meine Rückreise nach England denken konnte, schrieb ich an Lucilla, um sie durch die Aussicht auf meine Rückkehr aufzuheitern. Zwei Tage vor meiner Abreise von Paris erhielt ich noch einen Brief von ihr. Ich war schwach genug, mich fast vor der Eröffnung des Briefes zu ängstigen. Der Umstand, daß sie mir in einem Augenblicke schrieb, wo sie wußte, daß wir uns so bald wiedersehen würden, berechtigte mich zu der Vermuthung, daß sie mir etwas sehr Bedeutsames; mitzutheilen haben würde. Eine böse Ahnung sagte mir, daß der Brief die schlimmsten Nachrichten enthalten werde; ich mußte all’ meinen Muth zusammennehmen, den Brief zu erbrechen. O, was für Thoren sind wir doch! Auf einen Fall, wo sich unsere Ahnungen als begründet erweisen, kommen hundert Fälle, in denen sie uns irre geleitet haben. Statt mich zu betrüben, entzückte mich der Brief. Unsere traurigen Aussichten fingen endlich an, sich aufzuhellen; Lucilla schrieb in ihren großen kindischen Lettern: »Theuerste Freundin und Schwester, ich kann mit der Mittheilung einer guten Nachricht nicht warten, bis wir uns wiedersehen. Wir haben den Brightoner Arzt abgeschafft und statt dessen einen Londoner Arzt angenommen. Wenn man gescheute Leute braucht, muß man sich nach London wenden; der neue Arzt hatte Oscar kaum gesehen und einen Augenblick nachgedacht, als er auch schon mit sich im Reinen war; er hat eine eigene Art, Oscar’s Fall zu behandeln und garantiert uns seine Heilung von den schrecklichen Zufällen. Da haben Sie meine Neuigkeit! Kommen Sie wieder und lassen Sie uns vor Freude tanzen! Wie unrecht hatte ich, an unserer Zukunft zu zweifeln Nie, nie will ich wieder zwei feln. Dies ist der längste Brief, den ich je geschrieben habe. Ihre Sie liebende Lucilla.«

Diesem Briefe folgte ein von Oscar’s Hand geschriebenes Postscriptum: Dasselbe lautete:

»Lucilla hat Ihnen gesagt, daß ich endlich wieder etwas Hoffnung schöpfen darf; von den was ich hier schreibe, weiß Lucilla nichts; es ist nur für Sie allein bestimmt. Benutzen Sie die erste sich darbietende Gelegenheit, mich in Browndown aufzusuchen, ohne daß Lucilla etwas davon erfährt. Ich habe Sie um eine große Gefälligkeit zu bitten, mein Glück hängt davon ab, daß sie mir dieselbe gewähren. Sie sollen erfahren, um was es sich handelt, wenn wir uns sehen Oscar.«

Dieses Postscriptum intriguirte mich; sein Inhalt stimmte nicht mit dem unbedingten Vertrauen, welches Oscar« soweit ich es hatte beobachten können, in Lucilla zu setzen pflegte. Es widersprach allen meinen Erfahrungen von Oscar’s Charakter, nach welchen ich ihn als das Gegentheil eines zurückhaltenden, versteckten Menschen kennen gelernt hatte. Die Verheimlichung seines Namens bei seiner ersten Begegnung mit uns war lediglich durch seinen Abscheu davor, als der Held des Criminalprocesses erkannt zu werden, veranlaßt worden. In allen gewöhnlichen Lebensverhältnissen war er von seinem durchaus offenen und fast zu rückhaltslosen Wesen. Daß er ein Geheimniß vor Lucilla haben konnte, welches er mir anvertrauen wollte, war mir völlig unbegreiflich. Meine Neugierde wurde dadurch auf’s Höchste gereizt, und mein Verlangen, nach England zurückzukehren, nur noch gesteigert.

Ich machte es möglich, meine Arrangements so zu treffen, daß ich meinem Vater und meinen Schwestern am Abend des dreiundzwanzigsten December Lebewohl sagen konnte. In der Frühe des vierundzwanzigsten verließ ich Paris und traf noch zeitig genug in Dimchurch ein, um den Festlichkeiten des Wethnachtsabends noch theilweise beiwohnen zu können. Es war ein Uhr vorüber, als mir Lucilla endlich erlaubte, mich von meiner Reise im Bette auszuruhen. Jetzt war sie wieder das muntere leichtherzige Geschöpf unserer glücklichen Tage und sie hatte mir so viel zu erzählen, daß selbst ihr Vater mit seinem Redefluß nicht durchgedrungen sein würde. Am nächsten Morgen hatte sie aber für die zu große Aufregung des Abends zu büßen; als ich in ihr Zimmer trat, fand ich sie von nervösen Kopfschmerzen geplagt und unfähig, zur gewöhnlichen Zeit aufzustehen. Sie proponirte mir aus freien Stücken, allein nach Browndown zu gehen, um Oscar nach meiner Rückkehr zu begrüßen. Ich lasse mir selbst nur die einfachste Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich sage, daß ich mich durch diese Aufforderung Lucilla’s sehr erleichtert fühlte. Hätte sie sehen können, so würde ich mein Gewissen überhaupt nicht beschwert gefühlt haben, aber ich empfand eine tiefe Scheu davor, mein armes blindes Mädchen auch nur in der geringsten Kleinigkeit zu täuschen.

So ging ich denn mit Lucilla's Willen und allein zu Oscar. Ich fand ihn reizbar und aufgeregt und in der Stimmung, bei der geringsten Veranlassung in einen seiner leidenschaftlichen Paroxismen zu verfallen. Lucilla’s Geliebter zeigte in seinem Wesen nicht die leiseste Spur von Heiterkeit, die sich bei ihr wieder eingestellt hatte.

»Hat sie Ihnen irgend etwas über den neuen Doctor gesagt?« das waren die ersten Worte, die er an mich richtete.

»Sie hat mir gesagt, daß sie das vollste Vertrauen in ihn hat«, antwortete ich. »Sie ist fest überzeugt, daß er das Versprechen, Sie zu heilen, halten wird.«

»War sie gar nicht neugierig«l zu erfahren, wie er mich heilen will?«

»Nicht im aller mindesten. Es genügt ihr, daß Sie geheilt werden. Das Uebrige überläßt sie dem Doctor.«

Diese Antwort schien ihn zu erleichtern; er seufzte und lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Das ist schön«, sagte er vor sich hin, »das freut mich.«

»Ist die Behandlungsweise des Doctors ein Geheimniß?« fragte ich.

»Sie muß für Lucilla ein Geheimniß bleiben«, sagte er sehr ernst. »Wenn sie versuchen sollte, sich darüber zu unterrichten, so muß sie wenigstens für jetzt auf jede Weise daran verhindert werden. Niemand hat Einfluß über sie außer Ihnen. Ich rechne auf Ihre Unterstützung.«

»Ist das die Gefälligkeit, um die Sie mich bitten wollten?«

»Ja.«

»Wollen Sie mir das Geheimniß der ärztlichen Behandlung anvertrauen?«

»Gewiß, wie kann ich erwarten, daß Sie mir helfen werden, wenn Sie nichts wissen wie triftige Gründe dafür vorhanden sind, Lueilla im Dunkel zu lassen.«

Er betonte die beiden Worte »triftige Gründe« sehr scharf. Ich sing an, mich etwas unbehaglich zu fühlen. Ich hatte mir Lucilla's Blindheit noch nie, auch bei der geringfügigsten Veranlassung, zu Nutze gemacht. Und jetzt stand mir der Verlobte Lucilla's mit dem Verlangen gegenüber, sie über etwas im Dunkeln zu lassen.

»Ist die Behandlung des neuen Doctors gefährlich?« fragte ich.

»Durchaus nicht.«

»Ist sie denn nicht so sicher, wie er Lucilla glauben gemacht hat?«

»Vollkommen sicher.«

»Wußten die anderen Aerzte nichts von dieser Behandlung?«

»Allerdings.«

»Warum wandten sie denn dieselbe nicht an?«

»Weil sie sich scheuten.«

»Scheuten? Worin besteht denn die Behandlung?«

»In dem Einnehmen von Medicin.«

»Verschiedener Medicinen oder einer?«

»Einer.«

»Wie heißt denn die Medicin?«

»Höllenstein.«

Ich sprang auf, sah Oscar an und sank auf meinen Stuhl zurück. Ich erinnerte mich sofort des Eindrucks, den die Erscheinung des blauen Mannes zuerst auf mich hervorgebracht hatte. Man wird sich erinnern, daß dieser, als er mir die Wirkung der Medizin er klärte, das Leiden, gegen welches er dieselbe gebraucht, nicht genannt hatte. Es war Oscar vorbehalten geblieben, mich durch seinen eigenen Fall darüber aufzuklären. Ich war so entsetzt, daß ich sprachlos dasaß. Bei Oscars feinem Gefühl hatte ich nicht nöthig, mich deutlich zu erklären; mein Gesicht sagte ihm, was in mir vorging.

»Sie haben schon einmal jemand gesehen, der, Höllenstein genommen hat?« rief er aus.

»Haben Sie schon einmal einen solchen Menschen gesehen?« fragte ich.

»Ich kenne den Preis, um den ich geheilt werden kann«, erwiderte er ruhig.

Seine Ruhe machte mich stutzig. »Wie lange nehmen Sie schon diese schreckliche Medizin?« fragte ich

»Seit etwas länger als einer Woche «

»Ich bemerke noch keine Veränderung an Ihnen.«

»Der Doctor sagt mir, es werden noch viele Wochen vergehen, ehe sich die geringste Veränderung bemerklich macht.«

Bei diesen Worten schöpfte ich einen Augenblick Hoffnung. »Sie können sich also noch anders besinnen«, sagte ich. »Um des Himmels willen, überlegen Sie sich die Sache noch einmal, ehe es zu spät ist!«

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen. »So schwach auch mein Charakter sonst sein mag«, antwortete er, »dieses Mal steht mein Entschluß fest.«

Ich als Frau konnte den Gedanken nicht ertragen, Oscars schönen Teint verdorben zu sehen.

»Sind Sie bei Sinnen?« platzte ich heraus. »Wollen Sie mich wirklich glauben machen, daß Sie sich wohlüberlegter Weise entschlossen haben, sich für jeden, dem Sie unter die Augen treten, zu einem Gegenstande des Entsetzen zu machen?«.

»Die einzige Person, an deren Meinung mir etwas liegt«, erwiderte er, »wird mich nie sehen.«

Endlich begriff ich ihn; das war also die Erwägung, die ihn mit diesem Heilmittel ausgesöhnt hatte. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß mir bei der Wendung, die unsere Unterhaltung jetzt nahm, Lucilla’s Abscheu vor Leuten mit dunkler Hautfarbe und dunklen Farben jeder Art wieder einfiel. Hatte sie sich auch gegen ihn zu diesem Abscheu bekannt, wie sie es gegen mich gethan hatte? Nein! Ich erinnerte mich, daß sie mich ausdrücklich gebeten hatte, ihm von dieser Abneigung nichts mitzutheilen. Im Anfang seiner Bekanntschaft mit ihm hatte sie ihn gefragt, wem von seinen Eltern er am ähnlichsten wäre. Das veranlaßte ihn, ihr zu erzählen, daß sein Vater von dunkler Hautfarbe gewesen sei; sofort hatte Lucilla sich in ihrer Delicatesse das gesagt sein lassen. »Er spricht mit großer Zärtlichkeit von seinem verstorbenen Vater«, sagte sie zu mir, »es möchte ihn verletzen, wenn er von der Antipathie erführe, die ich gegen dunkle Menschen habe. Lassen Sie uns nicht vor ihm davon reden.« Wie die Sachen jetzt standen, hatte ich auf der Zunge, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß Lucilla durch Andere von seiner Entstellung hören würde, und ihn vor den Folgen einer solchen Mittheilung zu warnen. Bei näherer Erwägung schien es mir jedoch gerathener, damit noch ein wenig zu warten und ihn zuvor über seine Motive zu sondiren.

»Ehe Sie mir sagen, in welcher Weise ich Ihnen helfen soll«, sagte ich, »muß ich noch eins von Ihnen erfahren. Haben Sie Ihren Entschluß in dieser ernsten Angelegenheit ganz allein gefaßt? Haben Sie sich bei niemand Raths erholt?«

»Ich brauche keinen Rath«, antwortete er scharf. »Mein Fall läßt mir keine Wahl. Selbst ein so nervöser und unentschlossener Mensch wie ich, kann in solchem Falle nicht zaudern.«

»Haben die Aerzte gesagt, daß Ihnen keine Wahl blieb?« fragte ich.

»Die Aerzte scheuten sich, mir dies zu sagen; ich mußte sie zu dem Bekenntniß zwingen. Ich sagte: »Ich mache es Ihnen zu einer Ehrenpflicht, mir auf eine einfache Frage eine einfache Antwort zu geben. Habe ich irgend eine sichere Aussicht, von meinen Zufällen geheilt zu werden.« Daran antworteten sie mir: »Bei, Ihrer Jugend glauben wir darauf hoffen zu dürfen.« Ich drang weiter in sie. »Können Sie einen Zeitpunkt bestimmen, bis zu welchem ich sicher darauf rechnen kann, von meinem Leiden befreit zu sein?« Das vermochte keiner von ihnen. Alles was sie sagen konnten, war: »Unsere Erfahrung berechtigt uns zu der Annahme, daß Sie geheilt werden, aber nicht dazu, irgend einen Zeitpunkt Ihrer Heilung vorauszubestimmen.« »So kann es also Jahre dauern, bevor ich davon befreit werde?« Sie versuchten der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben. Dabei beruhigte ich mich aber nicht, sondern sagte: »Sagen Sie mir gerade heraus, muß man auf eine solche Möglichkeit in meinem Falle gefaßt sein?« Der Arzt von Dimchurch sah den Londoner Arzt an und dieser sagte: »Wenn Sie es durch aus zu wissen verlangen, man muß allerdings auf eine solche Möglichkeit gefaßt sein.« Und nun vergegenwärtigen Sie sich die Aussicht, welche mir diese Antwort eröffnete Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat fortwährend in Gefahr zu sein, jeden Augenblick in Krämpfen zu Boden zu fallen. Ist das nicht ein elendes Leben?«

Was konnte ich ihm antworten? Was konnte ich sagen?

Er fuhr fort:

»Und dazu nehmen Sie noch, daß ich verlobt bin; kein Mann ist wohl je bitterer enttäuscht worden als ich. Mein Lebensglück winkt mir ganz nahe und ich darf es nicht genießen. Nicht nur meine Gesundheit ist erschüttert, sondern auch meine Aussichten für das Leben sind zerstört. Das Mädchen, das ich liebe, ist mir versagt, so lange ich mit meinem jetzigen Leiden behaftet bin. Vergegenwärtigen Sie sich das und dann stellen Sie sich vor, daß ein Mann an diesem Tische mit Papier, Feder und Tinte vor Ihnen sitzt, der nur ein paar Worte zu kritzeln braucht, damit Sie Ihre Kur sofort beginnen können. Wenn Sie in wenigen Monaten von den schrecklichen Zufällen befreit und mit dem Mädchen, das Sie lieben, verheirathet sein könnten und wenn der einzige Preis, den Sie für das Vertauschen dieser himmlischen Zukunft mit einer höllischen Gegenwart zu bezahlen hätten, darin bestände, daß Sie sich für den Rest des Lebens eine Entstellung des Gesichts gefallen lassen müßten, welche die Ihnen theuerste Person niemals sehen würde, würden Sie zaudern? Ich frage Sie, würden Sie an meiner Stelle in dem Augenblick, wo der Doctor die Feder zur Hand nahm, das Reeept zu schreiben, gesagt haben: Nein?«

Ich schwieg noch immer. Mein Eigensinn, Frauen sind ja nun einmal halsstarrig, sträubte sich dagegen, es zuzugeben, selbst als mein Gewissen mir sagte, er habe Recht.

Er sprang in derselben fieberhaften Erregung auf, mit der er mir, wie ich mich nur zu gut erinnerte damals in Browndown gesagt hatte, wer er wirklich sei .

»Würden Sie nein gesagt haben?« wiederholte er, indem er sich mit hochrothem erhitztem Gesicht über mich beugte, wie er sich bei jener ersten Gelegenheit über mich gebeugt hatte, als er mir seinen Namen ins Ohr flüsterte »Würden Sie«, wiederholte er lauter und lauter, »würden Sie nein gesagt haben?«

Bei der dritten Wiederholung dieser Worte fingen seine Gesichtszüge an, sich in der schrecklichem mir so wohlbekannten Weise zu verzerren. Die rechte Seite des Körpers verzog sich krampfhaft; er fiel zu Boden. Guter Gott! Wer hätte einem so sehr zu seinem Gunsten redenden Argumente gegenüber erklären mögen, daß er Unrecht habe? Wer würde nicht bereitwillig zugegeben haben, daß jede Entstellung durch welche sich die Befreiung von einem solchen Zustande erkaufen ließe, willkommen sein müßte!

Der Diener kam hereingestürzt und half mir die Möbel in eine sichere Entfernung von dem Unglückichen rücken. »Das wird bald ein Ende haben, Madame«, sagte der Mann, als er meine Aufregung bemerkte, um mich zu beruhigen. »In ein bis zwei Monaten, sagt der Doctor, werde die Medizin ihre Wirkung thun.« Ich konnte kein Wort sagen, ich konnte mir nur bittere Vorwürfe darüber machen, daß ich ihn durch meinen Widerspruch aufgeregt und so vielleicht den abscheulichen Zufall, der ihn nun zum zweiten Male in meiner Gegenwart ergriff, herbeigeführt habe.

Der Anfall dauerte dieses Mal nur kurze Zeit. Hatte die Arznei vielleicht schon angefangen ihre Wirkung zu thun? Nach Verlauf von zwanzig Minuten war er im Stande, sich wieder auf seinen Stuhl zu setzen und weiter mit mir zu reden.

»Sie meinen, Sie würden sich über meinen Anblick entsetzen, wenn ich ein blaues Gesicht hätte«, sagte er mit einem matten Lächeln, »und entsetzen Sie sich nicht über meinen Anblick, wenn ich in Krämpfen vor Ihnen auf dem Boden liege?«

Ich bat ihn flehentlich, nicht mehr davon zu reden.

»Gott weiß es«, sagte ich, »Sie haben meine Verstocktheit überwunden. Lassen Sie uns versuchen, jetzt nur an Ihre Aussicht auf vollständige Heilung zu denken, Was wünschen Sie, daß ich thun soll?«

»Sie haben sehr viel Einfluß aus Lucilla«, sagte er. »Wenn sie künftig in der Unterhaltung mit Ihnen ein Verlangen äußern sollte, etwas Näheres über die Wirkung der Medizin zu erfahren, gehen Sie nicht darauf ein; lassen Sie sie nicht mehr davon erfahren, als sie jetzt weiß.«

»Und warum das?«

»Warum! Wenn sie weiß, was sie wissen, so wird sie auch entsetzt sein wie Sie. Sie wird dann sofort zu mir kommen und wird es, wie Sie es getan haben versuchen mich zu überreden die Kur aufzugeben.«

Es war unmöglich, der Richtigkeit dieser Annahme zu widersprechen.

»Ich liebe sie so sehr«, fuhr er fort, »daß ich ihr nichts versagen kann. Sie würde mich schließlich überreden, die Sache aufzugeben. Kaum aber hätte sie mich verlassen würde ich meine Schwäche bereuen und die Kur wieder anfangen. Daraus würde für mich, dessen Kräfte schon so erschöpft sind, ein fortwährender Kampf entstehen. Halten Sie es nun, nach dem was Sie eben gesehen haben, für wünschenswerth, daß ich mich dem aussetze?«

Es wäre eine nutzlose Grausamkeit gewesen, ihm dazu zu rathen und ich konnte nichts thun, als ihn in seinem Entschluß befestigen. Zugleich aber flehte ich ihn an, eins nicht zu vergessen.

»Wir dürfen nicht hoffen«, sagte ich, »sie über Ihre Veränderung, sobald dieselbe eingetroffen sein wird, lange zu täuschen; früher oder später würde ihr doch jemand das Geheimniß verrathen.«

»Ich wünsche auch nur, daß ihr meine Entstellung, so lange sie noch im Werden ist, verborgen bleibe«, antwortete er. »Sobald die Sache unabänderlich ist, werde ich es ihr selbst mittheilen. Sie ist so glücklich in ihrer Hoffnung auf meine Wiederherstellung, welchen Nutzen kann es haben sie zum Voraus über den Preis aufzuklären den ich für meine Befreiung zu zahlen habe. Meine häßliche Hautfarbe wird meinen armen Engel nicht erschrecken. Was die anderen Leute betrifft, so werde ich mich ihnen nicht aufdrängen. Es ist mein innigster Wunsch, ganz einsam zu leben. Die wenigen Menschen in meiner Umgebung werden sich bald mit meinem Gesicht ausgesöhnt haben. Lucilla wird ihnen mit ihrem Beispiele vorangehen. Sie wird sich nicht lange über eine Veränderung meines Aeußeren quälen, die sie weder mit dem Gefühl noch mit dem Auge wahrnehmen kann.«

Hätte ich ihn hier über Lucilla’s eingewurzeltes Vorurtheil und über die Schwierigkeit aufklären sollen, die es vielleicht haben würde, sie mit dem Gedanken an sein verändertes Aussehen auszusöhnen? Allerdings hätte ich es wohl gesollt. Ich war gewiß zu tadeln daß ich davor zurückschreckte, einem Manne, der schon so viel gelitten hatte, neue Sorgen und neuen Kummer zu bereiten. Die einfache Wahrheit ist, daß ich es nicht vermochte. Würdet Ihr es an meiner Stelle gethan haben? Wenn Ihr diese Frage mit »Ja« beantworten könnt, so hoffe ich zu Gott, daß ich nie etwas mit Euch zu thun haben werde.

Unsere Zusammenkunft endete damit, daß ich Oscar verließ, nachdem ich ihm mein Wort geben hatte, Lucilla nichts von dem Preise wissen zu lassen, um welchen Oscar sich entschlossen hatte, seine Heilung zu erkaufen.



Erstes Kapitel - Noch einmal mein guter Papa.

Zum Glück war nicht zu befürchten, daß das, Versprechen, welches ich Oscar gegeben hatte, mir eine lange Zeit ängstlichen Anmichhaltens auferlegen werde. Wenn wir nur über die nächsten fünf Tage sicher hinwegkamen konnten wir der Zukunft mit ziemlicher Ruhe entgegensehen. Am letzten Tage des Jahres war Lucilla durch die Testamentsverfügung verpflichtet, nach London zu gehen und ihre drei Monate unter dem Dache ihrer Tante zuzubringen.

In der kurzen Zeit, die bis zu ihrer Abreise verfloß, berührte sie zweimal den heiklichen Gegenstand.

Das erste Mal fragte sie mich, ob ich wisse, was für Arznei Oscar nehme. Ich erklärte, es nicht zu wissen und brachte die Unterhaltung sofort aus einen anderen Gegenstand. Das zweite Mal war sie noch näher daran, die Wahrheit zu errathen. Sie fragte mich, ob ich gehört habe, in welcher Weise die Arznei die Heilung bewirke. Da sie wußte, daß die Zufälle von einer Affection des Gehirns herrührten, war sie begierig, zu erfahren, ob die ärztliche Behandlung nachtheilig auf das Gehirn des Patienten wirken werde. Diese Frage, die ich ihr natürlich nicht hatte beantworten können, richtete sie an beide Aerzte, die sie, da Oscar sie ins Vertrauen gezogen hatte, durch die Erklärung beruhigten, daß die Heilung durch Mittel bewerkstelligt werde, die das Gehirn nicht afficirten. Von diesem Augenblick an war ihre Neugierde befriedigt; andere Dinge nahmen ihr Interesse in Anspruch; sie kam nicht wieder auf den Gegenstand zurück.

Es war abgemacht, daß ich Lucilla nach London begleiten solle; Oscar sollte uns folgen, sobald sein Gesundheitszustand ihm erlauben würde die Reise zumachen. Als Lucilla’s Verlobter hatte er während ihres Aufenthalts in London Zutritt zu dem Hause ihrer Tante. Ich wurde zugelassen auf Lucilla’s Verwendung, welche erklärte, sich nicht drei Monate lang von mir trennen zu wollen, Fräulein Batchford lud mich in einem sehr höflichen Schreiben freundlichst ein, mir es am Tage in ihrem Hause wohl sein zu lassen, und wir kamen, da sie kein zweites Fremdenzimmer hatte, überein, daß ich in einem Gasthause in der Nähe schlafen solle. In demselben Hause sollte auch Oscar wohnen, sobald die Aerzte ihm die Reise nach London erlaubten. Man hoffte jetzt, daß, wenn Alles gut ginge, die Hochzeit nach Verlauf der drei Monate, die Lucilla in London bei Fräulein Batchford zubringen mußte, würde stattfinden können.

Aber drei Tage vor dem für Lucilla’s Reise nach London festgesetzten Terrain wurden diese Pläne, sofern meine Person dabei in Betracht kam, über den Haufen geworfen.

Ich erhielt einen Brief aus Paris mit schlimmen Nachrichten; meine Abwesenheit hatte die denkbar schlechteste Wirkung auf meinen guten Papa geübt. Von dem Augenblick an, wo er sich meinem Einfluß entzogen sah, war er völlig untraitabel geworden. Meine Schwestern versicherten mir, daß die abscheuliche Person, aus deren Netzen ich ihn gerettet hatte, ihn ohne Zweifel schließlich doch dahin bringen werde, sie zu heirathen, wenn ich nicht sofort wieder auf dem Schauplatz erschiene. Was war da zu thun? Nichts, als in meinem einsamen Zimmer in Wuth zu gerathen, mit den Zähnen zu knirschen und alle meine Sachen auf den Boden zu werfen und dann — nach Paris abzureisen.

Lucilla benahm sich äußerst liebenswürdig. Als sie sah, wie aufgebracht und unglücklich ich war, drängte sie mit der zartesten Rücksicht für meine Empfindungen jede Aeußerung des Verdrusses über die Durchkreuzung ihrer Pläne zurück. »Schreiben Sie mir oft«, sagte das reizende Geschöpf, »und kehren Sie so bald wie möglich zu mir zurück.« Ihr Vater brachte sie nach London; zwei Tage vor ihrer Abreise nahm ich im Pfarrhause und in Browndown Abschied und reiste wieder über Newhaven und Dieppe nach Paris.

Ich war durchaus nicht in der Stimmung, es mit diesem Ausbruch der Leidenschaft bei meinem ewig jungen Vater leicht zu nehmen; ich bestand darauf, ihn augenblicklich von Paris fortzubringen und eine größere Reise mit ihm zu machen. Ich hatte mich dieses Mal gegen seine väterlichen Umarmungen gewaffnet; ich war taub gegen den Ausdruck seiner noblen Empfindungen. Er erklärte, er werde unterwegs sterben. Wenn ich jetzt an die Sache zurückdenke, so ergötzt mich meine eigene Grausamkeit. Ich sagte: »En rute, Papa«, packte ihn in den Wagen und reiste mit ihm nach Italien. Während der ganzen Reise von Paris nach Rom verliebte er sich bald in diese, bald in jene schöne Reisende. Der alte Mann war wirklich merkwürdig. In Rom, dieser Brutstätte der Feinde der Menschheit, fand ich ein Mittel, den Urheber meiner Tage moralisch mürbe zu machen. Die ewige Stadt enthält dreihundertundfünfundsechzig Kirchen und ungefähr drei Millionen und fünfundsechzig Bilder. Ich zwang ihn, trotz seiner fünfundsiebzig Jahre, alle diese Bilder und Kirchen zu sehen. Gerade wie ich es vorausgesehen hatte, blieb die beruhigende Wirkung nicht aus. Nachdem ich den guten Papa durch Kirchen und Bilder ganz mürbe gemacht hatte, führte ich ihn als ersten Versuch vor ein Weib von Marmor. Er schlief vor der capitolinischen Venus ein und ich sagte mir, als ich das sah: Jetzt wird es mit ihm gehen, Don Juan ist endlich überwunden!

Lucilla’s Briefe an mich, die anfänglich sehr heiter gewesen waren, lauteten allmählig immer niedergeschlagener. Sie war jetzt schon sechs Wochen von Dimchurchs fort und noch immer gaben Oscars Briefe keine Hoffnung, ihn bald in London zu sehen. Sein Zustand besserte sich zwar, aber nicht so rasch, wie es sein ärztlicher Rathgeber vorausgesagt hatte. Oscar erklärte daher, darauf gefaßt sein zu müssen, daß die Zeit für Lucilla’s Rückkehr ins Pfarrhaus kommen werde, ohne daß er die Erlaubniß erhalten hätte, Browndown zu verlassen. In dieser Aussicht konnte er sie nur dringend bitten, Geduld zu haben und nicht zu vergessen, daß er in seiner Besserung, wenn auch langsam, doch beständig fortschreite. Unter diesen Umständen war Lucilla natürlich sehr verstimmt und niedergeschlagen. Sie habe, schrieb sie mir, seit ihren Kinderjahren noch nie eine so traurige Zeit bei ihrer Tante verlebt wie dieses Mal. Als ich diesen Brief las, war es mir sofort klar, daß da etwas nicht in Ordnung sei; ich stand mit Oscar in fast ebenso lebhafter Correspondenz wie mit Lucilla. Der letzte Brief, den ich von ihm erhalten hatte, widersprach seinem letzten Briefe an Lucilla schnurstracks. In seinem Briefe an mich erklärte er, er gehe seiner Wiederherstellung mit raschen Schritten entgegen; bei seiner jetzigen Kur stellten sich die epileptischen Zufälle in immer längeren Zwischenräumen ein und waren von immer kürzerer Dauer. Es war also klar, daß er Lucilla einen traurigen, mir aber einen sehr ermuthigenden Bericht über seinen Zustand hatte zugehen lassen. Ich sollte es aus Oscar’s nächstem Briefes ersehen, was das zu bedeuten habe. »Ich sagte Ihnen«, schrieb er, »in meinem letzten Briefe, daß die Verfärbung meiner Haut begonnen habe. Der Teint, den Sie einst zu bewundern die Güte hatten, sieht jetzt fahl aschgrau und so todtenähnlich aus, daß ich mich bisweilen, wenn ich mich im Spiegel sehe, vor mir selbst entsetzte. Nach Verlauf von weiteren sechs Wochen wird sich diese Farbe, der Berechnung des Doctors zufolge, in Blauschwarz verwandelt haben, und dann wird die Sättigung, wie er es nennt, vollzogen sein. Weit entfernt, irgend ein unnützes Bedauern darüber zu empfinden, daß ich die Arznei, welche so häßliche Wirkungen hervorbringt, genommen habe, bin ich meinem Höllenstein dankbarer, als es Worte auszudrücken vermögen. Wenn Sie mich nach dem geheimen Grunde dieses meines außerordentlich philosophischen Gleichmuths fragen, so kamt ich Ihnen Denselben in wenigen Worten angeben. Seit zehn Tagen habe ich keine epileptischen Zufälle gehabt, mit anderen Worten, seit zehn Tagen lebe ich im Paradiese. Ich würde mit Freuden einen Arm oder ein Bein hergegeben haben, um des beglückenden Seelenfriedens, der berauschenden Zuversicht auf die Zukunft, deren ich mich jetzt erfreue, theilhaftig zu werden. Und doch hat die Sache eine Schattenseite, die mich auch jetzt noch keine völlige Gemüthsruhe behalten läßt. Wo hat es je in dieser Welt eine Freude gegeben, die nicht den lauernden Keim eines Schmerzes in sich getragen hätte? Ich habe kürzlich eine mir bis dahin unbekannte Eigenthümlichkeit an Lucilla entdeckt, welche mich sehr peinlich berührt hat. Das offene Bekenntniß, welches ich ihr über die Veränderung meines Aeußeren zu machen entschlossen war, ist jetzt eine unendlich viel schwierigere Sache für mich geworden, als ich bei unserer Besprechung dieser Angelegenheit in Browndown vorausgesehen hatte. Haben Sie gewußt, daß Lucilla keine stärkere Antipathie hat, als die rein imaginäre gegen Leute von dunkler Hautfarbe und gegen dunkle Farbe überhaupt? Dieses sonderbare Vorurtheil ist, wie ich mir denke, ein krankhaftes Erzeugniß ihrer Blindheit und ihr selbst ebenso unerklärlich wie Anderen, Aber gleichviel, die Antipathie ist da. Lesen Sie den folgenden Auszug aus einem ihrer Briefe an ihren Vater, welchen dieser mir gezeigt hat und Sie werden nicht überrascht sein, daß ich bei dem Gedanken an die Zeit, wo ich ihr werde sagen müssen, was ich gethan habe, zittere. Sie schreibt an Herrn Finch: »Ich muß Dir leider von einem kleinen Wortwechsel mit meiner Tante erzählen. Die Sache ist jetzt wieder ausgeglichen; wir sind aber doch nicht ganz so gute Freunde mehr wie vorher. Vorige Woche hatten wir Mittagsesellschaft hier und unter den Gästen befand sich ein zum Christenthum übergetretener Indier, den meine Tante sehr gern hat. Bei meiner Toilette hatte ich den unglücklichen Gedanken, das Kammermädchen zu fragen, ob sie den Indier gesehen habe und als sie meine Frage bejahte, den noch unglücklicheren, sie zu fragen, wie er aussähe. Sie schilderte ihn mir als sehr schlank und hager, mit dunkler brauner Hautfarbe und glänzenden schwarzen Augen. Meine verwünschte Einbildungskraft machte sich sofort daran, mir dieses schreckliche Zusammenwirken dunkler Farben auszumalen. Ich mochte dagegen ankämpfen wie ich wollte, ich sah vor meinem inneren Auge ein schreckliches Bild des Indiers, wie eine Art von Ungeheuer in menschlicher Gestalt. Ich hätte eine Welt darum gegeben, wenn ich nicht nöthig gehabt hätte, in den Salon hinunterzugehen; aber meine Tante ließ mich rufen und stellte mir den Indier vor. Kaum fühlte ich, daß er sich mir näherte, als sich auch schon das Dunkel um mich her mit braunen Dämonen bevölkerte. Er ergriff meine Hand; ich gab mir die größte Mühe, mich zu beherrschen, aber ich konnte bei dem besten Willen nicht umhin, zu schaudern und zurückzufahren, als er mich berührte. Die Sache wurde noch schlimmer dadurch, daß er bei Tische neben mir saß. Nach Verlauf von fünf Minuten wimmelte es von langen, hagern schwarzäugigen Geschöpfen, deren Zahl sich mit jedem Augenblicke vermehrte und die mich immer dichter umdrängten. Die Sache endete damit, daß ich genöthigt war, vom Tische aufzustehen und das Zimmer zu verlassen. Als die Gäste alle fort waren, überhäufte mich meine Tante mit Vorwürfen. Ich gab zu, daß mein Benehmen höchst unverständig gewesen sei. Zugleich aber bat ich sie, nachsichtig gegen mich zu sein. Ich erinnerte sie daran, daß ich seit meinem ersten Lebensjahre blind sei und daß ich keine andere Vorstellung davon habe, wie eine Person aussehe, außer die ich mir durch Bilder meiner Phantasie, durch Beschreibung und durch Betastung verschaffen könne. Ich bat sie, doch zu bedenken, daß ich natürlich fortwährend der Gefahr ausgesetzt sei, mir von meiner Phantasie einen Streich spielen lassen zu müssen und daß ich keine Augen habe, mit denen ich sehen könne und die mich, wie sie es bei, anderen Menschen thun, aufklären könnten, wenn ich mir eine falsche Ansicht über Personen und Dinge gebildet habe. Es war Alles vergebens; meine Tante wollte keine Entschuldigung für mich gelten lassen. Durch, ihre Ungerechtigkeit reizte sie mich so, daß ich ihr eine Antipathie vorhielt, an der sie selbst leide und die gerade so lächerlich ist wie die meinige, nämlich die gegen Katzen. Sie, die sehen kann, daß Katzen harmlos sind, schaudert trotzdem und wird bleich, sobald sie sich mit einer Katze in demselben Zimmer befindet. Wenn ich nun meinen unsinnigen Abscheu gegen dunkle Menschen und ihre gegen Katzen zusammenhalte, so möchte ich doch fragen, wer von uns Beiden ein Recht hat, dem Anderen etwas vorzuwerfen?«

So lautete der Auszug aus Lucilla’s Brief an ihren Vater. Dann nahm Oscar wieder auf:

»Ich möchte wissen, ob Sie es jetzt begreiflich finden werden, daß ich meinen Zustand in meinen Briefen an Lucilla so schlimm wie möglich geschildert habe. Das ist die einzige Entschuldigung, die ich dafür vorbringen kann, daß ich nicht zu ihr nach London reise. Trotz meiner Sehnsucht, sie wiederzusehen, kann ich es doch nicht über mich gewinnen, mich der Gefahr auszusetzen, mit ihr in Gegenwart von Fremden zusammenzukommen, welche meine schreckliche Hautfarbe sofort bemerken und ihr verrathen würden. Stellen Sie sich vor, wie sie schaudern und vor meiner Hand zurückfahren würde, wenn ich sie berührte! Nein, nein, ich muß an diesem ruhigen Orte eine Gelegenheit abpassen, wo ich, nachdem ich Zeit genug gehabt, sie für die Enthüllung, wenn sie nothwendig werden sollte, vorzubereiten, ihr mittheilen werde, was sie fürchte ich, erfahren muß und wo kein anderer Zeuge des ersten schmerzlichen Eindrucks, welchen ich auf sie hervorbringen werde, zugegen sein wird als Sie.

Ich habe diesem schon zu langen Schreiben nur noch hinzuzufügen, daß ich Ihnen dieses Alles im strengsten Vertrauen schreibe. Sie haben mir versprochen, meiner Entstellung gegen Lucilla keine Erwähnung zu thun, ehe ich Sie dazu autorisiere. Ich binde Ihnen jetzt dieses Versprechen dringender als je auf die Seele. Die wenigen Menschen hier haben sich alle wie Sie zur Geheimhaltung verpflichtet. Wenn es wirklich unvermeidlich sein sollte sie mit der Wahrheit bekannt zu machen, so darf ich allein auf meine Weise und zu der mir gut scheinenden Zeit sie ihr mitteilen.«

»Wenn sie nothwendig sein sollte« — »wenn es wirklich unvermeidlich sein sollte diese Sätze in Oscar’s Brief überzeugten mich, daß er schon anfing, sich mit der unsinnig trügerischen Vorstellung zu trösten, daß es auf die Dauer möglich sein werde, die widerwärtige Veränderung seines Aeußeren vor Lucilla geheim zu halten. Wenn ich in Dimchurch gewesen wäre, würde mich die Wendung, welche die Dinge jetzt zu nehmen schienen, mit ernsten Besorgnissen erfüllt haben. Aber räumliche Entfernung wirkt sehr eigenthümlich auf die Weise, in welcher wir die Dinge anzusehen pflegen. In Italien betrachtete ich Lucilla’s Antipathien und Oscar’s Skrupel als einer ernsten Erwägung gleich unwerth. Früher oder später, sagte ich mir, würde die Zeit dieses junge Paar schon wieder zur Vernunft bringen, es würde sich heirathen und damit würde die Sache ein Ende haben. Inzwischen fuhr ich fort den guten Papa mit heiligen Familien und Kirchen zu tractiren. O, der arme alte Mann, wie er beim Anblick von Caracci’s und Kirchenkuppeln gähnte! Und wie heilig er mir versprach, sich nie mehr zu verlieben, wenn ich ihn nur wieder nach Paris bringen wolle!

Ein paar Tage nach dem Empfang von Oscars Brief reisten wir nach Hause. Ich ließ meinen jetzt umgewandelten halten Vater seine müden alten Glieder in seinem alten Lehnstuhl ausruhen; ich nahm Abschied in der festen Ueberzeugung, daß er vielleicht noch einer platonischen Liebe zu einer Dame seines Alters, aber sonst keiner Extravaganz mehr fähig sei.

»O, liebes Kind, laß mich ausruhen«, rief er, als ich ihm Lebewohl sagte, »und zeige mir in meinem ganzen Leben kein Bild und keine Kirche wieder!«



Zweites Kapitel - Madame Pratolungo kehrt nach Dimchurch zurück.

Ich kam in der letzten Woche vor Lucilla’s Abreise in London an und blieb dort ruhig, bis es Zeit war, sie wieder nach Dimchurch zurück zu geleiten.

Je mehr Lucilla’s Aufenthalt in London sich seinem Ende näherte und je weniger sie daher auf ein Hinkommen Oscar’s drang, desto heiterer wurden Oscar’s Briefe, der nun nicht mehr ein Zusammensein mit Lucilla vor Fremden zu befürchten brauchte und auch Lucilla war in der besten Stimmung und entzückt, mich wieder bei sich zu haben. Wir amüsirten uns während der wenigen Tage in London nach Kräften und genossen Musik in Opern und Concerten in Fülle. Ich kam mit Lucilla‘s Tante vortrefflich aus, bis ich am letzten Tage durch etwas zu einem Bekenntniß meiner politischen Ueberzeugung veranlaßt wurde. Der Schreck, der die alte Dame befiel, als sie dahinter kam, daß ich eine Ausrottung der Könige und Priester und eine allgemeine Wiedervertheilung des Eigenthums in der ganzen civilisirten Welt herbeisehne, läßt sich gar nicht in Worte fassen. Da hatte ich einmal wieder einer elenden Aristokratin Furcht und Zittern eingeflößt. Natürlich war von nun an für mich Fräulein Batchford’s Haus für alle Zukunft verschlossen. Aber Tag wird kommen, wo die Batchford’s der Menschheit keine Thür mehr zu verschließen haben; ganz Europa treibt der Erfüllung des Pratolungo’schen Programms immer näher. Seid guten Muth’s, Ihr, meine Brüder ohne Landbesitz und Ihr, meine Schwestern ohne Geld! Wir werden den Streit noch mit den infamen Reichen auskämpfen! Hoch lebe die Republik!

Anfang April verließen Lucilla und ich die Hauptstadt und kehrten nach Dimchurch zurück.

Je näher wir dem Pfarrhause kamen, je aufgeregter und unruhiger Lucilla in der ungeduldigen Erwartung ihrer Wiedervereinigung mit Oscar wurde, desto mehr bemächtigten sich meines Gemüthes die Besorgnisse, deren ich mich in Italien so leicht entschlagen hatte. Jetzt war meine Einbildungskraft unablässig thätig, sich Bilder auszumalen, entsetzliche Bilder von Oscar als einem veränderten Wesen, als einem Medusenhaupt, das zu furchtbar wäre, als daß menschliche Augen es ertragen konnten. Wo kam er uns entgegen? Am Eingang des Dorfes? Nein. An der Pforte des Pfarrhauses? Nein. In dem stilleren Theil des Gartens, welcher hinter dem Hause lag, stand er allein, unserer wartend.

Lucilla flog mit einem Aufschrei des Entzückens in seine Arme. Ich stand hinter ihnen und sah sie an. O, wie lebhaft erinnere ich mich meines Eindrucks, als ich zuerst die beiden Gesichter neben einander sah! Die Arznei hatte ihre Wirkung gethan Ich sah, wie sie ahnungslos ihre schöne Wange an seine fahle blauschwarze Wange lehnte. Himmel, wie schrecklich drängte sich mir bei dieser ersten Umarmung der Contrast seiner äußeren Erscheinung, wie ich sie zuletzt gesehen hatte, mit seinem jetzigen Aussehen auf. Seine Augen wandten sich mit einem bittenden Ausdruck von ihr zu mir, während er sie in den Armen hielt; sein Blick sagte mir so beredt, was in ihm vorging, als wenn er laut gesagt hätte: »Sie lieben sie ja auch! Ich frage Sieg wäre es nicht grausam, ihr die Wahrheit zu sagen?«

Ich ging auf ihn zu, um ihm die Hand zu reichen. In demselben Augenblick trat Lucilla plötzlich einige Schritte zurück, legte ihre linke Hand auf seine Schulter und fuhr ihm mit der rechten Hand über’s Gesicht. Mir war, als hörte mein Herz auf zu klopfen. Mit ihrem wunderbar feinen Tastsinn hatte sie am Tage meiner Ankunft die dunkle Farbe meines Kleides herausgefunden, sollte ihr dieser feine Tastsinn jetzt ebenso sicher wie damals dazu verhelfen, die Wahrheit an’s Licht zu bringen?

Nachdem sie einmal ihre Finger über sein Gesicht hatte gleiten lassen, hielt sie in einer athemlosen Spannung, deren ich mich von damals her noch so gut erinnerte, einen Augenblick inne; dann fuhr sie ihm ein zweites Mal mit der Hand über das Gesicht, dachte Wieder einen Augenblick nach und wandte sich dann zu mir.

»Was lesen Sie in diesem Gesicht?« fragte sie.

»Ich lese darin, daß ihn etwas druckt. Was ist es?«

Für dieses Mal waren wir gerettet. Die abscheuliche Medizin hatte die Farbe seiner Haut verändert, die Textur derselben aber völlig unberührt gelassen. Ihren Fingerspitzen erschien Oscar’s Gesicht ganz ebenso, wie vor ihrer Abreise. Noch ehe ich Lucilla antworten konnte, sagte Oscar selbst: »Mir ist nichts Schlimmes widerfahren, lieber Engel, meine Nerven sind heute ein wenig aufgeregt und die Freude, Dich wiederzusehen, hat mich einen Augenblick überwältigt, das ist Alles.«

Ungeduldig schüttelte sie den Kopf.

»Nein«, sagte sie, »das ist nicht Alles.« Sie legte ihm die Hand aufs Herz. »Warum schlägt es so heftig?« Sie nahm seine Hand in die ihrige: »Warum ist sie so kalt? Ich muß es wissen, komm hinein!«

In diesem fatalen Augenblick erwies sich der sonst lästigste aller Menschen plötzlich als der willkommenste; der Pfarrer erschien im Garten, um feine von der Reise zurückgekehrte Tochter zu begrüßen und brachte Lucilla durch seine väterlichen Umarmungen und seine mit gewaltiger Stimme hervorgebrachte Anrede auf das Wirksamste zum Schweigen. Natürlich wandte sich die Unterhaltung einem anderen Gegenstande zu. Oscar zog mich bei Seite, so daß man uns nicht hören konnte, während Lucilla’s Aufmerksamkeit anderweitig in Anspruch genommen war.

»Ich habe es wohl gesehen«, sagte er, »wir sehr Sie mein Anblick einsetzte. Sie fühlten sich erleichtert, als Sie fanden, daß Lucilla mit ihrem Tastsinn nichts entdecken könne. Helfen Sie mir die Sache noch zwei Monate lang vor ihr geheim halten und ich will Sie für die beste Freundin erklären, die je ein Mann gehabt hat.«

»Zwei Monate?« wiederholte ich.

»Ja. Wenn sich die Zufälle in zwei Monaten nicht wieder eingestellt haben, so darf ich mich nach der Versicherung des Arztes für völlig geheilt halten und dann können Lucilla und ich uns heirathen.«

»Lieber Freund, wollen Sie Lucilla betrügen?«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Kommen Sie, Sie wissen recht gut, was ich meine. Ist es ehrenhaft, sie erst zur Heirath mit Ihnen zu verlocken und ihr erst nachher etwas von Ihrer Hautfarbe zu sagen?«

Er seufzte tief.

»Ich würde sie mit Abscheu gegen mich erfüllen, wenn ich ihr die Sache gestände. Sehen Sie mich nur an«, rief er aus, indem er seine gespensterhaft blauen Hände verzweiflungsvoll vor sein blaues Gesicht hielt.

Ich war entschlossen, mich auch dadurch nicht bewegen zu lassen.

»Seien Sie ein Mann«, sagte ich, »und bekennen Sie die Sache offen. Heirathen sie Sie denn nur Ihres Gesichtes willen, das sie nie wird sehen können? Nein, um Ihres Herzens willen, das eins mit dem ihrigen ist. Vertrauen Sie ihrem natürlichen gesunden Menschenverstand und noch mehr der treuen Liebe, die sie zu Ihnen hegt; sie wird ihr albernes Vorurtheil als solches erkennen, sobald sie inne wird, daß Sie Gefahr läuft, Sie durch dasselbe zu verlieren.«

»Nein, nein, nein! Denken Sie an den Brief an ihren Vater. Ich würde sie für immer verlieren, wenn ich ihr jetzt etwas von der Sache sagte.«

Ich ergriff seinen Arm und versuchte es, ihn zu Lucilla zu bringen. Sie war eben im Begriff, sich von ihrem Vater loszumachen; sie sehnte sich schon wieder darnach, Oscar’s Stimme zu hören.

Er aber hielt sich hartnäckig zurück. Ich fing an ihm zu zürnen. Im nächsten Augenblick würde ich etwas gesagt oder gethan haben, was mich nachher gereut haben würde, wenn nicht noch, bevor ich die Lippen öffnen konnte, eine neue Unterbrechung gekommen wäre. Der Diener aus Browndown trat in den Garten mit einem Brief für seinen Herrn in der Hand.

»Dieser Brief ist eben mit der Nachmittagspost angekommen, Herr Dubourg«, sagte er. »Es steht, Sofort zu besorgen, darauf, und ich dachte, es wäre besser, wenn ich ihn Ihnen gleich herbrächte.«

Oscar nahm ihm den Brief aus der Hand und sah die Adresse an: »Meines Bruders Handschrift!« rief er aus, »ein Brief von Nugent!« Er öffnete den Brief und that einen Freudenschrei, der Lucilla sofort an seine Seite brachte.

»Was giebt es?« fragte sie eifrig.

»Nugent kommt wieder; Nugent wird in einer Woche bei uns sein. O, Lucilla, mein Bruder kommt, mich in Browndown zu besuchen.«

Er umschlang sie mit seinen Armen und küßte sie in dem ersten Entzücken über den Empfang dieser frohen Nachricht. Sie entriß sich seiner Umarmung, ohne ihm ein Wort zu antworten. Sie ließ ihre armen blinden Augen nach mir suchend umherschweifen.

»Hier bin ich«, sagte ich.

Ungestüm und zornig legte sie ihren Arm in den meinigen. Ich sah, während sie mich nach dem Hause hineinzog, jammervolle Eifersucht in ihren Zügen. Noch nie, so lange sie Oscar kannte, hatte seine Stimme den Ton der Glückseligkeit angeschlagen, den sie eben vernommen hatte. Noch nie hatte sie Oscar’s Herz so auf seinen Lippen gefühlt, wie eben, als er sie in seiner ersten Freude über Nugent’s bevorstehende Rückkehr küßte.

»Kann er mich hören?« flüsterte sie mir zu, als, wir den Rasen verlassen hatten und sie den Kies unter ihren Füßen fühlte.

»Nein. Warum fragen Sie das?«

»Ich hasse seinen Bruder!«



Drittes Kapitel - Der Brief des Zwillingsbruders

Ohne eine Ahnung davon zu haben, welch’ einen Sturm er erregt habe, folgte uns der arme Oscar unter der väterlichen Escorte des Pfarrers in das Haus, mit seinem offenen Brief in der Hand.

Gewisse Anzeichen in dem Benehmen meines ehrwürdigen Freundes ließen mich schließen, daß die Ankündigung des Besuches Nugent Dubourgs in Dimchurch, in welcher wir Uebrigen nur die Aussicht auf die Ankunft eines Zwillingsbruders erblickten, von Herrn Finch aus dem Gesichtspunkt der bevorstehenden Ankunft eines Zwillingsvermögens betrachtet wurde. Oscar und Nugent hatten sich in die schöne väterliche Erbschaft getheilt Finch witterte Geld.

»Beruhigen Sie sich«, flüsterte ich Lucilla zu als die beiden Herren uns in das Wohnzimmer folgten; »Ihre Eifersucht auf seinen Bruder ist kindisch. Es ist Raum genug in seinem Herzen für seinen Bruder und für Sie.

Aber sie wiederholte nur hartnäckig, indem sie mich in den Arm kniff: »Ich hasse seinen Bruder!«

»Komm, setze Dich zu mir«, sagte Oscar, indem er an ihre andere Seite trat. »Ich möchte Dir Nugent’s Brief vorlesen, er scheint sehr interessant zu sein; er enthält auch eine Botschaft an Dich.« Oscar, der durch das Interesse an diesen Brief zu sehr absorbirt war, um zu merken, mit welcher verdrossenen Fügsamkeit Lucilla ihm zuhörte, führte sie an einen Stuhl und fing an zu lesen. »Die ersten Zeilen«, erklärte er, »beziehen sich auf Nugent’s Rückkehr nach England und auf seine köstliche Idee, mich auf längere Zeit in Browndown zu besuchen. Dann fährt er fort: Ich fand alle Deine Briefe bei meiner Rückkehr nach Newport. Brauche ich Dir zu sagen, liebster Bruder —«.

Lucilla unterbrach ihn bei diesen Worten, indem sie plötzlich aufstand.

»Was ist Dir?« fragte er.

»Ich mag nicht auf dem Stuhl sitzen.«

Oscar rückte ihr einen Lehnstuhl heran und nahm seinen Brief wieder auf.

Brauche ich Dir zu sagen, liebster Bruder, welchen innigen Antheil ich an Deiner beabsichtigten Heirath nehme; Dein Glück ist mein Glück. Ich fühle mit Dir, ich wünsche Dir Glück; ich sehne mich darnach, meine künftige Schwägerin kennen zu lernen!«

Lucilla stand wieder auf. Oscar fragte sie erstaunt was sie jetzt habe.

»Ich fühle mich nicht behaglich an dieser Seite des Zimmers.«

Sie ging nach der andern Seite des Zimmers. Oscar folgte ihr geduldig mit seinem Brief in der Hand. Er rückte einen dritten Stuhl für sie heran. Sie lehnte denselben ungestüm ab und nahm sich selbst einen andern Stuhl. Oscar nahm seinen Brief wieder auf.

»Wie melancholisch und doch wie interessant daß sie blind ist. Meine amerikanischen Landschaftsskizzen lagen gerade im Zimmer umher, als ich Deinen Brief las. Mein erster Gedanke, als ich Deine traurige Mittheilung las, bezog sich auf meine Skizzen. Ich sagte mir: »Wie unendlich traurig, meine Schwägerin wird meine Arbeiten nie sehen können!« Ein wahrer Künstler denkt immer an seine Arbeiten, lieber Oscar. Laß Dir erzählen, daß ich einige sehr merkwürdige, Studien zu künftigen Bildern mitbringen werde. Sie werden vielleicht nicht so zahlreich sein, wie Du erwartest. Ich verlasse mich lieber aus das in mir wohnende Ideal der Schönheit, als auf reine Abschriften der Natur. In gewissen Stimmungen ist mir die Natur, vom künstlerischen Standpunkte aus gesprochen, gerader im Wege.« Bei diesen Worten hielt Oscar inne und wandte sich an mich. »Wie er schreibt! — Wie? Ich habe es Ihnen ja immer gesagt, Madame Pratolungo, daß Nugent ein Genie sei. Jetzt sehen Sie, daß ich Recht habe. Steh’ nicht auf, Lucilla. Ich will weiter lesen. Da kommt gleich eine so hübsch geschriebene Stelle an Dich.«

Aber Lucilla ließ sich nicht abhalten aufzustehen; sie schien keine Lust zu verspüren, die hübsch geschriebene Bestellung zu hören. Sie ging ans Fenster und pflückte ungeduldig an den Blumen, die vor demselben standen. Oscar sah mit mildem Erstaunen erst mich, dann den Pfarrer an. Der Ehrwürdige Finch, der mit der respectvollsten Aufmerksamkeit zuhörte; welche der Correspondenz eines wohlhabenden Mannes mit einem anderen wohlhabenden Manne gebührt, legte sich ins Mittel, um Oscar ein williges Gehör von Lucilla zu verschaffen.

»Meine liebe Lucilla, suche Deine Ruhelosigkeit zu bemeistern, Du störst unseren Genuß an diesem interessanten Briefe; ich wünsche, daß Du weniger oft Deinen Platz wechseln und dem, was Oscar Vorliest, eine ungetheiltere Aufmerksamkeit zuwenden möchtest.«

»Mich interessirt es nicht, was er vorliest!« Lucilla warf bei dieser unwillkürlich ihr entschlüpften ungraziösen Aeußerung, die sie selbst erschreckte und aufregte, einen der Blumentöpfe am Fenster um. Oscar stellte ihn freundlich wieder auf, indem er verwundert fragte: »Es interessirt Dich nicht? Warte nur noch ein wenig. Du hast Nugent’s Bestellung noch nicht gehört. Höre nur was jetzt kommt: »Sage der zukünftigen Frau Oscar Dubourg mit meinen besten Grüßen (der liebe Junge!), daß sie mir einen neuen Sporn gegeben habe, meine Rückkehr nach England zu beschleunigen.« Nun sage selbst, Lucilla, ist das nicht hübsch ausgedrückt? Bekenne, daß es der Mühe werth ist zu hören, was er über Dich schreibt.«

Sie wandte sich zum ersten Male nach Oscar um; der liebevolle Ton, in dem er diese Worte sprach, besiegte ihren Mißmuth.

»Ich bin Deinem Bruder sehr verbunden und schäme mich dessen, was ich soeben gesagt habe«, antwortete sie sanft, indem sie verstohlen ihre Hand in die seinige legte und ihm zuflüsterte: »Du liebst Nugent so sehr, daß ich fast fürchte, es bleibt kein Raum für mich in Deinem Herzen.«

Oscar war entzückt. »Warte bis Du ihn kennen lernst und Du wirst ihn ebenso lieben wie ich; er nimmt die Leute sofort bei der ersten Bekanntschaft für sich ein; Niemand kann ihm widerstehen.«

Sie hielt noch immer seine Hand in der ihrigen, während sich Trauer und Befangenheit in ihren Zügen malte. Die bewunderungswürdige Neidlosigkeit Oscar’s, sein unbegrenztes Vertrauen in ihre Liebe waren stumme und doch beredte Vorwürfe für sie.

»Fahren Sie fort, lieber Oscar«, sagte der Pfarrer im tiefsten Baß, vermuthlich um Oscar zum Weiterlesen zu ermuthigen. »Was kommt jetzt, mein Junge?«

»Wieder eine interessante Stelle ganz anderer Art«, erwiderte Oscar. »Auf der nächsten Seite des Briefes findet sich etwas Mysteriöses, das sehr geeignet ist, uns in Spannung zu versetzen; Nugent schreibt: »Ich habe hier in Newport die Bekanntschaft eines merkwürdigen Mannes gemacht, eines Deutschen, der sich in den Vereinigten Staaten ein großes Vermögen erworben hat. Er wird England in diesem Frühjahr einen Besuch abstatten und wird mich sofort von seiner Ankunft in Kenntniß setzen. Es wird mir eine besondere Freude sein, ihn mit Dir und Deiner zukünftigen Frau bekannt zu machen und wer weiß, vielleicht werdet Ihr Grund haben, dem glücklichen Zufall, der mir seine Bekanntschaft zugeführt hat, dankbar zu sein. So Viel für heute von meinem neuen Freunde. Näheres berichte ich mündlich.« —

»Dem glücklichen Zufall — der mir seine Bekanntschaft zugeführt hat, dankbar zu sein?« wiederholte Oscar, indem er den Brief zusammenfaltete. »Nugent schreibt so etwas nicht, ohne eine bestimmte Absicht dabei zu haben. Wer mag der deutsche Herr sein?«

Herr Finch sah plötzlich mit dem Ausdruck einer gewissen Bestürzung zu Oscar auf.

»Ihr Bruder erwähnt, daß der Herr sich ein Vermögen in Amerika erworben habe«, sagte der Ehrwürdige Finch, »ich hoffe, er ist kein Börsenmann. Er möchte sonst Vielleicht Ihren Bruder mit dem Geiste der ruhelosen Speculation, die so zu sagen das Nationallaster der Vereinigten Staaten ist, anstecken und Ihr Bruder, der ohne Zweifel eine ebenso edle Natur ist wie Sie —«.

»Viel edler, Herr Finch«, unterbrach ihn Oscar.

»Und auch wie Sie im Besitze bedeutender Mittel ist«, fuhr der Pfarrer in steigendem Enthusiasmus fort.

»War«, erläuterte Oscar. »Jetzt drückt ihn sein Vermögen durchaus nicht mehr.«

»Was!« rief Herr Finch, indem er entsetzt zurückfuhr.

»Nugent hat sein Geld rasch durchgebracht«, fuhr Oscar ruhig fort. »Ich habe ihm das Geld zu der Reise nach Amerika geliehen. Mein Bruder ist eine geniale Natur, Herr Finch, und solche Naturen lassen sich nicht in die alltäglichen Schranken des Hergebrachten eindämmen. Nugent genügt nicht eine bescheidene Art zu leben; er liebt fürstliche Pracht — und Geld ist ihm nichts! Gleichviel! Er wird sich schon ein neues Vermögen mit seinen Bildern erwerben, und bis dahin kann ich ihm mit meinen Mitteln aushelfen.«

Herr Finch erhob sich mit der Miene eines in seinen Erwartungen getäuschten in seinem rückhaltlosen Vertrauen schmählich betrogenen Mannes. Welche Aussichten! Es wollte sich also in der Nähe des Pfarrhauses, in seiner Nähe Jemand niederlassen, der wie er in steter Geldnoth war, der wie er von Oscar Geld borgen werde — und dieser Mann war Oscar’s Bruder!

»Ich kann mich Ihrer leichten Auffassung der Verschwendung Ihres Bruders nicht anschließen«, sagte der Pfarrer, indem er sich im Fortgehen in einem feierlich strengen Ton an Oscar wandte. »Ich beklage und tadle den üblen Gebrauch, welchen Herr Nugent von den ihm von einer allweisen Vorsehung anvertrauten Glücksgütern gemacht hat. Sie werden gut thun, sich die Sache zu überlegen, bevor Sie den verschwenderischen Hang Ihres Bruders durch Darlehen befördern. Was sagt der große Dichter der Menschheit vom Borgen? Der Barde von Avon sagt uns: »Der Borger verliert oft das Geborgte und den Freund dazu.« Lassen Sie sich diese schönen Worte gesagt sein, Qscar. Lucilla hüte Dich vor der Ruhelosigkeit, die ich schon zu tadeln Gelegenheit gehabt habe. Ich muß Sie verlassen, Madame Pratolungo. Ich bin meiner geistlichen Pflicht nicht eingedenk gewesen; meine geistlichen Pflichten harren meiner. Adieu, adieu!«

Er sah uns der Reihe nach mit einem sehr sauern Gesicht an und ging zum Zimmer hinaus. Dieser Bruder Oscar’s, dachte ich bei mir, führt sich gut ein. Erst fühlt sich die Tochter von ihm beleidigt und jetzt folgt der Vater ihrem Beispiel. Schon von der anderen Seite des atlantischen Oceans her übt Herr Nugent Dubourg einen verderblichen Einfluß und stört die Ruhe der Familie, noch ehe er einen Fuß in das Haus gesetzt hat!«

Sonst ereignete sich an diesem Tage nichts Erwähnenswerthes. Wir verbrachten einen sehr langweiligen Abend; Lucilla war verstimmt; ich hatte mich noch nicht an den abschreckenden Anblick von Oscar’s entstelltem Gesicht gewöhnen können und war daher ernst und still. Wer mich an diesem Abend zum ersten Male gesehen hätte, wurde mich nicht für eine Französin gehalten haben.

Am nächsten Tage trug sich ein kleines häusliches Ereigniß zu, welches ich hier verzeichnen muß.

Unser Dimchurcher Doktor, der immer mit seiner Stellung als Arzt in einem obscuren Dorf sehr unzufrieden gewesen war, hatte eine sehr vortheilhafte Stellung in Indien erhalten. Vor seiner Abreise machte er uns einen Abschiedsbesuch. Ich fand eine Gelegenheit, mit ihm über Oscar zu sprechen. Er stimmte mir durchaus darin bei, daß Oscars Versuch, die durch den Höllenstein bewirkte Veränderung seiner Hautfarbe vor Lucilla zu verheimlichen, verkehrt sei. Die Sache würde ihr, sagte er, nicht lange verborgen bleiben. Mit dieser gegen mich allein ausgesprochenen Voraussagung verließ er uns. Der Arzt war, wie ich meine Leser zu erinnern bitte, ein wichtiger Zeuge der ärztlichen Behandlung Oscar’s und sein Abtreten vom Schauplatz daher vielleicht ein für die Zukunft bedeutungsvolles Ereigniß, das ich hier nicht unerwähnt lassen will.

Zwei weitere Tage verflossen, ohne daß sich etwas ereignet hätte. Am Morgen des dritten Tages war die Prophezeihung des Doetors nahe daran, in Erfüllung zu gehen und zwar durch die wandernde Zigeunerin der Familie; unsere komische kleine Jicks. Während Lucilla und ich durch den Garten schlenderten, kam das Kind plötzlich hinter einem Baum hervor auf uns zugesprungen schlang ihre Arme um Oscar’s Beine und begrüßte ihn mit überlauter Stimme als »den blauen Mann«! Lucilla stand sofort still und sagte: »Wen nennst Du »den blauen Mann«?« Jicks antwortete ohne weiteres: »Oscar«. Lucilla nahm das Kind auf den Arm. »Warum nennst Du Oscar »den blauen Mann«,« fragte sie. Jicks deutete auf Oscar’s Gesicht, wandte sich aber dann plötzlich, als ihr Lucillas Blindheit einfiel, an mich, indem sie mir lustig zurief: »Sag’ Du es ihr!« Oscar ergriff meine Hand und warf mir einen flehenden Blick zu. Ich beschloß, mich nicht in die Sache zu mischen. Es war schon schlimm genug, wenn ich mich passiv verhielt, und sie im Dunkeln ließ. Aber ich war entschlossen, mich wenigstens nicht activ bei ihrer Täuschung zu betheiligen. Sie erröthete; sie stellte Jicks wieder auf den Boden und sagte: »Seid Ihr beide stumm? Oscar, ich will es wissen — wie kommst Du zu dem Spitznamen »der blaue Mann«?«

In seiner Rathlosigkeit nahm Oscar seine Zuflucht zu einer Lüge, und was schlimmer war, zu einer plumpen Lüge. Er erklärte, er habe diesen Spitznamen in der Zeit während Lucilla’s Abwesenheit in der Kinderstube erhalten, als er sich einmal, um die Kinder zu amüsiren, als Blaubart verkleidet und dazu das Gesicht blau angemalt habe! Hätte Lucilla die leiseste Ahnung von der Wahrheit gehabt, sie hätte sie jetzt trotz ihrer Blindheit entdecken müssen. Wie die Dinge standen, machte Oscar’s aus Mittheilung sie gereizt und verdrießlich. Ich konnte deutlich sehen, daß es ihr einen inneren Kampf kostete, etwas wie ein Gefühl von Verachtung gegen ihn zu unterdrücken. »Amüsire die Kinder das nächste Mal auf eine andere Art«, sagte sie. »Obgleich ich Dich nicht sehen kann, mag ich doch nichts davon hören, daß Du Dein Gesicht blau angemalt und dadurch entstellt hast.«

Mit diesen Worten verließ sie uns und ging eine Strecke allein; sie fand sich offenbar zum ersten Male, seit sie ihren Verlobten kannte, in ihm getäuscht.«

Er warf mir abermals einen flehenden Blick zu und flüsterte: »Haben sie gehört, was sie von meinem Gesicht sagte?«

»Sie haben sich eine vortreffliche Gelegenheit, ihr die Wahrheit zu sagen, entgehen lassen«, antwortete ich. »Ich glaube, Sie werden die Thorheit und Grausamkeit Ihrer Täuschung noch einmal bitter bereuen.«

Er schüttelte den Kopf, mit dem zähen Eigensinn eines schwachen Charakters.

»Nugent denkt nicht wie Sie«, sagte er, indem er mir den Brief reichte. »Lesen Sie doch einmal jetzt, wo Lucilla es nicht hören kann, diese Stelle.«

Ich stutzte einen Augenblick, ehe ich zu lesen begann. Die Aehnlichkeit der Zwillinge erstreckte sich selbst auf ihre Handschrift. Wenn ich den Brief zufällig irgendwo liegend gefunden hätte, würde ich ihn Oscar als einen von ihm geschriebenen Brief übergeben haben. Die fragliche Stelle lautete:

»Dein letzter Brief hat mich von meiner Sorge für Deine Gesundheit befreit. Ich stimme Dir völlig bei, daß jedes persönliche Opfer, welches Dich von Deinen furchtbaren Zufällen heilen kann, gerechtfertigt erscheint. Was Deine Absicht betrifft, die Veränderung in Deinem Aeußern vor der jungen Dame geheim zu halten, so kann ich nur sagen, daß Du am besten selbst wissen wirst, was Du bei dieser Gelegenheit zu thun hast. Ich muß mich darüber jeder eigenen Ansicht enthalten, bis wir uns wiedersehen«

Ich gab Oscar den Brief zurück.

»Das ist gerade keine sehe lebhafte Billigung Ihres Verfahrens«, sagte ich. »Der einzige Unterschied zwischen Ihrem Bruder und mir ist der, daß er sich sein Urtheil noch vorbehält und daß ich das meinige ausspreche.

»Ich fürchte mich nicht vor meinem Bruder« erwiderte er. »Nugent wird mit mir fühlen und mich verstehen, wenn er die Verhältnisse in Browndown näher kennt. Inzwischen soll mir das nicht wieder passiren.«

Er beugte sich zu Jicks herab. Das Kind hatte sich, während wir sprachen, bequem aufs Gras gelagert und sang sich Stellen aus einem Kinderliede vor. Oscar stellte sie etwas unsanft wieder aus ihre Füße. Er war böser auf sie, wie aus sich selbst.

»Was wollen Sie thun?« fragte ich.

»Ich will zu Herrn Finch gehen und ihn bitten, dafür zu sorgen, daß Jicks nicht wieder in Lucilla’s Garten kommt.«

»Ist denn Herr Finch mit Ihrem Schweigen einverstanden?«

»Herr Finch überläßt es mir völlig, Madame Pratolungo, meine Entscheidung in einer Angelegenheit zu treffen, die Niemand angeht als Lucilla und mich.«

Mit dieser Antwort war mir natürlich die Möglichkeit jeder ferneren Vorstellung abgeschnitten. Oscar ging mit seiner kleinen Gefangenen ins Haus. Jicks trabte neben ihm her, ohne eine Ahnung von dem Unheil, das sie angestiftet und sang wieder einen Vers aus dem Kinderlied. Ich ging zu Lucilla, nachdem ich mit mir selbst über das künftig zu beobachtende Verfahren ins Reine gekommen war. Ich war entschlossen, falls es Oscar gelingen sollte, die Wahrheit vor ihr geheim zu halten, sie vor ihrer Verheirathung, es möge daraus entstehen, was da wolle, selbst über die Sache aufzuklären Wie? Nachdem ich mein Wort gegeben hatte, das Geheimniß zu bewahren? Ja! Denn ich achte ein Versprechen gering, das mich zwingt, falsch gegen eine Person zu sein, die ich liebe.

Zwei weitere Tage verflossen, bevor ein Telegramm in Browndown eintraf. Oscar kam mit seiner Nachricht zu uns in’s Pfarrhaus gelaufen; Nugent war in Liverpool gelandet. Oscar sollte ihn am nächsten Tage in Dimchurch erwarten.



Viertes Kapitel - Er setzt uns Alle zurecht

Ich habe bisher unterlassen, einer der Haupttugenden den des Ehrwürdigen Finch Erwähnung zu thun. Er war ein vollendeter Meister in jener besonderen Art der Peinigung unserer Mitmenschen, genannt: »Vorlesen« und er wandte dieses Peinigungsmittel so oft er konnte bei seiner Familie an. Von dem, was wir bei diesen Gelegenheiten litten, will ich schweigen. Es genüge, wenn ich sage, daß es dem Pfarrer einen unaussprechlichen Genuß gewährte, seine eigene prächtige Stimme zu hören.

Wenn die Vorlese-Rage Herrn Finch befiel, gab es kein Mittel, ihm zu entrinnen. Bald unter diesem, bald unter jenem Vorwande kam er mit seinem Buche in der Hand zu uns unglücklichen Frauen hinunter, ließ uns an dem einen Ende des Zimmers Platz nehmen, setzte sich an das andere Ende, öffnete seinen schrecklichen Mund und feuerte stundenlang seine Worte auf uns ab, wie Schüsse nach einer Zielscheibe. Bisweilen las er uns Shakespearesche oder Milton’sche Poesie, bisweilen parlamentarische Reden von Burke oder Sheridan vor. Er mochte aber lesen, was er wollte, er declamirte Alles in derselben lauten und prätentiösen Weise; immer stellte er sein eigenes Ich so durchaus in den Vordergrund und ließ die Dichter oder Redner, die er uns vorzuführen vorgab, so ganz zurücktreten, daß sie jede Spur ihres eigenthümlichen Gepräges verloren und alle nur zu unerträglichen Abbildern des Ehrwürdigen Finch wurden.

Ich datire meine ersten Zweifel an der unerreichbaren Vollendung der Shakespeare’schen Poesie von den Vorlesungen des Pfarrers her und schreibe derselben Veranlassung meinen unversöhnlichen Haß gegen Burke’s Abhandlungen über die politischen und anderen Fragen seiner Zeit zu.

An dem Abende, wo Nugent Dubourg in Browndown erwartet wurde und wo wir besonders wünschten, in Ruhe gelassen zu werden, um Toilette machen und über den erwarteten Besuch im Voraus plaudern zu können, bekam Herr Finch nach dem Thee wieder das Gelüste, seine Familie mit Worten zu beschießen. Dieses Mal wählte er Hamlet als Mittel zur Entfaltung seiner Stimme und erklärte, sein heutiges Leseexercitium vorzüglich zum Besten für meine arme Person unternehmen zu wollen.

»Mein liebes Kind, ich habe es zufällig neulich mit angehört, wie Sie Lucilla etwas vorlasen. Es war ganz artig in seiner Art — wirklich ganz artig. Aber sie werden mir als einem mit der Kunst des Vorlesens sehr vertrauten Manne gestatten, Ihnen zu bemerken, liebe Madame Pratolungo, daß Ihnen ein paar Winke von mir sehr förderlich sein würden. Ich will Ihnen einige Ideen an die Hand geben. Liebe Frau, ich beabsichtige, Madame Pratolungo einige Ideen an die Hand zu geben. Achten Sie gefälligst besonders genau auf meine Pausen und auf meine Behandlung der Stimme am Schluß der Zeilen. Lucilla, die Sache ist von Interesse für Dich, liebes Kind. Madame Pratolungo’s Vervollkommnung im Vorlesen ist eine für Dich wichtige Angelegenheit. Geh’ nicht fort.«

Lucilla und ich waren an jenem Abende gerade Gäste am Tische des Pfarrers. Es war einer der regelmäßig wiederkehrenden Tage, wo wir unsere Seite des Hauses verließen, um uns dem Familienkreise anzuschließen, oder wie Herr Finch es nannte, an der Abendmahlzeit des Seelenhirten Theil nahmen. Seine Zuhörerschaft bestand also aus seiner Frau, seiner ältesten Tochter und mir. Ein Lächeln entsetzlicher Freude überflog das Antlitz Seiner Ehrwürden, als er uns von dem anderen Ende des Zimmers aus mit seinen Blicken überflog und das Feuer seiner Stimme gegen uns eröffnete:

»Hamlet. Erster Art; erste Scene.

Helsingör. Eine Terrasse vor dem Schlosse. Francisco auf dem Posten. Bernardo tritt auf.

Bernardo. »Wer da?«

Francisco. »Nein, antwortet mir, steht und gebt euch kund.«

(Frau Finch schlägt ihren Shawl auseinander, giebt dem Baby die Brust und versucht auszusehen, als erfreue sie sich eines großen geistigen Genusses.)

Folgt eine in tiefem Baß geführte Unterhaltung zwischen Francisco und Bernardo. Bum, bum bum.

»Horatio und Marcellus treten auf«

»He, halt; wer da?«

»Freund dieses Bodens.«

»Und Vasall des Dänen.«

Madame Pratolungo fängt an, den erklärenden Vortrag Shakespeares wie immer in ihren Beinen zu fühlen; sie versucht es, auf ihrem Stuhle zu sitzen. Vergebens! Sie leidet an der ihr aus bitterer Erfahrung schon zur Genüge bekannten Krankheit »Hamletzuckungen.« Bernardo und Francisco, Horatio und Marcellus unterhalten sich. Bumb, bum, bum. »Der Geist von Hamlet’s Vater tritt auf.« Herr Finch macht eine furchtbare Pause. In der unheimlichen Stille hören wir das Saugen des Baby. Frau Finch erfreut sich ihres geistigen Genusses. Madame Pratolungo leidet an nervösen Zuckungen. Lucilla wird von ihr angesteckt und bekommt gleichfalls Zuckungen. Marcellus-Finch fährt fort: »Du bist gelehrt; sprich Du mit ihm, Horatio.« Bernardo-Finch: »Sieht’s nicht dem Könige gleich? Schau’s an, Horatio.«

Lucilla Finch (unterbricht den Dialog): »Papa, es thut mir sehr leid, aber ich habe den ganzen Tag nervöse Kopfschmerzen gehabt; bitte, entschuldige mich, wenn ich einen Gang durch den Garten mache. (Der Pfarrer macht wieder eine Pause und starrt seine Tochter an. Lucilla geht ab.) Horatio sieht den Geist an und nimmt den Dialog wieder auf: »Ganz gleich; es macht mich starr.« Bum, bum, bum.

(Das Baby ist satt; Frau Finch sucht ihr Tuch, Herr Finch hält inne, starrt umher, fährt wieder fort und gelangt zur zweiten Scene.)

Der König, die Königin, Hamlet, Polonius, Laertes, Veltunand, Cornelius, Herren vom Hofe und Gefolge.« (Lauter Ehrwürdige Finche.) O, meine Beine, meine Beine! Bum, bum, bum.

Dritte Scene.

Laertes und Ophelia treten auf.

.

Beide sind Pfarrer von Dimchurch, beide haben tiefe Baßstimmen, beide sind kaum fünf Fuß hoch, blatternarbig und tragen nicht ganz saubere weiße Cravatten. Herr Finch liest weiter und weiter und immer weiter. Frau Finch und Baby schließen gemeinschaftlich die Augen und schlummern; Madame Pratolungo leidet an so furchtbarer nervöser Unruhe in ihren unteren Extremitäten, daß sie nach einem geschickten Chirurgus Verlangen trägt, der sie mit seinem Messer von ihren Beinen befreien könnte.

Herr Finch gelangt in immer tieferen Baßtönen und immer größerer Begeisterung zur

Vierten Scene.

»Hamlet, Horatio und Marcellus treten auf.«

Gerechter Himmel, was höre ich! Kommt uns Hilfe von außen? Höre ich nicht Fußtritte auf dem Vorplatz? Ja! Frau Finch schlägt die Augen auf; sie hat wie ich die Fußtritte gehört und freut sich gleich mir über dieselben. Der Ehrwürdige Hamlet aber hört nichts als seine eigene Stimme. Er beginnt die vierte Scene:

»Die Luft geht scharf, es ist entsetzlich kalt.«

Die Thür öffnet sich. Der Pfarrer fühlt gerade im rechten Augenblick einen für die Scene passenden Luftzug. Er sieht sich um. Wehe dem Eintretendem wenn er dienende Person ist! Aber nein, es sind Gäste! Dem Himmel sei Dankt Gäste. Willkommen, meine Herren, willkommen! Dank Ihnen ist es für heute mit dem Hamlet vorbei. Es treten zwei Personen auf, die sofort berücksichtigt sein wollen, Herr Oscar Dubourg, der seinen von Amerika kommenden Zwillingsbruder, Herrn Nugent Dubourg einführt.

Erstaunen über die außerordentliche Aehnlichkeit Beider war das erste Gefühl, das uns alle Dreie bei ihrem Eintritt ergriff.

Sie waren sich vollkommen ähnlich in Wuchs, Gang, Gesichtsbildung und Stimme. Beide hatten dieselbe Haarfarbe und vollkommen bartlose Gesichter. Oscar’s Lächeln umspielte Nugent’s Lippen. Nugent hatte genau dieselben kleinen, etwas fremdländischen Handbewegungen wie Oscar. Und endlich zeigten Nugent’s Wangen gerade die Hautfarbe, vielleicht eine Nuance dunkler, welche Oscar für immer verloren hatte. Der einzige Unterschied, welcher es möglich machte, sie in dem Augenblicke, wo sie zuerst das Zimmer betraten, von einander zu unterscheiden, der schreckliche Contrast der Hautfarbe zwischen dem Bruder, den die Arznei blau gefärbt hatte, und dem, der noch so war wie ihn die Natur geschaffen hatte, diesen Unterschied war Lucilla zu entdecken unfähig.

»Es freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft zu machen, Frau Finch, ich habe mich lange nach diesem Vergnügen gesehnt; Ihnen, Herr Finch, sage ich meinen besten Dank für alles Freundliche, das Sie meinem Bruder erwiesen haben. Vermuthlich, Madame Pratolungo, erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu reichen. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, daß ich von Ihrem berühmten Gatten gehört habe. O, da ist ein Baby, das Ihrige, Frau Finch? Ist es ein Mädchen oder ein Knabe? Ein schönes Kind, wenn ein Junggeselle sich ein Urtheil darüber erlauben darf. Twi, twi, twi!«

Er zirpte dem Kinde etwas vor, als wäre er der Papa und schnalzte vergnüglich dazu mit den Fingern. Der arme entstellte Oscar blickte mich mit triumphirenden Augen an, die mich zu fragen schienen: »Was habe ich Ihnen gesagt? Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Nugent alle Menschen bei der ersten Begegnung bezaubert?« Das war sehr wahr. Nugent hatte wirklich etwas Unwiderstehliches In seinem Wesen so ganz von Oscar verschieden, glich er ihm nur, wenn er sich ruhig verhielt und war ihm doch in anderer Beziehung wieder so ähnlich. Ich kann ihn nur als ein vervollkommnetes Exemplar seines Bruders bezeichnen. Er hatte die anmuthige Lebhaftigkeit des Geistes und das behagliche gewinnende Selbstvertrauen, welche Oscar fehlten. Und einen wie vortrefflichen Geschmack zeigte er. Er liebte Kinder! Er ehrte das Andenken meines herrlichen Pratolungo! Nugent Dubourg war noch keine halbe Minute im Zimmer, als er schon Frau Finch’s und mein Herz gewonnen hatte.

Von dem Baby wandte er sich zu Herrn Finch und deutete auf den offen auf dem Tisch liegenden Shakespeare.

»Haben Sie den Damen vorgelesen?« fragte er, »ich fürchte wir haben Sie unterbrochen.«

»Bitte recht sehr«, sagte der Pfarrer mit dem Ausdruck der selbstbewußtesten Höflichkeit. »Wir können das ein andermal fortsetzen. Es ist meine Gewohnheit, Herr Nugent, im Familienkreise laut vorzulesen. Als Geistlicher und als Freund von Poesie habe ich seit langer Zeit vielfache Veranlassung gehabt, die Kunst der Declamation zu cultiviren.

»Berzeihen Sie, mein verehrter Herr, Sie haben aber diese Kunst in ganz falscher Weise cultivirt.«

Herr Finch verstummte, wie vom Donner gerührt. In seiner Gegenwart wagte es Jemand, eine eigene Meinung zu haben? Im Wohnzimmer des Pfarrhauses nahm es sich Jemand heraus, den Pfarrer mitten in einem Satze zu unterbrechen? Machte sich der wahnsinnigen Verwegenheit schuldig, ihm als Vorleser mit dem offenen Shakespeare vor sich zu sagen, daß er falsch gelesen habe? »O, wir haben Sie noch gehört, als wir eintraten«, fuhr Nugent mit unerschüttertem Selbstvertrauen in der verbindlichsten Form fort. »Sie haben so gelesen.«

Er nahm den Hamlet zur Hand und las die erste Zeile der vierten Scene: »Die Luft geht scharf, es ist entsetzlich kalt!« mit einer unwiderstehlich komischen genauen Wiedergabe der Deklamation des Herrn Finch.

»So würde Hamlet nicht sprechen. Kein Mann in jener Lage würde die Bemerkung, daß es entsetzlich kalt sei; in bellendem Tone machen. Shakespeare ist vor allen Dingen naturwahr. In welcher Verfassung befindet sich Hamlet in dem Augenblick, wo er sich darauf gefaßt macht, den Geist zu sehen. Er ist nervös und empfindlich gegen die Kälte. Lassen Sie ihn das natürlich äußern, lassen Sie ihn reden wie jeder andere Mensch unter gleichen Umständen. Hören Sie doch einmal, das muß rasch und ruhig gelesen werden: »Die Luft geht scharf«, hier hält Hamlet inne und schauert vor Kälte, prrr! »es ist entsetzlich kalt.« Sehen Sie, so muß man Shakespeare lesen.«

Herr Finch hob den Kopf so hoch, wie es ihm irgend möglich war und schlug mit der flachen Hand auf das offene Buch, daß es einen lauten feierlichen Klang gab.

»Erlauben Sie mir zu sagen, mein Herr«, fing er an.

Nugent unterbrach ihn wieder in der heiterten Laune.

»Sie sind nicht meiner Meinung? Gut. Darüber zu disputiren wäre ganz nutzlos. Ich weiß nicht, wie Sie in dieser Beziehung sind. Ich bin der eigensinnigste, auf seiner Meinung beharrendste Mensch, den es geben kann. Es ist verlorene Zeit, mein verehrter Herr, mich überzeugen zu wollen. Jetzt sehen Sie Einmal das Kind an.« Plötzlich mußte das Kind Nugent’s Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben; er drehte sich auf den Fersen herum und wandte sich an Frau Finch. »Ich nehme mir die Freiheit, zu behaupten Madame, daß es keine unsinnigere Kleidung geben kann, als die man in diesem Lande den kleinen Kindern anzieht. Die drei Hauptfunktionen welche ihr reizendes Kind da verrichtet: Saugen, Schlafen und Wachsen, werden gehemmt. Im gegenwärtigen Augenblick saugt es nicht und schläft nicht, sondern es wächst aus allen Kräften. Und so ist es ihm unter diesen Umständen dringendstes Bedürfniß, seine Glieder nach jeder Richtung hin so frei wie möglich bewegen zu können. Sie lassen es seine Arme nach Herzenslust regen und benehmen ihm die Möglichkeit, mit den Beinen zu stoßen. Sie ziehen ihm ein Kleid an, daß dreimal so lang ist, wie es selbst. Es versucht es wohl, mit den Beinen zu zappeln wie mit den Armen, aber es kann nicht, denn es verwickelt sich mit seinen Zehen in das unglückliche lange Kleid, und was die Natur zu einer Lust für das Kind machen wollte, wird ihm zur Anstrengung. Kann es etwas Absurderes geben? Was geht denn in den Müttern vor? Warum denken sie nicht selbst nach? Lassen Sie sich von mir rathen, Frau Finch, Freiheit herrliche Freiheit für die Beine meines jungen Freundes; Raum, freien Raum für die Füße dieses gepeinigten Säuglings!«

Frau Finch hörte Nugent wie hilflos zu, hob die langen Röcke des Baby empor und sah sie sich an, · starrte Nugent Dubourg mit kläglicher Miene an, öffnete die Lippen um zu reden, besann sich aber dann eines Besseren und heftete ihre wässerigen Augen auf ihren Gatten. Herr Finch machte einen neuen Versuch, seine Würde zur Geltung zu bringen und wollte dieses Mal eine gewaltig satyrische Antwort loslassen.

»Sie müssen mir in Betreff Ihres meiner Frau ertheilten Rathes zu bemerken erlauben, Herr Nugent, daß derselbe von größerem praktischem Gewichte sein würde, wenn er der Rath eines verheiratethen Mannes wäre. Ich möchte Sie daran erinnern.«

»Sie möchten mich daran erinnern, daß mein Rath der eines Junggesellen ist? O, gehen Sie, damit dürfen Sie mir jetzt nicht mehr kommen. Den Einwand hat Doctor Johnson schon vor einem Jahrhundert ein für alle Mal beseitigt. »Mein Herr« sagte er zu Jemand, der so dachte wie Sie, »Sie können einen Tischler, der Ihnen einen schlechten Tisch gemacht hat, schelten, wenn Sie auch selbst keinen Tisch machen können.« Und ich sage zu Ihnen, Herr Finch, ich darf einen Fehler in den Röcken eines Baby tadeln, wenn ich auch selbst kein Baby habe! Finden Sie das nicht überzeugend? Nicht? Nun wohl, nehmen Sie ein anderes Beispiel. Sehen Sie sich Ihr Zimmer hier an. Ich sehe ans den ersten Blick, daß es schlechtes Licht hat. Es hat nur ein Fenster und müßte zwei haben. Braucht man ein praktischer Baumeister zu sein, um das zu entdecken? Dies wäre doch eine absurde Forderung. Sind Sie jetzt überzeugt? Nein? Nehmen Sie ein anderes Beispiel: Was für bedrucktes Papier liegt da auf dem Kaminsims? Luxussteuer? Aha, das geht, das können wir als Beispiel brauchen. Sie sind nicht Mitglied des Unterhauses, Sie sind auch nicht Schatzkanzler. Haben Sie aber darum nicht doch Ihre eigene Meinung? Müssen Sie und ich im Parlamente sitzen, um zu sehen, daß die altersschwache englische Verfassung in den letzten Zügen liegt?«

»Und die junge kräftige Republik ihre ersten Athemzüge thut!« platzte ich nach meiner Gewohnheit, bei jeder möglichen Gelegenheit das Pratolungo-Programm zu verkünden, heraus.

Sofort drehte sich Nugent Dubourg wieder auf den Fersen herum, wandte sich an mich und sagte mir seine Meinung über meine Ansichten, gerade wie er dem Pfarrer seine Meinung über die richtige Art, den Hamlet vorzulesen, und Frau Finch über die zweckmäßigste Art, Baby’s zu kleiden, gesagt hatte.

»Durchaus nicht«, rief er in höchst positivem Tone. »Die junge Republik ist in der politischen Familie das Kind mit dem doppelten Gliedern; geben Sie das Kind auf, Madame, Sie werden es nie zum Manne erziehen.«

Ich versuchte es mit genau demselben Erfolge wie vorher der Pfarrer, meine Ansicht zur Geltung zu bringen und berief mich entrüstet auf die Autorität meines berühmten Gatten.

»Doctor Pratolungo« — fing ich an.

»War ein rechtschaffener Mann«, unterbrach mich Nugent. »Ich bin selbst ein liberaler Fortschrittsmann; ich achte ihn hoch; aber alle aufrichtigen Republikaner haben denselben Mißgriff gemacht, sie glauben an das Vorhandensein eines Gemeinsinnes in Europa. Täuschung! Der Gemeinsinn ist todt in Europa. Gemeinsinn ist eine edle Regung junger Nationen, neuer Völker. In dem selbstsüchtigen alten Europa ist das Privatinteresse an die Stelle des Gemeinsinnes getreten. Ihr Gatte ging, als er die Republik predigte, von der Voraussetzung aus, daß die Republik die Nation erheben werde. Pah! Wenn Sie von mir verlangen, daß ich die Republik annehmen soll, so müssen Sie mir beweisen, daß ich mich dabei selbst erheben kann, dann will ich Sie anhören. Das ist die einzige Kraft, durch welche Sie je hoffen können, republikanische Institutionen in der alten Welt einzuführen.«

Ich war entrüstet über solche Gesinnungen. »Mein berühmter Gatte«, fing ich wieder an.

»Würde lieber gestorben sein, ehe er an die niedrigsten Instincte seiner Mitmenschen appellirt hätte. Vollkommen richtig das war gerade sein Fehler. Darum hat er auch nie etwas aus der Republik machen können. Darum eben ist die Republik in der politischen Familie das Kind mit doppelten Gliedern. Quot erat demonstrandum«, schloß Nugent Dubourg, in dem er mich mit einem liebenswürdigen Lächeln und mit einer leichten ausdrucksvollen Handbewegung abthat, wie wenn er sagen wollte: »Jetzt bin ich mit diesen drei Leuten nach der Reihe fertig geworden; ich bin ebenso zufrieden mit mir wie mit ihnen!«

Sein Lächeln war unwiderstehlich. So sehr ich wünschte, die entwürdigenden Schlüsse, zu denen er gelangt war, zu bestreiten, so hatte ich doch im Augenblick nicht Feuer genug in mir, meine eigene Entrüstung zu nähren. Der Ehrwürdigte Finch saß ingrimmig in einer Ecke und war damit beschäftigt, so gut er konnte, die neue Entdeckung zu verdauen, daß es noch außer dem Pfarrer von Dimchurch einen Mann gäbe, der eine außerordentlich hohe Meinung von sich selbst habe und diese Meinung mit beredtester Zuversicht kund gäbe. Die kurze Pause, die nun entstand, benutzte Oscar, um zum ersten Male das Wort zu er greifen. Bisher hatte es ihm völlig genügt, seinen geistreichen Bruder zu bewundern. Jetzt trat er an mich heran und fragte mich, was aus Lucilla geworden sei.

»Die Magd sagte mir, sie sei hier«, sagte er, »ich möchte ihr Nugent gerne vorstellen.«

Nugent schlang seinen Arm zärtlich um den Hals seines Bruders und drückte ihn an’s Herz.

»Du lieber alter Junge, ich möchte es gerade so gern wie Du.«

»Lucilla hat vorhin das Zimmer verlassen, um einen Gang durch den Garten zu machen«, antwortete ich.

»Ich will sie suchen«, sagte Oscar. »Warte Du hier auf mich, Nugent, ich bringe sie her.«

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer. Noch bevor er die Thür geschlossen hatte, erschien eine der Mägde, um Frau Finch eine vertrauliche Mittheilung über ein häusliches Ereigniß zu machen. Nugent bat diese, als sie an ihm vorüberging, mit komischem Ernst flehentlich, sich doch von Vorurtheilen loszumachen und die Frage der Bahy-Kleidung gründlich zu prüfen. Herr Finch nahm diese zweite Bezugnahme auf den Gegenstand übel. Er erhob sich, um seiner Frau zu folgen:

»Wenn Sie erst einmal verheirathet sind, Herr Nugent«, sagte der Pfarrer in strengem Ton, »werden sie wohl lernen, die Behandlung eines Säuglings der eigenen Mutter zu überlassen.«

»Da sind Sie wieder im Irrthum«, bemerkte Nugent, indem er Herrn Finch mit unveränderter guter Laune bis an die Thür folgte. »Die Vorstellung, die sich ein verheiratheter Mann von einem andern Manne als Ehemann macht, reducirt sich immer auf die Vorstellung, die er von sich selbst hat.«

Als sich die Thür hinter Herrn Finch schloß, wandte er sich zu mir und sagte: »Jetzt sind wir allein, Madame Pratolungo, ich möchte mit Ihnen über Fräulein Finch reden. Wir müssen die Augenblicke, bis sie wieder hereinkommt, benutzen. Oscar hat mir nur geschrieben, daß sie blind sei. Ich interessire mich natürlich für Alles, was die künftige Frau meines Bruders angeht und ganz besonders für das Leiden, mit dem sie unglücklicher Weise behaftet ist. Darf ich fragen, seit wann sie blind ist?«

»Seit ihrem zweiten Lebensjahre«, antwortete ich.

»In Folge eines Unglücksfalls?«

»Nein.«

»Also wohl in Folge eines hitzigen Fiebers oder einer anderen schweren Krankheit?«

Dieses Eingehen auf medizinische Einzelheiten von seiner Seite fing an, mich ein wenig zu befremden.

»Ich habe nie gehört, daß ihre Blindheit die Folge eines hitzigen Fiebers oder einer anderen Krankheit gewesen sei«, erwiderte ich. »Soviel ich weiß, erblindete sie, ohne daß eine für ihre Umgebung erkennbare Ursache vorgelegen hätte.«

Zutraulich rückte er seinen Stuhl etwas näher an mich heran und fragte mich: »Wie alt ist sie?«

Diese Frage kam mir noch befremdlicher vor; er mochte es wohl merken, als ich ihm Lucilla’s Alter sagte. »Unter den obwaltenden Umständen«, erklärte er mir, »habe ich besondere Gründe, welche mich davon zurückhalten, mich mit meinem Bruder oder irgend einem Mitglied der Familie über die Blindheit näher zu unterhalten. Ich muß damit warten, bis ich mit meiner Unterhaltung einen guten praktischen Zweck verbinden kann. Mit Ihnen aber kann ich getrost auf den Gegenstand eingehen. Als sie damals erblindete, hat man doch natürlich kein Mittel zu ihrer Wiederherstellung unversucht gelassen?«

»So wird es wohl sein«, entgegnete ich. »Es ist so lange her, ich habe nie darnach gefragt.«

»So lange her«, wiederholte er und dachte dann einen Augenblick nach.

Seine Reflectionen veranlaßten ihn zu der schließlichen Frage.

»Sie selbst und auch ihre Umgebung haben sich vermuthlich ganz in den Gedanken ergeben, daß sie für Lebenszeit hoffnungslos erblindet sei?«

Anstatt ihm zu antworten stellte ich ihm meinerseits eine Frage. Mein Herz fing an rascher zu schlagen, ohne daß ich wußte warum.

»Herr Nugent Dubourg«, sagte ich, »was bedeuten Ihre Fragen in Betreff Lucilla’s?«

»Madame Pratolungo«, erwiderte er, »sie bedeuten, daß ich etwas erwäge, woran ein Freund von mir mich in Amerika aufmerksam machte.«

»Ist das der Freund, dessen Sie in Ihrem Briefe an Ihren Bruder Erwähnung thaten?«

»Derselbe.«

»Der deutsche Herr, den Sie mit Oscar und Lucilla bekannt machen wollten?«

»Ja.«

»Darf ich fragen, wer er ist?«

Nugent Dubourg fixirte mich scharf, dachte wieder einige Augenblicke nach und antwortete dann: »Es ist der größte lebende Augenarzt.

Im Nu war mir klar, was allen seinen Fragen zu Grunde gelegen hatte.

»Gerechter Gott!« rief ich aus, »Sie werden doch nicht so wahnsinnig sein, zu glauben, daß Lucilla’s Blindheit, nachdem sie einundzwanzig Jahre lang gedauert hat, geheilt werden könne?«

Plötzlich bedeutete er mich durch ein Zeichen zu schweigen. In diesem Augenblick nämlich öffnete sich die Thür und Lucilla trat, gefolgt von Oscar, in’s Zimmer.



Fünftes Kapitel - Nugent sieht Lucilla.

Der erste Eindruck, den das arme Fräulein Finch auf Nugent Dubourg machte, war ganz derselbe, den sie auf mich gemacht hatte.

»Guter Gott!« rief er aus, »die sixtinische Madonna!«

Lucilla hatte schon durch mich von ihrer außerordentlichen Aehnlichkeit mit der Hauptfigur des berühmten Raphael’schen Bildes gehört; von Nugent’s Bestätigung dieser Aehnlichkeit nahm sie keine Notiz. Kaum aber hatte er zu reden angefangen, als sie ihrerseits, betroffen von der merkwürdigen Aehnlichkeit der Stimme Nugent’s mit der seines Bruders, plötzlich in der Mitte des Zimmers stehen blieb.

»Oscar?« fragte sie in einem etwas gereizten Tone, »stehst Du hinter oder vor mir?«

Oscar lachte und antwortete hinter ihr stehend: »Hier bin ich.«

Sie wandte sich nach der Stelle, wo Nugent gesprochen hatte, und sagte, indem sie Nugent schüchtern anredete: »Es ist wunderbar, wie Ihre Stimme der Oscar’s gleicht. Gleicht Ihr Gesicht dem seinigen auch so völlig? Darf ich mich selbst von Ihrer Aehnlichkeit überzeugen? Ich vermag es nur auf eine Weise, durch Betastung.«

Oscar trat vor und stellte einen Stuhl für seinen Bruder neben Lucilla hin.

»Sie hat Augen in ihren Fingerspitzen«, sagte er. »Setze Dich hin, Nugent, und laß sie Dir mit ihrer Hand über das Gesicht fahren.«

Nugent gehorchte ihm schweigend. Jetzt, nachdem der erste überraschende Eindruck vorüber war, beobachtete ich, daß eine merkliche Veränderung in seinem Benehmen eintrat.

Nach und nach bemächtigte sich seiner ein unnatürlicher Zwang. Seine sonst so beredte Zunge wußte nichts zu sagen und statt seiner so ungezwungenen Manieren beschlich ihn jetzt ein verlegenes ungeschicktes Wesen. Mehr als je glich er seinem Bruder, als er sich auf den Stuhl setzte, um sich Lucilla’s Untersuchung zu unterwerfen. Sie hatte im ersten Moment, wie mir schien, einen Eindruck auf ihn gemacht, auf den er nicht gefaßt gewesen war und der ihn derart in Verwirrung brachte, daß er nicht sogleich Herr darüber zu werden vermochte. Seine Augen blickten sie wie verzaubert an, er wurde abwechselnd bleich und roth, sein Athem wurde hörbar rascher, als ihre Finger sein Gesicht berührten.

»Was ist Dir?« fragte Oscar indem er ihn überrascht ansah.

»Nichts«, antwortete er in dem leisen abweisenden Ton eines Menschen, der im Geheimen seinen eigenen Gedanken nachgeht.

Oscar sagte nichts weiter. Lucilla fuhr mit der Hand zu wiederholten Malen über Nugent’s Gesicht. Er ließ es sich mit ernster Miene und ohne sich zu rühren gefallen, im schärfsten Gegensatz zu dem gesprächigem lebhaften, jugendlichen Wesen, das er noch vor einer halben Stunde gezeigt hatte.

Lucilla brauchte viel längere Zeit, ihn zu untersuchen, als sie bei mir gebraucht hatte.

Während die Untersuchung ihren Fortgang nahm, hatte ich Muße, über das nachzudenken, was vor Lucilla’s Eintritt in Betreff ihrer Blindheit zwischen Nugent und mir verhandelt worden war. Ich hatte jetzt meine völlige Gemüthsruhe wieder gewonnen und war im Stande, mich zu fragen, was die kühne Idee dieses jungen Menschen in der That werth sei. Lag es im Bereich der Möglichkeit, daß ein so zarter Sinn, wie das Gesicht, nachdem er einundzwanzig Jahre lang geschlummert hatte, wie durch ein Wunder wieder erweckt werden könne? Eine solche Annahme erschien mir unmöglich. Wenn die geringste Hoffnung vorhanden gewesen wäre, meinem armen lieben Kinde den Segen des Augenlichtes wieder zu verschaffen, würden sachverständige Leute schon vor Jahren den Versuch einer solchen Wiederherstellung gemacht haben. Ich schämte mich, daß ich mich einen Augenblick lang durch den neuen Gedanken, welchen Nugent mir mitgetheilt hatte, so heftig hatte aufregen lassen. Jetzt war ich wahrhaftig entrüstet, daß er mich durch die eitelste aller Hoffnungen so nutzlos in Verwirrung gesetzt hatte. Als das einzige Verständige erschien es mir, diesen leichtfertigen und unbeständigen jungen Menschen zu ermahnen, seine verrückte Idee in Betreff Lucilla’s für sich zu behalten und mir selbst diese Idee ein für alle Male aus dem Kopfe zu schlagen.

Eben hatte ich diesen verständigen Entschluß gefaßt, als meine Aufmerksamkeit durch Lucilla’s Stimme, welche mich bei meinem Namen rief, wieder auf das gelenkt wurde, was in dem Zimmer vorging.

»Die Aehnlichkeit ist merkwürdig«, sagte sie. »Aber doch glaube ich eine Verschiedenheit zwischen beiden herauszufinden.«

In der That bestand die einzige Verschiedenheit zwischen beiden in ihrer Hautfarbe und im Benehmen, zwei Verschiedenheiten, welche beide mehr oder weniger nur durch das Auge wahrnehmbar erscheinen mußten.

»Und welchen Unterschied finden Sie?« fragte ich.

Langsam kam sie mit einer ängstlich verwirrten Miene wie brütend auf mich zu.

»Ich kann es nicht erklären«, antwortete sie nach einer längeren Pause.

Als Lucilla sich von Nugent abwandte, stand er von seinem Stuhl auf. Plötzlich ergriff er in einer derb zufahrenden Weise die Hand seines Bruders und sprach mit demselben in einem sonderbar aufgeregten sich fieberhaft überstürzenden Tone.

»Mein lieber Junge«, sagte er, »jetzt nachdem ich sie gesehen habe, gratulire ich Dir noch herzlicher als zuvor. Sie ist reizend, sie ist einzig. Oscar! Wenn Du es nicht wärst, ich könnte Dich fast beneiden.«

Oscar!« strahlte vor Wonne. Die Meinung seines Bruders galt ihm mehr als die aller übrigen Menschen. Noch ehe er ein Wort antworten konnte, verließ ihn Nugent ebenso plötzlich, wie er auf ihn zugetreten war, trat an’s Fenster und blickte hinaus.

Lucilla hatte seine Worte nicht gehört, sie stand noch immer mit derselben Miene brütend da. Offenbar quälte und ängstigte sie das unerklärliche Problem der Aehnlichkeit der beiden Brüder. Ohne daß ich irgend etwas gesagt hätte, was sie zu einer weiteren Aeußerung über den Gegenstand hätte veranlassen können, wiederholte sie hartnäckig ihre Behauptung.

»Ich sage Ihnen noch einmal, ich merke eine Verschiedenheit zwischen beiden«, wiederholte sie, »obgleich Sie mir nicht zu glauben scheinen.«

Ich legte mir diese mit einem Ausdruck von Unbehaglichkeit vorgebrachte Behauptung dahin aus, daß es ihr mehr darauf ankomme, sich selbst als mich zu überzeugen. In ihrem Zustande der Blindheit war es doppelt und dreifach unangenehm für sie, die beiden Brüder nicht voneinander unterscheiden zu können. Ich begriff ihre Ungeneigtheit, das zuzugeben, ich fühlte, wie eine solche Verlegenheit mich in ihrer Lage irritirt haben würde. Sie wartete ungeduldig auf eine Erwiderung von mir. Ich bin, wie der Leser bereits weiß, eine indiscrete Person. Ohne jede böse Absicht that ich eine meiner unvorsichtigen Aeußerungen.

»Ich glaube Alles, was sie mir sagen, liebes Kind«, antwortete ich. »Ich zweifle nicht, daß Sie eine Verschiedenheit zwischen den beiden Brüdern herausgefunden haben. Aber doch möchte ich gern einen Beweis dafür sehen.«

Sie erröthete. »Wie?« fragte sie kurz.

»Versuchen Sie es doch einmal«, schlug ich vor, »die Gesichter beider abwechselnd zu betasten und zwar in der Art, daß Sie diese Versuche dreimal wiederholen und es den Brüdern überlassen, zwischen jedem Male ihre Plätze nach Belieben zu wechseln. Wenn Sie es dreimal hintereinander richtig treffen, haben Sie bewiesen, daß Sie wirklich eine Verschiedenheit zwischen beiden Brüdern herausgefunden haben.«

Lucilla schreckte vor der Annahme dieser Herausforderung zurück und schüttelte schweigend den Kopf. Nugent, der meine Worte gehört hatte, wandte sich plötzlich vom Fenster herum und unterstützte meinen Vorschlag.

»Eine famose Idee!« platzte er heraus. »Laßt uns das doch einmal versuchen. Du hast doch nichts dagegen, Oscar wie?«

»Ich sollte etwas dagegen haben?« rief Oscar, den der bloße Gedanke, daß er seinem Bruder gegenüber einen eigenen Willen haben könnte, entsetzte. »Wenn Lucilla bereit ist, sage ich mit dem größten Vergnügen ja.«

Die beiden Brüder traten Arm in Arm auf uns zu. Mit großem Widerstreben ließ sich Lucilla überreden, das Experiment zu versuchen. Zwei ganz gleiche Stuhle wurden vor sie hingestellt. Auf einen Wink von Nugent nahm Oscar schweigend den Platz zu ihrer Rechten ein. In Folge dieses Arrangements mußte sie jetzt mit derselben Hand, deren sie sich vorhin bei der Betastung von Nugent’s Gesicht bedient hatte, Oscars Gesicht betasten. Als sie sich beide gesetzt hatten, meldete ich ihr daß wir bereit seien. Lucilla legte ihre Hände auf die Gesichter der beiden Brüder, ohne die entfernteste Idee davon zu haben, welchen Platz jeder von ihnen eingenommen hatte.

Nachdem sie zuerst beide mit beiden Händen zugleich betastet hatte, versuchte sie es demnächst mit jedem einzeln und machte den Anfang mit Oscar indem sie sich dabei nur ihrer rechten Hand bediente. Dann ging sie zu Nugent, indem sie sich wieder ihrer rechten Hand bediente, kehrte dann zu Oscar zurück, dann wieder zu Nugent, zauderte, schien mit sich ins Reine zu kommen, klopfte Nugent leicht auf den Kopf und rief: »Oscar!«

Nugent lachte laut auf. Das Lachen sagte ihr, noch bevor einer von uns reden konnte, daß sie bei dem ersten Versuch sich geirrt habe.

»Versuche es noch einmal, Lucilla«, sagte Oscar freundlich.

»Nein!« antwortete sie, indem sie mit erzürnter Miene zurücktrat. »An einer Mystification ist es genug.«

Jetzt versuchte es Nugent, sie zu überreden, das Experiment noch einmal zu machen. Aber sie unterbrach ihn sofort mit den Worten:

»Denken Sie, ich würde für Sie thun, was ich für Oscar zu thun mich geweigert habe? Sie haben über mich gelacht. Was war denn da zu lachen? Sie und Ihr Bruder haben ganz gleiche Gesichtszüge, ganz gleiches Haar und ganz gleiche Größe. Was ist denn nun so lächerlich daran, wenn ein armes, blindes Mädchen Sie bei einer solchen Aehnlichkeit miteinander verwechselt? Ich möchte gern um Oscar’s willen eine gute Meinung von Ihnen behalten; wenn Sie sich aber wieder lustig über mich machen, werde ich glauben müssen, daß Sie nicht das gute Herz Ihres Bruders haben!«

Nugent und Oscar sahen einander wie versteinert von diesem plötzlichen Zornesausbruch an, Nugent noch bestürzter als sein Bruder.

Ich versuchte mich in’s Mittel zu legen und die Sache wieder ins Gleiche zu bringen. Bei meiner leichten Lebensphilosophie und meiner beweglichen französischen Natur war es mir unmöglich, einen hinreichenden Grund für diesen heftigen Anspruch der Uebellaune Lucilla’s zu erkennen. Vermuthlich lag etwas in meinem Ton, daß meine Worte sie nur noch aufgebrachter machten. Auch mich unterbrach sie sofort zornig mit den Worten: »Sie haben es vorgeschlagen. Sie trifft der stärkste Tadel.«

Ich entschuldigte mich. Nugent seinerseits folgte meinem Beispiel und Oscar unterstützte uns mit seinem größeren Einfluß. Er ergriff Lucilla’s Hand, küßte dieselbe und flüsterte ihr etwas in’s Ohr. Der Kuß und dass Flüstern wirkten wie ein Zauber. Sie reichte Nugent die Hand, schlang ihren Arm um meinen Nacken und umarmte mich mit der ihr eigenen Anmuth und Grazie. »Verzeiht mir«, sagte sie sanft. »Ich wollte, ich könnte Geduld lernen. Aber ach, Herr Nugent; es ist bisweilen so hart, blind zu sein.«

Ich kann wohl ihre Worte hier wiederholen, aber ich kann dem Leser keinen Begriff von der rührenden Einfachheit, mit welcher sie dieselben sprach und von ihrem kindlich angelegentlichen Bemühen geben, sich Verzeihung zu erwirken. Nugent war so gerührt, daß auch er, nachdem er Oscar einen Blick zugeworfen hatte, in welchem die Frage lag: »dars ich? die Hand, die sie ihm reichte, küßte. Als seine Lippen die Hand berührten, fuhr sie zusammen. Das zarte Roth, welches bei ihr immer das plötzliche Auftauchen eines Gedankens begleitete, überflog ihr Gesicht. Wie bewußtlos behielt sie Nugent’s Hand in der ihrigen, ganz hingenommen von dem Bemühen, sich ihren neuen Gedanken klar zu machen. Einen Augenblick stand sie regungslos brütend da wie eine Statue. Im nächsten Augenblick aber ließ sie Nugent‘s Hand fahren und wandte sich mit heiterer Miene zu mir.

»Werden Sie mich für sehr eigensinnig halten?« fragte sie.

»Warum, liebes Kind?«

»Ich bin noch nicht befriedigt. Ich möchte es noch einmal versuchen.«

»Nein, nein! Wenigstens heute nicht mehr.«

»Ich möchte es noch einmal versuchen«, wiederholte sie. »Nicht auf Ihre Weise, sondern auf meine eigene Art, die ich mir eben ausgedacht habe.« Sie wandte sich nach Oscar um. »Willst Du mir darin zu Willen sein?«

Ich brauche wohl Oscar’s Antwort nicht ausdrücklich anzugeben. Daran wandte sie sich zu Nugent: »Wollen Sie?«

»Sagen Sie nur, was Sie von mir wünschen?« antwortete er.

»Gehen Sie mit Ihrem Bruder an das andere Ende des Zimmers. Hier weiß ich zu genau, wo jeder von Ihnen steht. Madame Pratolungo wird mich hinführen und mich so hinstellen, daß ich Ihrer beider Hände ergreifen kann. Ich möchte, daß dann Jeder von Euch — wer anfangen soll, könnt Ihr durch ein Zeichen miteinander verabreden — meine Hand ergreife, sie einen Augenblick festhalte und dann wieder loslasse. Ich bilde mir ein, daß ich Euch auf diese Weise von einander unterscheiden könnte und ich möchte es sehr gern einmal damit versuchen.«

Die Brüder gingen schweigend an die andere Seite des Zimmers. Ich führte Lucilla ihnen nach bis an die Stelle, wo sie standen. Auf ein Zeichen von mir ergriff Nugent zuerst, wie sie es verlangt hatte, ihre Hand, hielt dieselbe einen Augenblick fest und ließ sie dann wieder fahren.

»Nugent«, rief sie, ohne sich einen Augenblick zu besinnen.

»Ganz richtig«, sagte ich.

Sie lachte vergnügt, nur weiter! Macht mich irre, wenn ihr könnt.«

Die Brüder wechselten geräuschlos ihre Plätze. Oscar, der jetzt genau an derselben Stelle stand, an welcher eben vorher Nugent gestanden hatte, ergriff ihre Hand.

Alsbald rief sie »Oscar!«

»Wieder richtig«, sagte ich.

Auf ein Zeichen Nugent’s ergriff Oscar ihre Hand zum zweiten Male. Sie wiederholte seinen Namen. Auf ein Zeichen von mir stellten sich die Brüder geräuschlos neben sie, Oscar an ihrer rechten, Nugent an ihrer linken Seite. Auf ein von mir gegebenes Signal ergriffen sie ein jeder in demselben Augenblick eine ihrer Hände. Dieses Mal besann sie sich einige Augenblicke, bevor sie sprach, dann aber bezeichnete sie die beiden Brüder wieder richtig. Lächelnd wandte sie sich zur Rechten und sagte, auf den an dieser Seite Stehenden deutend: »Oscar.«

Wir waren alle drei gleich überrascht. Ich untersuchte abwechselnd Oscar’s und Nugent’s Hand. Bis auf die jammervolle Verschiedenheit der Farbe waren die Hände in jeder Beziehung einander völlig gleich, von derselben Größe, derselben Form, derselben Textur der Haut auf keiner der beiden Hände eine Narbe oder ein Zeichen, durch welche man sie von der andern hätte unterscheiden können. Durch welchen geheimnißvollen Divinationsproceß war es ihr also gelungen, jedes Mal richtig herauszufinden, wessen Hand sie berührte?

Sie wollte oder konnte keine deutliche Antwort auf die Frage geben.

»Es regt sich etwas in mir bei der Berührung des Einen, was ich bei der Berührung des Andern nicht empfinde.«

»Und was ist das?« fragte ich.

»Ich weiß es nicht aber es regt sich in mir bei der Berührung Oscar’s und nicht bei der Berührung Nugent’s.« Sie machte allen weiteren Fragen dadurch ein Ende, daß sie vorschlug, wir möchten den Abend mit etwas Musik in ihrem Wohnzimmer beschließen.

Als wir zusammen am Clavier saßen, während die Zwillingsbrüder sich an die andere Seite des Zimmers gesetzt hatten, um uns zuzuhören, flüsterte sie mir in’s Ohr:

»Ihnen will ich es sagen!«

»Was?« fragte ich.

»Woher ich weiß, wer Jeder von ihnen ist wenn sie beide meine Hände berühren. Wenn Oscar sie berührt ergießt sich eine entzückende Empfindung von seiner Hand in die meinige und durchrieselt mich ganz. Ich vermag es nicht deutlicher auszudrücken.«

»Ich verstehe. Und was empfinden Sie, wenn Nugent Ihre Hand berührt?«

»Nichts.«

»Und auf diesem Wege haben Sie die Verschiedenheit zwischen beiden herausgefunden?«

»Auf diesem Wege werde ich die Verschiedenheit zwischen beiden immer wieder herausfinden können. Wenn Oscar’s Bruder es jemals versuchen sollte, sich meine Blindheit zu Nutze zu machen — und er ist dazu im Stande, er lachte über meine Blindheit — so werde ich ihn auf diesem Wege erkennen. Ich habe Ihnen gesagt ehe ich ihn noch kannte, daß ich ihn hasse. — Und ich hasse ihn noch jetzt.«

»Meine liebe Lucilla!«

»Ich hasse ihn noch jetzt.«

Sie schlug die ersten Accorde auf dem Clavier mit einer eigensinnigen Falte auf ihrer niedlichen Stirn an. Unser kleines Abendconcert begann.



Sechstes Kapitel - Nugent bringt Madame Pratolungo in Verlegenheit

Ich war weit entfernt Lucilla’s Ansichten von Nugent Dubourg zu theilen. Sein ungeheures Selbstvertrauen war nach meiner Ansicht viel zu ergötzlich, als daß es im mindestens verletzend hätte sein können. Mir gefiel die Lebhaftigkeit und Munterkeit des jungen Menschen. Er kam meinem Ideal des Feuers und der Entschlossenheit wie sie einem Manne vor dem dreißigsten Jahre anstehen, viel näher als sein Bruder. Soweit ich beide kennen gelernt hatte, war Nugent was man einen guten Gesellschafter nennt und Oscar war das nicht. Meine Nationalität läßt mich großen Wert auf gesellige Eigenschaften legen. Die höheren Tugenden eines Mannes zeigen sich nur gelegentlich unter zwingenden Verhältnissen. Von seinen geselligen Vorzügen werden wir täglich berührt. Ich bin gern munter; ich lobe mir gesellige Vorzüge.

Nur etwas wollte in jenen ersten Tagen bei mir keine rechte Sympathie für Nugent aufkommen lassen. Ich vermochte mir den Eindruck, welchen Lucilla auf ihn hervorgebracht durchaus nicht zu erklären. Die zwingende Gewalt welche sie in so auffallender Weise bei ihrer ersten Begegnung auf ihn geübt hatte, hielt ihn auch, nachdem sie besser miteinander bekannt geworden waren, immer gefesselt. Nie war er in ihrer Gegenwart in heiterer Laune. Herr Finch konnte ihn mit Leichtigkeit in Grund und Boden reden, wenn Lucilla zugegen war. Selbst wenn er uns von den wunderbaren Dingen vorprahlte, die er zu malen gedenke, brauchte Lucilla nur in’s Zimmer zu treten, um ihn zum Schweigen zu bringen. Als er mir zum ersten Male seine amerikanischen Skizzen zeigte, die ich, wenn man mich im Vertrauen um meine Meinung fragt als die der wahren Kunst wenig entsprechenden Versuche eines kühnen Dilettanten bezeichnen möchte, strömte er von Herzensergießungen über; er schlug sich vor die Stirn und bezeichnete sich ganz ernsthaft als den »Mann der Zukunft« in der Landschaftsmalerei.

»Meine Mission, Madame Pratolungo, besteht darin, die Menschheit und die Natur wieder in Einklang zu bringen. Ich gedenke im großartigsten Maßstabe nachzuweisen, wie die Natur in ihren größten Scenen sich den geistigen Bedürfnissen der Menschheit anpassen kann. In unserer Freude wie in unserem Kummer können wir aus feine sympathetische Beziehungen der Natur zu uns rechnen, wenn wir nur wissen, wo wir sie zu suchen haben. Meine Bilder, nein, meine Gedichte in Farben werden das zeigen. Wenn meine Werke, wie es ohne Zweifel der Fall sein wird, durch Lithographieen und Stiche vervielfältigt werden, so wird die Kunst in meinen Händen zum Priesterthum. Und wie stehe ich dann dem Publicum gegenüber? Nur als Landschaftsmaler? Nein! sondern als Großtröster der Menschheit!«

Inmitten dieses Redestroms, — in seiner Aufregung beim Reden glich er Oscar ganz wunderbar — dieses Ergusses von Prophezeihungen seiner eigenen künftigen Größe, trat Lucilla ruhig in’s Zimmer. Der »Großtröster« klappte sofort seine Skizzenmappe zu, ließ das Gespräch über Malerei fallen, bat um etwas Musik und setzte sich wie ein Musterbild conventioneller Schicklichkeit in eine Ecke des Zimmers. Ich fragte ihn später, warum er sich unterbrochen habe, als Lucilla in’s Zimmer getreten sei.

»Habe ich das gethan?« fragte er; »ich weiß nicht warum.«

Die Sache war wirklich unerklärlich, er bewunderte sie aufrichtig, man brauchte ihn nur zu beobachten, wenn er sie ansah, um sich davon zu überzeugen. Er hatte keine Ahnung von ihrer Abneigung gegen ihn; sie verbarg dieselbe sorgfältig um Oscar’s willen. Er empfand die echteste Sympathie für ihr Leiden; seine unsinnige Idee, daß ihre Sehkraft noch wieder hergestellt werden könne, war das natürliche Ergebniß seiner innigen Theilnahme an ihrem Loose. Er war der Heirath seines Bruders nicht zuwider, im Gegentheil, er beleidigte die Würde des Pfarrers, bei welchem er überhaupt fortwährend Anstoß erregte, durch den Vorschlag, die Heirath zu beschleunigen. Ich war selbst zugegen, als er sagte: »Die Kirche ist ja hier dicht beim Hause. Warum können Sie nicht morgen nach dem Frühstück Ihren Ornat anlegen und Oscar glücklich machen?«

Ja noch mehr, er äußerte das lebhafteste, mehr weibliche als männliche Verlangen, zu erfahren, wie die Liebe zwischen Oscar und Lucilla entstanden sei. Ich verwies ihn, soweit Oscar dabei in Betracht kam, auf seinen Bruder als die beste Quelle. Er lehnte es nicht ab, seinen Bruder darüber zu befragen und gestand mir auch nicht, daß das für ihn irgend eine Schwierigkeit habe; er ließ das Gespräch über Oscar einfach fallen und befragte mich in Betreff Lucilla’s. Wie war die Sache bei ihr entstanden? Ich erinnerte ihn an die romantische Einsiedelei Oscar’s in Browndown und forderte ihn auf, sich selbst den Eindruck zu vergegenwärtigen, den diese einsame Existenz auf die erregbare Phantasie eines jungen Mädchens habe hervorrufen müssen. Er wollte aber davon nichts hören, sondern bestand darauf, daß ich ihm das Nähere mittheilten möge. Als ich ihm daran die kleine Liebesgeschichte der beiden jungen Leute erzählte, schien ein Moment derselben einen besonders starken Eindruck auf ihn zu machen. Der erste Eindruck der Stimme seines Bruders auf Lucilla schien ihn merkwürdig zu frappiren. Er konnte die Sache nicht begreifen; er machte sich darüber lustig; er wollte es nicht glauben. Ich mußte ihn daran erinnern, daß Lucilla blind sei und daß die Liebe, welche sich sonst ihren Weg zum Herzen zuerst durch die Augen zu bahnen pflegt, in ihrem Falle den Weg nur durch das Gehör habe finden können. Diese Erklärung verfehlte ihre Wirkung nicht; sie machte ihn nachdenklich.

»Der Klang seiner Stimme«, sagte er zu sich selbst, indem er fortwährend über dem Problem zu brüten schien. »Die Leute sagen, meine Stimme gleiche genau der Oscar’s«, fügte er hinzu, indem er sich plötzlich an mich wandte: »Finden Sie das auch?«

Ich antwortete, daß darüber gar kein Zweifel bestehen könne. Er stand leicht zusammenschauernd, wie Jemand, den es fröstelt, von seinem Stuhle aus und brachte das Gespräch auf einen andern Gegenstand. Das nächste Mal, wo er mit Lucilla zusammentraf, hatte sein Benehmen, weit entfernt, vertraulicher zu sein, etwas noch Gezwungeneres als zuvor. Das Verhältniß beider zu einander schien so bleiben zu sollen, wie es sich gleich anfänglich gestaltete. In meiner Gesellschaft war er immer ganz à son aise. In Lucilla’s Gegenwart niemals!

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Welchen Schluß hätte eine Frau von meinen Erfahrungen aus alle dem ziehen müssen?

Jetzt sehe ich das klar genug ein; ich schwöre aber als rechtschaffene Frau, daß ich zur Zeit die Sache nicht begriff. Wir sind nicht immer consequent in unserm Wesen. Die gescheidesten Menschen lassen sich gelegentlich Dummheiten zu Schulden kommen, gerade wie dumme Menschen bisweilen lichte Augenblicke von Klugheit haben. Es kann Einer seine Angelegenheiten mit gewohnter Klugheit am Montag, Dienstag und Mittwoch wahrgenommen haben; daraus folgt noch keineswegs, daß er sich nicht am Donnerstag wie ein Narr benehmen wird. Man mag es sich erklären wie man will, Thatsache ist, daß ich während einer viel längeren Zeit, als einzugestehen meiner Selbstachtung schmeichelt, nichts argwöhnte und nichts entdeckte. Mir fiel sein Benehmen in Lucillas Gegenwart als sonderbar und unerklärlich auf; das war aber auch Alles.

Während der ersten vierzehn Tage von Nugent’s Anwesenheit kam der Londoner Doctor, um Oscar zu besuchen und fand den Zustand desselben vollkommen befriedigend. Die schrecklichen epileptischen Zufälle würden, erklärte er, den Patienten fortan nicht mehr seinigen und seine Freunde nicht mehr in Angst und Sorge versetzen, die Heirath könne ruhig zur festgesetzten Zeit geschlossen werden; Oscar sei geheilt.

Durch den Besuch des Doctors wurden wir sehr natürlich veranlaßt, nicht nur mit erneuertem Interesse die Wirkungen der Medicin auf Oscar zu beobachten, sondern auch unsere Aufmerksamkeit wieder seiner falschen Stellung Lucilla gegenüber zuzuwenden. Nugent und ich hatten darüber eine Discussion. Ich eröffnete die Unterhaltung mit dem Vorschlage, mit vereinten Kräften dahin zu wirken, daß sein Bruder sich zu einem männlich offenen Verfahren entschließe. Nugent sagte zu diesem Vorschläge anfänglich weder Ja noch Nein. Er, der sonst bei jeder Gelegenheit sofort mit sich im Reinen war, brauchte in diesem Falle Zeit.

»Ich muß«, sagte er, »zuvor noch etwas fragen. Ich möchte diese sonderbare Antipathie Lucilla’s, vor der mein Bruder sich so sehr fürchtet, gern verstehen. Können Sie mir dieselbe erklären?«

»Hat Oscar versucht, sie Ihnen zu erklären?« fragte ich meinerseits.

»Er hatte derselben in einem Briefe an mich Erwähnung gethan und versucht, sie mir zu erklären, als ich ihn bei meiner Ankunft in Browndown fragte, ob Lucilla die Veränderung seiner Hautfarbe entdeckt habe. Es gelang ihm aber durchaus nicht, mir die Sache begreiflich zu machen.«

»Was finden Sie denn so schwer begreiflich?«

»Folgendes: Soweit ich sehen kann, hat sie kein Gefühl für die Gegenwart dunkler Menschen in einem Zimmer, oder für das Vorhandensein dunkler Farben in der Decoration eines Zimmers. Nur wenn man ihr sagt, daß solche Personen oder solche Dinge da sind, macht sich ihr Vorurtheil geltend. Aus welcher Geistesverfassung soll man sich eine so sonderbare Idiosynkrasie erwachsen denken? Es ist undenkbar, daß sie irgendeine bewußte Erinnerung von heiteren oder trüben Farben haben könne, wenn es wahr ist, daß sie schon ein Jahr nach ihrer Geburt erblindet ist. Wie erklären Sie sich das? Kann es eine rein instinctive Antipathie geben, die schlummert, bis sie durch äußere Einflüsse geweckt wird und die sich auf keine praktische Erfahrung irgendwelcher Art stützt?«

»Ich kann mir denken, daß es so etwas giebt«, erwiderte ich. »Wie erklären Sie es, daß ich als Kind, das eben laufen konnte, vor dem ersten Hunde, der mir zu Gesicht kam und mich anbellte, zurückschreckte? Ich konnte doch in diesem Alter weder durch Erfahrung noch durch Mittheilung Anderer wissen, daß das Bellen eines Hundes bisweilen der Vorläufer eines Bisses ist. Mein Schreck bei jener Gelegenheit war doch wohl auch rein instinctiver Natur, nicht wahr?«

»Ihr Vergleich ist ganz scharfsinnig«, sagte er, »aber ich bin doch noch nicht befriedigt.«

»Sie müssen auch in Betracht ziehen,« fuhr ich fort, »daß sie eine positiv unangenehme Vorstellung mit dunklen Farben verbindet. Dieselben bringen bisweilen vermittelst ihres Tastsinnes einen unangenehmen Eindruck auf ihre Nerven hervor. Sie fand aus diese Weise am ersten Tage meiner Ankunft hier heraus, daß ich ein dunkles Kleid trug.«

»Und doch berührt sie das Gesicht meines Bruders, ohne eine Veränderung daran zu entdecken.«

Ich begegnete auch diesem Einwande befriedigend für mich, aber nicht für ihn.

»Ich halte es für sehr möglich«, sagte ich, »daß sie auch diese Entdeckung gemacht haben würde, wenn sie ihn nach der Entstellung seines Gesichts zum ersten Male berührt hätte. Aber sie untersucht ihn jetzt mit einer vorgefaßten Vorstellung, die von ihren früheren Eindrücken bei Berührung seiner Haut herrührt. Wenn man dem modificirenden Einflusse dieses Eindruckes auf ihren Tastsinn gebührende Rechnung trägt, wenn man ferner bedenkt, daß es sich hier um eine Veränderung der Farbe und nicht der Textur der Haut handelt, so muß, wie mir scheint, die Nichtentdeckung der dunkeln Hautfarbe Ihres Bruders von Seiten Lucilla’s erklärlich erscheinen.«

Er schüttelte den Kopf; er gab zu, daß er die Richtigkeit meiner Ansicht nicht bestreiten könne; aber er war doch nicht befriedigt.

»Haben Sie über die Periode ihrer Kindheit, bevor sie erblindete, nähere Erkundigungen eingezogen?« fragte er. »Vielleicht daß sie doch unbewußt die Nachwirkung einer in der Zeit, wo sie noch sehen konnte, erlittenen Erschütterung des Nervensystems empfindet.«

»Ich habe nie daran gedacht, mich darnach noch näher zu erkundigen.«

Giebt es eine für uns erreichbare Person, welche sie während ihres ersten Lebensjahres fortwährend genau zu beobachten Gelegenheit hatte? Ich fürchte, darauf ist nach einer so langen Zeit nicht zu hoffen.«

»Es ist eine solche Person hier im Hause«, sagte ich. »Ihre alte Amme lebt noch.«

»Schicken Sie doch gleich nach ihr.«

Zillah erschien. Nachdem er ihr erklärt hatte, was er von ihr zu wissen wünsche, begann Nugent sofort sein Verhör.

»Ist Ihr Fräulein als kleines Kind jemals durch eine plötzlich vor ihr auftauchende dunkle Gestalt oder einen dunkeln Gegenstand erschreckt worden?«

»Niemals, Herr! Ich habe immer gut aufgepaßt, daß nichts in ihre Nähe kam, was sie hätte erschrecken können, so lange das arme Kind noch sehen konnte.«

»Können Sie sich ganz fest auf Ihr Gedächtniß verlassen?«

»Ganz fest, Herr, wenn von alten Zeiten die Rede ist.«

Zillah wurde wieder fortgeschickt.

Nugent, der bis dahin ungewöhnlich ernst und präoccupirt gewesen war, wandte sich zu mir mit dem Ausdruck der Befreiung.

»Als Sie mir vorschlugen, sagte er, »mich mit Ihnen zu vereinigen, um Oscar zu einer offenen Erklärung gegen Lucilla zu bewegen, fühlte ich mich wegen der möglichen Folgen dieses Schrittes etwas unruhig. Nach dem, was ich eben gehört habe, ist diese Besorgniß beseitigt.«

»Welche Besorgniß?« fragte ich.

»Die Besorgniß, daß Oscar’s Bekenntniß eine Entfremdung zwischen ihnen bewirken und einen Anfschub der Heirath zur Folge haben könnte. Ich bin gegen jeden Aufschub. Es liegt mir besonders daran, daß Oscar’s Heirath nicht aufgeschoben werde. Ich bekenne Ihnen, daß ich beim Beginn unserer Unterhaltung Oscar’s Ansicht war, daß er Recht thun würde, sich ihrer dauernden Neigung durch eine Heirat versichern, bevor er es wage, ihr die Wahrheit zu gestehen. Jetzt, nach dem was die Amme uns mitgetheilt hat, sehe ich in einem sofortigen Geständniß keine denkbare Gefahr.«

»Kurz«, erwiderte ich, »Sie erklären sich mit mir einverstanden?«

»Ich erkläre mich mit Ihnen einverstanden, obgleich ich der eigensinnigste Mensch von der Welt bin. Die Chancen scheinen jetzt Oscar durchaus günstig zu sein. Lucillais Antipathie ist nicht, wie ich fürchtete, eine in einem krankhaften Zustande des Organismus wurzelnde. Sie ist nichts weiter, sagte Nugent mit der Miene eines Gelehrten, der eine physiologische Frage ein für alle Mal zum Abschluß bringt, »sie ist nichts weiter, als ein grillenhafter Ausfluß, eine krankhafte Beigabe ihrer Blindheit. Eine solche Antipathie kann sie noch überwinden, sie würde sie, glaube ich, sicher überwinden, wenn sie sehen könnte. Um es kurz zu sagen, nach dem, was ich soeben erfahren habe, sage ich mit Ihnen: Oscar macht aus einer Mücke einen Elephanten. Er hätte sich längst mit Lucilla verständigen sollen. Ich habe einen unbegrenzten Einfluß auf ihn und will damit Ihren Einfluß unterstützen Oscar soll sein Bekenntniß abgelegt haben, ehe die Woche zu Ende geht.«

Wir bekräftigten dieses Abkommen durch einen Händedruck. Als ich ihn so heiter, kühn und entschlossen vor mir sah, ganz Oscar, wie ich mir diesen immer gewünscht hatte, da, ich gestehe es zu meiner Schande, bedauerte ich es in meinem Herzen, daß wir nicht an jenem Abend in der Dämmerstunde, welche Lucilla die Pforten eines neuen Lebens eröffnet hatte, Nugent begegnet waren.

Nachdem wir uns so gegen einander ausgesprochen hatten, während unser Liebespärchen einen Spaziergang über die Hügel machte, trennten wir uns, um uns, wie ich glaubte, an diesem Tage nicht wieder zu sehen.

Nugent ging nach dem Gasthof, um sich einen Stall anzusehen, welchen er zu einem Atelier umzuwandeln gedachte, da kein Zimmer in Browndown halb groß genug war, um das erste riesige Bild, mit welchem der »Großtröster« der Kunst die Welt in Erstaunen setzen wollte, darin zu malen. Ich versuchte es, da ich nichts Besonderes zu thun hatte, Oscar und Lucilla entgegenzugehen. Da ich sie aber verfehlte, schlenderte ich über Browndown zurück. Nugent saß, eine Cigarre rauchend, allein auf der niedrigen Gartenmauer an der Vorderseite des Hauses. Er stand auf und trat, indem er den Finger geheimnißvoll auf den Mund legte, auf mich zu.

»Sie dürfen nicht in’s Haus gehen«, sagte er, »und nicht so laut reden, daß man Sie hören kann.« Er deutete um die Ecke des Hauses nach dem kleinen, an der Seite desselben gelegenen, dem Leser bereits bekannten Zimmer. »Oscar und Lucilla sind da zusammen eingeschlossen und er macht ihr in diesem Augenblicke sein Geständniß.«

Ich gab durch Blick und Geberden mein Erstaunen zu erkennen und Nugent fuhr fort:

»Ich sehe, Sie möchten wissen, wie das gekommen ist. Sie sollen Alles erfahren. Während ich mir den Stall ansah, der beiläufig nicht halb groß genug für ein Atelier wie ich es gebrauche ist, brachte mir Oscar’s Diener ein kleines mit Bleistift geschriebenes Billet, in welchem mich Oscar dringend bat, sofort zu ihm nach Browndown zu kommen. Ich fand ihn hier draußen in furchtbarer Aufregung auf mich wartend. Er warnte mich, gerade wie ich Sie eben gewarnt habe, nicht laut zu reden und zwar aus demselben Grunde: Lucilla war im Hause.«

»Ich dachte, sie wären spazieren gegangen» unterbrach ich ihn.

»Sie waren auch spazieren gegangen. Aber Lucilla klagte über Ermüdung und Oscar brachte sie hierher, damit sie sich ausruhe. Ich erkundigte mich nun, was es denn gegeben habe und erfuhr von Oscar, daß das Geheimniß seiner Hautfarbe Lucilla zum zweiten Male zu Ohren gekommen sei.

»Gewiß wieder Jicks!« rief ich aus.

»Nein« dieses Mal nicht Jicks, sondern Oscar’s eigener Diener.«

»Und wie das?«

»Die Veranlassung gab ein kleiner Junge im Dorfe. Oscar und Lucilla fanden den kleinen Knirps vor dem Hause heulend. Sie fragten ihn nach der Ursache. Der Knirps erzählte ihnen, der Diener in Browndown habe ihn geschlagen. Lucilla war empört; sie bestand darauf, daß die Sache näher untersucht werde. Oscar ließ sie im Wohnzimmer, unglücklicherweise, wie sich nachher ergab, ohne die Thür hinter sich zu schließen, rief den Diener nach dem Vorplatz und fragte ihn, warum er den Jungen geschlagen habe. Der Diener antwortete: »Ich habe dem Jungen ein paar Ohrfeigen gegeben, um ein Exempel für alle Uebrigen zu statuiren.« »Und was hat er verbrochen?« »Er hat mit einem Stock an die Thür geklopft, Herr, und er war nicht der erste, der das während Ihrer Abwesenheit gethan, und hat gefragt, ob der blaue Mann zu Hause sei.« Lucilla hatte durch die offene Thür jedes Wort mit angehört. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, was nun erfolgte.«

In der That brauchte er mir diesen Theil des Vorgangs nicht zu erzählen. Ich erinnerte mich nur zu gut, wie es das erste Mal bei der ähnlichen Veranlassung in unserem Garten zugegangen war und ich begriff, daß Lucilla in ihren Gedanken diesen und den eben erwähnten früheren Vorfall combiniren und ihr stets wacher Argwohn hier auf eine bündige Erklärung dringen und Oscar zu raschem Handeln zwingen mußte.

»Ich verstehe«, sagte ich. »Natürlich bestand sie auf eine Erklärung; natürlich stellte er sich durch eine plumpe Entschuldigung blos und rief Sie dann zur Hilfe. Was haben Sie gethan?«

»Was ich thun zu wollen Ihnen diesen Morgen erklärt habe. Er hatte zuversichtlich darauf gerechnet, daß ich ihm beistehen werde, es war ein Jammer, den armen Menschen anzusehen. Aber um seiner selbst willen weigerte ich mich, ihm nachzugehen. Ich ließ ihn die Wahl, ihr selbst die Wahrheit zu gestehen oder mir zu überlassen, es zu thun. Da war kein Augenblick zu verlieren; sie war in einer Laune, mit der nicht zu spaßen war, das kann ich Ihnen versichern. Oscar benahm sich sehr gut, wie er es immer thut, wenn ich ihn in die Enge treibe. Mit einem Wort, er war Mann genug, zu fühlen, daß es an ihm selbst sei, die Wahrheit zu enthüllen und nicht an mir. Ich umarmte den armen, alten Jungen nur um ihn zu ermuthigen, schob ihn in’s Zimmer, schloß die Thür hinter ihm und ging hierher. Er muß jetzt damit fertig sein. Und er ist damit fertig! Da kommt er her!«

Oscar kam mit entblößtem Kopfe aus dem Hause gelaufen. Seine Erscheinung trug die Spuren einer Aufregung, die mir sagten, daß etwas Unerwartetes ihn Verhindert haben müsse, sich gegen Lucilla auszusprechen.

Nugent redete ihn an.

»Nun, was giebt’s«, fragte er. »Hast Du ihr die Wahrheit gesagt?«

»Ich habe es Versucht.«

»Versucht? Was willst Du damit sagen?«

Oscar schlang seinen Arm um den Hals seines Bruders und lehnte seinen Kopf an seine Schulter, ohne ein Wort zu antworten.

Jetzt richtete ich meinerseits eine Frage an ihn.

»Hm Lucilla sich geweigert Sie anzuhören?« fragte ich.

»Nein.«

»Hat sie irgendetwas gesagt oder gethan —«.

Er hob den Kopf von der Schulter seines Bruders und unterbrach mich, noch ehe ich meine Frage beenden konnte, mit den Worten:

»Sie brauchen sich wegen Lucilla’s keine Sorge zu machen; ihre Neugierde ist befriedigt.«

»Ist sie auch in Bezug aus Sie befriedigt?« Er ließ seinen Kopf wieder auf seines Bruders Schulter sinken und antwortete mit schwacher Stimme: »Vollkommen befriedigt.«

Nugent und ich sahen einander fassungslos an. Lucilla hätte alles gehört, ohne daß ihr Verhältniß zu ihm dadurch im Mindesten gelitten hätte? Dieses unglaublich glückliche Resultat hätte er uns mitzutheilen und er thäte es mit der Miene eines Gedemüthigten, in einem verzweifelten Ton? Nugent riß die Geduld.

»Mache ein Ende mit dieser Mystification«, sagte er, indem er Oscar unsanft von sich stieß. »Ich Verlange eine klare Antwort auf eine klare Frage. Sie weiß, daß der Junge an die Thür geklopft und gefragt hat, ob der blaue Mann zu Hause sei. Weiß sie, was der unverschämte Bengel damit gemeint hat? Ja oder Nein?«

»Ja.«

»Weiß sie, daß Du der »blaue Mann« bist?«

»Nein.«

»Nein!!! Wer meint sie denn, daß es sei?«

In dem Augenblick, wo er diese Frage that, erschien Lucilla an der Hausthür. Mit einem suchenden Ausdruck ließ sie ihre blinden Augen umherschweifen und rief laut: »Oscar! Warum hast Du mich allein gelassen? Wo bist Du?«

Oscar wandte sich zitternd nach seinem Bruder um.

»Um Gotteswillen! Verzeih’ mir, Nugent!« sagte er, »sie meint, Du seiest es.«



Siebentes Kapitel - Er zeigt sich den Verhältnissen gewachsen.

Bei diesem überraschendem so plötzlich in wenigen Worten enthüllten Bekenntniß verlor selbst der entschlossene Nugent alle Selbstbeherrschung; er stieß einen Schrei aus, den Lucilla hörte. Sie wandte sich in dem Glauben, daß Oscar den Schrei ausgestoßen habe, sofort nach uns um.

»Ah, da bist Du!« rief sie aus. »Oscar, Oscar, was hast Du nur heute?«

Oscar war unfähig zu antworten. Er konnte nur seinem Bruder einen flehenden Blick zuwerfen, als Lucilla sich uns näherte. Der stumme Vorwurf, mit welchem Nugents Blick sein Bekenntniß beantworten, hatte den letzten Rest seiner Widerstandskraft gebrochen, er weinte still wie ein Weib an Nugent’s Brust.

Einer mußte das allgemeine Schweigen brechen; ich entschloß mich dazu.

»Es ist nichts, liebes Kind«, sagte ich, indem ich zu Lucilla trat. »Wir gingen eben am Hause vorüber und Oscar kam herausgelaufen, um uns hinein zu holen.«

Meine Begütigungen machten sie nur noch unruhiger.

»Uns?« wiederholte sie. »Wer ist denn bei Ihnen?«

»Nugent.«

Auf der Stelle zeigte sich die Wirkung des unglücklichen Mißverständnisses, zu welchem Oscar sie verleitet hatte. Sie wurde todtenbleich bei dem für sie entsetzlichen Gedanken, daß sich der Mann mit dem blauen Gesicht in ihrer unmittelbaren Nähe befinde.

»Bringen Sie mich so nahe an ihn heran, daß ich mit ihm reden kann, aber ohne ihn berühren zu müssen«, flüsterte sie mir zu. »Ich habe gehört, wie er aussieht. O, wenn sie ihn sähen, wie ich ihn in dem mich umgebenden Dunkel sehe! Aber ich muß um Oscar’s willen mit seinem Bruder reden.«

Sie ergriff meinen Arm und zog mich dicht an sich heran. Was hätte ich sagen, was hätte ich thun sollen? Ich wußte mir weder in dem Einen, noch in dem Anderen zu rathen.

Ich richtete meine Blicke von Lucilla auf die beiden Brüder. Da stand der schwache Oscar, überwältigt von der demüthigenden Lage, in welche er sich selbst dem Weibe gegenüber, das er heirathen sollte, und dem Bruder gegenüber, den er liebte, gebracht hatte. Und neben ihm stand der starke Nugent, seiner selbst vollkommen Herr, seinen Bruder mit dem Arm umschlingend, mit erhobenem Haupt und mit erhobener Hand, die mir ein Zeichen gab, zu schweigen. Er hatte Recht. Ich brauchte nur Lucilla’s Gesicht anzusehen, um mich zu überzeugen, daß die delikate und verhängnißvolle Enthüllung der Wahrheit nicht auf der Stelle und im Augenblick geschehen könne.

»Sie sind heute ungewöhnlich nervös, Lucilla«, sagte ich, »lassen Sie uns nach Hause gehen.«

»Nein«, antwortete sie, »ich muß mich daran gewöhnen, mit ihm zu reden. Ich will gleich heute damit den Anfang machen. Bringen Sie mich zu ihm, aber lassen Sie ihn mich nicht berühren.«

Nugent machte sich, als er uns auf sich zukommen sah, aus der Umarmung Oscar’s los, dessen Unfähigkeit, uns aus unserer Verlegenheit zu helfen, zu offenbar war, als daß man sich einen Augenblick darüber hätte täuschen können. Er deutete auf die niedrige Gartenmauer und bedeutete seinen Bruder, sich, ehe Lucilla wieder mit ihm reden könne, dahin zu begeben. Wie recht er daran that, sollte sich bald genug zeigen. Kaum hatte Oscar uns verlassen, als Lucilla nach ihm fragte. Nugent antwortete, Oscar sei wieder in’s Haus gegangen, um seinen Hut zu holen.

Der Klang von Nugent’s Stimme half ihr, die Entfernung, in der sie sich von ihm befand, ohne meinen Beistand zu berechnen. Noch immer meinen Arm fest haltend stand sie still und redete ihn an.

»Nugent«, sagte sie. »ich habe Oscar veranlaßt, mir mitzutheilem was er mir längst hätte mittheilen sollen. »Er hat«, fuhr sie fort, indem sie bei jedem Satz nach Selbstbeherrschung rang und schwer athmete, »eine thörichte Antipathie bei mir entdeckt; ich weiß nicht, wie er sie herausgefunden hat; ich hatte versucht sie vor ihm zu verbergen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wogegen diese Antipathie gerichtet ist.«

Nach diesen Worten machte sie eine längere Pause, zog mich fester an sich und kämpfte einen immer schwereren Kampf gegen die unwiderstehliche Antipathie, die wie ein Fluch aus ihr lastete. In Nugent’s Wesen aber äußerte sich, während er ihr zuhörte, der Zwang, dem er in ihrer Gegenwart immer unterlag, in noch frappanterer Weise als zuvor.

Die Augen auf den Boden heftend, schien es ihm zu widerstreben, sie auch nur anzusehen.

»Ich glaube ich verstehe«, fuhr sie fort, »warum Oscar mir nicht gern sagen wollte« — hier hielt sie wieder inne, offenbar weil sie nicht wußte, wie sie sich ausdrücken sollte, ohne Gefahr zu laufen, ihn zu verletzen — »mir nicht gern sagen wollte«, nahm sie wieder auf, »was Sie an sich haben, was Sie von anderen Leuten unterscheidet. Er fürchtete, meine alberne Schwäche möchte mich ein Vorurtheil gegen Sie fassen lassen. Ich komme aber, um Ihnen zu sagen, daß ich diese Schwäche nicht über mich Herr werden lassen will. Ich habe mich ihrer nie mehr geschämt als jetzt. Auch ich bin ja unglücklich und sollte Sympathie für Sie fühlen, anstatt —«.

Ihre Stimme war bei den letzten Worten immer schwächer geworden. Sie lehnte sich mit schwerem Kopfe an mich. Ich sah auf den ersten Blick, daß sie, wenn ich sie noch einen Augenblick fortfahren ließe, ohnmächtig werden würde.

»Sagen Sie Ihrem Bruder, daß wir nach dem Pfarrhause zurück gegangen sind—, sagte ich zu Nugent. Jetzt zum ersten Male blickte er zu Lucilla auf.

»Sie haben Recht—, antwortete er. »Bringen Sie sie nach Hause.«

Er wiederholte das Zeichen, mit dem er mich schon einmal bedeutet hatte, zu schweigen und ging zu Oscar nach der Gartenmauer an der Vorderseite des Hauses.

»Ist er fort?« fragte sie.

»Ja.«

Dicke Schweißtropfen standen ihr auf der Stirn. Ich fuhr ihr mit meinem Schnupftuch über das Gesicht und ließ ihr Gesicht vom Winde bestreichen.

»Geht es Ihnen jetzt besser?«

»Ja.«

»Können Sie nach Hause gehen?«

»Sehr gut.«

Ich legte ihren Arm in den meinigen. Nachdem wir einige Schritte gethan hatten, stand sie plötzlich still, wie es schien, in einer nervösen Angst vor einem ihren Weg hemmenden Gegenstande. Sie schwang ihren kleinen Spazierstock langsam vor- und rückwärts in der Luft, wie Jemand, der einen dichten Wald passirt und die niedrigen Zweige und Aeste, die ihn am Vorschreiten hindern, bei Seite schiebt.

»Was machen Sie da?« fragte ich.

»Ich reinige die Luft«, antwortete sie, »die Luft ist voll von ihm. Ich bin in einem Wald voll schwebender Gestalten mit blauen Gesichtern. Geben Sie mir Ihren Arm, daß wir rasch hindurchkommen!«

»Lucilla!«

»Seien Sie mir nicht böse. Ich komme schon wieder zu mir; Kein Mensch weiß besser als ich, welche Thorheit, welche Verrücktheit es ist. Ich habe einen festen Willen und ich bin entschlossen, es koste was es wolle, mich dieses Mal von meiner Schwäche frei zu machen. Ich kann und will Oscar’s Bruder nicht merken lassen, daß er ein Gegenstand des Entsetzens für mich ist.«

Sie stand abermals still und gab mir einen Versöhnungskuß. »Schelten Sie meine Blindheit, liebe Freundin, aber schelten Sie mich nicht. Wenn ich nur sehen könnte —! O, wie kann ich mich Ihnen verständlich machen, die Sie nicht im Dunkel der Nacht ihr Leben verbringen müssen.« Schweigend und nachdenklich ging sie einige Schritte weiter und sagte dann wieder: »Wollen Sie nicht über mich lachen, wenn ich Ihnen etwas sage?«

»Brauche· ich Sie das zu versichern?«

»Stellen Sie sich vor, Sie lägen Nachts im Bette.«

»Nun?«

»Ich habe mir von Leuten erzählen lassen, daß sie bisweilen mitten in der Nacht, ohne daß irgend ein Geräusch sie gestört hätte, aufgewacht sind und daß sie ohne irgend einen Grund sich eingebildet haben, es sei Jemand in ihrem dunklen Zimmer. Ist Ihnen je etwas Aehnliches begegnet?«

»Gewiß, liebes Kind; es begegnet vielen Menschen, sich einmal so etwas einzubilden, wenn ihre Nerven ein wenig aufgeregt sind.«

»Nun gut. Das bilde ich mir in meiner nervösen Aufregung ein. Und was haben Sie gethan, als Ihnen das begegnete?«

»Ich zündete ein Licht an, überzeugte mich, daß meine Vorstellung falsch sei.«

»Nun denken Sie sich, Sie wären in einer endlosen Nacht, ohne sie erhellen zu können, allein mit Ihrer Phantasie im Dunkeln. Das ist meine Lage. In einer so hilflosen Lage aber würden Sie sich nicht leicht von der Verkehrtheit Ihrer Vorstellung überzeugen können, nicht wahr? Sie würden vielleicht sehr mit Unrecht, aber doch entsetzlich unter dieser Vorstellung leiden. »Vielleicht«, schloß sie, indem sie ihren kleinen Spazierstock mit einem traurigen Lächeln in die Höhe hielt, »vielleicht wären Sie dann eine ebenso große Thörin wie die kleine Lucilla und würden die Luft um sich her mit einem solchen Spazierstock zu reinigen suchen.«

Der Zauber ihrer Stimme und ihres Wesens erhöhte noch den Eindruck der rührenden Einfachheit; der tiefen Wahrheit dieser Worte. Sie ließ mich besser erkennen, wie ich es zuvor erkannt hatte, was es heiße, zugleich des Segens einer lebhaften Einbildungskraft theilhaftig und mit dem Fluch der Blindheit beladen zu sein. Einen Augenblick lang war ich in tiefe Bewunderung und Liebe für sie versunken, vergaß ich die schreckliche Lage, in der wir uns alle befanden. Unbewußt erinnerte sie mich wieder daran, als sie meinen Arm ergriff, mit mir weiter ging und zu mir sagte:

»Vielleicht war es Unrecht von mir, Oscar die Wahrheit abzunöthigen. Vielleicht hätte ich mich mit seinem Bruder ausgesöhnt, wenn ich nie erfahren hätte, wie derselbe aussieht. Und doch habe ich von Anfang an gefühlt, daß er etwas Sonderbares an sich habe, ohne daß man mir gesagt und ohne daß ich gewußt hätte, was es sei. Diese Antipathie muß also ihren Grund in meiner Disposition gehabt haben.«

Diese Worte schienen mir beruhigend für den Gemüthszustand, der Lucilla zu ihrem beklagenswerthen Irrthum verleitet hatte. Ich that ihr vorsichtig einige Fragen, um die Richtigkeit meiner Ansicht zu erproben.

.

»Sie sprachen eben davon, daß Sie Oscar die Wahrheit abgenöthigt hätten,« sagte ich »Was hatte Sie argwöhnen lassen, daß; er Ihnen die Wahrheit verberge?«

»Er war so eigenthümlich verlegen und verwirrt«, antwortete sie; »jeder andere an meiner Stelle würde auch Verdacht geschöpft haben, daß Oscar mir die Wahrheit vorenthalte.«

Die Antwort war bündig.

»Und wie haben Sie die Wahrheit herausgefunden?« fragte ich weiter.

»Ich errieth sie durch etwas erwiderte sie, »was er in Bezug auf seinen Bruder sagte. Erinnern Sie sich, daß ich eine grillenhafte Abneigung gegen Nugent Dubourg faßte, noch ehe er nach Dimchurch kam?«

»Allerdings.«

»Und erinnern Sie sich ferner, daß ich in meinem Vorurtheil gegen ihn noch bestärkt wurde, als ich ihm am ersten Tage mit der Hand über das Gesicht fuhr, um dasselbe mit Oscar’s Gesicht zu vergleichen?«

»Ich erinnere mich dessen sehr gut.«

»Nun, während Oscar hin- und her redete und sich widersprach, sagte er etwas, etwas ganz Nebensächliches, was mich auf den Gedanken brachte, daß die Person mit dem blauschwarzen Gesicht sein Bruder sein müsse. Das war die von mir bisher vergeblich gesuchte Erklärung meiner beharrlichen Abneigung gegen Nugent! Sein schreckliches dunkles Gesicht muß bei seiner ersten Berührung auf mich eine ähnliche Wirkung geübt haben wie die, welche Ihr schrecklich dunkelviolettes Kleid auf mich geübt hatte.«

Ich begriff nur zu deutlich. Oscar verdankte es lediglich der Mißdeutung, die seine Worte von Seiten Lucilla’s erfahren hatten, daß sein Geheimniß gewahrt blieb. Und Lucilla’s Mißdeutung offenbarte sich jetzt als das natürliche Ergebniß ihres ängstlichen Verlangens, sich ihr Vorurtheil gegen Nugent Dubourg zu erklären. Obgleich das Unheil einmal angestiftet war, machte ich doch zur Beruhigung meines eigenen Gewissens noch einen Versuch, Lucilla’s Glauben an die Richtigkeit ihres falschen Schlusses zu erschüttern.

»Nur eines verstehe ich noch nicht recht«, sagte ich; »ich begreife Oscar’s Verlegenheit Ihnen gegenüber nicht. Nach Ihrer Auffassung hatte er ja nichts zu fürchten und konnte nicht vermuthen, daß Sie das, was er Ihnen sagte, so aufnehmen würden. Wozu brauchte er verlegen zu sein?«

Ein sarkastisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Wo haben Sie Ihr Gedächtniß, liebe Freundin?« rief sie. »Sie vergessen, daß Oscar als er mit mir von seinem Bruder sprach, sich in einem argen Dilemma befand. Auf der einen Seite mahnte ihn meine Abneigung gegen dunkle Farben und dunkle Menschen zu schweigen. Auf der anderen Seite trieb ihn mein ihm bekannter Widerwille, dagegen daß man sich meine Blindheit zu Nutze mache, um Dinge vor mir geheim zu halten, dazu, mir die Wahrheit zu sagen. Ist das, wenn man die Schüchternheit des armen Jungen hinzunimmt, nicht Grund genug, seine Verlegenheit zu erklären? Ueberdies«, fügte sie ernsthafter hinzu, »hatte er’s vielleicht an meinem Benehmen gemerkt, daß er mir Verdruß und Kummer bereitet hatte.«

»Wie das?« fragte ich.

»Erinnern Sie sich nicht, daß er einmal im Garten zugestand, er habe sich das Gesicht blau angemalt, um Blaubart vorzustellen und die Kinder damit zu amüsiren? Das war nicht delikat, nicht zartfühlend von ihm; es sah ihm gar nicht ähnlich, eine solche Unempfindlichkeit gegen die schreckliche Entstellung seines Bruders zur Schau zu tragen. Er hätte daran denken und nicht darüber Scherz treiben sollen. Nun, wir wollen nicht weiter davon reden. Wir wollen hineingehen und etwas musiciren, vielleicht daß wir dann die Sache vergessen.«

Selbst Oscar’s plumpe Entschuldigung bei jenem Auftritt im Garten hatte, anstatt sie in ihrem Argwohn zu bestärken, nur dazu gedient, das bei ihr festgewurzeltel Vorurtheil noch fester zu begründen. In jenem kritischen Augenblick war es für mich unmöglich, mehr zu sagen, ehe ich mich mit den Zwillingsbrüdern berathen hatte, was zunächst zu geschehen habe. Der Gedanke an die Zukunft beunruhigte mich lebhaft. Wie, fragte ich mich, würde sie es aufnehmen, was würden die Folgen für Oscar sein, wenn sie erfährt, was sie doch erfahren mußte, wie schrecklich sie betrogen sei. Ich gestehe offen, daß ich vor der Beantwortung dieser Frage zurückschreckte.

Als wir an den Punkt gelangten, wo das Thal eine Biegung macht, sah ich mich noch einmal nach Browndown um. Die Zwillingsbrüder standen noch an derselben Stelle, an der wir sie verlassen hatten. Obgleich ihre Gesichter nicht mehr zu erkennen waren, konnte ich doch ihre Gestalten noch deutlich unterscheiden. Oscar saß lauernd auf der Gartenmauer; Nugent stand aufrecht neben ihm, die eine Hand auf seine Schulter gelegt. Selbst in dieser Entfernung sprachen sich die Charaktere beider Männer in ihrer Haltung aus.

Als wir in die Wendung des Thales einbogen, welche uns ihren Anblick abschnitt, fühlte ich, so leicht ist es, ein Weib zu trösten, daß die gebietende Stellung Nugent‘s einen ermuthigenden Eindruck auf mein Gemüth gemacht hatte. »Er wird schon einen Ausweg finden’, sagte er mir, »Nugent wird uns hindurch helfen!«



Achtes Kapitel - Nugent findet einen Ausweg.

Wir setzten uns ans Klavier, wie Lucilla es vorgeschlagen hatte; sie bat mich zuerst, etwas allein zu spielen. Ich lehrte sie damals gerade eine Sonate von Mozart und versuchte es nun, diese Lection fortzusetzen; aber ich spielte an diesem Tage so schlecht wie nie zuvor. Die göttliche Heiterkeit und Vollkommenheit, welche Mozart’s Musik nach meinem Urtheil vor aller übrigen Musik auszeichnet, kann nur von einem Spieler würdig wiedergegeben werden, der sich mit ganzem Gemüthe ungetheilt dem Werke hingibt. In meiner verzehrenden Angst konnte ich jene himmlischen Ideen nur profaniren, konnte ich sie nicht wiedergeben. Lucilla ließ es gelten, als ich mich entschuldigte, und setzte sich statt meiner ans Klavier.

Eine halbe Stunde herging ohne Nachricht von Browndown.

An und für sich ist eine halbe Stunde gewiß ein sehr kurzer Zeitraum; wenn man aber mit angstvoller Spannung einer Nachricht harrt, so ist sie eine Ewigkeit. Jede Minute, die verfloß, ohne daß Lucilla aus ihrer Täuschung gerissen wurde, empfand ich wie einen Gewissensbiß. Je länger wir sie in ihrer Täuschung verharren ließen, desto peinlicher mußte die Erfüllung der harten Pflicht, sie aufzuklären, werden. Ich wurde immer unruhiger; Lucilla ihrerseits fing an, über Ermüdung zu klagen; nach der Aufregung, die sie durchgemacht hatte, kam jetzt die unvermeidliche Reaction. Ich rieth ihr, auf ihr Zimmer zu gehen und sich auszuruhen. Sie befolgte meinen Rath. In dem Gemüthszustande, in welchem ich mich befand, gewährte mir es unaussprechliche Erleichterung, allein zu sein.

Nachdem ich eine Weile im Zimmer auf- und abgegangen war und vergebens versucht hatte, einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu finden, die uns jetzt bedrängten, entschloß ich mich, nicht länger auf die Nachrichten, die nicht kommen wollten, zu warten. Die Brüder waren noch immer in Browndown und ich beschloß daher, dorthin zurückzukehren.

Ich öffnete leise die Thür von Lucilla’s Zimmer und blickte hinein; sie schlief. Nachdem ich Zillah ans Herz gelegt hatte, gut für ihre junge Herrin zu sorgen, schlüpfte ich zum Hause hinaus.

Als ich über den Rasen ging, hörte ich die Gartenthür sich öffnen. Einen Augenblick später stand der Mann, den zu sehen mich so sehnlich verlangt hatte, stand Nugent Dubourg vor mir. Er hatte sich von Oscar den Schlüssel geliehen und war allein nach dem Pfarrhause gekommen, um mir zu sagen, was zwischen ihm und seinem Bruder vorgefallen sei.

»Das ist das erste Angenehme, das mir heute begegnet«, sagte er. »Ich hatte mir gerade überlegt, wie ich es wohl möglich machen könnte, Sie allein zu sprechen. Und da kommen Sie mir allein entgegen. Wo ist Lucilla? Können wir darauf rechnen, hier im Garten ungestört zu bleiben?«

Ich beruhigte ihn in Betreff dieser beiden Punkte. Er sah entsetzlich bleich und verstört aus. Noch ehe er die Lippen öffnete, sah ich, daß auch er, seit ich ihn verlassen, einen schweren Kampf gekämpft habe.

Am Ende des Gartens befand sich ein Pavillon mit der Aussicht über die einsam daliegenden Hügel Hier setzten wir uns nieder und hier eröffnete ich in meiner ungestümen Weise die Unterhaltung mit der furchtbaren Frage: »Wer soll sie über ihren Irrthum aufklären?«

»Niemand.«

Diese Antwort machte mich sofort stutzig. Voll Verwunderung und schweigend sah ich Nugent an.

»Da ist nichts zu verwundern, lassen Sie mich Ihnen in zwei Worten meine Auffassung der Sache darlegen. Ich habe ein ernstes Gespräch mit Oscar gehabt.«

Die Unfähigkeit der Frauen, ohne zu unterbrechen zuzuhören, ist sprichwörtlich und ich bin nicht besser als meine Mitschwestern. Ich unterbrach ihn, ehe er fortfahren konnte, mit der Frage:

»Hat Oscar Ihnen gesagt, wie Lucilla zu dem Mißverständniß gekommen ist.«

»Das weiß er so wenig, wie Sie es wissen können. Er bekennt, daß er, als er ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, seine Geistesgegenwart völlig verlor; er wußte in jenem Augenblick selbst nicht, was er sagte. Er verlor den Kopf und sie die Geduld in dem Conflict .Stellen Sie sich seine nervöse Verwirrung und ihre nervöse Reizbarkeit vor und Sie werden sehen, das nichts anderes daraus entstehen konnte, als Mißverständniß und Täuschung. Seit Sie uns verlassen, habe ich mir die Sache reiflich überlegt und es als das einzig Richtige erkannt, mich in die mir bereitete Lage zu finden. Einmal zu diesem Entschlusse gelangt, habe ich der Sache, wie ich es in der Regel bei Schwierigkeiten thue, dadurch ein Ende gemacht, daß ich den gordischen Knoten zerschnitt. Ich sagte zu Oscar: »Würde es Dich erleichtern, wenn man sie bei ihrer jetzigen Meinung verharren ließe, bis Du verheirathet bist?« Sie kennen ihn und ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, was er mir antwortete »Gut«, sagte ich, »trockene Deine Thränen und beruhigte Dich. Ich habe mich einmal zum »Blaugesicht« machen lassen und ich will bis auf Weiteres »Blaugesicht« bleiben. Ich will Sie mit der Schilderung von Oscar’s Dankbarkeit verschonen. Er nahm meinen Vorschlag an. Das ist mein Ausweg aus der Schwierigkeit.«

»Es ist unwürdig und verktehrt« antwortete ich.

»Ich protestire dagegen, daß Lucilla’s Blindheit auf diese grausame Weise gemißbraucht werde. Ich erkläre, daß ich nichts damit zu thun haben will.«

Er zog seine Cigarrentasche hervor und nahm sich eine Cigarre.

»Thun Sir, was sie wollen«, sagte erz, »Sie haben gesehen, in welchem jammervollen Zustande sie sich befand, als sie sich bei der Unterredung mit mir Gewalt anthat. Sie haben gesehen, wie sie dabei schließlich von Widerwillen und Entsetzen Überwältigt wurde. Nun übertragen Sie diesen Widerwillen und dieses Entsetzen auf Oscar, fügen in seinem Fall noch ihre Entrüstung und Verachtung hinzu und setzen Sie ihn, wenn Sie den Muth dazu haben, den Folgen der Erregung solcher Gefühle bei Lucilla aus, bevor er sich den Einfluß eines Gatten auf ihr Gemüth und den Platz eines Gatten in ihrem Herzen gesichert hat. Ich liebe den armen Jungen und ich habe nicht den Muth dazu. Darf ich mir eine Cigarre anzünden?«

Ich nickte zustimmend. Bevor ich aber etwas weiteres sagte, fühlte ich das Bedürfniß, diesen unergründlichen Menschen womöglich zu verstehen. Es machte mir keine Schwierigkeit mir seine Bereitwilligkeit, sich für Oscar’s Ruhe zu opfern, zu erklären. Er that nie etwas halb, er liebte es, Schwierigkeiten zu trotzen, vor welchen andere Männer zurückgeschreckt sein würden. Derselbe Eifer, seinem Bruder zu dienen, mit dem er Oscar in seinem Proceß das Leben gerettet hatte, mochte ihn auch jetzt beseelen. Was mir unerklärlich schien, war nicht das von ihm eingeschlagene Verfahren, sondern die Sprache, in welcher er sich vor mir zu rechtfertigen suchte und noch mehr sein Benehmen, seine Art mit mir zu reden. Der wohlerzogene begabte junge Mann, als welchen ich ihn früher kennen gelernt, hatte sich jetzt in den trotzigsten und unliebenswürdigsten Menschen verwandelt. Er erwartete, was ich ihm aus seine Aeußerungen zu erwidern haben werde, mit einer herausfordernden und verzweifelten Miene, welche durch die Umstände durchaus nicht motivirt erschien und in keinem Einklange mit seinem Charakter, so weit ich denselben zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte, stand. Daß dahinter etwas stecke, daß eine geheime Triebfeder in ihm arbeite, die er vor seinem Bruder und vor mir verbarg, lag mir so klar vor Augen, wie der Sonnenschein und der Schatten in der Aussicht, die ich vom Pavillon aus hatte. Aber worin dieses Etwas bestand oder was diese geheime Triebfeder war, das zu errathen war mir, trotz des Aufgebots meines ganzen Scharfsinns, nicht möglich. Nicht der entfernteste Gedanke an die schreckliche Wahrheit, die er vor mir verbarg, kam mir in den Sinn. Ich saß ihm gegenüber, die unbewußte Zeugin des Conflicts, in welchem dieser unglückliche Mensch mit dem Wunsche, seinem Bruder treu zu bleiben und mit der verzehrenden Leidenschaft, die sich seiner bemächtigt hatte, rang. So lange Lucilla ihn fälschlich durch die Medicin entstellt glaubte, mußte Jeder es als eine selbstverständliche Rücksicht auf ihre Ruhe betrachten, daß er sich von ihr fern hielt. In dieser Trennung war für ihn die letzte Möglichkeit gegeben, eine unübersteigliche Grenze zwischen sich und Lucilla zu erheben. Er hatte bereits vergebens versucht, sich selbst ein anderes Hinderniß in den Weg zu stellen; er hatte umsonst versucht, die Heirath, welche Lucilla als das Weib seines Bruders für ihn geheiligt haben würde, zu beschleunigen. Nachdem ihm dieser Versuch mißlungen war, blieb ihm nur noch ein einziges ehrenvolles Mittel, ihr bis zu ihrer Verheirathung mit Oscar fern zu bleiben. Er hatte die Lage, in welche Oscar ihn versetzt hatte, als das einzige Mittel, seinen Zweck zu erreichen, ohne Verdacht zu erregen, acceptirt und als Lohn für dieses Opfer war ich ihm in meiner Unwissenheit mit verstockter Opposition entgegengetreten! Das waren die Motive, die reinen, edlen Motive, die ihn, wie ich jetzt weiß, damals beseelten. Die Aufklärung der trotzigen Sprache, die mich irre machte, das herausfordernde Wesen, das mich unangenehm berührte, sollten die der Zukunft vorbehaltenen Ereignisse bringen.

»Nun?« fragte er. »Sind wir Verbündete oder nicht? Sind Sie für mich oder gegen mich?«

Ich gab den Versuch auf, ihn zu versichert und beantwortete seine deutliche Frage ebenso deutlich:

»Ich leugne nicht, daß ihre Kenntniß der wahren Sachlage ernste Folgen nach sich ziehen kann. Aber trotz alledem will ich an der Grausamkeit ihrer Täuschung keinen Theil haben.«

Nugent erhob warnend seinen Zeigefinger:

»Halten Sie inne und denken Sie nach, Madame Pratolungo. Das Unglück, das Sie anrichten können, ist, wie die Dinge stehen, unermeßlich. Es wäre unnütz, Sie zu bitten, Ihren Sinn zu ändern. Ich will Sie nur bitten, ein wenig zu warten. Wir haben noch reichlich Zeit bis zum Hochzeitstage. Es kann sich etwas ereignen, das Ihnen die Nothwendigkeit, Lucilla selbst aufzuklären, ersparen würde.«

»Was kann sich ereignen?« fragte ich.

»Lucilla kann ihn vielleicht noch sehen, wie wir«, antwortete Nugent. »Lucilla kann vielleicht mit ihren eigenen Augen die Wahrheit entdecken?«

»Wie? Haben Sie Ihre tolle Idee, ihre Blindheit zu heilen noch immer nicht aufgegeben?«

»Ich werde diese Idee nicht eher ausgeben, als bis der deutsche Arzt sie für toll erklärt.«

»Haben Sie Oscar etwas davon gesagt?

»Kein Wort. Ich werde Niemandem außer Ihnen ein Wort davon sagen, bis der deutsche Arzt den englischen Boden betreten hat.«

»Erwarten Sie ihn noch vor der Hochzeit?«

»Gewiß; er würde zugleich mit mir von Newport abgereist sein, wenn er nicht eines Patienten wegen hätte dort bleiben müssen. Er wird sich aber durch keine neuen Patienten länger in Amerika halten lassen. Er hat sich durch seine außerordentlichen Erfolge ein Vermögen erworben, sein sehnlichstes Verlangen ist es, England zu sehen, und seine Mittel erlauben es ihm, diesen Wunsch zu befriedigen. Er kann schon mit dem nächsten Dampfboot in Liverpool eintreffen«

»Und dann wollen Sie ihn nach Dimchurch bringen?«

»Ja, wenn Lucilla nichts dagegen hat.«

»Und wenn nun Oscar etwas dagegen hat? Sie hat sich mit Resignation in den Gedanken, bis an ihr Ende blind zu sein, gefunden. Wenn Sie sie aus dieser Resignation nutzlos aufstören, so können Sie sie für ihre Lebenszeit unglücklich machen. An Ihres Bruders Stelle würde ich mich weigern, eine solche Gefahr zu laufen.«

»Mein Bruder hat ein zwiefaches Interesse, diese Gefahr zu laufen. Ich wiederhole, was ich Ihnen bereits gesagt habe. Das physische Resultat wird, wenn ihre Sehkraft wieder hergestellt werden kann, nicht das einzige sein. Sie wird dadurch nicht nur einen neuen Sinn, sondern auch einen neuen Geist erhalten. Oscar hat, so lange sie blind ist, von ihrer krankhaften Einbildung alles zu fürchten. Lassen Sie nur erst ihre Augen ihre Phantasie berichtigen, lassen Sie sie ihn nur erst sehen, wie wir ihn sehen und sich an seinen Anblick gewöhnen, wie wir uns an denselben gewöhnt haben, und Oscar’s Zukunft ist gesichert. Wollen Sie also auf die Chance hin, daß der deutsche Arzt hier vor dem Hochzeitstage eintreffen kann, die Dinge für den Augenblick lassen wie sie sind?«

Dazu erklärte ich mich bereit, unbewußt beeinflußt von dem merkwürdigen Zusammentreffen dessen, was Nugent eben über Lucilla gesagt hatte, mit dem, was Lucilla selbst einige Stunden früher zu mir gesagt hatte. Unleugbar fanden Nugent’s Aufstellungen, gewagt wie sie schienen, eine gewisse Bestätigung in Lucilla’s Auffassung ihres eigenen Falles.

Nachdem wir uns so über die zwischen uns obwaltende Differenz geeinigt hatten, brachte ich das Gespräch demnächst auf die schwierige Frage, wie sich Nugent’s Beziehungen zu Lucilla gestalten sollten.

»Wie wollen Sie ihr, nach dem Eindruck, den Sie heute auf sie hervorgebracht, wieder entgegentreten?« fragte ich.

Ueber diese Seite der Frage drückte er sich viel weniger schroff aus. Seine Sprache und sein Wesen waren wieder viel angenehmer.

»Wenn es mir nachgegangen wäre«, sagte er, »so wäre Lucilla in diesem Augenblick von jeder Furcht, mir wieder zu begegnen, befreit. Sie würde durch Sie oder Oskar erfahren, daß Geschäfte mich genöthigt haben, Dimchurch zu verlassen.«

»Will Oscar Sie nicht fortlassen?«

»Er wollte nichts von meinem Fortgehen hören. Ich that mein Bestes, ihn zu überreden, ich versprach ihm, zur Hochzeit wieder herzukommen. Alles vergebens. »Wenn Du mich hier über das Unglück, das ich angerichtet habe und die Opfer, die ich Dir abgezwungen habe, brüten lässest«, sagte er, »so wirst Du mir das Herz brechen. Du weißt nicht, wie ermuthigend Deine Gegenwart auf mich wirkt; Du weißt nicht, welche Lücke Du in mein Leben reißest, wenn Du fortgehst!« Ich bin gerade so schwach wie Oscar, wenn er so mit mir redet. Gegen meine bessere Ueberzeugung und gegen meinen Wunsch gab ich nach. Es wäre besser, viel, viel besser gewesen, ich wäre fortgegangen!«

Er sprach diese letzten Worte in einem Ton der Verzweiflung, der mich erschreckte. Wie wenig verstand ich ihn damals und wie gut verstehe ich ihn jetzt! Aus diesen melancholischen Worten sprach der letzte Rest seiner Ehre, seiner Treue. Unglückliche unschuldige Lucilla! Unglücklicher, schuldiger Nugent!

»Und nun bleiben Sie in Dimchurch?« nahm ich wieder auf, »was werden Sie beginnen?«

»Ich muß Alles aufbieten, ihr die nervösen Qualen zu ersparen, welche ich ihr heute so sehr gegen meinen Willen bereitet habe. Ueber den krankhaften Widerwillen, den sie in meiner Gegenwart empfindet, vermag sie nichts, — das sehe ich deutlich. Ich werde mich von ihr fern zu halten suchen, werde mich langsam von ihr zurückziehen, so daß ihr meine Abwesenheit nicht auffällt. Ich werde meine Besuche im Pfarrhause immer seltener werden lassen und immer länger in Browndown bleiben. Wenn sie erst verheirathet sind ——«, plötzlich hielt er inne; die Worte schienen ihm in der Kehle stecken zu bleiben; er machte sich mit dem Wiederanzünden seiner Cigarre zu schaffen und brauchte sehr viel Zeit dazu.

»Wenn sie erst verheirathet sind?« wiederholte ich, »nun, was dann?«

»Wenn Oscar erst verheirathet ist, wird er meine Gegenwart nicht mehr unerläßlich zu seinem Glücke finden und dann werde ich Dimchurch verlassen.«

»Dann werden Sie aber doch einen Grund angeben müssen.«

»Ich werde den wahren Grund angeben; ich kann hier, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, kein Atelter finden, das groß genug wäre. Und selbst wenn ich ein Atelier finden könnte, so würde ich doch in Dimchnrch nichts Ordentliches schaffen können. Mein Geist würde an diesem entlegenen Orte einrosten. Mag Oscar hier als verheiratheter Mann ein ruhiges Leben führen. Ich muß eine für mich passendere Atmosphäre, die Atmosphäre von London oder Paris aufsuchen.«

Er seufzte und heftete seine Blicke wie abwesend auf die vor uns liegende Hügellandschaft.

»Es macht mir einen sonderbaren Eindruck, Sie niedergeschlagen zu sehen«, sagte ich. »Ihre gute Laune schien ganz unerschöpflich an jenem ersten Abend, als Sie Herrn Finch beim Vorlesen des Hamlet unterbrachen.«

Er warf das Ende seiner Cigarre fort und lachte bitter.

»Wir Künstler bewegen uns immer in Extremen«, sagte er. »Was glauben Sie wohl, was ich gerade eben als Sie mich anredeten wünschte?«

»Wie kann ich das rathen?«

»Ich wünschte, ich wäre nie nach Dimchurch gekommen.«

Noch ehe ich ein Wort antworten konnte, drang die Stimme Lucilla’s, die vom Garten aus nach mir rief, an unser Ohr. Nugent erhob sich rasch.

»Haben wir uns Alles gesagt, was wir zu sagen hatten?« fragte er.

»Ja — für heute gewiß.«

»Für heute, leben Sie also wohl!«

Er sprang aus, faßte den hölzernen Querbalken über dem Eingang des Pavillons, schwang sich von hier auf die darunter liegende Gartenmauer und verschwand in den jenseits derselben liegenden Feldern.

Ich beantwortete Lucilla’s Ruf und beeilte mich ihr entgegen zu gehen. Ich traf sie aus dem Rasen; sie sah verstört und bleich aus, als ob sie etwas erschreckt hätte.

»Ist im Pfarrhause Jemandem etwas zugestoßen?« fragte ich.

»Niemandem außer mir. Wenn ich einmal wieder über Ermüdung klage, rathen Sie mir nicht, mich aus mein Bett zu legen.«

»Warum nicht? Ich habe nach Ihnen gesehen, bevor ich hierher ging. Sie waren fest eingeschlafen, ein Bild sanfter Ruhe.«

»Ruhe? Da sind Sie völlig im Irrthum. Ich träumte einen fürchterlichen Traum.«

»Sie waren vollkommen ruhig, als ich nach Ihnen sah.«

»Dann muß es gewesen sein, nachdem Sie nach mir gesehen haben. Lassen Sie mich heute Nacht bei Ihnen schlafen. Ich möchte um keinen Preis allein sein, wenn ich diesen Traum wieder träumen sollte.«

»Und was war dieser Traum?«

»Mir träumte, daß ich in meinem Hochzeitskleide vor dem Altar einer sonderbaren Kirche stehe und daß ein Geistlicher, dessen Stimme ich nie gehört hatte, mich traue.«

Plötzlich hielt sie inne und fuhr mit der Hand ungeduldig durch die Luft.

»Trotz meiner Blindheit«, sagte sie, »sehe ich ihn jetzt wieder.«

»Den Bräutigam?«

»Ja.«

»Oscar?«

»Nein.«

»Weil denn?«

»Oscar’s Bruder, Nugent Dubourg!«

Ich weiß nicht, welche thörichte Anwandlung mich überkam, aber ich lachte laut auf.

»Was ist da zu lachen?« fragte sie zornig. »Ich sah sein scheußliches, entstelltes Gesicht, in meinen Träumen bin ich nie blind. Ich fühlte, wie er mir mit seiner blauen Hand den Ring auf den Finger steckte. Warten Sie! das Schlimmste kommt noch. Ich heirathete mit vollem Bewußtsein Nugent Dubourg, heirathete ihn, ohne nur einen Augenblick an meine Verheirathung mit Oscar zu denken. Ja, ja, ich weiß, es ist nur ein Traum. Aber doch ist mir der Gedanke daran unerträglich. Es ist mir schrecklich, selbst im Traume falsch gegen Oscar zu sein. Lassen Sie uns zu ihm gehen. Ich möchte von ihm hören, daß er mich noch liebt. Kommen Sie mit mir nach Browndown. Ich bin so nervös, ich mag nicht allein gehen. Kommen Sie mit mir!«

Ich versuchte es, mich von ihrer Begleitung nach Browndown los zu machen.

Wenn ich Nugent’s Entschluß mißbilligte, so betrachtete ich doch Oscar’s selbstsüchtige Schwäche, welche ihn das Opfer seines Bruders ruhig hatte annehmen lassen, mit noch viel ungünstigerem Auge.

Lucilla’s Verlobter war in meiner Achtung tief gesunken. Ich fühlte, daß wenn ich ihn in diesem Augenblick sehen müßte, ich leicht in die Gefahr kommen könnte, ihm zu sagen, was ich von ihm denke.«

»Glauben Sie, liebes Kind«, sagte ich zu Lucilla, »daß Sie mich zu dem, was Sie in Browndown wollen, nöthig haben?«

»Halte ich Ihnen das nicht schon gesagt«, erwiderte sie ungeduldig. »Ich bin so nervös, ich fühle mich so entsetzlich angegriffen, daß ich es nicht unternehmen darf, allein auszugehen. Fühlern Sie kein Mitleid mit mir? Denken Sie sich, Sie hätten geträumt, daß Sie Nugent anstatt Oscar heiratheten?«

»Und wenn nun? Dann würde ich nur geträumt haben, daß ich den liebenswürdigeren der beiden Männer geheirathet hätte.«

»Den liebenswürdigeren der beiden Männer? Das sieht Ihnen wieder recht ähnlich, immer ungerecht gegen Oscar.«

»Liebes Kind, wenn Sie sehen könnten, würden Sie selbst Nugents gute Eigenschaften würdigen.«

»Ich ziehe es vor, Oscars gute Eigenschaften zu würdigen.«

»Sie lassen sich von Vorurtheilen leiten, Lucilla.«

»Sie auch.«

»Sie haben Oscar zufällig zuerst kennen gelernt.«

»Das hat nichts damit zu thun.«

»Ja, ja. Wenn Nugent damals statt Oscar auf uns zugekommen wäre, wenn von den beiden bezaubernden Stimmen, die einander so ganz gleich sind, die eine statt der anderen sich hätte vernehmen lassen . . .«

»Ich mag nichts mehr davon hören.«

»Hoho! es war zufällig Oscar. Denken Sie sich die Sache umgekehrt und Nugent wäre der Rechte gewesen.«

»Madame Pratolungo. Ich bin nicht gewöhnt, mich insultiren zu lassen. Weiter habe ich Ihnen nichts zu sagen.«

Mit dieser würdevollen Antwort und mit dem anmuthigsten Erröthen, das je ein Mädchen geziert hat, kehrte mir Lucilla den Rücken und machte sich allein auf den Weg nach Browndown.

O, über meine rasche Zunge. O, über mein leicht erregbares südliches Temperament. Warum ließ ich mich von ihr zu einer gereizten Antwort verleiten. Warum ging ich, die Aeltere, ihr nicht mit dem guten Beispiele der Selbstbeherrschung voran? Wer kann das sagen? Wann hat je ein Weib gewußt, warum sie etwas that? Hat etwa Eva, als ihr die Schlange den Apfel anbot, gewußt, warum sie ihn aß? Keineswegs!«

Was sollte ich jetzt thun? Ich hatte mich beim Reden erhitzt, ich mußte mich also abkühlen und wollte dann Lucilla nachgehem um sie zu umarmen und mich wieder mit ihr zu versöhnen.

Aber entweder brauchte ich zu viel Zeit zum Abkühlen oder Lucilla ging in ihrer augenblicklichen Aufregung rascher als gewöhnlich. Kurz, sie hatte Browndown erreicht, ehe ich sie einholen konnte. Als ich die Hausthür öffnete, hörte ich sie und Oscar mit einander reden. Ich durfte sie nicht stören, besonders jetzt nicht, wo ich in Ungnade war. Während ich noch schwankte und überlegte, was ich jetzt thun solle, fiel mein Blick auf einen auf dem Tische in der Vorhalle liegenden Brief. Man ist nie neugieriger, als in solchen mäßigen Augenblicken, wo man nichts mit sich anzufangen weiß, ich sah mir die Adresse näher an. Der Brief war laut der Adresse an Nugent gerichtet und trug den Poststempel: Liverpool.

Ich schloß, wie ich unter den obwaltenden Umständen nicht anders konnte, richtig, daß der deutsche Augenarzt in England angekommen sei!



Neuntes Kapitel - Er überschreitet den Rubikon

Ich schwankte noch, ob ich in das Zimmer gehen oder draußen warten solle, bis sie wieder herauskommen werde, um nach dem Pfarrhause zurückzukehren, als Lucilla’s scharfes Gehör mein Bedenken beseitigte. Die Thür des Zimmers öffnete sich und Oscar trat auf den Vorplatz hinaus.

»Lucilla behauptet bestimmt, draußen Jemand zu hören«, sagte er. »Wer hätte denken können, daß Sie das seien? Warum stehen Sie hier auf dem Vorplatz? Treten Sie doch näher!«

Er öffnete die Thür, ich trat ein und er sagte zu Lucilla, daß ich es gewesen sei, die sie draußen gehört habe. Sie nahm keine Notiz von mir. In ihrem Schoße lagen Blumen aus Oscar’s Garten. Mit ihren geschickten Fingern sortirte sie dieselben, um ein Bouquet daraus zu machen, so rasch und so geschmackvoll, wie wenn sie sehen könne. Ihr reizendes Gesicht aber hatte, so lange ich sie kannte, keinen so harten Ausdruck gehabt wie jetzt. Niemand würde sie in diesem Augenblicke der sixtinischen Madonna ähnlich gefunden haben. Sie fühlte sich von mir beleidigt, tödtlich beleidigt, das sah ich mit einem Blick.

»Ich hoffe, Sie werden mein Eindringen hier vergeben, Lucilla, wenn Sie meinen Grund erfahren«, sagte ich. »Ich bin Ihnen hierher gefolgt, um mich bei Ihnen zu entschuldigen.

»O, es bedarf keiner Entschuldigung«, warf sie hin, ohne von ihren Blumen aufzublicken. »Es ist schade, daß Sie sich hierher bemüht haben. Ich bin ganz mit dem einverstanden, was Sie mir in unserm Garten sagten. In Betracht des Zweckes, den ich in Browndown hatte, durfte ich unmöglich erwarten, daß Sie mich begleiten würden. Das ist wahr, sehr wahr!«

Ich behielt meinen Gleichmuth. Nicht als ob ich, von Natur geduldig wäre, als ob ich ein sanftes Temperament besäße, weit entfernt, wie ich zu meinem Bedauern gestehen muß. Aber doch behielt ich noch meinen Gleichmuth.

»Ich wollte mich wegen dessen, was ich im Garten zu Ihnen gesagt habe, entschuldigen«, nahm ich wieder auf. »Ich habe in den Tag hineingesprochen, Lucilla. Aber Sie unmöglich glauben, daß ich Sie absichtlich habe beleidigen wollen.«

Aber ich hätte ebenso gut einen Stuhl anreden können. Ihre ganze Aufmerksamkeit war durch das gespannte Interesse, mit welchem sie an ihrem Bouquet arbeitete, absorbirt.

»War ich denn beleidigt?« fragte sie, fortwährend auf ihre Blumen blickend. »Wenn ich es war, so war es außerordentlich thöricht von mir.« Plötzlich schien sie sich meiner Gegenwart bewußt zu werden. »Sie hatten ja das vollkommenste Recht, Ihre Meinung zu äußern«, sagte Sie im Tone vornehmer Herablassung. »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, wenn es den Anschein gehabt, als wolle ich Ihnen dieses Recht bestreiten.«

Dabei warf sie ihr niedliches Köpfchen in den Nacken, erröthete tief und stampfte mit ihren zierlichen Füßchen ungestüm auf den Boden. O, Lucilla! Lucilla! Ich blieb noch immer. Dieses Mal, wie ich bekennen muß, mehr um Oscar’s als um LucillaIs willen. Der arme Mensch sah so unglücklich aus, so ängstlich beflissen, sich ins Mittel zu legen, ohne recht zu wissen warum.

»Liebe Lucilla«, fing er an, »Du könntest doch wohl Madame Pratolungo eine Antwort geben.«

Ungestüm unterbrach sie ihn, indem sie den Kopf noch heftiger in den Nacken warf als vorher.

»Ich unternehme es gar nicht, Madame Pratolungo zu antworten. Ich ziehe es vor, zuzugeben, daß Madame Pratolungo vielleicht ganz Recht gehabt hat. Es ist gewiß wahr, daß ich mich in den ersten besten Mann, der meines Weges kommt, verliebe. Ich glaube auch, daß wenn ich Deinem Bruder eher als Dir begegnet wäre, ich mich in ihn verliebt haben würde — sehr wahrscheinlich.«

»Sehr wahrscheinlich, wie Du richtig sagst«, erwiderte der arme Oscar ganz demüthig. »Ich betrachte es als ein großes Glück für mich, daß Du nicht Nugent früher als mir begegnet bist.«

Sie warf ihren Schoß voll Blumen auf den Tisch, vor welchem sie saß. Sie war ganz wüthend auf ihn, weil er meine Parthie nahm. Ich gestattete mir ein harmloses Lächeln, das ja das arme Kind nicht sehen konnte.

»Du bist also Madame Pratolungo’s Meinung sagte sie grimmig. »Madame Pratolungo findet Deinen Bruder viel liebenswürdiger als Dich.

Der demüthige Oscar nickte melancholisch mit dem Kopfe zum Zeichen der Anerkennung dieser selbstverständlichen Thatsache. »Darüber kann es ja gar keine zwei Meinungen geben«, sagte er resignirt.

Sie stampfte mit dem Fuße so heftig auf den Teppich, daß der Staub wie in einer kleinen Wolke aufwirbelte. Meine Lungen sind bisweilen delicat. Ich gestattete mir dieses Mal ebenso harmlos ein leichtes Husten. Das Husten entging ihr natürlich nicht und sie nahm sich plötzlich zusammen. Ich fürchte, sie nahm mein Husten für einen Commentar zu dem, was vorging.

»Komm’ her, Oscar«, sagte sie mit völlig verändertem Tone und Wesen. »Komme her und setze Dich zu mir.«

Oscar gehorchte.

»Schlinge Deinen Arm um mich.«

Oscar sah mich an. Da er sehen konnte, war er sich bewußt, wie albern die von ihm verlangte Zärtlichkeitsbezeugung in Gegenwart einer dritten Person sich ausnehmen müsse. Das arme Kind aber war in seiner Blindheit ganz unempfindlich gegen alle nur dem Auge zugänglichen Eindrücke des Lächerlichsten und machte sich nichts aus der Gegenwart einer dritten Person. Este wiederholte ihre Befehle in einem Ton, der deutlich sagte: »Umarme mich, ich lasse nicht mit mir spaßen!«

Oscar schlang schüchtern seinen Arm um sie, während er mir einen bittenden Blick zuwarf. Sofort erließ sie einen zweiten Befehl .

»Sage, daß Du mich liebst.« Oscar zauderte.

»Sprich doch, sage, daß Du mich liebst.«

Oscar flüsterte die verlangten Worte.

»Heraus damit, laut!«

Die Geduld hat ihre Grenzen; ich fing an die meinige zu verlieren. Sie hätte nicht rücksichtsloser ihre Gleichgültigkeit gegen die Gegenwart eines dritten Geschöpfes an den Tag legen können, wenn statt meiner eine Katze im Zimmer gewesen wäre.

»Erlauben Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu machen«, sagte ich, »daß ich das Zimmer nicht, wie Sie anzunehmen scheinen, verlassen habe.«

Sie nahm auch von dieser Aeußerung keine Notiz. Sie fuhr mit ihren Erlassen fort und schien dabei von einem unwiderstehlichen Drang zu immer gesteigerten Ansprüchen an Oscar’s Zärtlichkeit getrieben zu werden.«

»Küsse mich.«

Der unglückliche Oscar, der sich zwischen zwei Feuer gestellt fand, erröthete, wie ich trotz seiner Gesichtsfarbe deutlich zu erkennen vermochte.

Ich hielt es für nöthig, Lucilla noch einmal auf meine Gegenwart aufmerksam zu machen.

»Mich hält nur Eines hier im Zimmer zurück, Fräulein Finch, ich möchte nur wissen, ob Sie sich weigern, meine Entschuldigungen anzunehmen.«

»Oscar küsse mich.«

Er zauderte noch immer. Sie umschlang ihn mit ihrem Arm. Jetzt konnte ich über das, was ich mir selbst schuldig war, nicht länger zweifelhaft sein; ich mußte hinausgehen.

»Adieu, Herr Dubourg«, sagte ich und ging nach der Thür. Sie hörte mich durchs Zimmer gehen und rief mich zurück. Ich stand still. An der Wand mir gegenüber hing ein Spiegel, der mir sagte, daß ich beim Stillstehen eine sehr passende Stellung angenommen hatte. In meiner Haltung lag durch Würde erhöhte Grazie und durch Grazie erhöhte Würde.

»Madame Pratolungo.

»Fräulein Finch?«

»Hier sehen Sie den Mann, der nicht halb so liebenswürdig ist wie sein Bruder.«

Sie drückte ihn noch enger an sich und gab ihm mit Ostentation den Kuß, den ihr zu geben er sich geschämt hatte. Mit dem Ausdruck der Verachtung ging ich schweigend weiter der Thür zu. Jetzt drückte meine Haltung eine Mischung von Verachtung und Betrübniß aus.

»Madame Pratolungo!«

Ich gab keine Antwort.

»Sehen Sie doch, hier ist der Mann, den ich nie geliebt haben würde, wenn ich zufällig seinem Bruder zuerst begegnet wäre!«

Dabei umschlang sie ihn mit beiden Armen und überschüttete ihn mit Küssen. Die Thür, die schon bei meinem Eintritt nicht fest geschlossen gewesen war, stand auch jetzt nur angelehnt Ich stieß sie auf, ging auf den Vorplatz hinaus und fand mich Nugent Dubourg gegenüber, der, seinen Brief aus Liverpool in der Hand haltend, am Tische stand. Er mußte, wenn nicht mehr, doch mindestens die letzten Worte Lucilla’s, mit welchen sie meine eigenen, früher gesprochenen Worte verhöhnte, gehört haben. Ich blieb stehen und sah ihn überrascht und schweigend an. Er lächelte und hielt mir den geöffneten Brief hin. Bevor noch, einer von uns ein Wort hatte sagen können, hörten wir, wie Oscar die Thür im Hinausgehen geschlossen hatte und mir gefolgt war, um Lucilla’s Benehmen bei mir zu entschuldigen. Er erklärte seinem Bruder, was vorgefallen sei. Nugent lächelte und klopfte mit schlauem Blick auf seinen geöffneten Brief. »Laß mich nur machen. Ich werde Euch etwas Besseres zu thun geben, als Euch mit einander zu zanken. Was es ist, sollt Ihr gleich hören. Inzwischen möchte ich etwas an unsern Freund im Gasthof ausgerichtet haben. Gootheridge wird gleich herkommen, um mit mir über eine Veränderung seines Stalles zu reden. Bitte, sage ihm sogleich Bescheid, daß ich etwas anderes zu thun habe und ihn heute nicht sprechen könne. Halt! Gieb ihm doch auch dies und bitte ihn, es im Pfarrhause abzugeben.«

Er nahm eine Visitenkarte aus seinem Etui, schrieb mit einem Bleistift ein paar Zeilen auf dieselbe und gab sie seinem Bruder Oscar, der immer bereit, Besorgungen für seinen Bruder zu machen, unverzüglich dem Gasthaus entgegenging; Nugent aber wandte sich zu mir und sagte:

»Der Deutsche ist in England angekommen, jetzt darf ich reden.«

»Mit einem Mal?« rief ich aus.

»Ja! Ich habe, wie Sie gehört haben, meine eigenen Angelegenheiten dieser Sache wegen hintenangesetzt. Mein Freund trifft morgen in London ein. Ich denke mir noch heute Ermächtigung, ihn zu consultiren, auszuwirken und morgen nach London abzureisen. Machen Sie sich darauf gefaßt, eine der sonderbarsten Persönlichkeiten kennen zu lernen, die Ihnen je vorgekommen ist. Sie haben ja gesehen, daß ich etwas auf meine Visitenkarte geschrieben habe. Es war eine Botschaft an Herrn Finch, den ich gebeten habe, sich sofort wegen einer wichtigen Familienangelegenheit zu uns nach Browndown zu bemühen. Als Lucilla’s Vater hat er eine Stimme bei dieser Angelegenheit. Wenn Oscar zurückkommt und wenn der Pfarrer sich einstellt. wird unser häuslicher Familienrath beisammen sein.

Er sprach und bewegte sich wieder mit seiner gewohnten Lebhaftigkeit und war wieder ganz derselbe geworden .

»Ich war in Gefahr, hier einzurosten,«, fuhr er fort, als er sah, daß mir die mit ihm vorgegangene Veränderung auffiel. »Jetzt macht mich die Aussicht, etwas zu thun zu haben, wieder lebendig. Ich bin nicht wie Oscar, ich muß eine Thätigkeit haben, die mein Blut aufregt, die mich vor dem Brüten über meine Sorgen bewahrt. Was meinen Sie, wie ich bei dem Proceß meines Bruders die Zeugen gefunden, welche seine Unschuld bewiesen? Ich will es Ihnen sagen. Ich sagte mir, ich werde wahnsinnig, wenn ich nicht etwas zu thun habe; ich machte mir etwas zu thun und rettete Oscar das Leben. Jetzt werde ich mir wieder etwas zu thun machen. Merken Sie wohl, was ich sage! Jetzt, wo ich mich der Sache annehme, wird Lucilla ihre Sehkraft wieder erlangen.«

»Es handelt sich da um eine ernste Angelegenheit«, sagte ich, »bitte, lassen Sie ihr eine reifliche Erwägung angedeihen.«

»Reifliche Erwägung?« wiederholte er, »das Wort hasse ich. Ich entscheide mich immer im Augenblick Wenn ich Lucilla’s Fall falsch beurtheile, so kann doch Erwägung da zu nichts helfen. Wenn ich aber in meiner Auffassung recht habe, so ist jeder Tag Aufschub ein Tag verlängerter Blindheit für unsere arme Freundin. Ich erwarte nur noch Oscar und Herrn Finch, um die Verhandlung über diese Angelegenheit zu eröffnen. Aber warum stehen wir hier auf dem Vorplatz? Treten Sie doch näher.

Er ging voran in«s Wohnzimmer.

Ich hatte jetzt nur noch mehr Grund zurückzubleiben. Lucilla’s Benehmen präoccupirte mich noch immer. Wie, wenn sie mich mit erneueter Kälte und noch ausgesprochenerer Geringschätzung behandeln? Ich blieb an dem Tische auf dem Vorplatz stehen. Nugent sah sich über seine Schulter hinweg nach mir um.

»Unsinn, ich will die Sache schon wieder in’s Gleiche bringen. Es ist unter der Würde einer Frau wie Sie, Notiz von dem zu nehmen, was ein Mädchen in ihrer üblen Laune sagt. Kommen Sie herein!«

Ich zweifle, ob ich irgend einem anderen Menschen zu Gefallen nachgegeben haben würde; aber einige Menschen üben unleugbar eine magnetische Herrschaft über andere aus. So war es mit Nugent und mir. Gegen meinen Willen, denn ich fühlte mich wirklich durch Lucilla’s Benehmen gegen mich verletzt und beleidigt, kehrte ich mit ihm wieder in das Zimmer zurück.

Lucilla saß noch an derselben Stelle, wo sie gesessen hatte, als ich hinausgegangen war. Als sie die Thür sich öffnen und die Fußtritte eines Mannes erschallen hörte, nahm sie natürlich an, der Mann sei Oscar. Sie hatte, als er das Zimmer verließ, um mir zu folgen, seine Absicht errathen und das hatte ihre Laune nicht verbessert.

»O«, sagte sie, »bist Du endlich wieder da? Ich dachte, Du hättest Dich Madame Pratolungo als Begleiter nach dem Pfarrhause angeboten.« Plötzlich runzelte sie die Stirn und hielt inne. Mit ihrem feinen Ohr hatte sie auch mein Wiedereintreten ins Zimmer gehört. »Oscar«, rief sie aus, »was hat das zu bedeuten? Madame Pratolungo und ich haben uns einander nichts mehr zu sagen. Warum ist sie wieder hergekommen? Warum antwortest Du mir nicht? Das ist ja abscheulich. Ich werde das Zimmer verlassen!«

Sie brachte diese Drohung so rasch zur Ausführung daß; noch ehe Nugent, der zwischen ihr und der Thür stand, ihr aus dem Wege gehen konnte, sie heftig gegen ihn anlief.

Sie ergriff sofort seinen Arm und schüttelte ihn zornig. »Was hat Dein Schweigen zu bedeuten? Insultirst Du mich auf Madame Pratolungo’s Antrieb?«

Ich hatte eben den Mund geöffnet, um mit einigen beruhigenden Worten noch einen Versuch zur Versöhnung zu machen — als sie mir den letzten Stich versetzte.

Mein französisches Blut vermochte nicht mehr zu ertragen. Wüthend kehrte ich ihr den Rücken.

In demselben Augenblick erglänzten Nugent’s Augen, als ob ihm auf einmal eine neue Idee aufgegangen wäre. Er warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu und antwortete ihr in der Person seines Bruders. Ob ihn in jenem Augenblick ein böser Dämon besaß, oder ob er die Absicht hatte, für Oscar, bevor er zurückkäme, Verzeihung zu erwirken — das vermag ich nicht zu sagen. Ich hatte dem Einhalt thun sollen, ich weiß es wohl. Aber ich war leidenschaftlich erregt; ich war boshaft wie eine Katze und grimmig wie ein Bär. Ich dachte bei mir, sie muß geduckt werden. Ganz recht, Herr Nugent, ducken Sie sie nur. Das war abscheulich, schmachvoll von mir! Keine Worte sind stark genug, mein Betragen zu richten, schone mich nicht, lieber Leser. O Himmel! Was ist ein wüthender Mensch? Nichts als eine Bestie. Das nächste Mal, wo es Dir, lieber Leser, begegnet, in Wuth zu gerathen, sieh Dich im Spiegel und Du wirst finden, daß der Ausdruck Deiner menschlichen Seele von Deinem Gesichte gewichen und nichts übrig geblieben ist, als ein Thier und zwar ein bösartiges nichtswürdiges Thier!

»Du fragst, was mein Schweigen zu bedeuten hat?« sagte Nugent.

Er brauchte nur seine Articulation ein wenig nach der langsameren Weise seines Bruders umzuwandeln, um ganz wie dieser zu reden. Er that das schon bei ihren ersten Worten so geschickt, daß ich, wenn ich ihn nicht vor mir stehen gesehen hätte, geschworen hätte, daß Oscar im Zimmer sei.

»Ja«, sagte sie, »das frage ich.

»Ich schweige«, antwortete er, »weil ich warte.«

»Und worauf wartest Du?«

»Darauf, daß Du Dich bei Madame Pratolungo entschuldigst.

Sie fuhr einen Schritt zurück. Zum ersten Mal in seinem Leben nahm der so demüthig ergebene Oscar einen gebietenden Ton gegen sie an. Und der ergebene Oscar fuhr, anstatt ihr Zeit zum Reden zu lassen, rücksichtslos fort.

»Madame Pratolungo hat sich bei Dir entschuldigt. Du solltest ihre Entschuldigung annehmen und dieselbe erwidern. Es ist betrübend, Dich zu sehen und zu hören. Du benimmst Dich undankbar gegen Deine beste Freundin.«

Sie richtete sich hoch auf und schien starr vor Staunen, sie sah aus, als ob sie ihren eigenen Ohren nicht traue.

»Oscar!« rief sie aus.

»Da bin ich«, sagte in demselben Augenblick der in die Thür tretende Oscar.

Wie ein Blitz flog sie nach der Stelle hin, von wo er gesprochen hatte. Durch einen geltenden Schrei der Entrüstung gab sie zu erkennen, daß sie den Betrug, den Nugent sich mit ihr erlaubt hattet entdeckt habe. Oscar eilte bestürzt auf sie zu. Heftig stieß sie ihn von sich.

»Ein schlechter Streich«, rief sie. »Ein gemeiner, niederträchtiger, feiger, meiner Blindheit gespielter Streich! Oscar! Dein Bruder hat Dich nachgeahmt; Dein Bruder hat mit Deiner Stimme zu mir gesprochen. Und diese Frau, die sich meine Freundin nennt, stand dabei und sagte mir nichts. Sie ermuthigte ihn dazu, sie freute sich darüber. Die Nichtswürdigen! Führe mich fort von ihnen. Sie sind jedes Betruges fähig. Sie hat Dich, lieber Oscar von Anfang an gehaßt, von dem Augenblick an, wo Dein Bruder herkam, hat sie es mit ihm gehalten, wir wollen uns auch nicht in Dimchurch, wir wollen uns an einem Orte trauen lassen, von dem sie nichts wissen. Sie haben sich mit einander gegen Dich und gegen mich verschworen. Hüte Dich, hüte Dich vor ihnen! Sie hat gesagt, ich würde mich in Deinen Bruder verliebt haben, wenn ich ihm zuerst begegnet wäre. Dahinter steckt, daß sie uns veruneinigen wollen, wenn sie können. Ha! Ich höre Jemand sich bewegen! Hat er sich an Deinen Platz gestellt? Rede ich jetzt mit Dir? O, meine Blindheit, meine Blindheit O Gott, von allen Deinen Geschöpfen sind die hilflosesten, die elendesten, die nicht sehen können!«

Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich etwas so Klägliches und Schreckliches gehört, wie die Aeußerungen wahnsinnigen Argwohns und Jammers, welche sich ihrem Innern in jenen Worten entrungen. Ihre Klagetöne zerschnitten mir das Herz. Ich war voreilig in meinen Worten gewesen, ich hatte mich schlecht benommen, aber das hatte ich nicht verdient. Ich warf mich in einen Sessel und brach in Thränen aus. Meine Thränen brannten wie Feuer; mein Schluchzen drohte mich zu ersticken. Hätte ich Gift bei der Hand gehabt, ich hätte es genommen, so außer mir und so namenlos unglücklich, so tief gekränkt in meiner Ehre und so bis in das innerste Herz verwundet fühlte ich mich.

Der Einzige, der ihr zu antworten wagte, war Nugent. Ohne im Mindesten an die Folgen zu denken, richtete er von dem anderen Ende des Zimmers aus mit seiner unverstellten Stimme die inhaltsschwere Frage an sie, welche noch nie ein menschliches Wesen gethan hatte.

»Wissen Sie so gewiß, Lucilla, daß Sie dazu verurtheilt sind, Ihr Lebelang blind zu sein?«

Tiefes Schweigen folgte diesen Worten.

Ich wischte mir die Thränen aus den Augen und blickte auf.

Oscar hatte sie in seinen Armen gehalten und sie schweigend zu beschwichtigen gesucht, während sein Bruder sprach.

In dem Augenblick, wo ich meine Blicke wieder auf sie richtete, hatte sie sich gerade von ihm losgemacht. Sie that einen Schritt vorwärts, nach der Stelle zu, wo Nugent stand und blieb dann wieder, das Gesicht ihm zugekehrt, stehen. Ihr ganzes Wesen schien durch den Gedanken, den er in ihr wachgerufen hatte, wie in der Schwebe gehalten. Noch nie seit ihrer frühesten Kindheit, während all’ der Jahre ihres jungfräulichen Lebens, hatte ihr bis zu diesem Augenblick weder wachend noch träumend die Aussicht einer Wiederherstellung ihrer Sehkraft als möglich vorgeschwebt. Keine Spur von dem Ausdruck der Entrüstung, welchen Nugent noch einen Augenblick vorher in ihr hervorgerufen hatte, war in ihrem Gesichte mehr zu lesen. Kein Anzeichen einer Wiederkehr des qualvollen nervösen Unbehagens, welches ihr das Bewußtsein seiner Gegenwart einige Stunden früher bereitet hatte, war jetzt an ihr wahrzunehmen. Die einzige Empfindung, die sich ihrer ganz bemächtigt hatte, war Erstaunen, stummes Erstaunen, das, athemlos aufhorchend, mehr zu hören verlangte.

Mein nächster Blick galt Oscar. Seine Augen waren auf Lucilla geheftet, ganz in ihre Betrachtung versunken. Ohne Nugent anzusehen, sagte er, getrieben wie es schien von einer vagen Furcht für Lucilla, welche sich langsam zu einer vagen Furcht für ihn selbst entwickelte:

»Bedenke wohl, was Du thust, Nugent! Sieh sie an, sieh sie an.«

Nugent näherte sich seinem Bruder auf einem Umwege, so daß Oscar zwischen ihm und Lucilla zu stehen kam.

»Habe ich Dich beleidigt?« fragte er.

Oscar sah ihn erstaunt an. »Mich beleidigt?« erwiderte er, »nach Allem, was Du mir vergeben und für mich gelitten hast?«

»Aber doch«, beharrte Nugent, »ist Dir etwas nicht recht.«

»Ich bin erschrocken, Nugent!«

»Erschrocken — wodurch?«

»Durch die Frage, die Du eben an Lucilla gerichtet hast.«

»Ihr werdet mich beide gleich verstehen.«

Während die Brüder diese Worte wechselten, beobachtete ich Lucilla mit gespannter Aufmerksamkeit. Sie hatte ihren Kopf langsam der Stelle zugekehrt, von der aus Nugent eben mit Oscar gesprochen hatte. Das war das einzige, was ihr nicht entgangen war. Von dem, was die beiden Männer miteinander gesprochen hatten, schien sie keine Ahnung zu haben. Allem Anscheine nach hatte sie seit dem Augenblicke, wo Nugent den ersten Zweifel, ob sie ihr Lebelang in Blindheit verharren müsse, in ihr geweckt hatte, nichts mehr gehört.

»Sprecht mit ihr«, sagte ich. »Um Gottes willen, laßt sie jetzt nicht länger in Ungewißheit!«.

Nugent redete sie an.

»Sie haben Ursache gehabt, böse auf mich zu sein, Lucilla. Lassen Sie mich Ihnen jetzt wo möglich Ursache geben, mir dankbar zu sein. Während meines Aufenthalts in Newport wurde ich mit einem deutschen Arzte bekannt, der sich durch seine Geschicklichkeit in der Behandlung von Augenkrankheiten einen großen Ruf erworben hatte. Seine glänzendsten Erfolge hat er durch die Heilung von solchen Erblindungen errungen, welche von anderen Aerzten für hoffnungslos erklärt worden waren. Ich sprach mit ihm von Ihrem Falle. » Er konnte selbstverständlich, ehe er Ihre Augen untersucht hatte, nichts Positives sagen. Alles was er thun konnte war, daß er mir für die Zeit seines Aufenthaltes in England seine Dienste zur Verfügung stellte. Ich meinesteils kann mich nicht entschließen, Sie als zu lebenslänglicher Blindheit verurtheilt zu betrachten, Lucilla, bis dieser ausgezeichnete Mann Ihren Fall für ebenso hoffnungslos erklärte, wie es die englischen Aerzte gethan haben. Wenn noch die entfernteste Möglichkeit vorhanden ist, Ihre Sehkraft wieder herzustellen, so ist seine Hand, davon bin ich fest überzeugt, die einzige, die dazu im Stande ist. Er ist augenblicklich in England. Sprechen Sie das Wort aus und ich bringe ihn zu Ihnen nach Dinrchurch.«

Langsam erhob sie die Hände und legte sie an ihren Kopf, wie wenn sie sich ihres Verstandes versichern wollte. Noch einmal wurde sie abwechselnd blaß und roth. Dann that sie einen langen schweren Athemzug, schien sich von ihrer Bestürzung zu erholen und ließ die Hände wieder sinken. Und nun ging eine Veränderung mit ihr vor, die wir Alle in athemloser Spannung mit ansahen. Es war ein schöner, ein furchtbarer Anblick. Eine stumme Ekstase der Hoffnung verklärte ihr Antlitz, ein himmlisch heiteres Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie stand unter uns und schien doch fern von uns zu sein. In dem ruhigen Licht der Abendsonne, welches durch das Fenster auf sie fiel, stand sie da, wie verzückt, als sähe sie sich im Geiste in ferne, schöne Sphären entrückt. Einen Augenblick erfüllte sie mich mit Bewunderung, im nächsten mit Furcht. Beide Männer hatten denselben Eindruck, Beide gaben mir ein Zeichen, sie zuerst anzureden.

Ich trat einige Schritte vor, während ich mir zu überlegen versuchte, was ich sagen solle. Umsonst; ich konnte weder denken noch sprechen. Ich konnte sie nur ansehen; ich konnte nichts thun, als in nervöser Erregung »Lucilla« rufen.

Sie fuhr leicht zusammen, erröthete abermals und war wieder auf der Erde, war wieder bei uns. Sie wandte sich der Stelle zu, von der aus ich sie angeredet hatte und flüsterte:

»Kommen Sie her.«

Im nächsten Augenblick hatte ich sie mit meinen Armen umschlungen, und ließ ihren Kopf an meinen Busen sinken. Ohne ein Wort gesprochen zu haben, hatten wir uns versöhnt. In einem Augenblick waren wir wieder Freundinnen, Schwestern.

»War ich ohnmächtig? habe ich geschlafen?« fragte sie mich mit schwacher Stimme. »Bin ich eben aufgewacht? Ist dies Browndown?« Plötzlich richtete sie sich auf: »Nugent! sind Sie da?«

»Ja.«

Sanft entwand sie sich meiner Umarmung und näherte sich Nugent.

»Haben Sie eben mit mir gesprochen? Waren Sie es, der den Zweifel in mir wachrief, ob ich wirklich zu lebenslänglicher Blindheit verurtheilt sei? Ich habe mir das doch nicht eingebildet? Sie haben doch wirklich gesagt, der Mann werde herkommen und die Zeit werde kommen?« Plötzlich wurde ihre Stimme lauter: »Der Mann, der mich vielleicht heilen wird! Die Zeit, wo ich vielleicht wieder sehen werde!«

»Das habe ich gesagt, Lucilla! und das habe ich gemeint!«

»Oscar! Oscar!« Ich trat auf sie zu, um sie zu ihm zu führen. Nugent berührte mich leicht und deutete auf Oscar, als ich ihre Hand ergriff. Er stand mit einem Ausdruck der Verzweiflung, den ich noch deutlich vor mir sehe, während ich diese Zeilen schreibe, dicht vor dem Spiegel und betrachtete schweigend das widerwärtige Abbild seines Gesicht’s. Von Mitleid überwältigt, zauderte ich, sie zu ihm zu führen. Aber sie trat vor, streckte die Hand aus und berührte seine Schulter. Das Bild ihres reizendes Gesichts erschien über dem seinigen im Spiegel. Fröhlich neigte sie sich, beide Hände auf seine Schultern legend, über ihn hin und, sagte: »Die Zeit wird kommen, mein Liebsten wo ich Dich sehen werdet!«

Mit einem Freudenschrei zog sie sein Gesicht an sich heran und küßte ihn auf die Stirn. Kaum aber hatte sie seinen Kopf wieder losgelassen, als er denselben auf die Brust sinken ließ, sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte, und für den Augenblick jeden äußeren Ausdruck seines Kummers gewaltsam niederdrückte. Ich zog sie rasch von ihm weg, bevor ihr feines Gefühl Zeit haben möchte, sie merken zu lassen, daß hier etwas nicht in Ordnung sei. Aber schon jetzt widersetzte sie sich mir, schon jetzt fragte sie argwöhnisch: »Warum ziehen Sie mich von ihm fort?«

Was sollte ich zu meiner Entschuldigung sagen? Ich wußte mir nicht zu helfen. Sie wiederholte die Frage; aber dieses eine Mal war uns das Glück günstig. Ein rechtzeitiges Klopfen an die Thür that ihr gerade in dem Augenblick, wo sie sich von mir loszumachen versuchte, Einhalt.

»Es klopft Jemand«, sagte ich. In demselben Augenblick trat der Diener mit einem Brief aus dem Pfarrhaufe ein.



Zehntes Kapitel - Resumé der Parlaments-Verhandlungen.

O, der willkommenen Unterbrechung Nach der Aufregung, die wir durchgemacht hatten, waren wir Alle einer Erholung, wie sie sich uns hier darbot, gleich bedürftig. Es war unter diesen Umständen ein wahrer Hochgenuß, in den gewöhnlichen Schlendrian des täglichen Lebens wieder hineingezwängt zu werden. Ich fragte, an wen der Brief gerichtet sei? Nugent antwortete: »Der Brief ist an mich und von Herrn Finch.« Nachdem er den Brief gelesen hatte, wandte er sich zu Lucilla.

»Ich habe Ihren Vater bitten lassen, sich hierher zu uns zu bemühen«, sagte er. »Herr Finch erwidert mir darauf, daß seine Pflichten ihn im Hause zurückhalten und daß er dafür halte, das Pfarrhaus sei ein geeigneterer Ort für die Discussion von Familienangelegenheiten. Haben Sie etwas dagegen, nach Hause zurückzukehren und wäre es Ihnen recht, mit Madame Pratolungo voranzugehen?«

Lucilla’s leicht erregbarer Argwohn wurde augenblicklich wach.

»Warum nicht mit Oscar?« fragte sie.

»Ihr Vater«, erwiderte Nugent, »giebt mir in seinem Schreiben zu verstehen, daß er über die kurze Notiz, die ich ihm von unserer hier zu pflegenden Berathung gegeben habe, ein wenig verletzt ist. Ich dachte, Sie könnten, bevor Oscar und ich erscheinen, Ihren Vater mit uns aussöhnen, indem Sie ihm versichern, daß wir keine Mißachtung seiner beabsichtigt haben. Glauben Sie nicht selbst, daß Sie uns die Sache leichter machen würden, wenn Sie das thäten?«

Nachdem er es auf diese geschickte Weise möglich gemacht hatte, Oscar und Lucilla zu trennen und Zeit zu gewinnen, seinen Bruder zu beruhigen und wieder aufzurichten, bevor er sie wiedersehe, öffnete Nugent die Thür, um mich und Lucilla hinauszulassen.

Wir ließen die Zwillingsbrüder allein in dem bescheidenen kleinen Zimmer, welches Zeuge einer Scene gewesen war, die uns Allen unvergeßlich blieb, nicht nur wegen des Interesses, das sie im Augenblick für uns hatte, sondern auch wegen der Folgen, die sich in Zukunft daran knüpfen sollten.

Eine halbe Stunde später waren wir Alle im Pfarrhause versammelt.

Unsere bis zu diesem Augenblick vertagte Berathung führte, abgesehen von einem einzigen kleinen, von mir ausgegangenen Vorschlag, zu nichts. In Wahrheit reducirte sich dieselbe auf eine von Herrn Finch gehaltene Rede. Der Gegenstand derselben war die Geltendmachnng der Würde des Herrn Finch.

Ich erlaube mir hier, da mir wichtigere Dinge obliegen, die Rede des Ehrwürdigen Finch nach dem Maße seiner Gestalt zu behandeln..

Der Ehrwürdige Finch erhob sich und sagte, er protestire dagegen, daß man ihm eine Bestellung auf einer Karte, anstatt in einem angemessenen Billet habe zugehen lassen, daß man ihm zugemuthet habe, sich sofort in Browndown einzustellen, daß er anstatt der Erste der Letzte gewesen sei, den man von der exaltirten und absurden Auffassung des Falles seines armen Kindes durch Herrn Nugent Dubourg unterrichtet habe. Er sei nicht damit einverstanden, daß man sich an einen deutschen Arzt, also jedenfalls einen unbekannten Ausländer und möglicherweise einen Ouacksalber wende, und damit den britischen Aerzten einen Makel anhefte, ganz abgesehen von den großen Kosten, die man sich dadurch aufbürde, er sei endlich gegen den ganzen Vorschlag des Herrn Nugent, der einer Auflehnung gegen die Fügungen einer allweisen Vorsehung entsprungen, eine Verwirrung des Gemüths seiner Tochter zur Folge habe, »eines Gemüths, das sich unter meinem Einfluß in einem Zustande christlicher Ergebung befand, das aber unter Ihrem Einfluß, Herr Dubourg, in einen Zustand ungläubiger Empörung versetzt worden ist.« Nach diesen Schlußbemerkungen setzte sich der Ehrwürdige Finch in Erwartung einer Antwort schweigend nieder.

Es folgte aber merkwürdiger Weise, was sich zur Nachahmung in einigen Parlamenten empfehlen möchte, keine Antwort.

Herr Nugent erhob sich, — nein, er blieb sitzen und erklärte, jede Betheiligung an den Verhandlungen ablehnen zu müssen. Er sei gern bereit zu warten, bis der Ausgang die Mittel, welche er anzuwenden vorgeschlagen habe, gerechtfertigt haben werde. Uebrigens fühle er sich in seinem Gewissen vollständig beruhigt und werde sich Fräulein Finch’s Entscheidung unbedingt fügen. Herr Finch würde sich wohl nicht so leichten Kaufes haben abfinden lassen, wenn nicht ein besonderer Umstand obgewaltet hätte. Ich habe es bereits als einen Ausfluß des eigenthümlichen Zwanges, welchen Lucilla auf Nugent übte, erwähnt, daß ihr Vater denselben in ihrer Gegenwart immer ohne Mühe zum Schweigen bringen konnte. Sie war auch dieses Mal anwesend und Herr Finch profitirte von diesem Umstande.

Oscar, der sich hinter seinem Bruder versteckt hielt, befolgte Nugent’s Beispiel. Die Entscheidung der zu berathenden Angelegenheit bleibe Lucilla allein überlassen. Er habe keine eigene Meinung über die Sache.

Lucilla selbst, welche demnächst zu einer Aeußerung veranlaßt wurde, hatte nur eine Antwort zu geben. Wenn ihr ganzes Vermögen bei dem Versuch, ihre Sehkraft wieder zu erlangen, aufgewendet werden müßte, werde sie mit Freuden dieses Opfer bringen. Bei allem gebührenden Respect vor ihrem Vater wagte sie doch zu glauben, daß er so wenig wie sonst Jemand, der sich im Besitz seiner Sehkraft befinde, ihre Gefühle bei der gegenwärtigen Sachlage ganz verstehen könne. Sie bitte Herrn Nugent Dubourg inständigst, ohne Verzug den deutschen Arzt nach Dimchurch zu bringen.

Frau Finch, an welche nun die Reihe kam, sprach, nachdem sie ein paar Minuten nach ihrem Schnupftuch gesucht hatte. Sie erklärte, sich nicht anmaßen zu wollen, anderer Ansicht zu sein als ihr Gatte, der nach ihrer Erfahrung noch immer bei allen Gelegenheiten Rechts gehabt habe. Sollte aber der deutsche Arzt kommen, so möchte sie denselben, wenn Herr Finch nichts dagegen halte, sehr gern (womöglich umsonst) über Baby’s Augen consultiren. Frau Finch war eben dabei, näher auseinanderzusetzen, daß in diesem Augenblick, soviel sie sehen könne, Baby’s Augen glücklicherweise ganz in Ordnung seien und daß sie nur wünsche, die Meinung eines kundigen Arztes für den möglichen Fall eines künftigen Augenleidens des Kindes zu vernehmen, als sie von Herrn Finch zur Ordnung gerufen wurde. Der ehrwürdige Herr forderte gleichzeitig Madame Pratolungo auf, die Debatte durch den offenen Ausdruck ihrer eigenen Ansicht zu schließen.

Madame Pratolungo bemerkte demgemäß schließlich, daß die Frage der Consultation des deutschen Arztes nach der Aeußerung von Fräulein Finch sich jedem Meinungsausspruch von Seiten einer anderen Person entziehe. Daß sie daher proponire, über die Consultation hinaus die Ergebnisse, welche dieselbe zur Folge haben möchte, ins Auge zu fassen, daß sie in Bezug auf diese möglichen Folgen eine sehr entschiedene Ansicht habe, welche sie offen auszusprechen sich erlauben wolle. Nach ihrer Ansicht könnte die proponirte Untersuchung in Betreff der etwa vorhandenen Aussichten, die Sehkraft Fräulein Finch’s wieder herzustellen, viel zu ernste Folgen nach sich ziehen, als daß man dieselbe der Entscheidung eines einzelnen Mannes, und wäre derselbe noch so geschickt und noch so berühmt, anvertrauen dürfe. Dieser Ansicht gemäß erlaube sie sich vorzuschlagen: Erstens, daß ein ausgezeichneter englischer Augenarzt zu der Consultation des deutschen Augenarztes hinzugezogen werde, zweitens, daß eine genaue Darlegung der Ansicht, über welche sie sich etwa einigen möchten, den hier Versammelten vorgelegt und von diesen discutirt werden möge, bevor irgend eine entscheidende Maßregel getroffen werde, ls und endlich drittens, daß dieser Vorschlag der Versammlung in Form einer Resolution vorgelegt und sofort, falls es erforderlich sein sollte, zur Abstimmung gebracht werden möge.

Die vorstehende Resolution wurde alsbald zur Abstimmung gebracht und mit der Majorität der von vier gegen zwei Stimmen angenommen:

Mit »Ja« stimmten:

Fräulein Finch,
Herr Nugent Dubourg,
Herr Oscar Dubourg,
Madame Pratolungo.

Mit »Nein« stimmten:

Herr Finch (auf Grund der bedeutenden Kosten),
und Frau Finch (weil Herr Finch »Nein« gesagt habe).

Die Debatte wurde bis zu einem später anzuberaumenden Tage vertagt.

Am nächsten Morgen reiste Nugent Dubourg mit dem ersten Zuge nach London. Als wir beim zweiten Frühstück saßen, traf das folgende Telegramm von ihm ein: »Ich habe meinen Freund gesehen, er stellt sich uns zur Verfügung; er ist auch bereit, mit jedem englischen Augenarzte, den wir wählen werden, zu consultiren. Ich will mich eben aufmachen, den Mann zu finden. Weiteres melde ich noch heute telegraphisch.«

Das zweite Telegramm traf Abends ein und lautete wie folgt:

»Alle in Ordnung. Der deutsche und der englische Augenarzt verlassen London mit mir, mit dem um zwölf Uhr vierzig Minuten von hier abgehenden Zuge.«

Nachdem ich dieses Telegramm Lucilla vorgelesen hatte, schickte ich es Oscar nach Browndowm. Ich brauche dem Leser wohl nicht zu sagen, wie er und wie wir die folgende Nacht zubrachten.



Elftes Kapitel - Herr Grosse

Es sind noch verschiedene Umstände zu erwähnen, die am Morgen des Tages, an welchem wir den Besuch der beiden Augenärzte erwarteten, eintrafen. Ich habe auch den besten Willen, diese Umstände zu berichten, an der Fähigkeit dazu gebricht es mir aber leider durchaus.

Wenn ich an jenen ereignißreichen Morgen zurückdenke, blicke ich auf eine Scene angstvoller Spannung und Verwirrung, deren bloße Erinnerung mich noch jetzt nach so langer Zeit völlig außer Fassung bringt. Dinge und Personen vermengen sich unterschiedslos mit einander. Ich sehe die reizende Gestalt meiner blinden, in Rosa und Weiß gekleideten Lucilla, wie sie hin und her flattert, bald in das Haus eilt, bald wieder zum Hause hinaus, wie sie bald ungeduldig der Ankunft der Aerzte entgegensteht, bald aus Furcht vor dem bestehenden Gottesgericht und der vielleicht bevorstehenden Enttäuschung zusammenschaudert.

Im nächsten Augenblick zerfließt für mich die liebliche Gestalt und verwandelt sich in die jammervolle Erscheinung Oscars, wie er zwischen Browndown und dem Pfarrhause ruhelos hin und her wandert, in der schmerzlichen Voraussicht neuer Complicationen in seinem Verhältniß zu Lucilla, wobei er sich dennoch auch jetzt nicht zu dem männlichen Entschluß aufzuraffen vermag, die Gelegenheit zu ergreifen, um mit Lucilla in’s Reine zu kommen. Und wieder einen Augenblick später drängt sich eine kleine stolzirende, von ihrer Bedeutung erfüllte Gestalt in den Vordergrund meiner Erinnerungen. Ich höre eine gewaltige Stimme mit entsprechender Ausdrucksweise mir in’s Ohr brüllen.

»Nein, Madame Pratolungo, nichts soll mich vermögen, diese unsinnige ärztliche Consultatiom diesen unheiligen und lächerlichen Versuch, die Fügungen einer allweisen Vorsehung durch rein menschliche Mittel umzustoßen, durch meine Gegenwart zu sanctioniren. Ich bestehe auf meinem Stück — bemerken Sie wohl, daß ich mich eines vulgären Ausdrucks bediene, um es Ihnen desto nachdrücklicher einzuprägen — ich bestehe auf meinem Stück.«

Und wieder einen Augenblick später ist Herr Finch aus dem Bereich der vor mir auftauchenden Erinnerungen geschwunden; die feuchte Frau Finch und das Baby, dessen Tagewerk sich unabänderlich zwischen Saugen und Schlafen theilt, nehmen den leergewordenen Raum ein. Frau Finch vertraut mir mit wässeriger Feierlichkeit unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit das Geheimniß an, daß sie womöglich hinter dem Rücken ihres Gatten die englische und deutsche Arzneikunde ihrem Baby gratis zu statten kommen lassen wolle. Nun stelle man sich vor, wie sich alle diese Personen durch mein armes Gehirn mit ihren Reden und Handlungen verwirrend kreuzen und nehme dazu meine eigenen kleinen Sorgen, die Leitung des Frühstücks für die Aerzte und so weiter und man wird sich nicht wundern, wenn ich über etwa sechs Stunden kostbarer Zeit wie ein Lämmchen hinwegspringe und mich meinen verehrten Lesern präsentire, wie ich im Wohnzimmer einsam auf meinem Posten sitze, um das ärztliche Concil bei seiner Ankunft im Hause zu empfangen.

Ich hatte nur zwei Dinge, die mich trösten und aufrecht erhalten konnten. Erstens eine von mir selbst bereitete Küken-Mayonnaise auf dem Frühstückstisch, von der ich weiter nichts sage, als daß sie ein vollendetes Kunstwerk war — und zweitens mein grünes seidenes, mit den herrlichen Spitzen meiner Mutter besetztes Kleid, ein in seiner Art ebenso vollendetes Kunstwerk. Ob ich den Frühstückstisch ansah, oder ob ich mich im — Spiegel sah, immer fühlte ich, daß ich meine Nationalität würdig zur Geltung kommen ließ. Ich konnte mir sagen, daß selbst in diesem entfernten Winkel der Erde der Wanderer, der nach Civilisation und nach Luxus des Lebens strebt, die Superiorität Frankreichs anerkennen müsse.

Die Uhr schlug ein Viertel nach drei. Lucilla, die zum hundertsten Male des Wartens in ihrem Wohnzimmer überdrüssig geworden war, steckte ihren Kopf durch die Thür und wiederholte die stehende Frage:

»Ist noch nichts von ihnen zu sehen?«

»Nichts, mein Schatz.«

»Ach, wie lange wollen sie uns noch warten lassen!«

»Geduld, Lucilla, Geduld!«

Mit einem müden Seufzer verschwand sie wieder. Wieder vergingen fünf Minuten, als die alte Zillah in’s Zimmer guckte.

»Sie sind da, Madame, sie halten in einem Wagen vor der Pforte!«

Ich zapfte noch einmal an meinem grünseidenen Kleide, warf einen letzten Blick auf die Mayonnaise, um mir Muth zu machen. Die muntere Stimme Nugent’s, der die Fremden führte, drang vom Garten aus zu mir herein.

»Hierher, meine Herren, folgen Sie mir gefälligst.« Dann wurde es wieder still. Daran hörte ich Schritte, die Thür öffnete sich und Nugent führte die Herren zu mir herein.

»Herr Grosse ans Amerika. Herr Sebright aus London.«

Der Deutsche fuhr ein wenig zusammen,« als mein Name genannt wurde; der Engländer schien völlig unberührt davon zu bleiben. Herr Grosse hatte den Namen meines berühmten Gatten schon nennen gehört; Herr Sebright war ein Barbar, der von der Existenz Pratolungo’s nichts wußte. Ich will zuerst Herrn Grosse schildern und mir dabei die größte Mühe geben.

Ein untersetzter, breiter, stämmiger Körper, der auf zwei kurzen krummen Beinen hin und her wackelte, in unordentlichem, schäbigem, schlecht gebürstetem Anzuge; ein großes, viereckiges, gelbes Gesicht, von einem Wisch dicker stahlgrauer Haare überragt, dunkle, buschigte Augenbrauen, ein Paar; stiere wildblickende Glotzaugen, vor denen zwei riesige runde Brenngläser wie Bollwerke standen, ein grauschwarzer Backen- und Schnurrbart; ein Paar dicht behaarter Hände, deren eine auf dem Zeigefinger einen colossalen Siegelring trug, während die andere fortwährend mit einer silbernen Schnupftabaksdose von der Größe eines Theekastens beschäftigt war; eine rauhe raspelnde Stimme; ein teuflisch satyrisches Lächeln; eine kurz ungebundene selbstgewisse Art zu reden; eine seiner ganzen Erscheinung aufgeprägte Entschlossenheit, Unabhängigkeit und Entschiedenheit des Wesens — das ist das Bild des Mannes, der, wenn man Nugent glauben dürfte, die Wiederherstellung der Sehkraft Lucilla’s in seiner Hand hattet!

Der englische Augenarzt war seinem deutschen Collegen so unähnlich wie es nur ein menschliches Wesen dem andern sein kann.

Herr Sebright war schlank und mager und in seiner Erscheinung peinlich sauber und zierlich. Sein glattes blondes Haar war sorgfältig gescheitelt, auf seinem wohlrasirten Gesicht prangten zwei kleine gekräuselte, ungefähr zwei Zoll lange Stückchen Backenbart und sonst weiter kein Haar. Sein feiner schwarzer Anzug war von vollendetem Schnitt; er trug keinerlei Schmuck, nicht einmal eine Uhrkette; seine Bewegungen waren gemessen, seine Redeweise ruhig und feierlich; eine wohldisciplinirte Aufmerksamkeit blickte Einem aus seinen hellgrauen Augen kalt entgegen und jede Regung seiner dünnen, fein geschnittenen Lippen sagte: »Hier bin ich, wenn Ihr mich braucht.« Ohne allen Zweifel ein sehr tüchtiger Mann, aber Gott behüte mich davor, zufällig neben ihm bei Tische zu sitzen, oder ihn auf einer langen Reise zum einzigen Gefährten zu haben.

Ich empfing die beiden Herren mit bester Grazie. Herr Grosse erwiderte meine Begrüßung mit einem Compliment über meinen berühmten Namen und reichte mir die Hand. Herr Sebright verneigte sich und sagte, es sei heute schönes Wetter. Sobald der Deutsche sich umsehen konnte, richtete er seinen Blick auf den Frühstückstisch. Der Engländer sah zum Fenster hinaus.

»Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten, meine Herren?«

Herr Grosse nickte zum Zeichen seiner freudigen Zustimmung mit seinem Krauskopf. Seine wilden Augen stierten durch die riesigen Brillengläser hindurch gierig nach der Mayonnaise.

»O, davon bin ich ein großer Freund«, sagte der berühmte Arzt, mit dem beringten Zeigefinger auf die Schüssel deutend. »Sie verstehen das zu bereiten; Sie bereiten es mit Sahne. Ist es Hühner — oder Hummer-Mayonnaise? Ich ziehe Hammer vor, aber Hühner sind auch gut. Die Schüssel ist reizend garnirt — Anchovis, Oliven, Rothebeet; braun, grün und roth auf der fetten weißen Sauce. Das nenne ich eine Himmelsspeise. Herrlich, fühlend für das Auge und für die Zunge. So, wir wollen einen Angriff darauf machen. Madame Pratolungo, Sie sollen den Anfang machen.«

, Aber feine Aufmerksamkeit wurde durch seinen höflichen englischen Collegen von der Mayonnaise ab, und der Patientin wieder zugelenkt.

»Ich bitte um Vergebung, Herr College«, sagte Herr Sebright. »Sollte es nicht angezeigt sein, die junge Dame zu sehen, bevor wir etwas Anderes thun? Ich muß mit dem nächsten Zuge nach London zurück.« Herr Grosse, der sich bereits eine Serviette um den Hals gebunden hatte, starrte, in der einen Hand eine Gabel und in der anderen einen Löffel, seinen Collegen mit kläglicher Miene an, schüttelte seinen Krauskopf und trennte sich mit schwerem Herzen von der Mayonnaise.

»Gut, wir wollen erst unsere Arbeit thun und dann unser Frühstück verzehren. Wo ist die Patientin? Kommen Sie, lassen Sie uns anfangen, rasch ans Werk!« Er nahm seine Serviette wieder ab, blies — es läßt sich nicht anders ausdrücken — einen Seufzer und tauchte seinen Daumen und Zeigefinger in seine Theekasten-Schnupftabaksdose. »Wo ist die Patientin?« wiederholte er ungeduldig »Warum ist sie nicht hier?«

»Sie wartet im Nebenzimmer«, sagte ich. »Ich will sie gleich herbringen. Sie werden gewiß Nachsicht mit ihr haben, meine Herren, wenn Sie sie ein wenig nervös aufgeregt finden sollten«, fügte ich mit einem Blick auf die beiden Augenärzte hinzu. Der schweigsame Herr Sebright verneigte sich; Herr Grosse grinste teuflisch und sagte: »Beruhigen Sie sich, mein gutes Kind. Ich bin keine so rohe Bestie wie ich aussehe.«

»Wo ist Oscar«, fragte mich Nugent, als ich auf dem Wege nach Lucilla’s Zimmer an ihm Vorüber ging.

»Nachdem er lange hin- und hergeschwankt hat«, erwiderte ich, »hat er endlich beschlossen, bei der Untersuchung nicht gegenwärtig zu sein.«

Kaum hatte ich das gesagt, als sich die Thür öffnete und Oscar eintrat. Er hatte sich also wieder anders besonnen und kam in Folge dessen zu uns.

Bei dem Anblick von Oscar’s Gesicht brach Grosse in den Ausruf aus: »Ach Gott, der hat Höllenstein im Leibe, davon ist seine Hautfarbe so verdorben. Der arme Junge! Der arme Junge!« Er schüttelte seinen zottigen Kopf, drehte sich um und spie mitleidig in eine Ecke des Zimmers. Oscar schien gekränkt, Herr Sebright degoutirt, nur Nugent sah aus, als ob ihn die Sache höchlich ergötze. Ich ging hinaus und schloß die Thür hinter mir.

Aber kaum war ich auf den Vorplatz hinausgetreten, als sich die Thür schon wieder hinter mir öffnete. Als ich mich sofort umblickte, sah ich zu meinem Erstaunen Herrn Grosse vor mir stehen, der mich durch seine Brillengläser hindurch wild anstarrte und mir seinen Arm bot.

»Still!« flüsterte der berühmte Augenarzt, »sagen Sie Niemand etwas davon, ich komme Ihnen zu helfen.«

»Mir zu helfen?« wiederholte ich.

Herr Grosse nickte heftig, so heftig, daß seine ungeheuren Brillengläser auf seiner Nase hin und her hüpften.

»Sie haben mir gesagt, die Patientin sei nervös. Nun gut. Ich komme, um mit Ihnen zu der Patientin zu gehen und Ihnen zu helfen, sie zu holen. Sehen Sie wohl, ich bin nicht so roh wie ich aussehe. Kommen Sie rasch! Wo ist sie?«

Ich zauderte einen Augenblick, diesen merkwürdigen Abgesandten in Lucilla’s Schlafzimmer zu führen. Ader ein Blick auf ihn machte meinem Zaudern ein Ende. Am Ende war er doch ein Arzt und noch dazu ein so häßlicher! Ich nahm seinen Arm.

Wir gingen zusammen nach Lucilla’s Zimmer. Sie fuhr vom Sopha, auf welchem sie gesessen hatte, auf, sobald sie die fremden Fußtritte zugleich mit den meinigen im Zimmer vernahm.

»Wer ist da?« rief sie.

»Ich bin es, liebes Kind!« sagte Herr Grosse. »Ach, Gott« welch ein hübsches Mädchen! Sie hat gerade den Teint, den ich liebe, hübsch blond, hübsch blond! Ich komme, um zu sehen, was ich für Ihre Augen thun kann, mein hübsches Fräulein. Wenn ich Ihnen Ihr Augenlicht wiedergeben kann — wie? da werden Sie mich lieb haben, nicht wahr? Dann werden Sie selbst einen so häßlichen Deutschen, wie ich einer bin, küssen. Kommen Sie einmal her und nehmen Sie meinen Arm; wir wollen wieder in das andere Zimmer gehen. Da ist noch Einer, der Ihnen das Augenlicht wiedergeben will, Herr Sebright. Zwei Augenärzte für ein hübsches Fräulein, ein englischer und ein deutschen was? Wir beide wollen das hübsche Mädchen schon kuriren. Madame Pratolungo, nehmen Sie meinen anderen Arm. Wie — was? Sie sehen meinen Rockärmel an? Der ist schäbig und fettig; ich muß mich schämen. Aber einerlei. Sie können sich ja Herrn; Sebright’s Aermel in dem andern Zimmer ansehen; der ist funkelnagelneu. Kommen Sie, vorwärts, Marsch!«

Nugent, der uns auf dem Corridor erwartet hatte, riß jetzt die Thür weit auf und flüsterte mir, als wir ins Zimmer traten, zu, indem er auf seinen Freund deutete:

»Ist er nicht köstlich? Unser deutscher Doctor hat Lucilla schon gut gethan.«

Die Untersuchung ging von Anfang an ohne Verlegenheit und Angst vor sich; Herr Grosse hatte sie zum Lachen gebracht, hatte sie vollkommen behaglich gemacht.

Als wir inis Zimmer traten, unterhielten sich Herr Sebright und Oscar in höchst freundschaftlicher Weise. Der reservirte Engländer schien etwas Anziehendes für den blöden Oscar zu haben. Selbst Herr Sebright war von dem Anblick Lucilla’s betroffen, sein kaltes Gesicht leuchtete, als er ihr vorgestellt wurde. Er rückte einen Stuhl für sie an das Fenster und bat sie mit einer Wärme des Tones, die mir überraschend war, sich zu setzen. Sie that es. Darauf trat Herr Sebright wieder zurück und verneigte sich gegen Herrn Grosse mit einer höflichen Handbewegung, welche bedeutete: »Sie zuerst.«

Herr Grosse erwiderte diese Höflichkeit auch seinerseits mit einer Handbewegung und einem heftigen Schütteln seines Krauskopfes, welches bedeutete: »Das fällt mir gar nicht ein.«

»Um. Vergebung«, bat Herr Sebright, »Sie sind der Aeltere der Fremde und Meister in unserer Kunst.«

Herr Grosse regalirte sich mit drei rasch hintereinander genommenen Prisen und sagte dabei: »Ach was, soviel für den Aelteren, soviel für den Fremden und soviel für den Meister der Kunst.« Eine lange Pause folgte. Keiner der beiden Aerzte wollte den Anfang machen. Da legte sich Nugent ins Mittel.

»Fräulein Finch wartet«, sagte er, »kommen Sie, Grosse, Sie sind ihr zuerst vorgestellt worden; untersuchen Sie sie zuerst.«

Herr Grosse kniff Nugent ins Ohr. »Sie sind ein gescheidter Junge«, sagte er, »Sie haben das rechte Wort immer bei der Hand.« Er watschelte nach Lucilla’s Stuhl hin, blieb aber hier plötzlich wie betroffen stehen. Oscar stand über Lucilla gebeugt, ihre Hand in der seinen haltend und flüsterte ihr etwas zu. »He, was ist das«, rief Herr Grosse. »Ist das ein dritter Augenarzt? Wie, mein werther Herr, besteht Ihre Behandlung der Augen junger Damen darin, daß Sie ihnen die Hand drücken? Sie sind ein Quacksalber, scheeren Sie sich fort!« Oscar zog sich mit wenig guter Grazie zurück. Herr Grosse setzte sich auf einen Stuhl, Lucilla gegenüber und nahm seine Brille ab.

Wie die meisten kurzsichtigen Leute hatte er vortreffliche Augen für Alles, was er in hinreichender Nähe betrachten konnte. Er beugte sich vornüber, brachte sein Gesicht ganz nahe an das Lucilla’s heran, öffnete ihr mit Daumen und Zeigefinger abwechselnd die Augenlider beider Augen und blickte aufmerksam zuerst in das eine und dann in das andere Auge.

Es war ein Moment der höchsten Spannung für uns Alle. Wer konnte sagen, welchen Einfluß auf ihr künftiges Leben dieser ungeschliffene, wunderliche, freundliche, kleine Fremde üben werde.

Wie ängstlich beobachteten wir diese buschigen Augenbrauen, diese durchbohrenden Glotzaugen! Und, Himmel, wie enttäuscht waren wir über das erste Ergebniß dieser Untersuchung! Plötzlich gab Lucilla ihrem Widerwillen durch ein unfreiwilliges Zusammenschaudern Ausdruck. Herr Grosse trat einige Schritte zurück und lugte sie mit seinem himmlischen Lächeln wohlwollend an.

»Aha«, sagte er, »ich weiß schon was es ist. Ich schnupfe und rauche; ich rieche nach Tabak. Das hübsche Fräulein riecht das. Sie denkt in ihrem innersten Herzen: »Ach Gott, wie der stinkt.«

Lucilla brach in lautes Lachen aus. Herr Grosse, den die Sache ebenfalls höchlichst ergötzte, grinste vor Vergnügen und riß ihr das Schnupftuch aus ihrer Schürzentasche. »Geben Sie mir etwas Parfum«, sagte der vortreffliche Deutsche. »Ich will ihr die Nase mit ihrem Schnupftuch verstopfen. Dann wird sie mein Tabaksgeruch nicht mehr belästigen, Alles wird wieder in schönster Ordnung sein und wir werden fortfahren.« Ich gab ihm etwas Lavendelwasser auf einem auf dem Tische stehenden Riechfläschchen, Mit ernsthafter Miene tränkte er das Schnupftuch damit und stopfte es Lucilla in die Nase. »Halten Sie fest, Fräulein, jetzt können Sie nichts von Grosse riechen. Gut! Jetzt können wir fortfahren.«

Er zog eine Vergrößerungslinse aus der Westentasche und wartete, bis Lucilla sich wieder ganz von ihrem Lachanfall erholt hatte. Und dann nahm die Untersuchung, die so grausam possirlich anzusehen und doch so furchtbar ernsthaft war, ihren Fortgang, Herr Grosse seine Patientin durch seine Vergrößerungslinse betrachtend und Lucilla in ihrem Stuhl zurückgelehnt, sich das Schnupftuch vor die Nase haltend.

Es verging mehr als eine Minute, bis das Gottesgericht der Untersuchung zu Ende war.

Herr Grosse steckte sein Vergrößerungsglas wieder in die Tasche und gab dabei einen grunzenden Ton von sich, der wie ein Ausdruck der Erleichterung klang, und riß Lucilla das Schnupftuch wieder weg.

»Pfui, was für ein widerwärtiger Geruch!« sagte er, indem er das Schnupftuch mit einer Grimasse des Widerwillens an die Nase hielt. »Tabak riecht doch viel besser.« Er entschädigte seinen Riech-Apparat für die Kränkung des Lavendelwassers durch eine ungeheure Prise. »Jetzt will ich mit Ihnen reden«, fuhr er fort. »Sehen Sie ich halte mich in gehöriger Entfernung. Sie brauchen Ihr Schnupftuch jetzt nicht mehr, Sie können mich so nicht riechen.«

»Werde ich mein lebelang blind bleiben?« fragte Lucilla. »Bitte, bitte, sagen Sie es mir, Herr Grosse. Werde ich lebenslänglich blind bleiben?«

»Wollen Sie mir einen Kuß geben, wenn ich es Ihnen sage?«

»Denken Sie doch wie begierig ich auf Ihre Antwort sein muß. Bitte, bitte, sagen Sie es mir.«

Sie wollte sich vor ihm auf die Kniee werfen, aber fest und freundlich hielt er sie auf ihrem Stuhle zurück.

»Nun, nun, seien Sie hübsch artig und antworten Sie mir zuerst. Wenn Sie an einem hellen, sonnigen Tage im Garten spazieren gehen, empfinden Ihre Augen da ganz ebenso, wie wenn Sie Nachts im Bett liegen?«

»Nein.«

»So, Sie wissen, daß es das eine Mal schön hell und das andere Mal stockdunkel ist?«

»Warum fragen Sie mich denn, ob Sie Ihr lebelang blind bleiben müssen? Wenn Sie soviel sehen können, sind Sie überhaupt nicht eigentlich blind.«

Sie faltete mit einem gedämpften Freudenschrei die Hände »O, wo ist Oscar?« fragte sie leise, »wo ist Oscar?«

Ich fah mich nach ihm um; er war fortgegangen. Er mußte sich, während sein Bruder und ich wie durch einen Zauber gebannt an den Lippen des Arztes und Lucilla’s gehangen hatten, aus dem Zimmer geschlichen haben. Herr Grosse stand auf, um Herrn Sebright seinen Platz einzuräumen.

In der Ektase ihrer neuen Hoffnung schien Lucilla die Gegenwart des englischen Arztes, als er den Platz seines Collegen einnahm, gar nicht zu bemerken. Sein ernstes Gesicht sah noch ernster als gewöhnlich aus, als auch er jetzt eine Vergrößerungslinse aus der Tasche zog und, indem er die Augenlider Lucilla’s sanft öffnete, seinerseits an die Untersuchung ihrer Augen ging.

Die Untersuchung des Herrn Sebright dauerte aber viel länger als die des Herrn Grosse. Er verhielt sich dabei völlig schweigend. Als er fertig war, stand er auf, ohne ein Wort zu sagen und ließ Lucilla, wie er sie gefunden hatte, ganz versenkt in die Vorstellung ihres Glücks, in den Gedanken an die Zeit, wo sie an dem neuen Morgen erwachen und sehen würde.

»Nuu?« sagte Nugent ungeduldig zu Herrn Sebright gewendet. »Was sagen Sie?«

»Ich sage noch Nichts.«

Nach dieser, einen Vorwurf für Nugent enthaltenden Antwort wendete er sich zu mir.

»Habe ich recht verstanden, daß Fräulein Finch ein Jahr alt war, als man entdeckte, daß sie blind oder doch nahezu blind sei?«

»So hat man mir immer gesagt«, erwiderte ich.

»Ist irgend eine Person im Hause von der Familie oder der Dienerschaft, welche über den Zustand ihrer Augen im ersten Lebensjahre berichten kann?«

Ich klingelte nach Zillah. »Ihre Mutter ist todt«, sagte ich, »und ihr Vater sieht sich durch besondere Gründe verhindert, hier anwesend zu sein. Aber ihre alte Amme wird im Stande sein, Ihnen die gewünschte Auskunft zu geben.« .

Zillah erschien und Herr Sebright fragte sie:

»Waren Sie im Hause, als Fräulein Finch geboren wurde?«

»Ja, Herr.«

»War etwas an ihren Augen bei ihrer Geburt oder gleich nachher nicht in Ordnung?«

»Durchaus nicht, Herr.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich weiß es, weil ich gesehen habe, daß sie die Dinge um sich her bemerkte. Sie pflegte ins Licht zu starren und, wie andere Kinder, nach Dingen, die man ihr vorhielt, zu greifen.«

»Wie entdeckten Sie denn, daß sie anfing, blind zu werden?«

»Auf dieselbe Weise, Herr. Es kam eine Zeit, wo die Augen des armen Kindes wie verglas’t aussahen, und wo sie, wir mochten es Morgens oder Abends versuchen, wie wir wollten, nichts mehr sah.«

»Entwickelte sich die Blindheit allmählig?«

»Ja Herr, ganz bei Kleinem Woche für Woche wurde es allmählig immer schlimmer. Sie war etwas über ein Jahr alt, als wir uns überzeugten, daß sie völlig blind sei.«

»Waren die Augen ihres Vaters oder ihrer Mutter je irgendwie leidend.«

»Soviel ich weiß, Herr, nie.«

Herr Sebright wandte sich an Herrn Grosse, der am Frühstückstisch fest und mit resignirten Blicken die Mayonnaise betrachtete. »Wollen Sie vielleicht der Amme noch Fragen vorlegen«, sagte er.

Herr Grosse zuckte mit den Achseln und deutete mit dem Daumen hinter sich auf die Stelle, wo Lucilla saß.

»Ihr Fall ist für mich so klar, wie daß zweimal zwei vier sind. Ach Gott, wozu brauche ich die Amme?« Er heftete wieder seine verlangenden Blicke aus die Mayonnaise. »Mein schöner Appetit geht mir fort, sollen wir nicht frühstücken?«

Herr Sebright entließ Zillah mit einem kalten Kopfnicken. Seine entmuthigende Art fing an, mich etwas unbehaglich zu stimmen. Ich wagte es, zu fragen, oh er bereits zu einem Schluß gelangt sei. »Erlauben Sie mir, mit meinem Collegen zu consultiren, bevor ich Ihnen antworte«, erwiderte der undurchdringliche Mann. Ich riß Lucilla ans ihren Träumen. Ihre erste Frage galt wieder Oscar. Ich sagte, ich vermuthe, wir würden ihn im Garten finden und nahm sie mit mir fort. Nugent folgte uns. Ich hörte Herrn Grosse, als wir den Frühstückstisch passirten, Nugent im kläglichen Tone zuflüstern, »Um Himmelswillen, kommen Sie bald wieder und lassen Sie uns frühstücken!« Wir überließen die beiden so verschieden gearteten Herren ihrer Consultation im Wohnzimmer.



Zwölftes Kapitel - »Wer soll entscheiden, wenn die Aerzte verschiedener Meinung sind.«

Wir waren gewiß noch keine zehn Minuten im Garten gewesen, als wir durch ein von dem Fenster des Wohnzimmers zu uns dringendes merkwürdiges Geschrei unterbrochen wurden. »He, he, hi, hi, ho, ho!« Wir blickten auf und sahen Herrn Grosse der am Fenster stand und ein großes rothseidenes Schnupftuch wie wahnsinnig schwenkte.

»Frühstück, Frühstück!« schrie der deutsche Arzt. »Die Consultation ist zu Ende, kommen Sie rasch, lassen sie uns anfangen!« .

Diesem peremtorischen Geheiß gehorchend kehrten Nugent, Lucilla und ich in’s Wohnzimmer zurück. Wir hatten, wie ich vorausgesehen, Oscar allein im Garten auf- und abgehend gefunden. Er hatte mich mit einer Geberde gebeten, Lucilla von seiner Anwesenheit nichts zu sagen, und war fortgeeilt, um sich in, einem der Seitengange zu verbergen. Es war jammervoll, seine Aufregung zu sehen. Es war unmöglich, ihm in jenem angstvollen Augenblick in Lucilla’s Gegenwart zu trauen.

Als wir die beiden Augenärzte verlassen hatten, hatte ich Zillah mit einer geschriebenen Botschaft an den Ehrwürdigen Finch geschickt, in welcher ich ihn bat, sich die Sache noch einmal zu Überlegen und, wenn auch nur der Form wegen, in dem für seine Tochter so hochwichtigen Augenblick des Ausspruches der Aerzte über ihren Fall zugegen zu sein. Bei unserem Wiedereintritt in’s Haus erhielt ich am Fuße der Treppe die auf einem Streifen Predigtpapier geschriebene Antwort

»Herr Finch erklärt, es entschieden ablehnen zu müssen, eine Prinzipienfrage irgend welchen nur von der Zweckmäßigkeit dictirten Erwägungen zu unterwerfen. Er erlaubt sich, Madame Pratolungo ernstlich an das zu erinnern, was er ihr bereits gesagt habe, mit andern Worten, er bittet sie wiederholt, nicht zu vergessen, daß er auf seinem Stück besteht.

Als wir wieder ins Zimmer traten, fanden wir die die beiden berühmten Augenärzte so weit wie irgend möglich von einander entfernt sitzen. Beide Herren lasen. Herr Sebright las in einem Buch. Herr Grosse las — in der Mayonaise.

Ich stellte mich dicht neben Lucilla und ergriff ihre Haud. Sie war kalt wie Eis. Mein armes liebes Kind zitterte zum Erbarmen. Es waren Augenblicke unaussprechlicher Qual für sie, diese Augenblicke der Ungewißheit, bevor die Aerzte ihren Ausspruch thaten. Ich drückte ihre kleine Hand in der meinigen und flüsterte »Muth!«

Ich gehöre wahrhaftig nicht zu den sentimentalen Naturen, aber ich kann in Wahrheit sagen, mein Herz blutete für sie.

»Nun, meine Herren«, sagte Nugent, »was ist das Resultat Ihrer Consultation?« Haben Sie sich geeinigt?«

.

»Nein«, sagte Herr Sebright, indem er das Buch bei Seite legte.

»Nein«, sagte Herr Grosse, indem er mit der Mayonnaise liebäugelte.

Lucilla, die fortwährend die Farbe wechselte und deren Busen immer gewaltiger wogte, wandte ihr Gesicht zu mir. Ich flüsterte ihr zu, sie möge sich beruhigen.

.

»Einer von ihnen«, sagte ich, »ist jedenfalls der Ansicht, daß Sie geheilt werden können.« Sie verstand mich und wurde sofort ruhiger. Nugent fuhr fort die beiden Aerzte zu befragen.

»Worin weichen Sie voneinander ab«, fragte er, »wollen Sie uns Ihre Ansichten nicht mittheilen?«

Nun gab es wieder einen langweiligen Etiquettenstreit zwischen unseren beiden ärztlichen Berathern. Herr Sebright verneigte sich gegen Herrn Grosse mit einer Miene, die da sagte: »Sie zuerst.« Herr Grosse verneigte sich wieder gegen Herrn Sebright, was so viel sagen wollte: »Nein, Sie zuerst!« Bei dieser lächerlichen, professionellen Zurückhaltung riß mir die Geduld.

· .

»Reden Sie doch beide zugleich, meine Herren, wenn Ihnen das lieber ist«, sagte ich in scharfem Tone. »Um’s Himmelswillen, thun Sie, was Sie wollen, aber lassen Sie uns nicht in dieser Ungewißheit. Ist es möglich, oder ist es nicht möglich, unserer Lucilla ihre Sehkraft wiederzugeben?«

»Ja«, sagte Herr Grosse.

Mit einem Freudenschrei sprang Lucilla auf.

»Nein«, sagte Herr Sebright.

Lucilla sank wieder in ihren Stuhl zurück und lehnte ihren Kopf schweigend an meine Schulter.

»Sind Sie einer Meinung in Betreff der Ursache ihrer Blindheit?« fragte Nugent.

»Es ist der graue Staar.« antwortete Herr Grosse.

»Das ist auch meine Meinung«, sagte Herr Sebright. »Es ist der graue Staar.«

»Der graue Staar ist heilbar«, fuhr der Deutsche fort.

»Auch das halte ich für richtig«, bemerkte der Engländer, »aber mit dem Vorbehalt, der graue Staar ist bisweilen heilbar.«

»Dieser Staat ist heilbar!« rief Herr Grosse.

»Mit aller schuldigen Achtung«, fügte Herr Sebright, »muß ich doch dieser Meinung widersprechen. Der Staar bei Fräulein Finch ist nicht heilbar.«

»Können Sie uns Ihre Gründe für diese Ansicht sagen?« fragte ich.

»Meine Ansicht «, sagte Herr Sebright, stützt sich auf Erwägungen, zu deren Verständniß Fachkenntnisse erforderlich sind. Ich kann nur so viel sagen, daß ich nach der genauesten und gewissenhaftesten Untersuchung zu der Ueberzeugung gelangt bin, daß Fräulein Finch ihre Sehkraft für immer verloren hat. Und der Versuch, dieselbe durch eine Operation wieder herzustellen, würde nach meiner Ansicht nicht zu rechtfertigen sein. Die junge Dame würde sich nicht nur der Operation unterziehen, sondern sich auch gefallen lassen müssen, sich noch sechs bis acht Wochen — nach der Operation in einem dunklen Zimmer aufzuhalten. Ich brauche Sie wohl kaum darauf aufmerksam zu machen, daß sie während dieser Zeit unbedingt die zuversichtlichste Hoffnung auf ihre Wiederherstellung nähren würde. Ueberzeugt, wie ich es bin, daß das von ihr verlangte Opfer vergeblich sein würde, kann ich es aber nur für äußerst unwünschenswerth halten, unsere Patientin den moralischen Folgen einer Enttäuschung auszusetzen, welche sie sich natürlich sehr zu Herzen nehmen wird. Sie hat sich von ihrer frühesten Jugend an daran gewöhnt, ihre Blindheit mit Ergebung zu tragen. Als ein rechtschaffener Mann, der sich verpflichtet fühlt, seine Meinung ganz und entschieden auszusprechen, kann ich Ihnen nur rathen diese Ergebung nicht weiter auf die Probe zu stellen Ich erkläre, daß es nach meiner Ueberzeugung mindestens nutzlos und möglicherweise gefährlich wäre, eine Operation zum Zweck der Wiederherstellung ihrer Sehkraft an ihr vorzunehmen.«

In dieser klaren und entschiedenen Weise sprach sich der Engländer aus.

Lucilla’s Hand umklammerte die meinige krampfhaft. »Grausam, grausam,« murmelte sie zornig vor sich hin. Ich ermahnte sie durch einen kleinen Druck meiner Hand zur Geduld und blickte in schweigender Erwartung nach Herrn Grosse, auf den auch Nugent eben seine Blicke gerichtet hatte. Der Deutsche stand bedächtig auf und wackelte nach der Stelle hin, wo Lucilla und ich zusammen saßen.

»Ist der gute Herr Sebright fertig?« fragte er.

Herr Sebright antwortete nur mit seiner ewig gleichen Verneigung .

Gut! So will ich jetzt meine Meinung sagen«, sagte Herr Grosse. »Ich will mich ganz kurz fassen. Mit aller Achtung vor Herrn Sebright muß ich doch gegen das, was er nur meint, das in die Wagschale werfen, was ich, Grosse mit diesen meinen Händen gethan habe. Einen Staar, wie ihn das Fräulein da hat, habe ich schon öfter gestochen, schon öfter geheilt. Sehen Sie einmal her!« Mit diesen Worten drehete er sich plötzlich nach Lucilla um, schlug seine Manschette zurück, legte die Zeigefinger seiner beiden Hände auf die beiden Seiten ihrer Stirn und schob mit seinen beiden dicken Daumen ihre Augenlider sanft zurück. »Ich verpfände Ihnen mein Wort als Augenarzt«, sagte er, »daß mein Messer das Licht hier hineindringen lassen soll. Dieses liebenswürdige und charmante Mädchen soll noch liebenswürdiger und charmanter werden als zuvor. Aber zuvor muß meine hübsche Lucilla so wohl sein wie möglich; sie muß sich zunächst ganz meiner Leitung anvertrauen und dann — eins, zwei, drei! Und meine hübsche Lucilla kann wieder sehen.«

Mit diesen Worten schob er Lucilla’s Augenlider abermals zurück, heftete seine Glotzaugen durch seine Brillengläser hindurch fest auf sie, applicirte ihr auf die Stirn den lautesten Kuß, den ich je in meinem Leben gehört habe, lachte, daß die Stube zitterte und kehrte dann auf seinen Posten als Wache vor der Mayonnaise zurück. »Nun«, rief er heiter aus, »sind wir mit dem Reden fertig. Jetzt kann, Gott sei Dank, das Essen anfangen.«

Lucilla stand wieder auf und fragte: »Wo sind Sie Herr Grosse?«

»Hier, liebes Kind.«

Sie ging durchs Zimmer nach dem Tisch, an welchem er bereits damit beschäftigt, sich sein Lieblingsgericht vorzuschneiden, saß.

»Haben Sie gesagt, daß Sie ein Messer gebrauchen müssen, mir meine Sehkraft wieder zu geben?« fragte sie ganz ruhig.

»Ja, ja, fürchten Sie sich nicht davor. Es thut nicht sehr weh — nicht sehr weh.«

Sie gab ihm einen kleinen Schlag aus die Schulter.

»Kommen Sie. Herr Grosse, wenn Sie Ihr Messer bei sich haben — hier bin ich, thun Sie es gleich.«

Nugent und Herr Sebright fuhren zusammen; ihre Kühnheit setzte sie beide in Erstaunen. Ich bin der größte Poltron in Betreff aller wundärztlichen Operationen, das heißt, wenn sie an mir oder Andern vorgenommen werden. Lucilla erschreckte mich; ich stürzte auf sie zu und war närrisch genug, laut aufzuschreien.

Aber schon ehe ich sie erreichen konnte, war Herr Grosse ihrem Befehl gehorsam, mit einem leckeren Bissen aus der Spitze seiner Gabel aufgestanden. »Sie allerliebste kleine Närrin«, sagte er, »so rasch steche ich keinen Staar. Für heute will ich eine andere Operation mit Ihnen vornehmen«, und dabei steckte er ihr das Stück Huhn ohne Umstände in den Mund. »Aha, beißen Sie gut zu, es ist gut. Nun setzen Sie sich Alle herkommen Sie, lassen Sie uns frühstücken.«

Er war unwiderstehlich; wir setzten uns Alle zu Tisch.

Wir Uebrigen aßen, Herr Grosse schlang Alles gierig hinunter, von der Mayonnaise bis zur Fruchttorte und wieder von der Fruchttorte bis zur Mayonnaise und dann wieder von der Mayonnaise zu Schinkenbutterbröten und Pudding und schließlich, so wahr ich eine rechtschaffene Frau bin, noch einmal zur Mayonnaise zurück. Sein Trinken hielt Schritt mit seinem Essen. Bier, Wein, Branntwein — er verschmähte nichts und mischte alles unter einander. Die leichteren Beigaben des Mahles, Mandeln und Rosinen, eingemachten Ingber und überzuckerte Früchte, aß er zu allem. Ein Gericht Oliven hatte sich seiner besonderen Gunst zu erfreuen. Mit beiden Händen griff er hinein und stopfte sich die Hosentaschen damit voll. »So«, erklärte er, »brauche ich Niemand zu bitten, mir die Schüssel zu reichen. Ich werde so viel Oliven, wie ich zu essen Lust habe, immer bei mir haben. Als er nicht mehr essen und trinken konnte, ballte er seine Serviette zu einer Kugel zusammen und gab sich einer andächtig dankbaren Stimmung hin. »Wie gütig von Gott«, bemerkte er, »daß er, als er die Welt schuf, auch Essen und Trinken mit schuf! O«, seufzte Herr Grosse, indem er sich beide Hände mit ausgespreizten Fingern sanft aus den Bauch legte, »wie viel Glückseligkeit wohnt doch hier für den Menschen.«

Herr Sebright sah nach seiner Uhr.

»Wenn die Frage der Operation noch weiter besprochen werden soll, so muß es gleich geschehen«, sagte Herr Sebright. »Wir haben kaum noch fünf Minuten, Sie haben meine Ansicht gehört und ich bleibe dabei.«

Herr Grosse nahm eine Prise und sagte: »Und ich bleibe bei meiner Meinung.«

Lucilla wandte sich der Stelle zu, von welcher aus Herr Sebright gesprochen hatte.

»Ich· danke Ihnen für das Aussprechen Ihrer Ansicht, Herr Sebright«, sagte sie in einem sehr ruhigen und festen Ton. »Ich bin entschlossen, es mit der Operation zu versuchen. Wenn sie mißlingt, so werde ich bleiben, was ich jetzt bin. Wenn sie gelingt, so giebt sie mir ein neues Leben. Für die Möglichkeit meine Sehkraft wieder zu gewinnen, will ich aber Alles ertragen und Alles wagen.«

Mit diesen denkwürdigen Worten bahnte sie den Weg für das bedeutsamste Ereigniß in ihrem und in unserem späteren Leben, das zu schildern die Aufgabe dieser Erzählung ist.

Herr Sebright antwortete in seiner reservirten Weise:

»Ich kann nicht behaupten, daß Ihr Entschluß mich überrascht. Wie aufrichtig ich denselben auch bedaure, so muß ich doch zugeben, daß er in Ihrem Falle ganz natürlich ist.«

Lucilla wandte sich nun an Herrn Grosse.

»Bestimmen Sie selbst den Tag. Je eher, desto lieber, morgen, wenn Sie wollen.«

»Sagen Sie mir eines, mein Kind«, erwiderte der Deutsche mit einer Feierlichkeit des Tones und des Ausdrucks, die uns ganz neu an ihm war, »meinen Sie wirklich, was Sie sagen?«

Sie antwortete ihm ebenso feierlich: »Ich meine, was ich sage.«

»Gut, Alles hat seine Zeit, der Spaß und der Ernst. Jetzt ist es Zeit, ernst zu sein. Ich habe Ihnen, bevor ich gehe, mein letztes Wort zu sagen.«

Mit seinen wilden schwarzen Augen starrte er Lucilla durch seine Eulenbrillengläser an und stellte ihr in seinem gebrochenen Englisch, aber in einem höchst eindringlichen Ton die Nothwendigkeit vor, es mit der Operation, die er an ihr zu vollziehen unternommen habe, sehr ernst zu nehmen und sich gehörig auf dieselbe vorzubereiten. Sein Ton erleichterte mich sehr. Er sprach in dem Gefühl einer Autorität, die sie zu gespannter Aufmerksamkeit zwang. Vor allen Dingen ermahnte er Lucilla, es sich wohl gesagt sein zu lassen, daß wenn die Operation mißlänge, es nicht möglich sein würde, dieselbe ein zweites Mal vorzunehmen. Wenn sie einmal vorgenommen sei, das Resultat möge sein welches es wolle, so sei es damit zu Ende. Dann müsse er, bevor er sich zur Operation entschließen würde, darauf bestehen, daß gewisse für den Erfolg wesentliche Bedingungen sowohl von der Patientin selbst als von ihren Verwandten strenge erfüllt würden. Herr Sebright habe die Dauer der nach der Operation in einem dunklen Zimmer zu verbringen den Prüfungszeit keineswegs übertrieben. Unter keinen Umständen dürfe sie hoffen, ihre Augen nur einen Augenblick früher, als nach Verlauf von mindestens sechs Wochen, von ihrer Binde befreit zu sehen. Während dieser ganzen Zeit und wahrscheinlich während noch fernerer sechs Wochen sei es absolut nothwendig, sie in einem Gesundheitszustande zu erhalten, vermöge dessen der ganze Organismus den allmähligen Fortschritt bis zur völligen Wiederherstellung der Sehkraft unterstützen würde. Wenn nicht Körper und Geist beide in ihrer normalsten und bestmöglichen Verfassung erhalten würden, so könne Alles, was seine Geschicklichkeit zu leisten im Stande sei, vergeblich sein. Nichts was sie reizen oder aufregen könnte, dürfe das ruhige Einerlei ihres Lebens unterbrechen, bis er, Grosse, sich, überzeugt haben werde, daß ihre Sehkraft gesichert sei. Er verdanke seine Erfolge und seinen Ruf zum großen Theil seiner strengen Beobachtung dieser Regeln, welche sich auf seine eigene Erfahrung von dem Einfluß stützten, den der allgemeine, sowohl moralische als physische Gesundheitszustand eines Patienten auf die Wahrscheinlichkeit des Erfolges einer an diesen Patienten vorgenommenen Operation immer — und wieviel mehr noch, wenn es sich um die Operation an einem so zarten Organ wie das Auge handle, übe.

Nachdem er sich so ausgesprochen hatten appellirte er an Lucilla’s eigenes Urtheil und forderte sie auf, anzuerkennen, wie nothwendig es für sie sei, sich mit ihrem Entschluß noch Zeit zu lassen und zunächst mit Verwandten und Freunden zu Rathe zu gehen. Mit kurzen Worten: für die Dauer von wenigstens drei Monaten müßte alles so eingerichtet werden, daß der sie behandelnde Arzt die unbedingte Befugniß habe, ihre Lebensweise zu regeln und über jede mit derselben vorzunehmende Veränderung zu bestimmen. Sobald sie und die Mitglieder ihrer Familie sich überzeugt haben würden, daß sie im Stande seien, diese Bedingungen zu erfüllen, brauche ihm Lucilla nur nach seinem Hotel in London zu schreiben und er verpflichte sich dann, am nächsten Tage in Dimchurch zu sein und auf der Stelle, wenn er ihren augenblicklichen Gesundheitszustand befriedigend finde, die Operation vorzunehmen.

Nachdem er so sein Wort gegeben hatte, hauchte Herr Grosse seinen noch übrigen Athem in ein einziges aus der Tiefe ausgestoßenes »Ha« aus und setzte seine kleinen Beine flink in Bewegung.

In demselben Augenblick klopfte Zillah an die Thür und meldete, daß der Wagen der beiden Herren an der Pforte des Pfarrhauses halte.

Herr Sebright stand auf, offenbar noch zweifelhaft, ob sein College mit seiner Rede zu Ende sei. »Ich will Sie nicht eilen«, sagte er, »ich habe in London zu thun und muß nothwendig mit dem nächsten Zuge fort.«

»O, ich habe auch in London zu thun«, antwortete sein deutscher College; »ich muß mich amüsiren.« Herr Sebright schien betroffen von der Offenheit dieses anstößigen Bekenntnisses eines Berufsgenossen. »Ich bin ein so leidenschaftlicher Freund der Musik«, fuhr Herr Grosse fort, »ich muß zur rechten Zeit in der Oper sein. Ach Gott, die Musik ist so theuer in England; ich klettere nach der Gallerie hinauf und muß auch da noch meine fünf Schillinge bezahlen. In meinem Vaterlande kann ich dasselbe für fünf Kupferpfennige haben, nur besser. Aus der Tiefe meines Herzens«, fuhr dieser sonderbare Mann fort, indem er mir herzlich Lebewohl sagte, »danke ich Ihnen, meine Verehrte« für die Mayonnaise. Wenn ich wiederkomme« lassen Sie mich, bitte, wieder diese Himmelsspeise haben.« Dann wandte er sich zu Lucilla und legte ihr zum letzten Male vor seiner Abreise die Daumen auf die Augenlider.

»Mein liebes Kind, bedenken Sie wohl, was ich Ihnen gesagt habe. Ich werde Ihnen Ihr Augenlicht wiedergeben — aber auf die Art und zu der Zeit, die mir gut scheint. Das hübsche Kind! O, wie unendlich viel hübscher wird sie noch sein, wenn sie erst sehen kann!« Er ergriff Lucilla’s Hand, drückte sie mit einer sentimentalen Geberde unter seine Weste an sein Hezz und legte seine andere Hand darauf, als ob er dieselbe warm halten wolle. In dieser zärtlichen Attitude stieß er einen gewaltigen Seufzer aus, faßte sich wieder, in dem er seinen Krauskopf schüttelte, nickte mir durch seine Brillengläser zu und wackelte zur Thür hinaus, Herrn Sebright nach, der schon am Fuß der Treppe stand. Wer hätte denken sollen, daß dieser Mann die Schlüssel in Händen hielt, welche die Thore eines neuen Lebens für meine blinde Lucilla öffnen sollten.



Dreizehntes Kapitel - Leider ein Aufschub der Heirath.

Wir blieben allein zurück, da Nugent die beiden Aerzte an die Garteupforte geleitete. Natürlich mußte jetzt Oscar’s Abwesenheit Lucilla’s Aufmerksamkeit erregen. Als sie eben in Ausdrücken von ihm sprach, die es mir nicht leicht gemacht haben würden, sie zu beruhigen, wurden wir durch das Geschrei des Baby unterbrochen, welches aus dem Garten zu uns hinauf drang. Ich eilte ans Fenster und blickte hinaus.

Frau Finch hatte wirklich ihren verzweifelten Entschluß zur Ausführung gebracht, den beiden Aerzten aufzulauern, um sie über Baby’s Augen zu consultiren. Da sah ich sie in ihrem Unterrock und mit ihrem Shawl« während ihr Roman und ihr Schnupftuch auf dem Rasen lagen, die Augenärzte auf dem Wege nach dem Wagen verfolgend Ohne sich um das Unpassende eines solchen Gebahrens zu kümmern, nahm Herr Grosse Reißaus. Er stopfte sich vor dem Gekreisch des Kindes die Ohren mit den Fingern zu und lief so rasch seine kurzen Beine ihn tragen konnten. Nugent lief ihm Voraus, um so rasch als möglich die Gartenpforte zu öffnen. Der respectable Herr Sebright, dem seine — Standeswürde nicht zu laufen gestattete, bildete die Arrièregarde. So oft Frau Fiuch ihn erreichte, hielt sie ihm das Baby entgegen; aber eben so oft protestirte Herr Sebright mit einer höflich abwehrenden Handbewegung. Nugent schlug mit schallendem Gelächter die Gartentür weit auf. Herr Grosse stürzte durch die offene Pforte und verschwand; Herr Sebright folgte Herrn Grosse und Frau Finch versuchte es, Herrn Sebright zu folgen, als plötzlich der Pfarrer erschien. Durch den Lärm, der in das Heiligthum seines Arbeitszimmers drang, aufgescheucht und erschreckt, war er in den Garten hinabgestiegen und brachte seine Frau auf einmal zur Ruhe durch die im tiefsten Baß an sie gerichtete Frage:

»Was hat dieser unpassende, störende Austritt zu bedeute?«

Der Wagen fuhr davon und Nugent schloß die Gartenpforte wieder.

Nugent wechselte mit dem Pfarrer einige für mich unverständliche Worte, die sich vermuthlich auf den Besuch der beiden abgereisten Aerzte bezogen.

Nach einer Weile wandte Herr Fluch, allem Anschein nach durch etwas, was Nugent ihm gesagt hatte, beleidigt, diesem den Rücken und wandte sich an Oscar, der offenbar nur auf die Abfahrt der Aerzte gewartet hatte, um sich wieder zu zeigen und jetzt eben wieder auf dem Rasen erschien. Der Pfarrer gab ihm vertraulich den Arm, winkte seiner Frau mit der Hand und gab ihr seinen anderen Arm. Majestätisch zwischen den beiden dem Hause zuschreitend, machte der Ehrwürdige Finch seine Autorität bald gegen Oscar, bald gegen seine Frau geltend. Seine gewaltiges Baßstimme drang, unharmonisch von dem Gewimmer des müden Kindes begleitet, deutlich an mein Ohr.

Der Papst von Dimchurch hub an mit folgenden furchtbaren Worten:

»Oscar! ich bitte Sie, wohl zu merken, daß ich meinen Protest gegen diesen gottlosen Versuch, mit den Augen meiner unglücklichen Tochter zu experimentiren, aufrecht erhalte. Liebe Frau, laß es Dir, bitte, gesagt sein, daß ich Deine unpassende Verfolgung zweier fremder Augenärzte nur in Rücksicht auf Deinen gegenwärtigen Zustand entschuldige. Nach Deinem achtvorletztem Wochenbett, warst Du, wie ich mich erinnere, in einem so hysterischen Zustande, daß Du ganz unzurechnungsfähig wurdest. Schweig! Du bist jetzt wieder in einem Zustande hysterischer Unzurechnungsfähigkeit. Oscar! ich muß es um meiner selbstwillen ablehnen, irgendeiner Berathung, welche etwa dem Besuch dieser beiden Aerzte folgen möchte, beizuwohnen. Ich bin aber nicht abgeneigt, Ihnen zu Ihrem eigenen Besten zu rathen. Ich stehe fest auf meinen Füßen, stellen Sie sich auch fest auf die Füße. Frau, seit wann hast Du nichts gegessen? Seit zwei Stunden? Bist Du sicher, daß es zwei Stunden her ist? Gut. Du mußt ein Beruhigungsmittel nehmen. Ich verordne Dir, ein warmes Bad zu nehmen und darin zu bleiben, bis ich zu Dir komme. — Oscar! mein guter Junge, es fehlt Ihnen an moralischem Gewicht. Versuchen Sie es, sich jedem Plan meiner unglücklichen Tochter, oder ihrer Rathgeber, welcher noch fernere Ausgaben von ärztlichem Honorar und fernere Besuche von Aerzten nach sich ziehen würde, entschlossen zu widersetzen. Frau, Du badest bei achtundzwanzig Grad Wärme; und nimmst eine halbliegende Stellung ein. — Oscar, ich autorisire Sie, wenn Sie der Sache auf keine andere Weise Einhalt thun können, mein moralisches Gewicht in die Wagschale zu werfen. Sie dürfen gern sagen: Ich widersetze mich dieser Sache mit Genehmigung des Herrn Finch. Herr Finch scundirt mir so zu sagen. Liebe Frau, versteh’ mich recht, was ich mit dem Dir verordneten Bade bezwecke. Schweiß ist eine milde Wirkung auf Deine Haut. Eines der Mädchen soll dabei Deine Stirn beobachten. Sobald sie feuchten Schweiß auf derselben bemerkt, soll sie mich holen. — Oscar, Sie werden mich wissen lassen, zu welchem Entschluß sie da oben in dem Zimmer meiner Tochter gelangen, nachdem man nicht nur gehört haben wird, was Sie zu sagen haben, sondern nachdem Sie mein moralisches Gewicht in die Wagschale geworfen haben werden. — Frau, nach dem Bade wirst Du Dich nur leicht kleiden. Ich verbiete Dir mit Rücksicht auf Deinen Kopf alles Enge, sei es nun eine Schnürbrust oder sei es Bänder um die Taille. Aus demselben Grunde verbiete ich Dir, Gamaschen anzuziehen. Du wirst weder Thee trinken, noch reden, sondern lose gekleidet auf dem Rücken liegen. Du wirst —«.

Was die unglückliche Frau noch weiter thun sollte, konnte ich nicht mehr hören, da Herr Finch mit ihr um die Ecke des Hauses bog.

Oscar wartete an der Thür unseres Flügels bis Nugent wiederkam, um mit ihm in das Wohnzimmer zu gehen, wo wir ihrer Rückkehr harrten.

Nach einigen Minuten erschienen die Brüder.

Während der ganzen Zeit, wo die Aerzte im Hause gewesen waren, hatte ich bemerkt, daß Nugent sich ängstlich zurückhielt. Nachdem er einmal die Verantwortlichkeit übernommen hatte, ein ärztliches Urtheil über Lucilla’s Augenleiden herbeizuführen, schien er entschlossen, sich darauf zu beschränken und sich nach diesem ersten Stadium der Angelegenheit nicht weiter in dieselbe zu mischen. Und jetzt wieder, als wir uns zusammengefunden hatten, um Lucilla’s Entschluß, zum Aeußersten zu schreiten, zu discutiren und vielleicht zu bekämpfen, weigerte sich Nugent abermals, sich mit der Angelegenheit zu befassen.

»Ich habe Oscar mitgebracht«", sagte er zu Lucilla, »und ich habe ihm gesagt, wie weit die beiden Augenärzte in ihren Ansichten über Ihren Fall auseinandergehen. Er weiß auch, daß Sie entschlossen sind, sich von der günstigeren Auffassung des Herrn Grosse leiten zu lassen — weiter weiß er nichts.«

Hier brach er plötzlich ab und setzte sich abseits von uns an einen Platz am andern Ende des Zimmers. Lucilla forderte Oscar sofort auf, sich über sein Benehmen zu erklären.

»Warum hast Du Dich von uns fern gehalten?« fragte sie. »Warum bist Du in dem wichtigsten Augenblick meines Lebens nicht bei mir geblieben?«

»Weil ich das Peinliche meiner Lage zu schmerzlich empfand«, antwortete Oscar. »Halte mich nicht« für rücksichtslos gegen Dich, Lucilla. Wenn ich mich nicht fern gehalten hätte, würde ich mich vielleicht nicht haben beherrschen können.«

Mir schien diese Antwort viel zu geschickt, als daß sie Oscar im Augenblick hätte eingefallen sein können. Ueberdies sah er bei den letzten Worten seinen Bruder an. Es schien trotz der kurzen Zeit, die zwischen unserer Rückkehr in’s Haus und ihrem Eintritt in’s Zimmer verflossen war, mehr als wahrscheinlich daß Nugent Oscar seinen Rath gegeben und ihm gesagt hatte, wie er sich verhalten solle.

Lucilla nahm seine Entschuldigung mit der graciösesten Freundlichkeit an.

»Herr Sebright erklärt«, sagte sie zu Oscar, »daß mein Augenlicht für immer verloren ist; Herr Grosse dagegen will dafür einstehen, daß eine Operation mir das Augenlicht wiedergeben wird. Brauche ich Dir zu sagen, welchem von beiden ich glaube? Wenn es mir nachgegangen wäre, so hätte Herr Grosse mich operiren müssen, ehe er nach London zurückkehrte.«

»Hat er sich geweigert das zu thun?«

»Ja.«

»Warum?«

Lucilla theilte ihm die Grunde mit, auf welche bin der deutsche Augenarzt den Aufschub als unerläßlich bezeichnet hatte. Oscar hörte aufmerksam zu und sah seinen Bruder wieder an, bevor er antwortete:

»Wie ich höre, würde Dein Entschluß, die Operation sofort zu wagen, die Folge haben, daß Du sechs Wochen lang in einem dunklen Zimmer eingesperrt sitzen und dann noch sechs fernere Wochen ganz nach der Anweisung des Arztes leben müßtest. Hast Du Dir überlegt, Lucilla, das das einen abermaligen Aufschub unserer Heirath um mindestens drei Monate bedeuten würde?«

»Wenn Du an meiner Stelle wärest, Oscar, so würdest Du die Wiederherstellung Deiner Augen durch nichts, selbst nicht durch Deine Heirath verzögern lassen. Bitte mich nicht zu überlegen, mein Liebster. Ich kann nichts überlegen, als daß sich mir die Aussicht eröffnete, Dich zu sehen.«

Diese furchtlos offene Geständniß brachte ihn zum Schweigen. Er saß zufällig gerade dem Spiegel gegenüber, so daß er sein eigenes Gesicht sehen konnte. Der arme Junge schob plötzlich seinen Stuhl so, daß er dem Spiegel den Rücken zukehrte.

Ich sah Nugent an und überraschte ihn dabei, wie er es versuchte, dem Blick seines Bruders zu begegnen. Seine Eingebung war es, wie ich mich jetzt fest überzeugt hielt, der Oscar gefolgt war, als er eine Schwierigkeit erhob, die mich von dem Augenblick an, wo die Frage der Operation zuerst an uns herangetreten war, präoccupirt hatte.

Ich muß hier einschalten, daß Oscar’s und Lucilla’s Heirath in Folge einer gefährlichen Erkrankung der Tante Lucilla’s noch auf ein anderes Hinderniß gestoßen war und bereits einen neuen Aufschub hatte erleiden müssen. Fräulein Batchford, die selbstverständlich zur Hochzeit eingeladen war, hatte in ihrer Antwort sehr rücksichtsvoll darum gebeten, es möge doch um ihretwillen die Heirath nicht verschoben werden. Lucilla hatte sich jedoch entschieden geweigert, ihre Hochzeit zu feiern, während die Frau, die ihr eine zweite Mutter gewesen, im Sterben liege. Der Pfarrer hatte Lucilla im Hinblick auf das Geld des reichen Fräulein Batchford in ihrem Entschluß bestärkt, und Oscar war genöthigt gewesen, sich zu fügen. So hatten die Dinge vor etwa drei Wochen gestanden. Die letzten Nachrichten aber meldeten, daß die alte Dame nicht nur wiederhergestellt, sondern daß sie auch in vierzehn Tugend wohl genug sein werde, die Hochzeit mitzumachen. Das Hochzeitskleid lag bereit, der Vater der Braut war bereit, die Trauung zu vollziehen, als plötzlich wie ein Verhängniß die Frage der Operation auftauchte und mit einem neuen, mindestens dreimonatlichen Aufschub drohte. Dazu nehme man die neue Verlegenheit, die sich daraus ergeben mußte, wenn einerseits Lucilla auf ihrem Entschluß und andererseits Oscar darauf beharrte, die in Folge der ärztlichen Behandlung seiner epileptischen Zufälle mit ihm vorgegangene Veränderung seiner Hautfarbe vor ihr zu verbergen. Die Folge davon mußte sein, daß Lucilla, wenn die Operation gelänge, vor, anstatt nach der Hochzeit, die Täuschung die man sich gegen sie erlaubt hatte herausfand. Wie sie aber diese so entdeckte Täuschung aufnehmen würde, das vorauszusehen, vermochte der Scharfsinn keines Einzigen unter uns.

Das war unsere Situation, als wir nach der Abreise der Aerzte in unserm häuslichen Parlamente versammelt saßen.

Als Nugent sah, daß es unmöglich war, seinem Bruder ein Zeichen zu geben, blieb ihm nichts anderes übrig, als zum ersten Mal thätig einzugreifen.

»Erlauben Sie mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, Lucilla«, sagte er, »daß es Ihre Pflicht ist, auch die andere Seite ins Auge zu fassen, bevor Sie sich entschließen. Erstens ist es doch gewiß hart für Oscar, seinen Hochzeitstag wieder aufschieben zu müssen. Zweitens aber ist Herr Grosse bei all’ seiner Geschicklichkeit doch nicht unfehlbar. Es ist immer möglich, daß die Operation mißlingt und daß Sie schließlich zu der traurigen Einsicht gelangen, Ihre Hochzeit ganz unnützer Weise um drei Monate verschoben zu haben. Bedenken Sie es wohl! Wenn Sie die Operation bis nach Ihrer Heirath verschieben, werden Sie allen Interessen gerecht und rücken die Zeit, wo Sie werden sehen können, nur um etwa einen Monat hinaus.«

Lucilla schüttelte ungeduldig den Kopf. »Wenn Sie blind wären«, antwortete sie, »würden Sie den Zeitpunkt, wo Ihnen Ihr Augenlicht wiedergegeben werden soll, aus freien Stücken nicht um einen Augenblick verschieben wollen. Sie bitten mich, mir die Sache zu überlegen? Ich bitte Sie, daran zu denken, wie viele Jahre ich verloren habe. Ich bitte Sie, sich die Glückseligkeit vorzustellen, die ich in dem Augenblick, wo Oscar mit mir am Altar stehen wird, empfinden werde, wenn ich den Gatten, dem ich mich für’s Leben antrauen lasse, sehen kann. Die Sache auf einen Monat verschieben? Sie könnten mich ebenso gut bitten, auf einen Monat zu sterben. Ist es nicht der Tod, hier blind zu sitzen und zu wissen, daß wenige Stunden von mir entfernt ein Mann weilt, der mir mein Augenlicht wiedergeben kann? Ich sage es Euch Allen gerade heraus, wenn Ihr fortfahrt, Euch mir in dieser Angelegenheit zu widersetzen, so stehe ich für nichts. Wenn Herr Grosse nicht vor Ende der Woche wieder nach Dimchurch berufen wird, so weiß ich, daß ich meinen freien Willen habe und werde ich zu ihm nach London gehen!«

Beide Brüder sahen mich an.

»Haben Sie nichts zu sagen, Madame Pratolungo?« fragte Nugent.

Oscar war zu schmerzlich aufgeregt, um zu reden. Leise kam er zu mir herangeschlichen, knieete bei mir nieder und küßte mir mit flehenden Blicken die Hand.

Mag mich für herzlos halten, wer will. Ich blieb auch von diesem Appell an mein Herz völlig ungerührt. Man bemerke wohl, daß Lucilla’s Interesse jetzt mit dem meinigen durchaus Hand in Hand ging. Ich war von Anfang an entschlossen, sie nicht heirathen zu lassen, ohne daß sie von der Entstellung ihres Verlobten Kunde erlangt habe. Wenn sie das that, was sie in den Stand setzen würde, diese Entdeckung selbst zu rechter Zeit zu machen, so würde sie mir damit die Erfüllung einer sehr peinlichen und undankbaren Pflicht ersparen und würde, wie ich es wollte, in vollkommner Kenntniß der Wahrheit heirathen. Bei dieser Sachlage konnte ich mich nicht für berufen halten, die Bemühungen der Zwillingsbrüder, sie zu einer Aenderung des Entschlusses zu bewegen, zu unterstützen.

Im Gegentheil mußte ich mich für berufen halten, sie in ihrem Entschluß zu bestärken.

»Ich finde nicht«, sagte ich, »daß ich hier irgend ein Recht habe, mich einzumischen. An Lucilla’s Stelle, nach einundzwanzigjähriger Blindheit, würde auch ich der Rücksicht auf die Wiederherstellung meiner Sehkraft jede andere Rücksicht opfern.«

Oscar stand sofort auf und trat, ersichtlich sehr aufgebracht gegen mich, an’s Fenster, Lucilla’s Gesicht strahlte von Dankbarkeit. »Ah«, sagte sie, »Sie verstehen mich.«

Auch Nugent stand auf. Er hatte in Oscar’s Interesse zuversichtlich darauf gerechnet, daß Lucilla’s Heirath der Wiederherstellung ihres Gesichts vorangehen werde. Diese Berechnung war jetzt völlig vereitelt. Die Heirath hing lediglich davon ab, wie Lucilla gesonnen sein würde, nachdem sie die Wahrheit erfahren habe. Ich sah Nugent’s Gesicht sich verfinstern, als er nach der Thür ging.

»Madame Pratolungo«, sagte er, »vielleicht werden Sie noch einmal das Verfahren, das Sie eben eingeschlagen haben, bereuen. Thun Sie, was Sie wollen, Lucilla, ich habe nichts mehr zu sagen.«

Er verließ das Zimmer mit einer Miene ruhiger Unterwerfung unter die Macht der Umstände, die ihm vortrefflich zu Gesicht stand. Jetzt wie immer war es unmöglich, ihn bei einem Vergleich mit seinem Bruder anders als im Vortheil zu finden. Oscar trat offenbar in der Absicht, Nugent zu folgen, vom Fenster zurück. Aber schon nach dem ersten Schritt stand er wieder still. Es blieb ihm noch ein letzter Versuch zu machen übrig. Das moralische Gewicht des Ehrwürdigen Finch war noch nicht in die Wagschale geworfen.

»Noch eines mußt Du wissen, Lucilla«, sagte er, »bevor Du Deinen Entschluß fassest. Ich habe Deinen Vater gesprochen und er hat mich gebeten, Dir mitzutheilen, daß er entschieden gegen das Experiment sei, welches Du mit Dir anstellen lassen willst.«

Lucilla seufzte ungeduldig. »Es ist nicht das erste Mal«, seufzte sie, »daß ich mich nicht der Sympathie meines Vaters erfreue. Der Widerspruch meines Vaters thut mir leid, aber er überrascht mich nicht, — überrascht bin ich von Deinem Benehmen!« fügte sie hinzu, indem sie plötzlich die Stimme erhob. »Du, der Du mich liebst, bist in dem Augenblick, wo ich an der Schwelle eines neuen Lebens stehe, nicht mit mir einverstanden. Guter Gott! Sind unsere Interessen bei dieser Angelegenheit denn nicht dieselben? Ist es Dir nicht der Mühe werth, zu warten, bis ich Dich bei dem feierlichen Gelübde, Dich zu lieben, Dir zu gehorchen und zu ehren, ansehen kann? Können Sie das begreifen?« appellirte sie plötzlich an mich. »Warum versucht er es, Schwierigkeiten zu erheben? Warum erfaßt er nicht die Sache mit demselben Eifer wie ich?«

Ich wandte mich nach Oscar um. Jetzt war der Augenblick für ihn gekommen, wo er sich ihr zu Füßen werfen und sein Bekenntniß ablegen mußte. Hier bot sich ihm eine Gelegenheit, wie sie Vielleicht nie wiederkehren würde. Ich bedeutete ihm ungeduldig durch Zeichen, diese Gelegenheit zu ergreifen. Er versuchte es — ich will ihm die Gerechtigkeit, die ich ihm seiner Zeit versagte, nachträglich widerfahren lassen — er versuchte es. Er trat auf sie zu, kämpfte mit sich, sagte: »Mein Benehmen hat einen bestimmten Grund, Lucilla« und hielt inne. Der Athem versagte ihm; er kämpfte wiederum sich; er brachte noch mühsam einige Worte hervor. »Einen Grund«, fuhr er fort, »den ich Dir zu gestehen mich bis jetzt gefürchtet habe —« und hielt dann Weder inne, während ihm die Schweißtropfen von der fahlen Stirn rannen.

Lucilla wurde ungeduldig, »Was ist denn das für ein Grund«, fragte sie in scharfem Ton.

Dieser Ton raubte ihm den letzten Rest von Entschlossenheit. Plötzlich wandte der unglückliche Mensch sein Gesicht von ihr ab und ergriff im letzten Moment wieder eine Ausflucht.

»Ich kann Deinen zuversichtlichen Glauben an Herrn Grosse nicht theilen«, sagte er mit schwacher Stimme.

Lucilla stand bitter enttäuscht auf und öffnete die die: Thür, die zu ihrem Zimmer führte. »Wenn Du blind wärest, würde ich Deinen Glauben und Deine Hoffnung getheilt haben. Es scheint, ich habe zu viel von Dir erwartet. Ich will Dir Zeit lassen, zu lernen!«

Sie ging in ihr Zimmer und schloß die Thür hinter sich. Ich vermochte es nicht länger auszuhalten. Ich stand auf, fest entschlossen, ihr zu folgen und ihr zu sagen, was er ihr zu sagen unterlassen hatte. Schon hatte ich die Hand aus den Thürgriff gelegt, als ich plötzlich von Oscar zurückgehalten wurde. Ich kehrte mich und und sah ihn schweigend an.

»Nein!« sagte er, den Blick fest auf mich geheftet und mit seiner Hand meinen Arm festhaltend: »Wenn ich es ihr nicht selbst sage, soll es ihr Niemand sagen.«

»Sie soll nicht länger getäuscht werden«, antwortete ich, »Sie muß und soll es erfahren. Lassen Sie mich.«

»Sie haben mir versprochen, nicht ohne meine Erlaubniß zu reden. Ich verbiete Ihnen zu reden!«

Ich schlug ihm mit den Fingern der Hand, die ich frei hatte, ein Schnippchen ins Gesicht und sagte: »Soviel liegt an meinem Versprechen. Ihre verächtliche Schwäche gefährdet Ihr eigenes Glück nicht minder als Lucilla’s.« Ich wandte mich wieder nach der Thür um und rief »Lucilla!«

Krampfhaft packte er meinen Arm. Ein lauernder Teufel, dem ich noch nie in die Augen gesehen « grinste mich plötzlich aus denselben an.

»Wenn Sie es ihr sagen«, flüsterte er wüthend durch die Zähne, »so werde ich Sie gerade in’s Gesicht Lügen strafen! Wenn Sie desperat sind, kann ich es auch sein.« Einerlei, ob ich mich einer niedrigen Handlung schuldig mache; ich werde auf meine Ehre beschwören, daß es nicht wahr ist. Sie haben ja gehört, was sie von Ihnen in Browndown gesagt hat; sie wird mir mehr glauben als Ihnen!«

Lucilla trat aus ihrem Zimmer und blieb erwartungsvoll auf der Schwelle stehen.

»Was giebt’s?« fragte sie ruhig.

Ein Blick auf Oscar genügte, um mich zu überzeugen, daß er, wenn ich auf meinem Entschluß beharrte, seine Drohung ausführen werde. Es giebt kein gewissenloseres und schwerer zu behandelndes Wesen, als einen charakterschwachen Menschen, den man zur Verzweiflung gebracht hat. Trotz meines Zornes schreckte ich vor dem Gedanken zurück, ihm Schande zu bereiten, wie ich es jetzt hätte thun muss, wenn ich seinem Trotz mit gleichem Trotz begegnet wäre. Aus Erbarmen für beide gab ich nach.

»Ich muß vielleicht noch, ehe es dunkel wird, ausgehen, liebes Kind«, sagte ich zu Lucilla. »Kann ich irgendetwas im Dorf für Sie ausrichten?«

»Ja«, sagte sie, »wenn Sie ein wenig warten wollen, können Sie einen Brief auf die Post mitnehmen.«

Sie trat wieder in ihr Zimmer zurück und schloß die Thür hinter sich.

Als wir allein waren, vermochte ich Oscar weder anzusehen, noch mit ihm zu reden; aber er brach das Schweigen.

»Sie haben sich Ihres mir gegebenen Versprechens erinnert«, sagte er, »und daran haben Sie gut gethan.«

»Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen«, antwortete ich, »ich werde auf mein Zimmer gehen.«

Mit unbehaglichen Blicken sah er mir nach.

»Ich werde schon mit ihr reden«, murmelte er trotzig vor sich hin, »wenn mir der rechte Moment gekommen scheint.«

Eine kluge Frau würde sich dadurch nicht haben hinreißen lassen, noch ein Wort weiter zu sagen. Aber acht ich bin leider keine kluge Frau, das heißt, nicht immer.

»Wenn mir der rechte Moment gekommen scheint«,, wiederholte ich mit dem Ausdruck meiner ganzen Verachtung. »Wenn Sie ihr nicht die Wahrheit gestehen, bevor der deutsche Augenarzt wieder herkommt, so haben Sie den rechten Moment für immer verpaßt. Er hat uns auf das Entschiedenste erklärt, daß sobald die Operation einmal gemacht sei, monatelang nachher nichts gesprochen werden dürfe, was Lucilla aufregen könnte. Die vollständigste äußere und innere Ruhe ist die unerläßliche Bedingung zur Wiederherstellung ihres Gesichts. Sie werden bald genug eine triftige Entschuldigung für Ihr Schweigen finden, Herr Oscar Dubourg!«

Der Ton, in dem ich diese letzten Worte sprach, reizte ihn.

»Sparen Sie Ihre höhnenden Worte, Madame!« brach er zornig aus. »Es ist mir einerlei, wie Sie über mich denken. Lucilla liebt mich und Nugent fühlt mit mir.«

Mein leidenschaftliches Temperament ließ mich ihm sofort die erbarmungsloseste Antwort geben, die sich denken ließ.

»O, die arme Lucilla «, sagte ich, »wie viel glücklicher hätte sie werden können. Wie schade, wie ewig schade ist es, daß sie nicht Ihren Bruder statt Ihrer heirathet.«

Er wand sich unter dieser Antwort, als wenn ich ihm einen Messerstich versetzt hätte. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken, fuhr von mir zurück wie ein geschlagener Hund und verließ schweigend das Zimmer.

Kaum war ich allein, als mein Zorn sich abkühlte. So sehr ich mich auch bemühte, diesen Zorn durch die Erinnerung an seine schnöden Worte wach zu halten, es ging nicht, ich mußte widerwillig bereuen, was ich gesagt hatte.

Im nächsten Augenblick war ich draußen auf der Treppe, um ihn womöglich einzuholen.

Es war zu spät. Ich hörte die Gartenpforte zuschlagen, noch ehe ich aus dem Hause war. Zweimal trat ich an das Gitter, um ihm zu folgen und zweimal trat ich wieder zurück, aus Furcht, die Sache noch schlimmer zu machen.

Endlich kehrte ich sehr unzufrieden mit mir selbst in’s Wohnzimmer zurück.

Die erste willkommene Unterbrechung meiner Einsamkeit ward mir nicht durch Lucilla, sondern durch die alte Amme zu Theil. Zillah erschien mit einem eben für mich aus Browndown angelangten Brief, bessert Adresse von Oscar’s Hand geschrieben war. Ich öffnete den Brief und las was folgt:

»Madame Pratolungo! Sie haben mich tiefer betrübt, als ich es sagen kann. Ich weiß, daß mich sehr ernste Vorwürfe treffen und bitte Sie von Herzen um Verzeihung, wenn ich Sie durch meine Worte oder Handlungen beleidigt habe; aber ich kann Ihr hartes Urtheil über mich nicht als gerecht anerkennen. Wenn Sie wüßten, wie ich Lucilla anbete, würden Sie Nachsicht mit mir haben, würden Sie mich besser verstehen. Ihre letzten grausamen Worte klingen mir noch immer fort in den Ohren. Ich kann Sie nicht wiedersehen, ehe Sie sich über diese Worte näher gegen mich erklärt haben. Sie haben mich in’s tiefstem Herzen getroffen, als Sie diesen Abend sagten, Lucilla würde einer glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn sie meinen Bruder anstatt meiner heirathete. Ich hoffe, daß das nicht Ihr Ernst war und bitte Sie, mir in einer Zeile zu sagen, ob ich zu dieser Annahme berechtigt bin oder nicht.«

Ihm in einer Zeile sagen? War es nicht absurd, daß er, der mich in einigen Minuten erreichen konnte, den kalten formellen Weg einer schriftlichen Mittheilung einer ungezwungenen mündlichen Unterhaltung vorzog? Warum kam er nicht und sprach mit mir? Wir würden auf viel angenehmere Weise und viel rascher mit einander in’s Reine gekommen sein. Wie dem auch sein mochte, ich beschloß nach Browndown zu gehen und mich mündlich mit dem armen, schwachen, gutmeinenden und schlechtberathenen Jungen auszusöhnen. War es nicht lächerlich, Oscar’s Worte, die er in einem Zustande krankhafter, nervöser Aufregung gesprochen hatte, ernst zu nehmen? Der Ton, in dem sein Schreiben abgefaßt war, schmerzte mich tief. Es war einer jener kühlen Abende, wie sie in England im Juni nicht selten sind. Im Kamin brannte ein kleines Feuer. Ich ballte das Briefchen zusammen und warf es, wie ich meinte, in’s Feuer. Im Laufe dieser Erzählung wird es sich zeigen, daß ich den Brief in der That nicht in das Kamin, sondern in den Fender warf. Dann setzte ich meinen Hut auf und eilte, ohne auch nur einen Augenblick an Lucilla oder den Brief, den ich für sie auf die Post mitnehmen sollte, zu denken, nach Browndown.

Was glaubt man wohl, wo ich ihn traf? In seinem Zimmer eingeschlossen. Seine krankhafte Blödigkeit, es war in der That nichts anderes, ließ ihn gerade vor der persönlichen Erklärung, welche mit einer Person von meinem Temperament die einzige mögliche Art der Auseinandersetzung war, zurückschrecken. Ich mußte ihm drohen, gewaltsam in sein Zimmer eindringen, bevor ich ihn dazu bringen konnte, sich mir zu zeigen und mir die Hand zu reichen.

Sobald ich ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, brachte ich rasch genug alles wieder in Ordnung. Ich glaube wirklich, er war in Folge seiner selbstquälerischen Vorstellungen halb von Sinnen, als er mir an der Thür von Lucilla’s Zimmer gedroht hatte, mich Lügen zu strafen.

Ich brauche mich bei der Schilderung dessen, was zwischen uns vorging, nicht aufzuhalten. Hier will ich nur so viel sagen, daß ich, wie der Leser bald sehen wird, später sehr dringende Veranlassung hatte, es zu bedauern, daß ich Oscar’s Wunsch, ich möge mich schriftlich und nicht mündlich wieder mit ihm versöhnen, nicht gewillfahrt hatte. Wenn ich das, was ich jetzt zu ihm sagte, um meine kränkenden Aeußerungen wieder gut zu machen, geschrieben hätte, so hätte ich mir und Anderen vielleicht viel Schmerzliches ersparen können. Jetzt bestand der einzige Beweis, daß ich ihn wieder versöhnt hatte, für mich darin, daß er mir, als ich ihn verließ, an der Thür herzlich die Hand reichte.

»Haben Sie Nugent getroffen?« fragte er mich, als er mit mir durch den Vordergarten des Hauses ging.

Ich war auf einem Nichtwege durch den Hintergarten anstatt durch das Dorf nach Browndown gegangen.

Nachdem ich ihm das gesagt, fragte ich ihn, ob Nugent nach dem Pfarrhause zurückgekehrt sei.

»Er ist wieder hingegangen, um Sie zu sehen«, antwortete Oscar.

»Warum?«

»Nur aus gewohnter Freundlichkeit. Er theilt Ihre Ansichten. Er lachte, als er hörte, daß ich Ihnen einen Brief geschrieben habe, und eilte sofort in seiner Herzensgüte zu Ihnen, um meinetwegen mit Ihnen zu reden. Wenn Sie durch’s Dorf gegangen wären, würden Sie ihn getroffen haben.

Als ich im Pfarrhaus wieder anlangte, fragte ich Zillah. Nugent war, als er mich nicht zu Hause getroffen hatte, nach dem Wohnzimmer hinan gelaufen, hatte dort einige Minuten auf mich gewartet, war dann des Wartens überdrüssig geworden und wieder fortgegangen. Ich fragte dann nach Lucilla. Wenige Minuten nachdem Nugent fortgegangen, war sie aus ihrem Zimmer getreten und hatte gleichfalls nach mir gefragt. Als sie hörte, daß ich nicht zu Hause sei, hatte sie Zillah einen Brief auf die Post zu bringen gegeben und war dann wieder in das Schlafzimmer gegangen. Ich stand, während ich mit der Amme sprach, zufällig am Kamin und blickte in die verglimmende Asche. Da war, wie ich mich jetzt deutlich erinnere, keine Spur mehr von Oscar’s Brief zu sehen. Ich schloß also einfach, daß ich das, was ich gethan zu haben glaubte, wirklich gethan, daß ich den Brief in’s Feuer geworfen habe.

Als ich bald nachher zu Lucilla ging, um mich bei ihr dafür zu entschuldigen, daß ich vergessen habe, ihren Brief mit auf die Post zu nehmen, fand ich sie, von den Ereignissen des Tages ermüdet, im Begriff zu Bett zu gehen.

»Es wundert mich nicht, daß Sie keine Lust hatten, länger auf mich zu warten«, sagte sie. »Das Schreiben dauert immer lange bei mir. Aber diesen Brief hielt ich mich für verpflichtet, wenn irgend möglich, selbst zu schreiben. Können Sie rathen, mit wem ich correspondire? Ich habe es fertig gebracht, liebe Freundin, »ich habe an Herrn Grosse geschrieben.«

»Schon?«

»Worauf sollte ich noch warten? Was war da noch zu überlegen? Ich habe Herrn Grosse geschrieben, daß unsere Familienberathung zu Ende sei und daß ich ich ihm auf so lange, wie er es für nöthig hielte, gänzlich zur Verfügung stelle. Und ich habe ihn daran aufmerksam gemacht, daß er mich, wenn er es versuchen sollte, die Sache hinauszuschieben, nur zu der Unannehmlichkeit treiben würde, zu ihm nach London zu kommen. Ich habe ihm das nachdrücklichst an’s Herz gelegt, das kann ich Sie versichern. Morgen Nachmittag bekommt er meinen Brief und übermorgen wird er, wenn er ein Mann von Wort ist, hier sein.«

»O, Lucilla, doch nicht, um die Operation an Ihren Augen vorzunehmen?«

»Ja wohl, um die Operation vorzunehmen.«



Erstes Kapitel - Der Zwischentag

Am Tage vor dem zweiten Erscheinen des Herrn Grosse und der Operation an Lucilla’s Augen ereigneten sich zwei Vorfälle, deren ich hier gedenken muß. Der erste dieser Verfälle war das Eintreffen eines zweiten Briefes Von Oscar an mich am frühen Morgen. Wie viele blöde Menschen hatte er eine wahre Manie, sobald ihn eine Sache in Verlegenheit setzte, sich lieber mühsam schriftlich, als in bequemer mündlicher Unterhaltung auszusprechen·

Oscar’s diesmaliger Brief benachrichtigte mich, daß er mit dem ersten Morgenzuge nach London gegangen sei, und dass der Zweck dieser plötzlichen Abreise der sei, sich über seine gegenwärtige Lage Lucilla’s gegenüber gegen einen Herrn auszusprechen, der mit den Eigenheiten der Blinden sehr vertraut sei. Mit andern Worten, er hatte sich entschlossen, Herrn Sebright’s Rath zu erbitten.

»Ich habe Herrn Sebright«, schrieb Oscar, »so gern, wie ich Herrn Grosse verabscheue. Die kurze Unterhaltung, die ich mit ihm hatte, hat mir durch seine darin offenbarte Güte und Delicatesse den angenehmsten Eindruck hinterlassen. Wenn ich diesem geschickten Arzt die peinliche Lage, in der ich mich befinde, offen mittheile, so wird er, glaube ich, vermöge seiner Erfahrungen im Stande sein, ein ganz neues Licht auf Lucilla’s gegenwärtigen Gemüthszustand und auf die Veränderungen zu werfen, auf die wir uns bei ihr gefaßt machen müssen, wenn sie wirklich ihr Augenlicht wieder erhält. Das Ergebniß dieser Aufklärung kann von unberechenbarem Nutzen werden, indem es mich belehrt, wie ich mit der geringsten Beeinträchtigung meiner und ihrer Interessen ihr die Wahrheit mittheilen kann. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich Ihren Rath unterschätze. Ich möchte mich nur, bevor ich mein Bekenntniß wage, durch den Rath einer wissenschaftlichen Autorität doppelt gewaffnet haben.«

Ich las aus alledem nur heraus, daß der charakterschwache Oscar sein Gewissen durch einen neuen Aufschub beruhigen wollte und daß sein absurder Einfall, Herrn Sebright um Rath zu fragen, nichts anderes sei, als eine neue und scheinbar plausible Entschuldigung für die abermalige Vertagung des von ihm so gefürchteten Moments. Sein Brief endigte damit, daß er mir die strengste Verschwiegenheit auferlegte und mich bat, es möglich zu machen, daß er mich bei seiner Rückkehr nach Dimchurch mit dem Abendzuge allein sprechen könne.

Ich bekenne, daß ich auf das Ergebniß der beabsichtigten Consultation zwischen dem rathlosen Oscar und dem so entschiedenen Herrn Sebright neugierig war und richtete es daher so ein, daß ich gegen acht Uhr Abends auf dem Wege nach der entfernten Eisenbahnstation allein spazieren ging.

Der zweite Vorfall des Tages war eine vertrauliche Unterhaltung zwischen Lucilla und mir über den Gegenstand, der uns jetzt beide ausschließlich präoccupirte — über die unendlich wichtige Frage der Wiederherstellung ihrer Sehkraft.Das arme Mädchen theilte mir beim Frühstück ihr neu erwecktes Mißtrauen gegen Oscar mit. Er hatte sich wegen seiner Reise nach London bei ihr mit der üblichen Redensart, daß er »Geschäfte« habe, entschuldigt. Sie argwöhnte, da sie wußte, wie er über die Sache dachte, sofort, daß er im Geheimen darauf bedacht sei, Herrn Grosse an der von ihm vorzunehmenden Operation zu verhindern. Es gelang mir, sie über diese Besorgniß dadurch zu beruhigen, daß ich ihr mittheilte, Oscar könne, wie er es mir geschrieben hatte, den deutschen Augenarzt nicht leiden und mißtraue ihm.

»Was er auch in London thun möge«, sagte ich, »darüber können Sie sich beruhigen, liebe Lucilla, ich stehe Ihnen dafür, daß er siec nicht in Herrn Grosses Nähe wagen wird.«

Nach einer langen Pause, die diesen Worten folgte, richtete sich Lucilla plötzlich wieder auf und that abermals eine Aeußerung in Betreff Oscar’s, welche mir eine neue Eigenthümlichkeit der Empfindungsweise, wie sie nur Blinden eigen ist, offenbarte.

»Wissen Sie was?« sagte sie, »wenn ich nicht Oscar heirathen wollte, so zweifle ich, ob ich daran gedacht haben würde, einen Augenarzt nach Dimchurch kommen zu lassen.«

»Ich verstehe Sie nicht recht«, antwortete ich, »Sie können doch unmöglich sagen wollen, daß Sie sich unter irgend welchen Umständen nicht gefreut haben würden, Ihr Augenlicht wieder zu erlangen?«

»Allerdings will ich das sagen«, erwiderte sie.

»Was, Sie, die Sie von Ihrer frühesten Jugend an blind gewesen sind« legen keinen Werth darauf, wieder zu sehen?«

»Ich lege nur Werth darauf, Oscar zu sehen. Und was mehr ist, ich lege nur Werth darauf, ihn zu sehen, weil ich ihn liebe. Ich glaube wirklich nicht, daß es mir, wenn das nicht wäre, irgend ein besonderes Vergnügen gewähren würde, mich meiner Augen zu bedienen. Ich bin so lange blind gewesen! Ich habe es gelernt, mich ohne meine Augen zu behelfen.«

»Unmöglich! ich kann unmöglich glauben, liebe Lucilla, daß Sie das im Ernste meinen!«

Sie lachte und trank ruhig ihren Thee.

»Ihr Leute« die Ihr sehen könnt, legt einen so albernen Werth auf Eure Augen. Ich setze meinen Tastsinn gegen Ihre Augen als den bei Weitem zuverlässigeren und intelligenteren von beiden Sinnen ein. Wenn die Liebe zu Oscar nicht meine Gefühle so ausschließlich erfüllte, wissen Sie, was ich, wenn es möglich wäre, der Wiederherstellung meiner Sehkraft bei Weitem vorgezogen hätte? Aber«, fügte sie im Tone komischer Resignation hinzu, »es ist leider nicht möglich.«

»Was ist unmöglich?«

Sie erhob plötzlich ihre beiden Arme über den Frühstückstisch und sagte:

»Was ich gewünscht hätte, wäre eine ganz unerhörte Verlängerung dieser beiden Arme gewesen. Dann könnte ich mit meinen Händen besser erkennen, was in der Ferne vorgeht, als Ihr mit Euren Augen und Euren Ferngläsern. Welche Zweifel würde ich nicht zum Beispiel in Betreff des Planetensystems für die Sehenden beseitigen können, wenn ich nur weit genug reichen könnte, um die Sterne zu berühren.«

»Wie können Sie nur solchen Unsinn reden, Lucilla?«

»Rede ich denn Unsinn? Sagen Sie mir doch, wer sich im Dunkeln besser zurechtfinden kann, ich mit meinem Tastsinn, oder Sie mit Ihren Augen? Wer von uns Beiden, Sie oder ich, hat einen Sinn, auf den man sich alle Zeit, bei Tage wie bei Nacht, verlassen kann? Wenn Oscar nicht wäre, und ich rede jetzt vollkommen wahrhaft, würde ich viel lieber den Sinn, den ich bereits besitze, vervollkommnen, als mir einen neuen Sinn aneignen. Bevor ich Oscar kannte, habe ich, das kann ich aufrichtig versichern, niemals Jemanden um seine Augen beneidet.«

»Sie setzen mich in Erstaunen« Lucilla.«

Sie klapperte ungeduldig mit ihrem Theelöffel in der leeren Tasse hin und her.

»Können Sie sich selbst bei hellem Tageslicht immer auf Ihre Augen verlassen?« brach sie aus. »Wie oft täuschen dieselben Sie über die einfachsten Dinge? Was war es doch, worüber Ihr Alle neulich im Garten disputirtet, als Ihr nach einem entfernten Punkt sahet?«

»Ja richtig, wir betrachteten die Aussicht jenseits der Baumallee an der anderen Seite der Kirchhofsmauer.«

»Ein Gegenstand in der Allee hatte Eure Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, nicht wahr?«

»Jawohl, ein Gegenstand am unteren Ende derselben.«

»Ich hörte Euch hier oben disputiren. Trotz Eurer wundervollen Augen waret Ihr Alle verschiedener Ansicht. Mein Vater sagte, es bewege sich; Sie sagten, es stehe still; Oscar behauptete, es sei ein Mensch; meine Stiefmutter erklärte es für ein Kalb; Nugent lief hin, um den merkwürdigen Gegenstand in der Nähe zu untersuchen. Und was fand er? Den Stumpf eines alten Baumes, den der Wind in der Nacht zerschmettert und quer über den Weg geworfen hatte. Warum soll ich Leute um einen Sinn beneiden, der ihnen solche Streiche spielt? Nein, nein, Herr Grosse soll mir den Staar stechen, wie er es nennt, weil ich einen Mann heirathen will, den ich liebe und weil ich närrisch genug bin, mir einzubilden, daß ich ihn noch mehr lieben werde, wenn ich ihn sehen kann. Vielleicht habe ich ganz Unrecht«, fügte sie schelmisch hinzu, »vielleicht werde ich ihn schließlich nicht halb so lieb haben wie jetzt.«

Ich dachte an Oscar’s Gesicht, und mich überkam eine wahre Angst, daß ihre Worte vielleicht einen viel ernsteren Sinn haben möchten, als sie selbst ahne. Ich versuchte es, einen anderen Gegenstand aufs Tapet zu bringen. Aber nein! Ihre reiche Einbildungskraft hatte sich schon wieder in eine andere Region verstiegen, bevor ich ein Wort sagen konnte.

»Ich stelle mir«, sagte sie nachdenklich, »unter »hell« alles Schöne und Himmlische, und unter »dunkel« alles Gemeine, Schreckliche und Teuflische vor. Ich bin begierig, wie »heil« und »dunkel« mir erscheinen werden, wenn ich werde sehen können.«

»Ich glaube«, antwortete ich, »die Wirklichkeit wird Ihrer Vorstellung durchaus nicht entsprechen und Sie in das höchste Erstaunen versetzen.«

Sie fuhr zusammen. Ich hatte sie unabsichtlich beunruhigt.

»Ist denn Oscar’s Gesicht ganz anders, als ich es mir jetzt vorstelle?« fragte sie in plötzlich verändertem Ton. »Meinen Sie, daß ich bisher keine richtige Vorstellung von ihm gehabt habe?«

Ich versuchte es abermals, das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken. Was konnte ich Angesichts der am nächsten Tage vorzunehmenden Operation und der Warnung des deutschen Arztes, sie nicht aufzuregen, anders thun?

Aber es war ganz vergebens.

Sie fuhr, ohne sich durch mich stören zu lassen, fort: »Habe ich kein Mittel, mir ein richtiges Bild von Oscar zu machen? Ich kann mein eigenes Gesicht ja auch nur berühren und doch weiß ich, wie lang und wie breit es ist, ich weiß, wie groß die Gesichtszüge sind und wo sie liegen. Und ebenso ist es mit Oscar’s Gesicht; ich vergleiche dasselbe mit dem meinigen. Kein noch so feines Detail entgeht mir. Ich sehe ihn in meinem Geist so deutlich, wie Sie mich jetzt vor sich sehen. Meinen Sie, daß, wenn ich ihn mit meinen Augen sehe, ich etwas für mich ganz Neues entdecken werde? Ich glaube es nicht!« Sie fuhr ungeduldig von ihrem Sitze auf und ging im Zimmer auf und ab.

»O!« rief sie, mit dem Fuß stampfend, »warum kann ich nicht eine hinreichende Portion Opium oder Chloroform nehmen, um sechs Wochen lang zu schlafen und erst wieder zum Leben erwachen, wenn der deutsche Arzt kommt, mir die Binde von den Augen zu nehmen!« Sie setzte sich nieder und warf ganz plötzlich eine rein sittliche Frage auf. »Beantworten Sie mir folgende Frage«, sagte sie, »ist nicht die größte Tugend die, welche am schwersten zu üben ist?«

»Ich glaube ja«, erwiderte ich.

Ungestüm und boshaft trommelte sie, so stark sie konnte, mit beiden Händen auf den Tisch.

»Dann, Madame Pratolungo«, sagte sie, »ist die größte Tugend die Geduld. O, liebe Freundin, wie ich die größte aller Tugenden diesen Augenblick hasse!«

Damit hatte dieses Gespräch ein Ende und die Unterhaltung nahm endlich eine andere Wendung.

Als ich später über die sonderbaren Dinge nachdachte, welche Lucilla zu mir gesagt hatte, fand ich in dem am Frühstückstisch Vorgefallenen einen Trost. Wenn Herrn Sebrigth Aussichten sich als die richtigen erweisen, und die Operation schließlich doch fehlschlagen sollte, so hatte ich Lucilla’s Wort dafür, daß Blindheit an und für sich dem Blinden nicht als das schreckliche Unglück erscheint, als welches wir Uebrigen uns dieselbe vorstellen — weil wir sehen können.

Gegen halb sieben Uhr Abends ging ich, meiner Absicht gemäß, allein aus, um Oscar bei seiner Rückkehr von London zu begegnen.

Aus weiter Entfernung sah ich ihn mir entgegen kommen. Er ging rascher als gewöhnlich und sang dabei. Trotz seiner fahlen Gesichtsfarbe strahlte das Gesicht des armen Menschen von Glück, als er sich mir näherte. In ausgelassener Lustigkeit schwang er seinen Spazierstock in der Luft. »Gute Nachrichten«, rief er mir so laut er konnte entgegen. »Herr Sebright hat mich wieder zu einem glücklichen Menschen gemacht.« Nie war Oscar, mir in seinem Wesen Nugent so ähnlich erschienen wie jetzt, als wir aufeinander zutraten und er mir die Hand reichte.

»Erzählen Sie mir Alles«, sagte ich.

Er gab mir seinen Arm und so gingen wir, die ganze Zeit im lebhaften Gespräch begriffen, langsam nach Dimchurch zurück.

»Für’s Erste«, fing er an, »ist Herr Sebright fester als je von der Richtigkeit seiner Ansicht überzeugt. Er hält es für unzweifelhaft, daß die Operation fehlschlagen wird.«

»Sind das Ihre guten Nachrichten?« fragte ich im vorwurfsvollen Ton.

»Nein«, antwortete er, »wiewohl es, zu meiner Schande sei’s gesagt, eine Zeit gab, wo ich beinahe hoffte, die Operation werde mißlingen. Herr Sebright hat mich in eine bessere Stimmung versetzt. Ich habe wenig oder nichts von einem Gelingen der Operation zu fürchten, wenn dieselbe merkwürdigerweise doch gelingen sollte. Ich erinnere Sie an Sebright’s Ansicht nur deshalb, um Ihnen eine richtige Vorstellung von dem Ton zu geben, welchen er im Beginn unserer Unterhaltung annahm. Nur unter Protest ließ er sich auf eine nähere Erörterung der Eventualität ein, deren Eintritt Lucilla und Herr Grosse als sicher betrachten. Wenn die Mittheilung Ihrer Lage dadurch bedingt ist, sagte er, so räume ich ein, daß es kaum möglich ist, daß sie innerhalb der beiden nächsten Monate im Stande sein wird, Sie zu sehen. Jetzt fangen Sie an. Ich fing damit an, ihm meine Verlobung mitzutheilen.«

»Soll ich Ihnen vorher sagen, wie Herr Sebright diese Mittheilung aufnahm?« sagte ich, »er schwieg und verneigte sich gegen Sie.«

Oscar lachte, »ganz richtig!« sagte er. »Dann erzählte ich ihm von Lucilla’s merkwürdiger Antipathie gegen Menschen mit dunkler Hautfarbe und gegen dunkle Farben überhaupt. Können Sie auch errathen, was er nach dieser Mittheilung sagte?«

Ich gestand, daß meine Beobachtung von Herrn Sebrights Charakter nicht hinreiche, das zu errathen.

»Er sagte, diese Antipathie sei nach seiner Erfahrung bei den Blinden sehr verbreitet. Es sei das eine der vielen sonderbaren Wirkungen der Blindheit auf das Gemüth »Das körperliche Leiden«, sagte er, »übt seine geheimnißvollen moralischen Wirkungen. Wir können das beobachten, aber nicht erklären. Die besondere von Ihnen erwähnte Antipathie ist unheilbar, außer wenn der mit derselben behaftete Blinde seine Sehkraft wieder erlangt. Bei diesen Worten hielt er inne; ich bat ihn dringend, fortzufahren. Aber nein! er weigerte sich, fortzufahren, bis ich ihm Alles, was ich zu sagen habe, mitgetheilt haben würde. Ich hatte ihm noch mein Bekenntniß abzulegen, und das that ich jetzt.«

»Haben Sie ihm nichts verheimlicht?«

»Nichts, ich bekannte ihm offen meine Schwachheit. Ich sagte ihm, daß Lucilla noch fest überzeugt sei, daß Nugent’s Gesicht und nicht das meinige entstellt sei. Und dann fragte ich ihn: »Was soll ich thun?«

»Und was antwortete er Ihnen darauf?«

»Folgendes: Wenn Sie mich fragen, was sie thun sollen, im Falle sie blind bleibt — und ich wiederhole Ihnen, daß dieser Fall eintreten wird — so muß ich es ablehnen, Ihnen einen Rath zu ertheilen. In diesem Falle müssen Ihr eigenes Gewissen und ihr eigenes Ehrgefühl die Frage entscheiden. Wenn Sie mich dagegen fragen, was Sie thun sollen, wenn sie ihre Sehkraft wieder erlangen sollte, so kann ich Ihnen rückhaltslos die entschiedenste Antwort geben. Thun Sie jetzt nichts »und warten Sie ruhig, bis sie wieder sehen kann. Das waren seine eigenen Worte. O, welche Last mir damit vom Herzen genommen war! Ich bat ihn, die Worte zu wiederholen, ich gestehe, ich wagte es kaum, meinen Ohren zu trauen.«

Ich begriff Oscar’s gehobene Stimmung besser, als Herrn Sebrights Rath.

»Begründete er seinen Rath« fragte ich.

»Sie sollen seine Gründe gleich hören. Er bestand zunächst darauf, daß ich meine Stellung, wie sie in diesem Augenblick sei, ganz begreife. Die erste Bedingung des Gelingens der Operation, sagte er, ist, wie Herr Grosse Ihnen gesagt hat, die vollständigste Ruhe der Patientin. Wenn Sie bei Ihrer Rückkehr nach Dimchurch heute Abend der jungen Dame Ihr Bekenntniß ablegen wollten, so würden Sie sie in einen Zustand der Aufregung versetzen, welcher es meinem deutschen Collegen unmöglich machen würde, sie morgen zu operieren. Wenn sie dagegen Ihr Geständniß verschieben, so sind Sie durch die Bedingungen der Kur genöthigt, zu schweigen, bis die ärztliche Behandlung ihr Ende erreicht hat. So liegen die Dinge für Sie. Ich rathe Ihnen, das Letztere zu thun. Warten Sie und lassen Eie die übrigen in Ihr Geheimniß eingeweihten Personen warten, bis das Ergebniß der Operation feststeht. Hier unterbrach ich ihn. Sind Sie der Meinung, daß ich in dem Moment, wo sie zum ersten Male ihre Augen wird gebrauchen können, gegenwärtig sein soll? fragte ich. Soll ich mich vor ihr blicken lassen, ohne daß sie vorher auf meine Gesichtsfarbe vorbereitet worden ist?«

Jetzt waren wir bei dem interessantesten Punkt der ganzen Frage angelangt. Die Engländer stehen, wenn sie sich auf einem Spaziergange mit einem Freunde unterhalten, auch wenn das Gespräch die interessanteste Wendung nimmt, niemals still. Wir Ausländer dagegen bleiben bei solchen Gelegenheiten einen Augenblick stehen. Oscar schien ganz überrascht, als ich ihn plötzlich mitten auf der Landstraße zum Stillstehen zwang.

»Was gibt’s?« fragte er.

»Gehen Sie weiter«, sagte ich ungeduldig. »Ich kann nicht weiter«, erwiderte er, »Sie halten mich ja fest.« Ich hielt ihn noch fester und hieß ihn noch energischer weitergehen. Oscar mußte sich darin ergeben, nach ausländischer Sitte auf der Landstraße stillzustehen.

»Herr Sebright erwiderte meine Frage mit einer andern Frage«, nahm er wieder auf. »Er fragte mich, wie ich Lucilla auf meine Gesichtsfarbe vorbereiten wolle.« »Und was antworteten Sie?« »Ich sagte ihm, ich habe die Absicht gehabt, mich wegen meiner Entfernung von Dimchurch zu entschuldigen, und dann, wenn ich einmal fort sei, Lucilla schriftlich auf das vorzubereiten, was sie bei meiner Rückkehr an mir sehen werde.«

»Und was meinte er dazu?« »Er wollte nichts davon hören. Er sagte: Ich kann Ihnen nur dringend anempfehlen, im ersten Moment, wo sie, wenn dieser Moment überall eintreten wird, zu sehen im Stande sein wird, anwesend zu sein. Ich lege den größten Werth darauf, daß sie in den Stand gesetzt werde, die abscheuliche und abgeschmackte Vorstellung, die ihr jetzt von einem Gesichte wie dem Ihrigen vorschwebt, sobald wie möglich durch Ihren Anblick zu berichtigen.«

Wir hatten uns eben wieder in Bewegung gesetzt, als gewisse Worte in diesem letzten Satz mich erschreckten. Ich blieb wieder stehen.

»Abscheuliche und abgeschmackte Vorstellung«, wiederholte ich, indem mir sofort meine diesen Morgen mit Lucilla geführte Unterhaltung einfiel. »Was dachte sich Herr Sebright dabei, als er sich solcher Ausdrücke bediente?«

»Gerade das fragte ich ihn auch. Seine Antwort wird Sie interessieren; sie führte ihn auf eine nähere Angabe seiner Gründe, nach denen Sie vorhin fragten. Wollen wir weiter gehen?«

Meine noch eben wie festgebannten ausländischen Füße setzten sich wieder in Bewegung und wir gingen weiter.

»Als ich«, fuhr Oscar fort, »mit Herrn Sebright von Lucilla’s eingewurzeltem Vorurtheil gesprochen, hatte er mich durch die Bemerkung überrascht, daß ein solches Vorurtheil nach seiner Erfahrung bei Blinden sehr gewöhnlich und nur durch die Wiederherstellung von Lucilla’s Sehkraft heilbar sei. Zur Unterstützung dieser Behauptungen erzählte er mir jetzt zwei interessante Fälle aus seiner Praxis. Der erste Fall war der der kleinen Tochter eines indischen Offiziers, welche wie Lucilla seit ihrer Kindheit blind war. Nachdem er sie mit Erfolg operirt, trat endlich der Augenblick ein, wo er seiner Patientin erlauben konnte, ihre Augenkraft zu versuchen — das heißt zu versuchen, ob sie anfänglich hinlänglich gut sehen könne, um dunkle von hellen Gegenständen zu unterscheiden. Unter den Mitgliedern der Familie und der Dienerschaft, die sich versammelt hatten, um im Augenblick der Abnahme der Binde von den Augen des operierten Mädchens zugegen zu sein, befand sich eine indische Amme, welche mit der Familie nach England gekommen war. Die erste Person, welche das Kind sah, war seine Mutter, eine schöne Frau. Sie faltete ihre kleinen Hände voll Erstaunen, das war Alles. Im nächsten Augenblick aber sah sie die dunkelfarbige indische Amme und — stieß sofort einen Schrei des Entsetzens aus. Herr Sebright gestand mir, daß er sich das nicht habe erklären können. Das Kind konnte unmöglich mit Farben bestimmte Begriffe verbinden. Und doch trat hier bei einem zehnjährigen Kinde der Haß und Widerwille gegen dunkle Gegenstände — dieser den Blinden eigenthümliche Haß und Widerwille — unzweideutig zu Tage. Mein erster Gedanke bei dieser Erzählung war der an mich selbst und an meine Aussichten bei Lucilla. Meine erste Frage war: Gewöhnte sich das Kind an den Anblick der Amme? Seine Antwort lautete wörtlich: Nach Verlauf einer Woche fand ich das Kind so ruhig auf dem Schooß der Amme sitzen, wie ich hier auf diesem Stuhl sitze. Das ist ermuthigend nicht wahr?«

»Gewiß, höchst ermuthigend — das kann Niemand bestreiten.

»Das zweite Beispiel war noch merkwürdiger. Hier handelte es sich um den Fall eines erwachsenen Mannes und der Zweck der Mittheilung war, mir zu zeigen, welche sonderbar phantastische Vorstellungen sich die Blinden von den sie umgebenden Menschen machen. Der Patient war verheirathet und sollte, wie Lucilla mich, seine Frau zum ersten Male sehen. Man hatte ihn vor seiner Verheirathung mitgetheilt, daß ihr Ge sicht durch eine Narbe auf einer Backe entstellt sei. Die arme Frau, ach wie gut kann ich mich an ihre Stelle versetzen, zitterte bei dem Gedanken an den Verhängnißvollen Augenblick. Der Mann, der sie zärtlich geliebt hatte, so lange er blind war, würde sie vielleicht hassen, wenn er ihr durch eine Narbe entstelltes Gesicht sähe. Ihr Gatte selbst suchte sie zu trösten, sobald die Operation beschlossen war. Er erklärte, sein Tastsinn und die Schilderungen Anderer hätten ihn in den Stand gesetzt, sich ein vollständiges und getreues Bild von dem Gesicht seiner Frau zu machen. Vergebens bemühte sich Sebright, ihm vorzustellen, wie es physisch unmöglich sei, daß er sich eine wirklich correcte Vorstellung von irgend einem belebten oder unbelebten Gegenstands den er nie gesehen hatte, mache. Er wollte nichts davon hören. Er hielt sich des Erfolges für so sicher, daß er die Hände seiner Frau, um sie zu ermuthigen, in den seinigen hielt, als ihm die Binde abgenommen wurde. Bei dem ersten Blick auf seine Frau aber er stieß einen Schrei des Entsetzens aus und sank ohnmächtig in seinen Stuhl zurück. Die arme Frau war in Verzweiflung. Herr Sebright that sein Bestes, sie zu beruhigen und wartete, bis ihr Gatte wieder im Stande sein würde, die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten. Da stellte es sich denn heraus, daß er sich in seiner Blindheit eine der Wirklichkeit so wenig entsprechende, so possierliche und schreckliche Vorstellung von seiner Frau gemacht hatte, daß man nicht recht wußte, ob man darüber lachen oder sich darüber entsetzen mußte. Im Vergleich mit dieser ihm vertraut gewordenen Vorstellung war sie schön wie ein Engel — und doch wurde er, eben weil er sich einmal an diese Vorstellung gewöhnt hatte, von ihrem ersten Anblick angewidert und erschreckt. Nach Verlauf weniger Wochen war er im Stande, seine Frau mit anderen Frauen zu vergleichen, Gemälde zu betrachten und Schönheit von Häßlichkeit zu unterscheiden und von jener Zeit an haben die Leute so glücklich mit einander gelebt, wie je ein Ehepaar in der Welt.« Ich war nicht ganz sicher, worauf dieses letzte Beispiel abzielte. Es beunruhigte mich, wenn ich an Lucilla dachte. Ich stand wieder still.

»Welche Anwendungen machte Herr Sebright von diesem zweiten Fall auf Sie und Lucilla?« fragte ich.

»Das sollen Sie gleich hören«, erwiderte Oscar. »Er berief sich zunächst auf den Fall, um durch denselben seine Behauptung zu unterstützen, daß Lucilla’s Vorstellung von mir meiner wirklichen Erscheinung völlig unähnlich sein müsse. Er fragte mich, ob ich jetzt überzeugt sei, daß sie keinen richtigen Begriff von Gesichtern und Farben haben könne, und ob ich nicht mit ihm der Ansicht sei, daß ihre Vorstellung von dem Mann mit dem blauen Gesicht höchst wahrscheinlich in ihrer phantastischen Häßlichkeit der Wirklichkeit durchaus nicht entspräche? Natürlich stimmte ich ihm darin, nach dem was er mir mitgetheilt hatte, völlig bei. »Nun gut«, sagte Herr Sebright, »jetzt lassen Sie uns nicht vergessen, daß ein wichtiger Unterschied zwischen Fräulein Finch und dem Ihnen eben erzählten Fall besteht. Die Vorstellung des blinden Gatten von seiner Frau war ihm lieb geworden, sein Entsetzen bei ihrem ersten Anblick nur dadurch zu erklären. Dagegen ist die Vorstellung, die Fräulein Finch sich in ihrer Blindheit von dem blauen Gesicht macht, ihr verhaßt, sie verwünscht sie. Darf man daraus nicht mit Fug schließen, daß der erste Anblick Ihrer wirklichen Erscheinung sie nicht entsetzen, sondern wohlthätig berühren wird? Meine Erfahrungen berechtigen mich zu diesem Schluß und ich rathe Ihnen in Ihrem eigenen Interesse, in dem Augenblick, wo Fräulein Finch die Binde von den Augen genommen werden wird, zugegen zu sein. Selbst wenn ich mich darin irren sollte, selbst wenn sie sich nicht sofort mit Ihrem Anblick sollte aussöhnen können, so können Sie doch aus dem anderen Beispiel, von dem Kinde und der indischen Amme die Ueberzeugung schöpfen, daß es sich hier nur um eine Frage der Zeit handelt. Früher oder später wird sie die Entdeckung aufnehmen, wie es jedes andere junge Mädchen thäte. Zuerst wird sie entrüstet über Ihre Täuschung sein und schließlich wird sie Ihnen, wenn Sie ihrer Neigung gewiß sind, verzeihen. Das ist meine Ansicht von Ihrer Lage und das sind die Gründe, auf welche ich dieselbe stütze. Inzwischen beharre ich bei meiner ursprünglichen Ansicht. Ich bin fest überzeugt, daß Sie nie in den Fall kommen werden, meinen Rath zu befolgen. Die Chancen sind hundert gegen eins, daß sie, wenn ihr die Binde von den Augen genommen wird, so wenig im Stande sein wird, Sie zu sehen, wie sie es jetzt ist.« Das waren seine letzten Worte und darauf verließ ich ihn.«

Oscar und ich gingen nun eine kleine Strecke schweigend neben einander her.

Ich konnte nichts gegen Herrn Sebrights Gründe sagen; es war unmöglich, die Erfahrungen, denen diese Gründe entnommen waren, in Zweifel zu ziehen. Ich war überzeugt, daß sein Rath sich bei den meisten Blinden als gut erwiesen haben würde und daß seine Schlüsse eine vollkommene Berechtigung hatten. Aber Lucilla war kein gewöhnlicher Charakter. Ich kannte sie besser, als Herr Sebright, und je mehr ich an die Zukunft dachte, desto weniger vermochte ich Oscar’s hoffnungsvolle Anschauungen zu theilen. Sie war gerade die Person, im kritischen Augenblick etwas zu sagen oder zu thun, was die klügste Voraussicht Lügen strafen würde. Niemals waren mir Oscar’s Aussichten trüber erschienen, als eben in jenem Augenblick.

Es wäre unnütz und grausam gewesen, ihm zu sagen, was ich eben hier ausgesprochen habe. Ich suchte ein möglichst vergnügtes Gesicht zu machen und fragte, ob er Herrn Sebright’s Rath zu befolgen gedenke. »Ja«, sagte er, »das heißt mit seinem gewissen Vorbehalt, der mir erst einfiel, nachdem ich sein Haus verlassen hatte.«

»Darf ich fragen, worin dieser Vorbehalt besteht?«

»Gewiß. Ich denke Nugent zu bitten, Dimchurch zu verlassen, bevor Lucilla zum ersten Male nach der Operation ihre Sehkraft erprobt. Das wird er mir zu Gefallen thun, das weiß ich gewiß.»

»Und wenn er es gethan haben wird, was dann?«

»Dann denke ich, wie mir Herr Sebright gerathen hat, bei der Abnahme der Binde zugegen zu sein.«

»Nachdem Sie», schaltete ich ein, »Lucilla vorhergesagt haben, daß Sie im Zimmer sind?« »Nein, dann werde ich die Vorsicht gebrauchen, aus die ich eben anspielte. Ich beabsichtige Lucilla unter dem Eindruck zu lassen, daß ich Dimchurch verlassen habe und daß es Nugent’s Gesicht ist, das sie zuerst sehen wird. Wenn es sich dann zeigt, daß Herr Sebright Recht gehabt hat und ihre erste Empfindung die der Befreiung von einer Furcht ist, werde ich ihr noch an demselben Tage die Wahrheit gestehen. Wenn nicht, so werde ich mit meinem Geständniß warten, bis sie sich mit meinem Anblick ausgesöhnt hat. Auf diese Weise bin ich auf jede mögliche Wendung der Sache vorbereitet. Das ist einer der wenigen guten Gedanken, auf die mein dummer Kopf verfallen ist, seit ich in Dimchurch bin.« Er sprach diese letzten Worte mit einer so harmlos triumphirenden Miene, daß ich es nicht übers Herz bringen konnte, ihm zu sagen, was ich von seinem Plan halte. Alles, was ich sagte, war: »Vergessen Sie nicht, Oscar daß das Gelingen eines noch so fein ersonnenen Planes immer von Umständen abhängt. Im letzten Augenblick kann sich etwas ereignen, was Sie zwingen würde, die Wahrheit zu sagen.«

Als ich diese letzte Warnung an ihn ergehen ließ, hatten wir das Pfarrhaus in Sicht bekommen. Nugent schlenderte, um nach uns auszusehen, die Landstraße auf und ab. Ich verließ Oscar, damit er seinem Bruder seinen Bericht abstatten könne und ging in’s Haus.

Lucilla saß, als ich in’s Wohnzimmer trat, am Clavier. Sie spielte und, was sie selten that, sang dazu. Was sie sang war von ihr gedichtet und componirt. »Ich werde ihn sehen! Ich werde ihn sehen!« so lauteten die Anfangs- und Endworte der Composition. Sie sang diese Worte auf alle ihr erinnerlichen frohen Melodien. Auch ihre Hände schienen freudig aufgeregt und schienen jeden Augenblick die Saiten zersprengen zu wollen. Noch nie, so lange ich im Pfarrhause war, hatte ich so laute Musik in unserm Wohnzimmer gehört. Sie war in einem Freudenfieber, das mich in meinem Böses ahnenden Gemüthe höchst peinlich berührte. Ich zog sie gewaltsam von dem Clavier fort und schloß dasselbe.«

»Um’s Himmelswillen, beruhigen Sie sich«, sagte ich. »Wollen Sie sich denn so aufregen, daß Sie ganz erschöpft sein werden, wenn Herr Grosse morgen kommt?«

Diese Ermahnung brachte sie sofort zur Besinnung. Mit der Plötzlichkeit, die wir sonst nur bei Kindern beobachten, wurde sie auf einmal ganz ruhig.

»Ich hatte das vergessen«, sagte sie, indem sie sich mit einem traurigen Gesicht in eine Ecke setzte. »Er wäre im Stande sich zu weigern, die Operation vorzunehmen. O, liebe Freundin, bringen Sie mich auf irgend eine Weise zur Ruhe. Nehmen Sie ein Buch und lesen Sie mir etwas vor.«

Ich nahm ein Buch zur Hand. O, der arme Autor! Weder sie noch ich nahmen die mindeste Notiz von ihm. Noch schlimmer, wir schalten ihn, weil er uns nicht interessierte, klappten ihn dann heftig zu und stellten ihn rücksichtslos auf den Kopf an seinen Platz auf dem Bücherbrett und gingen zu Bett.

Als ich in ihr Schlafzimmer trat, um ihr gute Nacht zu sagen, stand sie am Fenster.Das milde Mondlicht ergoß sich zärtlich über ihr liebliches Gesicht. »Du Mond, den ich nie gesehen habe«, murmelte sie leise vor sich hin, »ich fühle, daß Du mich ansiehst. Wird die Zeit kommen, wo ich Dich wieder ansehen werde?« Sie trat vom Fenster zurück und legte meine Finger eifrig an ihren Puls. »Bin ich jetzt wieder ganz ruhig?« fragte sie. »Wird er mich morgen wohl ruhig genug finden? Fühlen Sie, fühlen Sie, er geht jetzt ganz ruhig?« Ich fühlte ihn, er ging rascher und rascher. »Der Schlaf wird ihn beruhigen«, sagte ich und küßte sie.

Sie schlief gut. Ich aber brachte eine so elende Nacht zu und stand so völlig erschöpft auf, daß ich genöthigt war, mich nach dem Frühstück wieder zu legen. Lucilla redete mir zu, es zu thun.

»Herr Grosse wird erst Nachmittags eintreffen«, sagte sie, »ruhen Sie sich aus bis er kommt.«

Wir hatten aber unsere Rechnung ohne Rücksicht auf den excentrischen Charakter unseres deutschen Arztes gemacht. Mit Ausnahme seiner Berufsgeschäfte that Herr Grosse alles nach Impulsen und nichts nach einer vorgeschriebenen Regel.

Ich war noch nicht lange in einen unruhigen, unerquickenden Schlaf versunken, als ich Zillah’s Hand auf meiner Schulter fühlte und ihre Stimme vernahm.

»Bitte, stehen Sie auf, Madame; er ist da, er ist mit dem Morgenzug von London gekommen.«

Ich eilte in’s Wohnzimmer.

Da saß Herr Grosse am Tisch, vor sich ein offenes chirurgisches Besteck und liebäugelte mit seinen wilden Augen mit einer gräulichen Schaar von Scheeren, Sonden und Messern, während sein danebenstehender schäbiger Hut mit einem unordentlichen Packen von Charpie und Binden vollgestopft war. Und bei ihm stand Lucilla über ihn gebeugt, die eine Hand vertraulich auf seine Schulter gelegt und mit der andern eines seiner schrecklichen Instrumente geschickt betastend, um sich einen Begriff von der Gestalt desselben zu machen.



Zweites Kapitel - Nugent verräth sein Spiel

Ich habe den ersten Theil meiner Erzählung am Tage der Operation, den fünfundzwanzigsten Juni, geschlossen.

Ich beginne den zweiten Theil sechs oder sieben Wochen später, am neunten August.

Wie verfloß die Zeit während dieser Wochen in Dimchurch? Indem ich meine Erinnerungen auffrische, steigen die Vorgänge in der Familie während jener sechs Wochen wieder lebendig vor mir auf. Bei diesem Rückblick erscheinen sie trostlos, langweilig und ereignißlos. Ich begreife jetzt kaum mehr, wie wir es in jenen langweiligen Wochen aushielten, wie wir die gezwungene Unthätigkeit, die schwere Last der Ungewißheit ertrugen.

Lucilla ertrug den einförmigen Wechsel zwischen dunklem Schlaf- und dunklem Wohnzimmer, das fortwährende Tragen einer Binde, außer wenn der Arzt ihre Augen untersuchte, sie ertrug dieses Gefängnißleben und was schlimmer war, die Ungewißheit während ihrer Prüfungszeit, mit dem Muth der Hoffnung, der Alles ertragen lehrt. Mit Hilfe von Büchern, von Musik, von Geplauder und vor Allem mit Hilfe der Liebe überwand sie die träge Langeweile der aufeinander folgenden Stunden, bis der Augenblick gekommen sein würde, wo dies zwischen den Augenärzten streitige Frage, die schreckliche Frage, wer von den bei den, Herr Sebright oder Herr Grosse, Recht habe, sich entscheiden würde.

Ich war bei der Untersuchung, die schließlich allen Zweifeln ein Ende machte, nicht zugegen. Ich traf Oscar im Garten, jeder, auch der kleinsten Selbstbeherrschuug ganz so unfähig, wie ich ihn kannte. Wir gingen schweigend nebeneinander auf dem Rasen auf und ab, wie zwei Thiere in einem Käfig. Zillah war die einzige Zeugin der Untersuchung der Augen unserer armen Lucilla durch den deutschen Arzt. Nugent hatte versprochen, im anstoßenden Zimmer zu warten und uns vom Zimmer aus das Ergebniß zu melden. Aber Herr Grosse kam ihm noch zuvor. Wieder hörten wir ihn in seiner eigenthümlichen Redeweise rufen »Halloh! he, ho! Halloh! he, ho!« wieder sahen wir sein riesiges seidenes Schnupftuch zum Fenster hinauswehen.

Mich machte die Aufregung des Augenblicks — die Verzückung krank; denn in eine solche versetzten mich die drei elektrisirenden Worte: »Sie kann sehen.« Herr des Himmels! wie wir auf Herrn Sebright schalten, als wir uns in Lucillais Wohnzimmer Alle wieder vereinigt hatten.

Nachdem die erste Aufregung vorüber war, galt es neuen Schwierigkeiten zu begegnen.

Von dem Augenblick an, wo sie bestimmt wußte, daß die Operation gelungen sei, war unsere bisher so geduldige Lucilla wie umgewandelt. Sie lehnte sich jetzt unablässig gegen die Vorsichtsmaßregeln auf, welche den Tag, wo sie zuerst ihre Sehkraft würde erproben können, hinausschob. Es bedurfte meines ganzen Einflusses, der Bitten Oscar’s und des wüthenden Protestes unseres vortrefflichen deutschen Arztes, — mit Herrn Grosse war nicht zu spaßen, das kann ich versichern, — um sie in der ärztlichen Zucht, welche sie in ihren Klauen hielt, zu halten. Wenn sie ganz unlenksam wurde und sich die heftigsten Ausfälle gegen ihn in seiner Gegenwart erlaubte, so pflegte unser guter Grosse sie in einer Sprache, die er sich selbst zurecht gemacht hatte, fluchend zu schelten, wodurch er sie regelmäßig zum Lachen reizte und allmählig zum Gehorsam zurückbrachte. Ich sehe ihn noch, während ich dieses schreibe, wie er bei solchen Gelegenheiten mit funkelnden Augen und seinen schäbigen Hut schief auf dem Kopfe das Zimmer verließ. »So! Sie kleiner Feuerkopf! Wenn Sie die Binde, die ich Ihnen angelegt habe, anrühren, so soll Sie dieser und Jener — weiter sage ich nichts! Adieu!«

Und nun will ich von den Zwillingsbrüdern reden.

Durch feinen Besuch bei Herrn Sebright über die Zukunft beruhigt, zeigte sich Oscar während der Zeit, von der ich jetzt rede, von seiner besten Seite.

Lucilla’s Haupttrost während der Tage, die sie im dunkeln Zimmer zubringen mußte, bestand in dem, was ihr Geliebter thun konnte, um ihr Erleichterung zu verschaffen und sie zu ermuthigen. Und er ließ es nicht an sich fehlen; seine Geduld war unerschöpflich; seine Ergebenheit grenzenlos. Ich spreche es im Hinblick auf spätere Ereignisse mit betrübtem Herzen aus; aber ich sage nur die Wahrheit, wenn ich erkläre, daß er in jenen letzten Tagen ihrer Blindheit, wo seine Gesellschaft ihr so unschätzbar war, sich ihrem Herzen noch theurer machte. In wie feurigen Ausrücken pflegte sie von ihm zu reden, wenn sie und ich Nachts miteinander allein waren. Man verzeihe mir, wenn ich diesen Theil der Geschichte von Oscar’s Werbung unerzählt lasse. Ich mag nicht davon schreiben — nicht daran denken. Gehen wir zu etwas Anderem über.

Wir müssen uns jetzt mit Nugent beschäftigen. Arm wie ich bin, würde ich doch viel darum geben, wenn ich seiner nicht mehr zu gedenken brauchte. Aber es geht nicht. Ich muß von dem Elenden erzählen und Ihr müßt es lesen, ob wir mögen oder nicht.

In jenen Tagen der Gefangenschaft Lucilla’s geschah es zum ersten Mal, daß ich mich in meinem Liebling getäuscht fand. Er und sein Bruder schienen die Rollen getauscht zu haben. Jetzt fiel der Vergleich der beiden Brüder zu Nugent’s Ungunsten aus. Er überraschte und betrübte seinen Bruder dadurch, daß er Browndown verließ. »Alles was ich für Dich thun kann, habe ich gethan«, sagte er. »Für jetzt kann ich Niemandem hier mehr was nützen, laßt mich gehen. Ich roste in diesem elenden Nest ein; ich muß und will Abwechselung haben.« Vergebens versuchte es Oscar, durch Bitten bei Nugent eine Sinnesänderung hervorzubringen.

Eines Morgens war er, ohne irgendjemandem Lebewohl gesagt zu haben, verschwunden. Er hatte davon gesprochen, er werde eine Woche fortbleiben; er blieb einen ganzen Monat fort. Wie wir hörten, führte er während der Zeit ein wildes Leben mit wüsten Gesellen. Man berichtete uns, daß sich eine wahnsinnige Ruhelosigkeit, die Niemand erklären konnte, seiner bemächtigt habe. Eines Tages war er ebenso plötzlich, wie er verschwunden war, wieder da. Seine wankelmüthige Natur hatte ihn inzwischen in das entgegengesetzte Extrem seines bisherigen Verhaltens verfallen lassen. Er bereuete jetzt bitter sein unbedachtes Benehmen; er war in einem Zustand der Niedergeschlagenheit, aus dem man ihn vergeblich zu reißen suchte; er verzweifelte an sich selbst und an seiner Zukunft. Bisweilen sprach er davon, nach Amerika zurückzukehren und dann wieder wollte er sich als Freiwilliger anwerben lassen. Ich zweifle, daß irgend Jemand, der wie ich Tag und Nacht von der Sorge für Lucilla hingenommen gewesen wäre, an meiner Stelle jene Anzeichen richtig gedeutet hätte. Selbst wenn ich von Natur argwöhnisch gewesen wäre, was ich Gott sei Dank nicht bin, so hätte doch mein Argwohn in der Alles verschlingenden Atmosphäre angstvoller Ungewißheit die Morgens, Mittags und Abends in dem dunklen Zimmer auf mir lastete, nicht aufkommen können.

An diesen kurzen Notizen über das, was die Hauptpersonen dieser Erzählung während der sechs Wochen, welche den ersten Theil vom zweiten trennen, sprachen und thaten, mag es genug sein.

Ich nehme meine Erzählung am neunten August wieder auf.

Das war der denkwürdige Tag, an welchem Herr Grosse beschlossen hatte, das Experiment zu wagen, Lucilla die Binde abzunehmen und ihr zu gestatten, zum ersten Mal ihre Sehkraft zu versuchen. Der Leser erlasse mir, zu schildern, was er sich selbst besser vorstellen können wird, die rasende Aufregung die jetzt, wo wir an der Schwelle des für unser Alter Leben so verhängnißvollen Ereignisses, welches ich im Beginn dieser Blätter zu erzählen versprochen habe, standen, in unserem kleinen Kreise herrschte.

Ich war an jenem Morgen zuerst von allen Bewohnern des Pfarrhauses auf den Beinen. Mein leicht erregbares französisches Blut wallte wie im Fieber. Unwillkürlich drängte sich mir die Erinnerung an mein eigenes Schicksal in längst vergangenen Tagen auf in jenen Tagen, wo mein ruhmwürdiger Pratolungo und ich, nachdem wir dem Schicksal und den Tyrannen unterlegen waren, als Märtyrer jener undankbaren Republik (hoch lebe die Republik!), für welche ich mein Geld und mein Gatte sein Leben opferte, in England eine Zuflucht suchen mußten.

Ich öffnete mein Fenster und begrüßte die an einem klaren Himmel aufgehende Sonne als ein gutes Vorzeichen. Als ich eben wieder von dem Fenster zurücktreten wollte, sah ich, wie eine Gestalt aus dem Gebüsch geschlichen kam und auf den Rasen trat.

Die Gestalt kam näher und ich erkannte Oscar.

»Was in aller Welt machen Sie da zu dieser frühen Stunde«, rief ich ihm zu.

Er legte die Finger an die Lippen, trat dicht an mein Fenster heran und flüsterte mir zu:

»Still. Lassen Sie Lucilla nichts hören. Kommen Sie zu mir herunter, sobald Sie können. Ich muß Sie sprechen.«

Als ich zu ihm in den Garten hinunter kam, sah ich sofort, daß etwas nicht in Ordnung sei.

»Bringen Sie schlimme Nachrichten von Browndown?« fragte ich.

»Ich habe mich in Nugent getäuscht«, antwortete er.

»Erinnern Sie sich jenes Abends, wo Sie mir nach meiner Consultation bei Sebright entgegen kamen?«

»Gewiß.«

»Ich sagte Ihnen damals, daß ich Nugent bitten wolle, an dem Tage, wo Lucilla zum ersten Mal zu sehen versuchen würde, Dimchurch zu verlassen.«

»Nun?«

»Nun, jetzt weigert er sich, Dimchurch zu verlassen.«

»Haben Sie ihm denn Ihre Gründe angegeben?«

»Ganz genau. Ich sagte ihm, wie unmöglich es sei, vorauszusagen, was sich ereignen könne. Ich erinnerte ihn daran, daß so vielleicht von der größten Wichtigkeit für mich sein würde, die Vorstellungen, die Lucilla jetzt habe, eine Zeitlang aufrecht zu erhalten. Ich versprach ihm, ihn sobald Lucilla sich mit meinem Anblick ausgesöhnt haben würde, zurückzurufen und ihr in seiner Gegenwart die Wahrheit zu sagen. Alles das sagte ich ihm, und was glauben Sie, antwortete er mir.«

»Hm er es Ihnen positiv verweigert?«

»Nein. Er trat an’s Fenster und dachte eine Weile nach. Dann drehte er sich plötzlich um und sagte: »Was hast Du mir als Herrn Sebrigth Ansicht mitgetheilt? Herr Sebright war der Meinung, Lucilla würde sich bei Deinem Anblick, statt entsetzt zu sein, erleichtert fühlen. Wenn aber dem so ist, wozu brauche ich denn fortzugehen? Du kannst ihr ja auf der Stelle sagen, daß es Dein und nicht mein Gesicht ist, welches sie zuerst gesehen hat?« Bei diesen Worten steckte er die Hände in die Taschen — Sie kennen ja Nugent’s Manier — und trat wieder an’s Fenster, als ob er nun jede Schwierigkeit beseitigt habe.«

»Und was erwiderten Sie ihm?«

»Ich sagte: »Wenn aber Herr Sebright sich geirrt haben sollte?« Er antwortete mir nur: »Wenn aber Herr Sebright sich nicht geirrt haben solltet?« Ich folgte ihm ans Fenster; ich hatte ihn noch nie so unfreundlich gegen mich gesehen, wie in jenem Augenblick. »Was hast Du denn dagegen, Dich auf ein paar Tage zu entfernen«, fragte ich. »Das will ich Dir sagen«, erwiderte er. »Ich bin dieser ewigen — Verwickelungen überdrüssig. Es ist unnöthig und grausam, die Täuschung noch länger fortbestehen zu lassen. Herrn Sebrigth Rath ist gut. Laß sie Dich sehen, wie Du wirklich bist.« Mit diesen Worten ging er zur Thür hinaus. Etwas, ich weiß nicht, was es ist, hat ihn ganz aus der Fassung gebracht. Bitte, sehen Sie doch zu, was Sie mit ihm anfangen können. Sie sind jetzt meine einzige Hoffnung!«

Ich muß gestehen, daß es mir widerstrebte, mich in die Sache zu mischen. So plötzlich und auffallend Nugent auch seine Meinung geäußert hatte, so schien er mir doch unleugbar Recht zu haben. Andererseits aber sah Oscar so unglücklich und verzweifelt aus, daß es mir unmöglich schien, ihm gerade an diesem Tage noch einen neuen Kummer zu bereiten und ihm seine Bitte rundweg abzuschlagen. Ich versprach ihm, zu thun was ich könne — und schmeichelte mir im Geheimen mit der Hoffnung, daß die Umstände mich der Nothwendigkeit überheben würden, überhaupt irgend etwas zu thun.

Aber die Umstände sollten mein Vertrauen auf sie nicht rechtfertigen.

Nach dem Frühstück war ich in’s Dorf gegangen, um einige Einkäufe von Lebensmitteln zu dem würdigen Empfange des Herrn Grosse zu machen, als ich meinen Namen hinter mir aussprechen hörte und, als ich mich umdrehte, Nugent mir gegenüber stehen sah.

»Hat mein Bruder Sie diesen Morgen, noch ehe ich aufgestanden war, geplagt?« fragte er.

Die Art, wie er diese Worte sprach, ließ mich erkennen, daß er wieder in dieselbe verstockte unangenehme Manier verfallen sei, die mir schon bei meiner letzten Unterredung mit ihm im Pfarrhausgarten ebenso unerklärlich gewesen war, wie sie mir mißfallen hatte.

»Oscar hat diesen Morgen mit mir gesprochen«, erwiderte ich.

»Ueber mich?«

»Allerdings, Sie haben ihn sehr unglücklich gemacht.«

»Ich weiß! Ich weiß! Oscar ist schlimmer ins ein Kind. Ich fange an, alle Geduld mit ihm zu verlieren.«

»Es thut mir leid, Sie das sagen zu hören, Nugent. Sie haben seine Schwäche bisher so geduldig ertragen, nun werden Sie doch wohl heute Nachsicht gegen ihn üben können? Seine ganze Zukunft steht bei dem, was sich in einigen Stunden in Lucilla’s Wohnzimmer vielleicht ereignen wird, auf dem Spiel.«

»Er macht aus einer Mücke einen Elephanten und das thun Sie auch.«

Er sagte das in einem bitterem fast rohen Tone. Ich antwortete gleichfalls ziemlich scharf:

»Sie sind der letzte Mensch, der ein Recht hätte, das zusagen. Oscar befindet sich Lucilla gegenüber mit Ihrem Wissen und Ihrer Zustimmung in einer falschen Position. Im Interesse Ihres Bruders erklärten Sie sich mit der Täuschung, die gegen sie verübt worden ist, einverstanden. Jetzt bittet man Sie, wieder im Interesse Ihres Bruders, Dimchurch zu verlassen. Warum weigern Sie sich, das zu thun?«

»Ich weigere mich, weil ich mich zu Ihrer Auffassung bekehrt habe. Erinnern Sie sich, was sie mir damals im Gartenpavillon in Betreff Oscar’s und in Betreff meiner sagten? Sie sagten, wir machten uns Lucilla’s Blindheit in grausamer Weise zu Nutze. Sie hatten Recht. Es war wirklich grausam von uns, ihr nicht die Wahrheit zu sagen und ich möchte mich nicht länger des Vergehens mitschuldig machen, ihr diese Wahrheit zu verbergen. Ich weigere mich, die gegen sie bis jetzt geübte unwürdige Täuschung auch noch an dem Tage, wo sie ihre Sehkraft wieder erlangt, fortbestehen zu lassen!«

Ich bin völlig außer Stande, den Ton, in welchem er mir diese Antwort gab, näher zu bezeichnen. Ich kann nur sagen, daß mich dieser Ton für den Augenblick verstummen machte. Ich trat ihm einen Schritt näher und sah ihm mit einer unbestimmten bösen Ahnung scharf in’s Gesicht. Er sah mich, ohne betroffen zu sein, wieder an.

»Nun?« fragte er mit einem unangenehmen Lächeln, das die Herausforderung zu enthalten schien, ihm sein Unrecht nachzuweisen.

Sein Gesicht gab mir keinen Aufschluß; ich mußte mich ganz von meinem weiblichen Instinkte leiten lassen und dieser Instinkt warnte mich, seine Erklärung zu acceptieren.

»Sie haben also, wenn ich Sie recht verstehe, beschlossen, hier zu bleiben?« sagte ich.

»Allerdings.«

»Und was beabsichtigen Sie zu thun, wenn Herr Grosse ankommt und wir uns in Lucilla’s Zimmer versammeln.«

»Ich beabsichtige, in dem wichtigsten Augenblick in Lucilla’s Leben mit Ihnen Allen zugegen zu sein.«

»Nein, das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Ganz gewiß.«

»Sie vergessen etwas, Herr Nugent Dubourg.«

»Und das wäre, Madame Pratolungo?«

»Sie vergessen, daß Lucilla glaubt, der Bruder mit dem einstellten Gesicht seien Sie, und der Bruder mit der natürlichen Hautfarbe sei Oscar. Sie vergessen; daß der Arzt uns ausdrücklich verboten hat, bevor er ihr erlaubt haben wird, ihre Augen zu versuchen, sie durch irgend welche Erklärung aufzuregen; Sie vergessen, daß die Täuschung, welche fortbestehen zu lassen Sie sich eben positiv geweigert haben, nichtsdestoweniger, wenn Lucilla Sie in dem Augenblick, wo sie zum ersten Male ihre Sehkraft anwenden fortbestehen wird. Ihre bessere Ueberzeugung legt Ihnen die Verpflichtung auf, das Pfarrhaus nicht eher zu betreten, als bis Lucilla, die Wahrheit weiß.«

Mit diesen Worten hatte ich ihn gefangen. Er wurde todtenblaß; zum ersten Mal konnte er meinen Blick nicht ertragen und senkte die Augen zu Boden.

»Ich danke Ihnen, daß Sie mich daran erinnert haben. Ich hatte das wirklich vergessen.«

Er sprach diese demüthigen Worte leise vor sich hin. In seinem Ton oder in dem Senken seiner Augen lag etwas, was mein Herz schneller klopfen machte und eine unbestimmte Ahnung in mir erweckte, über die ich mir selbst nicht klar zu werden vermochte.

»Sie sind also einverstanden«, sagte ich »daß Sie nicht mit uns Uebrigen im Pfarrhause zugegen sein dürfen? Was denken Sie nun zu thun?«

»Ich werde in Browndown bleiben«, antwortete er.

Ich war überzeugt, daß er die Unwahrheit sagte; man frage mich nicht nach meinen Gründen; ich weiß, nicht warum, aber als er sagte: »Ich werde in Browndown bleiben«, war ich überzeugt, daß er die Unwahrheit sage.

»Warum wollen Sie nicht thun, was Oscar Sie gebeten hat?« fuhr ich fort. »Wenn Sie doch nicht zugegen sein können, warum nicht lieber fortgehen, als hier bleiben? Sie haben noch reichlich Zeit, Dimchurch zu verlassen.« .

Ebenso plötzlich, wie er vorhin die Augen gesenkt hatte, blickte er jetzt wieder auf.

»Halten Sie und Oscar mich für einen Stock oder einen Stein?« brach er zornig aus.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Wem verdanken Sie das, was sich heute hier ereignen wird?« fuhr er in immer leidenschaftlicher werdendem Tone fort. »Mir verdanken Sie das. Wer war es, der ganz allein ihnen Allen gegenüber die Ueberzeugung vertrat, daß sie nicht zu lebenslänglicher Blindheit verurtheilt sei? Ich war es! Wer hat den Mann hierher gebracht, der ihr ihre Sehkraft wiedergegeben hat. Ich! — und ich allein soll jetzt nichts erfahren, welchen Ausgang die Sache nimmt? Alle sollen zugegen sein und ich allein soll fortgeschickt werden; Alle sollen sehen, ich aber soll — wenn Einer von Ihnen daran denkt — auf brieflichem Wege erfahren, wie sie in dem ersten himmlischen Augenblicke, wo sie die Welt zum ersten Male vor sich aufgeschlossen sieht, aussieht, was sie in diesem Augenblick thut und sagt?« Er machte eine heftige Bewegung mit der Hand und brach dann mit einem bitteren Lachen in die wilden Worte aus: »Ich setze Sie in Erstaunen, nicht wahr? Ich mache Anspruch auf eine Stellung, die ich einzunehmen kein Recht habe. Was kann mich die Sache interessieren? O, du lieber Gott, was geht mich das Mädchen an, dem ich zu einem neuen Leben verholfen habe?« Bei diesen letzten, mit wildem Hohn ausgestoßenen Worten versagte ihm die Stimme und er schluchzte. Er griff sich en die Brust, wie wenn er ersticken müßte, drehte sich um und ging fort.

Ich stand wie festgewurzelt. Plötzlich ging mir die Wahrheit auf wie eine Offenbarung. Endlich hatte sich mir das schreckliche Geheimniß enthüllt: Nugent liebte Lucilla.

Das Erste, was ich mich zu thun getrieben fühlte, als ich wieder zu mir kam, war, so rasch wie möglich wieder nach dem Pfarrhause zu eilen. Einen Augenblick war ich, glaube ich, wirklich von Sinnen. Ein wahnsinniger Argwohn hatte sich meiner bemächtigt, daß er nach dem Pfarrhause gegangen sei und eben jetzt bei Lucilla eindringe. Als ich aber zu Hause Alles ruhig fand, als Zillah mir versichert — hatte, daß kein Fremder in den von uns bewohnten Theil des Pfarrhauses gekommen sei, legte sich meine Aufregung ein wenig und ich ging in den Garten, um meine Fassung ganz wieder zu gewinnen, bevor ich es wagte, zu Lucilla zu gehen.

Nach einer Weile, als ich mich gefaßt hatte, machte ich mir meine Stellung klar. Es gab keinen Menschen in Dimchurch, dem ich hätte vertrauen können. Mochte daraus entstehen, was da wollte, ich mußte mich bei dieser schrecklichen Complication von Umständen ganz auf mich selbst verlassen.

Eben hatte sich mir dieser schreckliche Schluß aufgedrängt, hatte ich mich unter bitteren Thränen erinnert, wie hart ich den armen Oscar bei mehr als einer Gelegenheit beurtheilt habe, eben war ich zu der — Erkenntniß gelangt, daß mein Liebling Nugent ein so verächtlicher Schurke sei, und hatte ich den Entschluß gefaßt, nichts unversucht zu lassen, was weibliche List vermöchte, um ihn von hier fortzutreiben, als mich die — Stimme Zillahs die vom Hause her nach mir rief, nöthigte, mich wieder ganz den Forderungen des nächsten Augenblicks zuzuwenden. Ich ging unverzüglich zu ihr.

Die Amme hatte einen Auftrag an mich von ihrer jungen Herrin. Meine arme Lucilla fühlte sich einsam und geängstigt; sie konnte nicht begreifen, daß ich sie verlassen habe, und bestand darauf, daß ich sofort zu ihr kommen müsse. Bei dem Betreten des Hauses wandte ich meine erste Vorsichtsmaßregel gegen etn unerwartetes Eindringen Nugent’s an.

»Unser armes Kind«, sagte ich zu Zillah, »darf heute nicht durch Besuche gestört werden. Wenn Herr Nugent Dubourg kommen und nach ihr fragen sollte, so melden sie es nicht Lucilla, sondern mir.«

Mit diesen Worten ging ich zu meiner lieben Lucilla, deren Zimmer halbdunkel gemacht war.



Drittes Kapitel - Lucilla versucht ihre Augen

Sie saß allein in der trüben Dunkelheit, mit verbundenen Augen, ihre niedlichen Hände geduldig im Schoße gefaltet. Das Herz schwoll mir bei ihrem Anblick; die schreckliche Entdeckung, die ich kurz zuvor gemacht hatte, drängte sich mir wieder mit ganzer Gewalt auf. »Verzeihen Sie mir, daß ich Sie verlassen habe, sagte ich mit so fester Stimme, wie es mir irgend möglich war, und küßte sie.

Auf der Stelle entdeckte sie meine Aufregung, so sorgfältig ich dieselbe auch zu verbergen bemüht war.

»Sie ängstigen sich auch!« rief sie, indem sie meine Hände ergriff.

»Aengstigen, liebes Kind«, wiederholte ich ganz verdutzt, ohne recht zu wissen, was ich sagen sollte.

»Ja, jetzt, wo die Zeit so nahe rückt, sinkt mir der Muth. Böse Ahnungen aller Art bedrängen mich. O, wann wird es vorüber sein? Wie wird mir Oscar erscheinen, wenn ich ihn sehe?«

Ich beantwortete die erste Frage Wer konnte die zweite beantworten?

»Herr Grosse kommt mit dem Morgenzug«, antwortete ich. »Es wird bald vorüber sein.«

»Wo ist Oscar?«

»Ohne Zweifel auf dem Wege hierher.«

»Beschreiben Sie ihn mir noch einmal«, sagte sie eifrig, »zum letzten Mal, bevor ich selbst sehe — seine Augen, seine Haare, seine Haarfarbe, Alles.

Wie ich die peinliche Ausgabe, die sie mir in ihrer Unschuld gestellt hatte, gelöst haben würde, wenn ich es hätte unternehmen müssen, daran mag ich kaum denken. Eine wahre Erlösung war es daher für mich, als sich, da ich eben das erste Wort gesprochen hatte, die Thür öffnete und eine Familien-Deputation eintrat.

Voran schritt langsam und feierlich, die eine Hand pathetisch auf seine geistliche Weste gelegt, der Ehrwürdige Finch; ihm zunächst folgte seine Frau, ohne alles ihr eigenthümliche Zubehör, mit Ausnahme des Baby, ohne ihren Roman, ihre Jacke, ihren Unterrock, ihren Shawl, ja selbst ohne ihre Schnupftuch, das sie immer zu verlieren pflegte. Zum ersten Mal, so lange ich sie kannte, war sie angethan in ein vollständiges Kleid; die feuchte Frau Finch war wie umgewandelt. Hätte sie nicht das Baby getragen, ich glaube, ich hätte sie in dem trüben Dämmerlicht für eine Fremde gehalten. Sie blieb, offenbar unsicher, welchen Empfang sie zu erwarten habe, zaudernd an der Schwelle stehen und verdeckte so ein drittes Mitglied der Deputation, welches die allgemeine Aufmerksamkeit durch eine klägliche kleine Stimme, die mir wohl bekannt war, und durch eine Ausdrucksweise, die ich auch schon früher kennen gelernt hatte, auf sich zu lenken suchte.

»Jicks will herein kommen.«

Der Pfarrer erhob seine Hand zu einem schwachen Protest gegen das Eindringen des dritten Mitgliedes. Frau Finch rückte mechanisch in’s Zimmer vor.

Jicks hielt ihre sehr disreputirlich aussehende Puppe fest in die Arme geschlossen und trug die Spuren einer kürzlichen Wanderung durch weißen Sand, der von ihrem Kittel und ihren Schuhen auf den Teppich herabfiel, an sich und ging auf die Stelle zu, wo ich saß. Als sie dicht an mich herangetreten war, blickte sie mit einem verschmitzten Ausdruck durch das im Zimmer herrschende Dunkel zu mir auf, ergriff ihre Puppe bei den Beinen, versetzte mir mit dem Kopf derselben einen derben Schlag aufs Knie und sagte:

»Jicks will, da sitzen.«

Ich rieb mir das Knie und hob Jicks, wie mir geheißen war, auf den Thron. Gleichzeitig stolzirte Herr Finch feierlich auf seine Tochter zu, legte ihr die Hände aufs Haupt, erhob die Augen zur Zimmerdecke und sagte mit tiefen Baßtönen, welche von väterlicher Aufregung ertönten:

»Der Herr segne Dich, mein Kind!«

Bei dem Klang der prächtigen Stimme ihres Gatten wurde Frau Finch wieder ganz sie selbst. Im bescheiden demüthigem Tone sagte sie:

»Wie geht es Dir, Lucilla?« setzte sich in eine Ecke und gab ihrem Baby die Brust.«

Herr Finch setzte zu einer seiner Reden an.

»Man hat meinen Rath in den Wind geschlagen, Lucilla, meinen väterlichen Einfluß nicht zur Geltung kommen lassen. Mein moralisches Gewicht ist so zu sagen bei Seite gesetzt worden. Ich beklage mich nicht. Verstehe mich wohl, ich constatire nur traurige Thatsachen.« (Bei diesen Worten wurde er mich gewahr.) »Guten Morgen, Madame Pratolungo, ich hoffe, Sie befinden sich wohl. Es hat eine Meinungsverschiedenheit zwischen uns bestanden, Lucilla. Ich komme, mein Kind und bringe Heilung auf meinen Flügeln (Heilung sollte hier so viel heißen wie Versöhnung), ich komme und bringe meine Frau mit — rede nicht Frau! — um meine innigsten Wünsche, meine heißen Gebete an diesem wichtigsten Tage im Leben meiner Tochter darzubringen. Nicht gemeine Neugierde hat meine Schritts hierher gelenkt. Keine Andeutung einer bösen Ahnung, welche ich vielleicht noch dieser rein weltlichen Einmischung in die Wege einer unerforschlichen Vorsehung gegenüber hege, soll über meine Lippen kommen. Ich bin hier als Vater und Friedensstifter. Meine Frau begleitet mich, — rede nicht, Frau! — als Stiefmutter und Friedensstifterin. Sie verstehen meine Distinktion, Madame Pratolungo. Danke, gute Frau. Sollte ich wohl von der Kanzel herab Verzeihung empfangenen. Unrechtspredigen und diese Verzeihung nicht in meinem Hause üben? Kann ich bei dieser wichtigen Gelegenheit mit meinem Kinde uneinig sein? Lucilla! Ich verzeihe Dir, aus vollem Herzen und mit thränenvollen Blicken verzeihe ich Dir. Sie haben, glaube ich, nie Kinder gehabt, Madame Pratolungo? Dann können Sie diesen Moment unmöglich begreifen, gute Frau, das ist aber nicht Ihre Schuld. Laß Dir den Friedenskuß geben, mein Kind, den Friedenskuß.« Feierlich beugte er sein borstiges Haupt über Lucilla hin und drückte ihr den Friedensfuß auf die Stirn. Er seufzte majestätisch und reichte dann in überströmender Großherzigkeit mir die Hand. »Hier haben Sie meine Hand, Madame Pratolungo. Beruhigen Sie sich, weinen Sie nicht, Gott segne Sie.« Frau Finch war von dem edlen Benehmen ihres Gatten so tief erregt, daß sie von einem Weinkrampf befallen wurde. Das Baby, das sich durch die Aufregung seiner Mutter in seinen Funktionen gestört fand, hub ein sympathetisches Geschrei an, Herr Finch ging mitten durch das Zimmer auf sie zu, um ihnen auf seinen Flügeln häusliche Heilung zu bringen. »Das macht Dir Ehre, Frau; aber unter den obwaltenden Umständen mußt Du der Sache ein Ende machen. Denk’ an das Kind und nimm Dich zusammen. Geheimnißvoller Mechanismus der Natur!« rief der Pfarrer, indem er mit seiner Stentorstimme das immer lauter werdende Geschrei des Baby übertönte. »Wunderbare und schöne Sympathie, welche die mütterliche Nahrung gewissermaßen zum leitenden Medium der Störung zwischen Mutter und Kind macht! Welche Probleme stehen uns gegenüber, welche Kräfte umgeben uns selbst in diesem irdischen Leben! Natur! Maternität! Unerforschliche Vorsehung.«

»Unerforschliche Vorsehung« war für den Pfarrer eine verhängnißvolle Phrase, sie zog für ihn immer eine Unterbrechung nach sich; so war es auch dieses Mal. Noch ehe Herr Finch seiner Ueberfülle pathetischer Apostrophen durch weitere Exclamationen Luft machen konnte, öffnete sich die Thür und Oscar trat ein.

Lucilla erkannte sofort seine Tritte. »Ist noch nichts von Herrn Grosse zu sehen, Oscar?« fragte sie.

»Ja, man hat seinen Wagen schon auf der Landstraße gesehen; er wird gleich hier sein.«

Während er diese Antwort gab und an meinem Stuhl vorüberging, um sich an Lucilla’s andere Seite zu setzen, warf mir Oscar einen flehenden Blick zu, einen Blick, der deutlich sagte: »Verlassen Sie mich nicht im entscheidenden Augenblick.«

Ich nickte mit dem Kopfe, um ihm zu zeigen, daß ich ihn verstehe und mit ihm sympathisire. Er setzte sich auf den leeren Stuhl und ergriff schweigend ihre Hand. Es wäre schwer zu sagen gewesen, wem von Beiden in jenem verhängnißvollen Augenblick seine Situation peinlicher erschien. Nie, glaube ich, hatte mich etwas so unwiderstehlich gerührt, wie der Anblick dieser beiden armen jungen Leute, wie sie Hand in Hand dasaßen und des Ereignisses harrten, welches das Glück oder Unglück ihres künftigen Lebens ausmachen sollte.

»Haben Sie etwas von Ihrem Bruder gesehen?« fragte ich, indem ich die Frage in einem so sorglosen Tone hinwarf, wie es die angstvolle Sorge, die mich verzehrte, nur irgend gestatten wollte.

»Nugent ist Herrn Grosse entgegen gegangen.«

Während er mir diese Antwort gab, sah mich Oscar wieder mit einem flehenden Blicke an. Es war ihm so klar wie mir, daß Nugent dem deutschen Arzte entgegen gegangen sei, nur um sich desselben als des unschuldigen Mittels zu bedienem in das Haus zu gelangen.

Noch ehe ich wieder reden konnte, ersah Herr Finch, der sich von der Unterbrechung, die ihn zum Schweigen gebracht, wieder erholt hatte, seine Gelegenheit, um zu einer zweiten Rede anzusetzen. Frau Finch hatte aufgehört, zu schluchzen, das Baby hatte aufgehört, zu schreien und wir Uebrigen waren nervös aufgeregt und schwiegen. Mit einem Wort, die häusliche Gemeinde des Herrn Finch war ganz in seiner Hand. Er stolzirte auf Oscar zu. Wollte er ihm eine Vorlesung des Hamlet proportiren? Nein! Er wollte nur den Segen des Himmels auf Oscar’s Haupt herabrufen.

»Ist diesem wichtigen Moment«, fing der Pfarrer in seinem Kanzelton an, »jetzt, wo wir uns Alle in demselben Raume vereinigt finden, wo wir Alle von derselben Hoffnung beseelt sind, erscheint wohl mein Wunsch als Seelsorger und Vater (Gott segne Dich, Oscar; ich betrachte Dich als einen Sohn), einige fromme und tröstende Worte zu sagen, gerechtfertigt —«

Die Thür, die freundliche, bewundernswürdig gescheidte Thür öffnete sich wieder und that damit der drohenden Predigt noch eben zur rechten Zeit Einhalt. Die gedrungene Gestalt und die Eulenaugen des Herrn Grosse erschienen auf der Schwelle. Und hinter ihm stand, gerade wie ich es erwartet hatte, Herr Nugent Dubourg.

Lucilla wurde todtenbleich; sie hatte die Thür sich öffnen gehört, ihr Instinkt sagte ihr, daß der Arzt gekommen sei. Oscar stand auf, schlich sich hinter meinen Stuhl und flüsterte mir zu: »Ums Himmelswillen, schaffen Sie Nugent zum Zimmer hinaus!« · .

Ich beruhigte ihn durch einen ausdrucksvollen Händedruck, setzte dann Jicks auf den Boden und stand auf, um unsern guten Grosse zu bewillkommnen.

Aber das Kind sollte mir noch zuvor kommen. Sie und unser berühmter Augenarzt waren sich bei Gelegenheit eines der vielen ärztlichen Besuche, welche Grosse Lucilla machte, im Garten begegnet und hatten einen ungemeinen Geschmack an einander gefunden. Seitdem erschien Herr Grosse nie im Pfarrhause, ohne irgend eine ungesunde Nascherei in der Tasche für Jicks mitzubringen, die ihm zum Dank dafür so viele Küsse gab, wie er nur irgend verlangte und ihm ferner die Auszeichnung zu Theil werden ließ, daß sie ihm allein von allen Menschen gestattete, die disreputirliche Puppe zu liebkosen. Jetzt packte Jicks die Puppe mit beiden Händen, bediente sich derselben, mit dem Kopfe voraus, als eineArt von Sturmbock, stürzte an mir vorüber und stieß sie Herrn Grosse mit aller Macht in seine schiefen Beine, indem sie auf diese Weise ein Monopol auf seine erste Begrüßung geltend machte. Während er sie in die Höhe hob und in seiner eigenthümlichen Redeweise mit ihr sprach und während der Pfarrer und seine Frau die nothwendigen Entschuldigungen für das Benehmen des Kindes machten, kam Nugent hinter Herrn Grösse hervor auf mich zu und zog mich geheimnißvoll in eine Ecke des Zimmers. Während ich ihm folgte, beobachtete ich den Ausdruck stummer Qual auf dem Gesichte Oscar’s, der noch immer neben Lucilla’s Stuhl stand. Das that mir gut; es gab mir die ganze Spannkraft des Entschlusses und gab mir das Gefühl, Nugent Dubourg mehr als gewachsen zu sein.

»Ich fürchte, ich habe mich sehr sonderbar benommen, als wir uns vorhin im Dorfe trafen?« sagte er, »ich befinde mich gar nicht wohl. Ich leide seit Kurzem an einem sonderbaren, fieberhaft aufgeregten Zustand. Ich glaube, die Luft hier bekommt mir nicht.« Hier hielt er, die Augen fest auf die meinigen geheftet, inne, als ob er meine Gedanken in meinem Gesichte lesen wolle.

»Das überrascht mich nicht«, antwortete ich, »ich habe bemerkt, daß Sie seit einiger Zeit nicht wohl aussehen.«

Mein Ton und mein Wesen, die übrigens vollkommen ruhig waren, gaben meiner höflichen Theilnahme Ausdruck, aber weiter auch nichts. Ich sah, daß meine Art und Weise ihn betroffen machte. Er versuchte es noch ein Mal.

»Ich hoffe nichts Unartiges gethan oder gesagt zu haben«, fuhr er fort.

»O, nein!«

»Ich war aufgeregt, schmerzlich aufgeregt. Es ist gütig von Ihnen, das nicht zugeben zu wollen, aber ich muß mich bei Ihnen entschuldigen.«

»Nein, wirklich nicht! Gewiß waren Sie aufgeregt, wie Sie sagen, aber das sind wir Alle heute. Der Moment ist eine genügende Entschuldigung für Sie, Herr Nugent.«

Sein fortwährend forschend auf mich gerichtetes Auge vermochte auch nicht die leiseste Spur eines Argwohns in dem Ausdruck meines Gesichts zu entdecken. Sein verblüffter Ausdruck bot mir die sicherste Gewähr dafür, daß es mir gelungen war, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Er machte eine letzte Anstrengung, mich dahin zu bringen, ihm zu zeigen, daß ich sein Geheimniß argwöhne, er versuchte es, mich zu reizen und mir dadurch eine unvorsichtige Aeußerung zu entlocken.

»Sie sind ohne Zweifel erstaunt, mich hier zu sehen«, nahm er wieder auf. »Ich habe nicht vergessen, daß ich versprochen hatte, in Browndown zu bleiben, anstatt hierher zu kommen. Zürnen Sie mir deßhalb nicht; ich bin durch die Ausführung ärztlicher Verordnungen verhindert, mein Versprechen zu halten.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte ich in unverändertem, kühlen Tone.

»Ich will mich näher erklären«, erwiderte er. »Erinnern Sie sich, daß wir schon vor längerer Zeit Grosse in Betreff Oscar’s Stellung Lucilla gegenüber in’s Vertrauen zogen?«

»Wie sollte ich das wohl vergessen haben«, antwortete ich, »da ja ich es war, die Ihren Bruder zuerst darauf aufmerksam machte, daß Herr Grosse durch ein unschuldiges Verrathen der Wahrheit entsetzliches Unheil anrichten könne.«

»Erinnern Sie sich, wie Grosse diese Warnung aufnahm?« .

»Sehr gut. Er versprach, sich in Acht zu nehmen» verbat es sich aber gleichzeitig sehr verdrießlich, noch irgend weiter mit unseren Familienangelegenheiten behelligt zu werden. Er erklärte, er sei entschlossen, sich seine berufsmäßige Freiheit des Handelns zu bewahren, ohne sich durch häusliche Schwierigkeiten behindert zu sehen, die uns und nicht ihn angingen. Habe ich den Sachverhalt nicht treu in meinem Gedächiniß verwahrt?«

»Ich bewundere die Treue Ihres Gedächtnisses. Sie werden mich jetzt verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß Grosse seine berufsmäßige Freiheit des Handelns bei dieser Gelegenheit geltend macht. Er hat mir das auf dem Wege hierher erklärt. Er hält es für sehr wichtig, daß Lucilla in dem Augenblick, wo sie zuerst wieder sieht, durch nichts erschreckt werde. Oscar’s Gesicht würde sie sicher erschrecken, wenn es das erste wäre, dessen sie ansichtig würde. Grosse hat mich daher gebeten als der einzige andere junge Mann im Zimmer zugegen zu sein und mich so zu postieren, das; ich die erste Person sein muß, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zieht. Fragen Sie ihn selbst, Madame Pratolungo, wenn Sie mir nicht glauben wollen.«

»Natürlich glaube ich Ihnen«» antwortete ich, »es wäre unnütz, die Vorschriften des Arztes in einem solchen Augenblick, wie es der gegenwärtige ist, anfechten zu wollen.«

Mit diesen Worten verließ ich ihn mit den Anzeichen eines Verdrusses, wie ihn eine nichts argwöhnende Frau in meiner Stellung geäußert haben möchte. Da ich wußte, was hier zu Grunde lag, begriff ich nur zu gut, was vorgefallen war. Nugent hatte die sich ihm darbietende Gelegenheit benutzt, den Arzt als ein unschuldiges Mittel zu gebrauchen, um Lucilla im ersten Augenblick irre zu leiten und möglicherweise später diesen Irrthums zu schlechten Zwecken auszubeuten. Ich zitterte innerlich vor Wuth und Furcht, als ich ihm den Rücken kehrte. Unsere einzige Chance war noch, etwas ausfindig zu machen, wie er im kritischen Moment sicher aus dem Zimmer zu bringen wäre! aber ich mochte mein Gehirn zermartern wie ich wollte, dieses Etwas ausfindig zu machen, wollte mir nicht gelingen.

Als ich mich wieder zu den Uebrigen wandte, nahmen Oscar und Lucilla noch immer dieselbe Stellung ein. Herr Finch hatte sich selbst Herrn Grosse vorgestellt. Und Jicks hatte sich auf einem Schemel in einer Ecke des Zimmers niedergelassen und war damit beschäftigt, ein aus deutschem Pfefferkuchen geknetetes Pferd mit gefräßigem Behagen zu verzehren.

»O, meine verehrte Madame Pratolungo!« sagte Herr Grosse, der eben zu Lucilla gehen wollte, mir aber zuvor noch die Hand reichte. »Haben Sie wieder eine so köstliche Mayonnaise bereitet? Ich komme absichtlich mit einem leeren Magen und einem wahren Wolfshunger. Sehen Sie doch einmal den kleinen Gnom da an!« fuhr er fort, indem er aus Jicks deutete. »Ach, Gott! Ich glaube wahrhaftig, ich bin in das Kind verliebt. Ich habe nach allen Orten in Deutschland geschickt, um Pfefferkuchen für Jicks kommen zu lassen. Nun, Jicks, ist Dir etwas davon in die Zähne gekommen? Ist es hübsch süß und klebrig?« Dabei glotzte er das Kind mit wohlwollenden Blicken durch seine Brillengläser an und drückte meine Hand ganz sentimental an seine Brust. »Versprechen Sie mir ein Kind wie diese anbetungswürdige Jicks«, sagte er feierlich, »und ich will die erste beste Frau, die Sie mir verschaffen, heirathen — hübsch oder häßlich, mir ganz gleich. So, da haben Sie ein offenes Bekenntniß meiner Seele. Genug davon. Nun zu meiner allerliebsten Lucilla! Kommen Sie, lassen Sie uns anfangen.«

Er ging quer durchis Zimmer auf Lucilla zu und hieß Nugent ihm folgen.

»Oeffnen Sie die Läden«, sagte er, »Licht, Licht, Licht, eine Fülle von Licht für mein liebliches Kind Lucilla!«

Nugent öffnete die Laden, indem er mit den Fenstern am unteren Ende des Zimmers anfing und zuletzt an das Fenster gelangte, an welchem Lucilla saß. Auf diese Weise brauchte er nur zu bleiben, wo er jetzt war und sich dicht neben Lucilla zu stellen, um der erste Gegenstand zu sein, den sie sehen würde. Und das that er, das that der Schurke. Ich legte mich fest entschlossen in’s Mittel, that einige Schritte vorwärts, blieb aber plötzlich wieder stehen, weil ich nicht wußte, was ich thun oder sagen sollte. Ich hätte mein stumpfes Hirn gegen die Wand schleudern mögen. Da stand Nugent gerade vor ihr, während Grosse sie dem Fenster zukehrte, und auch nicht die leiseste Spur eines Einfalls wollte mir kommen!

Grosse streckte seine haarigen Hände aus und ergriff den Knoten der Binde, um ihn zu lösen.

Lucilla zitterte am ganzen Leibe.

Grosse zauderte, sah sie an, ließ die Binde wieder los und ergriff ihre Hand und legte seinen Finger lauf ihren Puls.

Im nächsten Augenblicke hatte ich eine meiner Eingebungen. Endlich stieg der so heiß ersehnte Einfall in meinem Gehirn auf.

»So«, rief Herr Grosse, indem er ihre Hand mit einem plötzlichen Ausdruck von Verdruß und Erstaunen wieder losließ. »Was hat meine allerliebste Lucilla erschreckt? Warum zittert sie so und ist so kalt? Warum ist ihr Puls so schwach? Sage mir doch einer von Ihnen, was das zu bedeuten hat?«

Das kam mir gelegen! Sofort erprobte ich nun meinen Einfall.

»Es hat zu bedeuten«, sagte ich »daß zu viele Menschen im Zimmer sind. Wir machen sie verwirrt und erschrecken sie. Führen Sie sie in ihr Schlafzimmer, Herr Grosse und lassen Sie uns Uebrige einen nach dem andern erst hinein, wenn Sie es recht finden.«

Unser vortrefflicher Grosse ergriff sofort diese Idee und eignete sie sich an.

»Sie sind ein Phönix unter den Frauen«, sagte er, indem er mir väterlich auf die Schulter klopfte. »Ich weiß wahrhaftig nicht, was perfekter ist, Ihr Rath oder Ihre Mayonnaise.« Er wandte sich zu Lucilla und nöthigte sie sanft, von ihrem Stuhle aufzustehen.

»Kommen Sie mit mir in Ihr Schlafzimmer, meine arme kleine Lucilla. Da will ich sehen, ob ich Ihnen noch heute die Binde abnehmen kann.«

Lucilla faltete die Hände mit einer flehenden Geberde.

»Sie haben mir versprochen, o, Herr Grosse, Sie haben mir versprochen, daß ich noch heute sehen solle.«

»Antworten Sie mir«, erwiderte Grosse, »habe ich gewußt, als ich das Ihnen versprach, daß ich Sie Alle todtenbleich und weiß wie ein frisch gewaschenes Hemd finden würde?«

»Ich habe meine Fassung völlig wiedergewonnen«, bat sie in schwachem Ton, »Sie können mir die Binde getrost abnehmen.«

»Was? verstehen Sie es besser als ich? Wer von uns Beiden ist der Augenarzt, Sie oder ich? Nichts mehr davon. Kommen Sie, geben Sie mir Ihren Arm und gehen Sie mit mir auf Ihr Zimmer!«

Er gab ihr den Arm und ging mit ihr nach der Thür. Hier wechselte plötzlich wieder ihre wankelmüthige Laune. Sie erholte sich augenblicklich. Ein dunkles Roth überflog ihr Gesicht; sie hatte wieder Muth gefaßt. Zu meinem Entsetzen riß sie sich von Grosse los und weigerte sich, das Zimmer zu verlassen.

»Nein«, sagte sie, »ich bin wieder ganz ruhig; ich dringe auf die Erfüllung Ihres Versprechens, Untersuchen Sie mich hier. Ich muß und will Oscar zuerst in diesem Zimmer sehen.«

Ich fürchtete mich, fürchtete mich buchstäblich Oscar anzusehen. Ich warf statt dessen einen Blick auf Nugent. Seine Lippen umspielte ein teuflisches Lächeln, das mich fast toll machte.

»Sie müssen und wollen?« wiederholte Herr Grosse. »Merken Sie wohl auf.« Er zog seine Uhr aus der Tasche und sagte: »Ich gebe Ihnen eine kleine Minute zum Ueberlegen. Wenn Sie sich nach Verlauf dieser Minute nicht entschließen, mit mir zu kommen, so werden Sie finden, daß ich es bin, der muß und will. Also!«

»Warum weigern Sie sich, auf Ihr Zimmer zu gehen, Lucilla?« fragte ich.

»Weil ich will, daß Ihr mich Alle sehen sollt«, antwortete sie. »Wie viele seid Ihr Eurer ’hier?«

»Wir sind unser fünf. Herr und Frau Finch, Herr Nugent Dubourg, Oscar und ich.«

»Ich wollte, Ihr währet Eurer fünfhundert, anstatt fünf.« brach sie aus.

»Und warum das?«

»Weil Ihr sehen würdet, wie ich in dem Augenblick, wo mir die Binde von den Augen genommen wird, Oscar unter Euch Allen herausfinden würde«, sagte sie, indem sie noch immer an ihrer verhängnißvollen Ueberzeugung festhielt, daß das Bild, welches sie von Oscar in der Seele trage, das richtige sei! Abermals drängte es mich, Oscar anzusehen und abermals konnte ich mich nicht dazu entschließen.

Grosse steckte seine Uhr wieder in die Tasche.

»Die Minute ist vorüber«, sagte er. »Wollen Sie mit mir in’s andere Zimmer gehen? Wollen Sie begreifen, daß ich Sie vor allen diesen Leuten nicht ordentlich untersuchen kann? Reden Sie, meine liebe Lucilla, ja oder nein?«

»Nein!« rief sie eigensinnig und stampfte dabei kindisch mit dem Fuß auf den Boden. »Ich bestehe darauf, Allen zu zeigen, daß ich in dem Augenblick, wo ich meine Augen öffnen darf, Oscar unter Allen herausfinden kann.»

Grosse knöpfte sich den Rock zu, rückte feine Eulenbrillengläser auf seiner Nase zurecht, setzte seinen Hut auf und sagte:»Guten Morgen. Ich habe nichts mehr mit Ihnen oder Ihren Augen zu thun. Curiren Sie sich selbst, Sie kleiner Feuerkopf; ich gehe wieder nach London.«

Mit diesen Worten öffnete er die Thür. Selbst Lucilla mußte wohl nachgeben wenn der sie behandelnde Arzt ihr drohte, seine Hand von ihr abzuziehen.

»Sie Ungeheuer!« rief sie entrüstet und nahm wieder seinen Arm.

Grosse grinste vergnügt: »Wenn Sie erst sehen können, mein liebes Kind, so werden Sie finden, daß ich kein solches Ungeheuer bin, wie ich erscheine.« Mit diesen Worten ging er mit ihr hinaus.

Wir Anderen mußten im Wohnzimmer die Entscheidung Grosse’s abwarten, ob er Lucilla heute ihre Sehkraft versuchen lassen wolle oder nicht.

Während die Uebrigen, jeder in seiner Weise, aber alle in ängstlich gespannter Erwartung dasaßen fühlte ich mich so ruhig wie das Baby, das jetzt in den Armen seiner Mutter ruhte. Dank Grosse’s Entschluß, meinem Wink gemäß zu handeln, hatte ich Nugent unmöglich gemacht, selbst wenn die Binde noch heute abgenommen wurde, die ersten Blicke Lucilla’s, wenn sie die Augen öffnete, auf sich zu ziehen. Gewiß konnte dem Verlobten bei einer so besonderen Gelegenheit, wie dieser, in meiner oder des Vaters Begleitung der Zutritt zu dem Schlafzimmer seiner Braut gestattet werden. Aber die einfachste Schicklichkeit mußte Nugent das Betreten dieses Zimmers verwehren. Im Wohnzimmer mußte er, wenn er darauf beharrte, im Pfarrhause zu bleiben, abwarten, bis es ihr erlaubt werden würde, ihn dort wieder aufzusuchen.

Ich nahm mir fest vor, jetzt, wo es in meiner Hand lag, dafür zu sorgen, daß Lucilla das Wohnzimmer nicht wieder betreten solle, bis sie wissen würde, welcher von den Zwillingsbrüdern Nugent und welcher Oscar sei. Das Gefühl des Triumphes durchdrang mich mit einer entzückenden inneren Wärme. Ich widerstand der starken Versuchung, mich davon zu überzeugen, wie Nugent seine Niederlage ertrage. Wenn ich dieser Versuchung nachgegeben hätte, würde er es mir angesehen haben, wie stolz ich darauf war, ihn überlistet zu haben. Ich setzte mich wie ein Bild der Unschuld auf den nächsten Stuhl und faltete die Hände in den Schooß, gefaßt und würdevoll, wie es einer Dame aus der Gesellschaft wohl ansteht, ein wahrhaft erbaulicher Anblick.

Träge Verfloß eine Minute nach der anderen, und noch immer harrten wir schweigend des entscheidenden Augenblicks. Selbst die sonst so beredte Zunge des Herrn Finch vermochte bei dieser feierlichen Gelegenheit kein Wort hervorzubringen. Er saß neben seiner Frau in einer Ecke des Zimmers. Oscar und ich saßen in der entgegengesetzten Ecke und Nugent stand allein an einem der Fenster, in den Gedanken vertieft und darüber brütend, wie er sich an mir rächen könne.

Oscar war der Erste, der das allgemeine Schweigen brach. Nachdem er seine Blicke über das ganze Zimmer hatte schweifen lassen, wandte er sich an mich.

»Madame Pratolungo!« rief er, »wo ist Jicks geblieben?«

Ich hatte dae Kind ganz vergessen. Jetzt sah ich mich auch im Zimmer um und überzeugte mich, daß es wirklich verschwunden sei. Frau Finch, die unser Staunen bemerkte, klärte uns schüchtern auf, das mütterliche Auge hatte das Kind hinter Herrn Grosse heraus aus dem Zimmer schlüpfen sehen. Was es gewollt war klar genug. So lange noch eine Wahrscheinlichkeit vorhanden war, noch mehr Pfefferkuchen in Grosse’s Tasche zu finden, wich das wandernde Zigeunerkind der Familie, schlau und behende wie eine Katze, nicht von ihrem Freunde. Wer sie kannte, konnte keinen Augenblick zweifeln, daß sie unter dem Schutz von Grosses großen Rockschößen mit in Lucilla’s Schlafzimmer geschlüpft sei.

Eben hatten wir uns auf diese Weise die Abwesenheit von Jicks erklärt, als wir die Thür des Schlafzimmers sich öffnen und Grosse nach Zillah rufen hörten.

Gleich darauf erschien die Amme mit einer Bestellung aus dem anstoßenden Zimmer.

Wir bestürmten sie Alle mit derselben Frage. Wofür hatte Herr Grosse sich entschieden? Die Antwort lautete, daß er sich dahin entschieden habe, Lucilla für heute noch den Gebrauch ihrer Augen zu verbieten.

»Ist Lucilla sehr unglücklich darüber?« fragte Oscar ängstlich.

»Das wüßte ich kaum zu sagen, Herr Dubourg Sie ist ganz anders wie sonst. Ich habe Fräulein Lucilla noch nie so ruhig gesehen, wenn etwas nicht nach ihrem Wunsch ging.« Als der Doktor mich hineinrief, sagte sie: »Geh’ ins andere Zimmer, Zillah, und sage ihnen Bescheid.« Das war Alles, was sie sagte, Herr Dubourg.«

»Hat sie nicht den Wunsch ausgesprochen mich zu sehen?« fragte ich.

»Nein, Madame, ich nahm mir die Freiheit, sie zu fragen, ob sie Sie zu sehen wünsche, aber Fräulein Lucilla schüttelte den Kopf, setzte sich aust Sopha und forderte den Doctor auf, sich zu ihr zu setzen. »Laß uns allein.« Das waren die letzten Worte, die sie zu mir sagte, ehe ich hier herein kam.«

Die nächste Frage that der ehrwürdige Finch. Der Papst von Dimchurch war wieder ganz er selbst; der Mann der schönen Reden ersah wieder seine Gelegenheit, eine Rede zu halten.

»Gute Frau«, sagte der Pfarrer mit gewichtiger Höflichkeit; »kommen Sie hierher. Ich möchte eine Frage an Sie richten. Hat Fräulein Finch in Ihrer Gegenwart eine Bemerkung gemacht, aus welcher sich ihr Wunsch schließen ließe, sich des Trostes meines Zuspruchs in meiner doppelten Eigenschaft als Geistlicher und Vater zu erfreuen?«

»Ich habe Fräulein Lucilla nichts derart sagen gehört? Herr.«

Herr Finch machte eine verächtliche Handbewegung mit der er zu verstehen gab, daß Zillah entlassen sei. Daraus trat Nugent vor und hielt die Amme, als sie im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, zurück.

»Haben Sie uns weiter nichts mitzutheilen?« fragte er.

»Nein, Herr.«

»Warum kommen sie nicht wieder hier herein? Was thun sie da im Nebenzimmer?«

»Sie thaten, was ich eben schon berichtet habe, Herr, sie saßen nebeneinander auf dem Sopha. Fräulein Lucilla sprach und der Doctor hörte ihr zu. Und Jicks«, fügte Zillah hinzu, indem sie sich vertraulich an mich wandte, »stand hinter ihnen und plünderte die Taschen des Doctors.«

Hier schaltete Oscar in einer keineswegs graciösen Weise ein Wort ein.

»Was sagte Fräulein Lucilla zu dem Arzt?«

»Das weiß ich nicht, Herr.«

»Das wissen Sie nicht?«

»Das konnte ich nicht hören, Herr, Fräulein Lucilla sprach leise mit ihm.«

Damit war alles erschöpft Zillah, die sich in ihren häuslichen Beschäftigungen gestört gesehen hatte und ein lebhaftes Verlangen empfand, nach ihrer Küche zurückzukehren, ergriff die erste Gelegenheit, das Zimmer zn verlassen und machte sich so rasch aus dem Staube, daß sie vergaß, die Thür hinter sich zu schließen. Wir sahen Alle einander an. Welchen Schluß sollten wir aus der sonderbaren Antwort der Amme ziehen? Es war offenbar unmöglich für Oscar, bei all’ seiner Reizbarkeit, eifersüchtig auf einen Mann von Grosse’s Alter und persönlicher Erscheinung zu sein. Und doch hatte das fortdauernde Zusammensein der Patientin mit ihrem Arzt, nachdem die Entscheidung einmal getroffen und die Sehr rohe definitiv auf einen späteren Tag verschoben worden war, gelinde gesagt, etwas Auffallendes.

Nugent kehrte betroffen, argwöhnisch und in Gedanken vertieft auf seinen Platz am Fenster zurück. Der Ehrwürdige Finch stand, übervoll von ungehaltenen Reden, majestätisch von seinem Sitz an der Seite seiner Frau auf. Hatte er ein Mittel gefunden, uns mit seiner Beredtsamkeit zu strafen? Es war leider nur zu offenbar, daß das der Fall war. Er sah uns an mit seinem ominösen Lächeln und redete uns dann mit seiner gewaltigen Stimme an.

»Meine Freunde in Christo« — Nugent, dem mit Beredtsamkeit nicht beizukommen war, beharrte dabei, zum Fenster hinaus zu sehen. Oscar, der in diesem Augenblicke für alles, was nicht Lucilla direct betraf, unempfänglich war, nahm mich ohne alle Umstände und so, daß uns der Pfarrer nicht hören konnte, bei Seite. Herr Finch nahm wieder auf:

»Meine Freunde in Christo, ich wünschte einige passende Worte an Euch zu richten!«

»Gehen Sie zu Lucilla!« flüsterte mir Oscar zu, indem er mit flehender Geberde meine beiden Hände ergriff, »Sie brauchen keine Umstände mit ihr zu machen. Bitte, thun Sie es, sehen Sie zu, was im Nebenzimmer vorgeht.«

Herr Finch nahm wieder auf. »Die Umstände legen es einem Manne in meiner Stellung nahe, einige aufrichtend berathende Worte über christliche Pflichten, ich meine über die Pflicht, zu sagen, bei Enttäuschungen heiter zu bleiben.«

Osrar beharrte. »Sie thun mir den größten Gefallen, bitte finden Sie heraus, was Lucilla da drinnen mit dem fremden Manne zurückhält!«

Herr Finch räusperte sich und erhob die rechte Hand zu einer Geberde der Ueberredung wie um damit seinen nächsten Satz einzuleiten.

Ich antwortete Oscar flüsternd: »Ich möchte nicht gerne zudringlich erscheinen, Lucilla hat der Amme gesagt, man solle sie allein lassen.«

Gerade als ich das sagte, fühlte ich einen mir von rückwärts her versetzten Stoß. Ich drehte mich um und sah, wie Jicks mit ihrer Puppe zu einem zweiten, Angriff auf mich ausholte. Sie hielt inne, als sie sah, daß es ihr gelungen war, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ergriff mein Kleid Und versuchte es, mich an demselben zum Zimmer hinaus zu ziehen.

»Bringen Sie das Kind fort«, rief der Pfarrer, durch diese neue Unterbrechung erbittert.

Das Kind zog immer fester und fester an meinem Kleide. Offenbar hatte sich außerhalb des Zimmers etwas zugetragen, was einen starken Eindruck auf sie gemacht hatte. Ihr kleines rundes Gesicht war hochroth, ihre hellen blauen Augen waren weit geöffnet und blickten starr.

»Jicks muß Dich sprechen«, sagte sie und zog ungeduldig und heftiger an meinem Kleide.

Ich bückte mich zu dem Zweck, den Befehlen des Herrn Finch zu gehorchen und dem Einfall des Kindes zu willfahren, indem ich Jicks zum Zimmer hinaustrug, als ich durch einen Ton aus dem Schlafzimmer, den lauten und peremptortschen Ton von Lucilla’s Stimme erschreckt wurde. »Lassen Sie mich los!« rief sie. »Ich hin ein erwachsenes Mädchen, ich will mich nicht behandeln lassen wie ein Kind.«

Dann entstand eine Pause und dann ließ sich das Rauschen ihres Kleides vom Corridor her vernehmen.

In demselben Augenblick erschallte Grosse’s offenbar zornige und aufgeregte Stimme. »Nein, kommen Sie wieder! kommen Sie wieder!«

Das Rauschen des Kleides kam näher.

Nugent und Herr Finch gingen zusammen an die Thür. Oscar ergriff mich am Arm. Er und ich standen an der linken, Nugent und der Pfarrer an der rechten Seite der Thür. Das Alles ging rasch wie der Blitz vor sich. Mein Herz stockte. Ich konnte nicht reden, mich nicht rühren.

Die halbgeschlossene Thür des Wohnzimmers wurde weit aufgestoßen, heftig, gewaltsam, wie wenn ein Mann, nicht ein Mädchen vor derselben gestanden hätte. Der Pfarrer trat zurück, Nugent blieb stehen. Mit ausgestreckten Armen, ungestüm tappend, wie ich sie während der Zeit ihrer Blindheit nie hatte tappen sehen, stolperte Lucilla ins Zimmer hinein. Gnädiger Gott! Die Binde war fort. In ihren Augen war Leben, neues Leben. Es verklärte ihr Gesicht, es ließ ihre Schönheit wie in einem wunderbaren unirdischen Lichte erstrahlen — sie sah! sie sah!

Einen Augenblick blieb sie an der Schwelle stehen, hin und her schwankend, von dem gewaltigen Eindringen des Tageslichts schwindlich gemacht.

Sie sah zuerst den Pfarrer und dann Frau Finch an, die sich neben ihren Gatten gestellt hatte. Sie its stand fassungslos da und hielt sich die Hände vor die Augen. Sie veränderte ihre Stellung ein wenig, gab ihrem Kopfe eine Wendung als wollte sie mich ansehen, wandte denselben dann wieder scharf nach der rechten Seite der Thür und hob die Arme mit einem Ausbruch von hysterischem Lachen empor. Das Lachen endete mit einem Triumphgeschrei, von dem das Haus erdröhnte. Sie stürzte sich auf Nugent Dubourg, war aber noch so unfähig, sich eine richtige Vorstellung von Entfernungen zu machen, daß sie heftig gegen ihn anprallte und ihn beinahe zu Boden geworfen hätte. »Ich kenne ihn, ich kenne ihn!« rief sie und schlang ihre Arme um seinen Hals. »O, Oscar, Oscar!« Bei diesem Ausruf seines Namens drückte sie Nugent mit aller Kraft an sich und ließ in ihrem freudigen Entzücken ihren Kopf an seine Brust sinken.

Es war geschehen, bevor noch irgend einer von uns wieder zur Besinnung gekommen war. Die ganze schreckliche Scene war das Werk eines Augenblicks. Grosse, der ihr mit leeren Händen nachgelaufen war, kehrte plötzlich wieder um, um gleich darauf mit der im Schlafzimmer vergessenen Binde zurückzukehren. Grosse war der Erste, der seine Fassung wieder gewann. Schweigend trat er auf sie zu. Aber sie hörte ihn kommen, bevor er sie überraschen und ihr die Binde um die Augen legen konnte. In demselben Augenblick, wo ich mich starr vor Schrecken nach Oscar umsah, hob auch Lucilla ihren Kopf wieder von Nugent’s Brust, um sich nach Grosse umzusehen. Ihre Augen folgten der Richtung der meinigen. Sie begegneten Oscar’s Gesicht. Sie sah die schwarzblaue Hautfarbe desselben in voller Beleuchtung.

Ein Schrei des Entsetzens entrang sich ihrer Brust, schaudernd fuhr sie zurück und ergriff Nugent’s Arm. Grosse gab ihm mit entschiedener Miene ein Zeichen, ihr Gesicht vom Fenster abzukehren und hielt die Binde hoch. Aber mit fieberhafter Heftigkeit packte sie dieselbe.

»Legen Sie mir sie wieder um«, sagte sie, indem sie sich mit der einen Hand an Nugent festhielt und die andere erhob, um mit einer Geberde des Widerwillens auf Oscar zu deuten.

»Legen Sie mir die Binde wieder um, ich habe bereits zu viel gesehen.«

Grosse band ihr die Binde fest um die Augen und wartete ein wenig. Sie hielt noch immer Nugent’s Arm fest. Meine Entrüstung bei diesem Anblick trieb mich, etwas zu thun. Ich trat vor, um sie zu trennen. Grosse hielt mich zurück.

»Nein!« sagte er, »machen Sie die Sache nicht zisch schlimmer.«

Ich sah Oscar zum zweiten Male an; da stand er noch, wie er von dem Augenblick an gestanden hatte, wo sie an der Thür erschienen war, mit wild vor sich hinstarrenden Augen und am ganzen Leibe erstarrt. Ich ging auf ihn zu und berührte ihn. Er schien es nicht zu fühlen. Ich redete ihn an, aber eben so gut hätte man eine steinerne Figur anreden können.

Einen Augenblick lenkte Grosses Stimme meine Aufmerksamkeit ab.

,»Kommen Sie«, sagte er, indem er es versuchte, Lucilla in ihr Schlafzimmer zurückzubringen.«

Sie schüttelte den Kopf, und klammerte sich nur, noch fester an Nugent’s Arm.

.»Bringe Du mich bis an die Thür«, flüsterte sie..

Ich versuchte es abermals, der Sache Einhalt zu thun, aber wieder hielt mich Grosse zurück.

»Heute nicht«, sagte er tm strengen Ton, gab dann Nugent ein Zeichen und stellte sich an die andere Seite neben Lucilla. Schweigend führten die beiden Männer sie zum Zimmer hinaus. Die Thür schloß sich hinter ihnen. Es war vorbei.



Viertes Kapitel - Die Brüder treffen sich

Ein schwacher Schrei drang vom anderen Ende des Zimmers an mein Ohr und erinnerte mich, daß der Pfarrer und seine Frau noch immer zugegen waren. Die schwache Frau Finch lag in ihren Stuhl zurückgelehnt und weinte und winselte über das Vorgefallene. Ihr Gatte hatte das Baby auf dem Arm und war bemüht, sie zu beruhigen. Ich hätte vielleicht meine Hilfe anbieten sollen, aber ich gestehe, daß der Zustand der armen Frau Finch nur einen sehr vorübergehenden Eindruck auf mich machte. Mein ganzes Herz war von Theilnahme für Oscar erfüllt. Ich vergaß den Pfarrer und seine Frau und kehrte zu Oscar zurück.

Dieses Mal rührte er sich, er erhob den Kopf, als er meiner ansichtig wurde. Nie werde ich das stumme Elend dieses Gesichts, das dumpfe schreckliche Starken dieser thränenlosen Augen vergessen.

Ich ergriff seine Hand, ich empfand für den armen entstellten, verstoßenen Menschen, wie nur seine Mutter für ihn hätte empfinden können, ich gab ihm einen mütterlichen Kuß. »Trösten Sie sich, Oscar«, sagte ich, »verlassen Sie sich auf mich, daß ich die Sache wieder in Ordnung bringe. «

Zitternd athmete er schwer auf und dankte mir mit einem Händedruck. Ich versuchte es wieder, mit ihm zu reden, er hielt mich zurück, indem er plötzlich wieder nach der Thür blickte.

»Ist Nugent draußen?« fragte er flüsternd.

Ich ging auf den Corridor hinaus, er war leer. Ich sah in Lucilla‘s Zimmer nach. Da waren nur Lucilla, Herr Grosse und Zillah. Ich winkte Zillah, herauszukommen, um mit ihr zu reden. Ich fragte nach Nugent. Er hatte Lucilla plötzlich an der Thür ihres Schlafzimmers verlassen und war fortgegangen. Ich fragte, ob sie wisse, wohin er gegangen sei. Zillah hatte ihn auf dem Felde am Ende des Gartens rasch nach der Richtung der Hügel zugehen sehen.

»Nugent ist fort!« sagte ich zu Oscar, als ich wieder zu ihm zurückgekehrt.

»Machen Sie das Maß Ihrer Güte für mich voll«, antwortete er. »Lassen Sie mich auch fortgehen.«

Mich durchfuhr die Besorgniß, daß er seinem Bruder möchte folgen wollen.

»Warten Sie ein wenig«, sagte ich, »und beruhigen Sie sich erst.«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich muß allein sein«, sagte er und fragte dann, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte: »Ist Nugent nach Browndown gegangen?«

»Nein, Nugent ist nach den Hügeln zugegangen.«

Er ergriff wieder meine Hand. »Haben Sie Erbarmen mit mir«, sagte er, »lassen Sie mich gehen.«

»Nach Hause? Nach Browndown?«

»Ja.«

»Lassen Sie mich mit Ihnen gehen.

Er schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie mir; Sie sollen noch heute wieder von mir hören.«

Er vergoß keine Thräne; da war nichts von jener leidenschaftlichen Aufwallung, die ich so gut an ihm kannte. In seinem Gesicht, in seiner Stimme, in seinem Wesen drückte sich nichts aus, als eine jammervoll anzusehende Fassung, die Fassung der Verzweiflung.

»Lassen Sie mich Sie wenigstens bis an die Pforte begleiten«, sagte ich.

»Gott segne Sie und vergelte Ihnen Ihre Güte«, antwortete er, »aber — lassen Sie mich geben.«

So trennte er sich von mir mit sanften Worten und doch mit einer Festigkeit, die mich im höchsten Grade überraschte — und ging fort. Ich vermochte mich nicht länger aufrecht zu erhalten, zitternd sank ich in einen Stuhl. Ich konnte mich der Ueberzeugung nicht erwehren, daß noch schlimmere Verwickelungen, noch furchtbareres Unheil in Aussicht stehe. Ich war ganz außer mir und brach leidenschaftlich in wilde französische Verwünschungen aus. Frau Finch brachte mich wieder zur Besinnung. Sie erschien mir wie in einem Traum, wie sie ihre Thränen trocknete und mich besorgt ansah. Der Pfarrer näherte sich mir mit einer Fülle von Betheuerungen der Sympathie und Beistandsanerbietungen. Ich bedurfte keines Trostes, ich hatte eine harte Schule des Lebens durchgemacht, hatte mich zeitig zum Ertragen von Ungemach geschickt gemacht.

»Ich danke Ihnen, Herr Finch«, sagte ich, »sorgen Sie nur für Frau Finch.«

Auf dem Corridor war die Luft frischer. Ich ging wieder hinaus, um mich draußen zu er holen.

Ein kleiner, auf einer der Fensterbänke liegender Gegenstand zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Es war Jicks, die da kauerte.

Das Kind mußte instinktmäßig gefühlt haben, daß etwas nicht in Ordnung sei. Sie blickte hinter ihrer Puppe hervor verstohlen nach mir auf; sie war offenbar gegen meine Absichten in Betreff ihrer sehr mißtrauisch.

»Willst Du Jicks schlagen?« fragte das sonderbare kleine Geschöpf, indem es sich noch weiter in die Ecke drängte. Ich setzte mich zu ihr und hatte bald ihr Vertrauen wieder gewonnen. Sie fing wieder an so rasch wie gewöhnlich zu schwatzen. Ich hörte ihr zu, wie ich keiner erwachsenen Person in jenem Augenblicke zugehört haben würde. Die Gesellschaft des Kindes gewährte mir in einer mir selbst unerklärlichem geheimnisvollen Weise Trost. Allmählig erfuhr ich, was sie von mir gewollt hatte, als sie es versuchte, mich zum Zimmer hinauszuziehen. Sie hatte Alles, was im Schlafzimmer vorgegangen war, mit angesehen, und war zu mir gelaufen, um mich zu holen und mir den wunderbaren Anblick Lucilla‘s mit ihren von der Binde befreiten Augen zu zeigen. Wenn ich klug genug gewesen wäre, auf Jicks zu hören, so hätte ich vielleicht der Katastrophe vorbeugen können. Ich wäre vielleicht Lucilla auf dem Corridor begegnet und hätte sie in ihr Zimmer zurückbringen und sie dort einschließen können.

Jetzt war es zu spät, das Geschehene zu beklagen.

»Jick‘s ist gut gewesen«, sagte ich, indem ich meiner kleinen Freundin mit schwerem Herzen den Kopf streichelte. Das Kind horchte auf, versank einen Augenblick in tiefes Nachdenken, stieg dann von der Fensterbank hinunter und verlangte ihren Lohn für ihr gutes Betragen mit der ihr eigenen merkwürdigen Kürze des Ausdrucks. »Jicks will ausgehen.«

Mit diesen Worten nahm sie ihre Puppe über die Schulter und ging von dannen. Ich sah nach, wie sie die Treppe wie ein von der Leiter herabsteigender Arbeiter hinunterstieg, um in den Garten zu gehen und dann vom Garten aus, bei der ersten Gelegenheit, wo die Pforte geöffnet wurde, nach den Hügeln zu lief. Wenn ich mit so leichtem Herzen wie Jicks hätte ausgehen können, ich würde mich ihr angeschlossen haben.

Kaum hatte ich das Kind aus dem Gesicht verloren, als sich die Thür von Lucilla’s Zimmer öffnete und Herr Grosse auf dem Corridor erschien.

»So«, murmelte er mit einer Geberde, die seine Befriedigung auszudrücken schien.

»Sie suche ich gerade; eine schöne Suppe haben wir uns eingebrockt! Ich muß bei der kleinen Person bleiben, ich werde sie am Ende noch wahrhaft hassen! — Können Sie mir für diese Nacht ein Bett geben?«

Ich versicherte ihm, daß wir ihn bequem für die Nacht wurden beherbergen können. Auf meine Frage nach Lucill‘is Zustand, gestand er mir, daß er ihretwegen in ernster Sorge sei. Die verschiedenen heftigen Aufregungen, die sie eben durchgemacht, könnten so erschütternd auf ihr Nervensystem wirken, daß eine Gefährdung ihres wiedergewonnenen Augenlichts davon zu befürchten sei. Absolute Ruhe sei jetzt unerläßlich, darauf beruhe die einzige Hoffnung für sie. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden müsse er ihre Augen genau beobachten. Nach Verlauf dieser Zeit, aber nicht eher, werde er vielleicht zu sagen im Stande sein, ob das geschehene Unheil für ihre Augen verhängnißvoll sein werde oder nicht. Ich fragte ihn, wie sie es angefangen habe, sich die Binde abzunehmen und auf so verhängnißvolle Weise in das Wohnzimmer einzudringen.

Er zuckte die Achseln. »Jedes Weib ist gelegentlich unwiderstehlich«, sagte er cynisch, »und dann werden wir, die Männer, zu Narren. So war es eben bei Lucilla.«

Aus seinen weiteren Mittheilungen ergab sich, daß meine arme Lucilla, nachdem die Amme das Zimmer verlassen hatte, Grosse so dringend gebeten hatte, ihr zu gestatten, ihre Augen zu versuchen, und so fassungslos unglücklich war, als er ihr diese Erlaubniß beharrlich verweigerte, daß er endlich nachgegeben hatte, nicht so sehr ihren Bitten, als der Ueberzeugung, daß es weniger gefährlich sei, ihr zu willfahren, als sich ihr zu widersetzen. Anfänglich hatte er es jedoch zur Bedingung gemacht, daß sie im Schlafzimmer bleiben und sich einstweilen damit begnügen solle, ihre Augen an den im Zimmer befindlichen Gegenständen zu versuchen. Sie hatte Alles versprochen und er war thöricht genug gewesen, ihrem Versprechen zu trauen. Kaum aber hatte er ihr die Binde abgenommen, als sie, taub gegen alles vernünftige Zureden, sich seinen Händen wie eine Wahnsinnige entrang, und noch ehe er sie zurückhalten konnte, in das Wohnzimmer stürzte. Das Weitere ergab sich dann ganz von selbst. So schwach sich auch ihre Sehkraft noch bei dem ersten Versuch zeigte, so war dieselbe doch bereits hinlänglich wieder hergestellt, um sie in den Stand zu setzen Gegenstände, wenn auch unklar, voneinander zu unterscheiden. Von den drei Personen die sich ihr bei ihrem Eintritt in die Thür an der rechten Seite derselben präsentirten war die eine Frau Finch, eine Frau, die zweite Herr Finch, ein kleiner ältlicher Mann mit grauem Haar, die dritte endlich Nugent, in seiner Größe, welche sie erkennen konnte, und mit seiner Hautfarbe, welche sie gleichfalls erkennen konnte, der einzige von den Dreien der möglicherweise Oscar sein konnte. Die darauf folgende Katastrophe war nach Lage der Sache unvermeidlich. Jetzt wo das Unheil einmal angerichtet war, blieb nichts übrig, als einem weiteren Umsichgreifen dieses Unheils womöglich vorzubeugen. Nicht die leiseste Andeutung ihres schrecklichen Mißverständnissen erklärte Grosse, dürfe ihr zu Ohren kommen. Wenn einer von uns ihr ein Wort davon sage, bevor er uns dazu autorisirt habe, so würde er seine Verantwortung für die Folgen ablehnen, und die Behandlung des Falles auf der Stelle aufgeben.

In dieser Weise erklärte mir Herr Grosse das Vorgefallene und gab s eine Ordres für unser künftiges Benehmen.

Niemand darf zu ihr hinein«, schloß er, »als Sie und die gute Zillah Sie müssen abwechselnd bei ihr Wache halten. Sie wird jetzt ein wenig schlafen; ich gehe in den Garten meine Pfeife zu rauchen. Glauben Sie mir, Madame Pratolungo, als Gott die Weiber erschaffen hatte, that es ihm nachher Leid für die armen Männer, und er ließ den Tabak wachsen, um sie zu trösten.«

Nachdem er mir noch diese eigenthümliche Ansicht von dem Plan der Schöpfung mitgetheilt hatte, schüttelte Herr Grosse seinen Krauskopf und wackelte in den Garten.

Leise öffnete ich die Thür des Schlafzimmers und ging hinein, gerade zur rechten Zeit, um dem Pfarrer und seiner Frau, die sich nach dem von ihnen bewohnten Theil des Hauses zurück begaben zu entgehen.

Lucilla lag auf dem Sopha. Mit einer schläfrigen Stimme fragte sie, wer da sei; sie war glücklicherweise eben im Begriff, zu entschlummern. Zillah saß auf einem Stuhl neben ihr. Für den Augenblick war ich nicht nöthig, und zum ersten Mal, seit ich in Dimchurch lebte, war ich froh, wieder zum Zimmer hinaus zu kommen. Ein mir selbst unerklärlicher, sonderbarer Widerspruch in meinem Charakter bewirkte, daß meine Sympathie für Oscar mich gewissermaßen feindselig gegen Lucilla stimmte und mich ihr für den Augenblick entfremdete. Es war nicht ihre Schuld, und doch, ich schäme mich, es zu gestehen war ich fast böse auf sie, daß sie so behaglich ruhen konnte, wenn ich an den armen Menschen dachte, der nun allein in Browndown war, und keinen Menschen hatte, der ihm mit einem freundlichen Worte zusprach.

Als ich wieder auf den Corridor hinaustrat, fragte ich mich, was ich thun solle.

Meine Einsamkeit im Hause war mir unerträglich, meine ängstliche Besorgniß um Oscar bedrückte mich, bis ich es nicht mehr aushalten konnte. Ich setzte meinem Hut auf und ging aus.

Da ich kein Verlangen darnach trug, Herrn Grosse in seinem Genuß des Tabakrauchens zu stören, ging ich so rasch wie möglich durch den Garten und war alsbald wieder im Dorfe. Hand in Hand mit meiner ängstlichen Besorgniß für Oscar ging mein erbostes Verlangen zu erfahren was Nugent thun würde. Die Frage war, ob er jetzt, nachdem er gerade das Unheil angerichtet, welches sein Bruder als möglich vorausgesehen hatte, das Unheil, das abzuwenden Oscar ihn gebeten hatte, Dimchurch verlassen — ob er, sage ich, jetzt abreisen und uns ein- für allemal von seinem Anblick befreien würde. Der bloße Gedanke an die Möglichkeit des Gegentheils, ich meine an die Möglichkeit, daß er bei uns bleiben könnte erfüllte mich mit einer so unaussprechlichen Angst vor dem was daraus entstehen könnte, daß meine Füße mir den Dienst versagten. Ich mußte mich gerade am Ende des Dorfes am Wege niedersetzen und warten, bis mein schwindelnder Kopf sich wieder beruhigt hatte, bevor ich es wagen durfte, weiter zu gehen.

Nach einer Weile hörte ich Fußtritte auf dem Wege herankommen. Mein Herz pochte gewaltig, ich glaubte es sei Nugent.

Im nächsten Augenblick konnte ich die Person erkennen. Es war nur Herr Gootheridge, der Besitzer des Wirthshauses im Dorf, der nach Hause zurückkehrte. Er stand still und zog seinen Hut.

»Sind Sie müde, Madame?« fragte er.

So elend ich mich fühlte, war ich doch so erfüllt von dem einen Gedanken daß ich demselben auch sofort dem Wirth gegenüber in der Frage Ausdruck geben mußte:

»Haben Sie vielleicht etwas von Herrn Nugent Dubourg gesehen?«

»Es sind noch keine fünf Minuten her, daß ich ihn gesehen habe, Madame.«

»Wo das?«

»Auf dem Wege nach Browndown.«

Ich fuhr zusammen, als hatte mich ein Schlag getroffen. Der würdige Herr Gootheridge sah mich verwundert an. Ich sagte ihm Adieu und ging so rasch mich meine Fuße tragen konnten geradenwegs nach Browndown. Hatten sich die Brüder im Hause getroffen? Bei dem bloßen Gedanken Überrieselte mich eiskalt, aber ich ging weiter. Der feste Entschluß, sie zu trennen, ersetzte bei mir den Muth; so sonderbar es klingen mag, ich war gleichzeitig kühn und furchtsam. In einem Augenblick war ich thöricht genug, zu denken: »Sie werden mich umbringen.« Im nächsten Augenblick tröstete ich mich ebenso thöricht damit, daß ich mir sagte: »Bah! sie sind ja Gentlemen, sie werden einer Frau nichts zu Leide thun!«

Der Diener stand müssig vor der Thür, als ich mich dem Hause näherte. Das war schon an und für sich etwas Ungewöhnliches. Er war ein sehr ordentlicher, an fleißige Arbeit gewöhnter Mensch. Sonst sah man ihn nie müssig vor der Thür stehen. Er kam mir einige Schritte entgegen. Ich sah ihm scharf ins Gesicht. Aber nicht das leiseste Anzeichen von Aufregung war in seinem Gesichte wahrzunehmen.

»Ist Herr Oscar zu Hause?« fragte ich.

»Bitte um Vergebung, gnädige Frau, Herr Osscar ist zu Hause, aber Sie können ihn nicht sprechen.

Herr Nugent ist bei ihm.«

Ich stützte meine Hand auf die niedrige Gartenmauer und machte einen verzweifelten Versuch, ruhig auszusehen.

»Herr Oscar wird mich gewiß sprechen wollen«, sagte ich.

»Ich habe die strengste Ordre von Herrn Oscar, gnädige Frau, mich hier vor der Thür aufzuhalten und Allen, die ihn sprechen wollen, ohne Ausnahme zu erklären, er sei beschäftigt.«

Die Hausthür war halb geöffnet. Ich horchte scharf auf, während der Diener mit mir sprach. Wenn sie in einem lauten Wortwechsel begriffen gewesen wären, so hätte ich es bei der tiefen rund umher herrschenden Stille hören müssen. Ich hörte aber Nichts.

Es war sonderbar, unbegreiflich, beruhigte mich aber doch. Da waren sie bei einander, ohne daß es bis jetzt zu etwas Schlimmen geführt hätte.

Ich gab dem Diener meine Karte und ging eine kleine Strecke um die Ecke der Gartenmauer. Sobald der Diener mich nicht mehr sehen konnte, kehrte ich wieder an die Seite des Hauses zurück und wagte mich soweit ich konnte an das Fenster des Wohnzimmers vor. Ich hörte ihre Stimmen, aber nicht was sie sagten. Beide sprachen leise und in vertraulichem Ton.Ich mochte horchen so scharf ich wollte, kein zorniger Laut war zu hören. Ich ging, außer mir vor Erstaunen und, so rasch wechseln bei uns Frauen die Emotionen, vor Neugierde brennend, wieder von dannen.

Nachdem ich eine halbe Stunde zwecklos im Thal umher gewandert war, kehrte ich nach dem Pfarrhause zurück.

Lucilla schlief noch. Ich nahm ZilIah’s Platz ein und schickte sie in die Küche.

Hier war die Wirthin aus dem Gasthof, um uns bei der Bereitung des Mittagessens zu helfen. Aber allein war sie kaum im Stande, die Bereitung der Gerichte zu bewältigen, die wir Herrn Grosse vorsetzen mußten. Es war hohe Zeit, daß ich Zillah ablöste, wenn wir das Gottesgericht der Kritik unseres Grosse über alle Saucen glücklich bestehen wollten.

Es verging noch eine Stunde, bevor Lucilla aufwachte. Ich schickte einen Boten an Grosse ab; er erschien in eine Tabakswolke gehüllt, untersuchte die Augen Lucilla‘s, fühlte ihr den Puls, beorderte Wein und Gelee für sie, stopfte eine ungeheure Pfeife und kehrte verdrießlich zu seiner Gartenpromenade zurück.

Eine Stunde nach der anderen verging Herr Finch erschien, um sich nach LucilIa’s Befinden zu erkundigen und kehrte dann wieder zn seiner Frau zurück, die sich, wie er sagte, in einem Zustand, »hysterischer Unverantwortlichkeit« befinde und eines zweiten warmen Bades dringend bedürfe. Er lehnte es in seiner pathetischsten Weise ab, mit dem deutschen Arzte zu Mittag zu essen.

»Nachdem was ich gelitten, nach dem was ich gesehen habe, sind diese Gelage, ich möchte sagen, diese Veranstaltungen zum Kitzeln des Gaumens, nicht nach meinem Geschmack. Sie meinen es gut, Madame Pratolungo; Sie, gute Seele! Aber ich bin nicht zu festlichen Schmaußereien aufgelegt. Was mir zugesagt, ist ein einfaches Mahl am Lager meiner Frau, wo ich in meiner Eigenschaft als Selenhirt und Gatte einige Worte des Trostes spende, wenn das Kind ruhig ist. So werde ich meinen Tag zubringen. Leben Sie wohl. Ich habe nichts gegen Ihr kleines Diner. Leben Sie wohl, leben Sie wohl!«

Nach einer zweiten Untersuchung von Lucilla’s Augen war die Stunde des Mittagessens gekommen.«

Beim Anblick des gedeckten Tisches fand Grosse seine gute Laune wieder. Wir Beiden aßen allein zu Mittag; Grosse schickte nach eigener Auswahl Verschiedenes von den Gerichten auf Lucilla‘s Zimmer. Bis jetzt, meinte er, habe sie an ihren Augen noch keinen ernsten Schaden genommen, aber er bestand noch immer darauf, daß sie sich völlig ruhig halte und erklärte, für nichts einstehen zu können, bis die Nacht vorüber sei. Auf meiner Stimmung lastete Oscar’s anhaltendes Schweigen immer drückender. Die Stunden banger Ungewißheit, die ich mit Lucilla im dunkeln Zimmer verbracht hatte, erschienen mir leicht im Vergleich mit der angstvollen Sorge, die ich jetzt empfand. Ich sah, wie Grosses Augen mich durch seine Brillengläser hindurch unzufrieden anglotzten. Er hatte alle Ursache, mich so anzusehen, noch nie in meinem Leben war ich so dumm und so langweilig gewesen.

Gegen Ende des Mittagessens kamen endlich Nachrichten von Browndown.

Der Diener ließ mich durch Zillah bitten, einen Augenblick hinauszukommen. Ich entschuldigte mich bei meinem Gast und eilte hinaus.

Bei dem Anblick des Dieners sank mir das Herz. Oscar’s Güte hatte bei diesem Diener eine wahre Anhänglichkeit an seinen Herrn bewirkt. Seine Lippen zitterten und er wechselte die Farbe, als ich ihn ansah.

»Ich bringe Ihnen einen Brief, gnädige Frau.« Mit diesen Worten übergab er mir einen von Oscar‘s Hand an mich adressierten Brief.

»Wie geht es Ihrem Herrn?«

»Es ging ihm nicht zum Besten, gnädige Frau, als ich ihn zuletzt sah.«

»Als sie ihn zuletzt sahen?«

»Ich bringe schlimme Nachrichten, gnädige Frau Browndowu wird geschlossen.«

»Was wollen Sie damit sagen? Wo ist Herr Oscar?«

»Herr Oscar hat Dimchurch verlassen.«



Fünftes Kapitel - Die Brüder vertauschen ihre Rollen

Ich hatte mir eingebildet, ich sei ans jedes Unglück, das uns treffen könne, vorbereitet Die letzten Worte des Dieners überzeugten mich, wie thöricht diese Einbildung gewesen war. Meine trübsten Ahnungen hätten mich doch nie ein solches Unglück befürchten lassen, wie es jetzt eingetreten war. Ich war wie versteinert, dachte an Lucilla und sah den Diener hilflos an. So sehr ich mich auch anstrengen mochte, ich war unfähig, mit ihm zu reden.

Er schien anders zu fühlen. Für die unteren Volksclassen ist das feierliche Behagen charakteristisch, mit welchem sie von ihrem eigenen Unglück zu reden pflegen. Das Bewußtsein, von irgend einer Calamität betroffen zu sein, scheint sie in ihrer eigenen Achtung zu heben. Mit einer traurigen Freude an dem betrübenden Gegenstande unserer Unterhaltung erging sich der Diener in Klagen über den Verlust einer Stellung bei dem besten aller Herren, wie er sie nie wieder finden würde und die traurige Nothwendigkeit in die er jetzt versetzt sei, sich einen andern Dienst zu suchen. Seine Reden wirkten so peinlich auf meine Nerven, daß ich es zuletzt nicht mehr aushalten konnte und wieder mit ihm sprach.

»Ist Herr Oscar allein fortgegangen?« sagte ich.

»Ja, gnädige Frau, ganz allein.«

Mein Interesse für Oscar beherrschte mich zu ausschließlich, als daß ich auch nur die Frage hätte thun sollen, was aus Nugent geworden sei.

»Wann ist Ihr Herr fortgegangen?« fuhr ich fort.

»Vor mehr als zwei Stunden.«

»Warum habe ich das nicht eher erfahren?«

»Herr Oscar hatte mir die ausdrückliche Ordre gegeben, Ihnen nicht eher etwas davon zu sagen.«

So unglücklich ich schon war, fühlte ich mich doch noch muthloser, als ich das hörte. Die dem Diener gegebene Ordre sah ganz darnach aus, als habe Oscar die Absicht gehabt, nicht nur Dimchurch zu verlassen, sondern auch uns über seine späteren Bewegungen völlig im Dunkel zu lassen.

»Ist Herr Oscar nach London gegangen?« fragte ich.

»Er hat Gootheridge‘s Wagen gemiethet, um damit nach Brighton zu fahren. Und er hat mir selbst gesagt, daß er Browndown verlasse, um nie wieder zurückzukehren. Mehr weiß ich nicht.«

Er hatte Browndown verlassen, um nie wieder zu kommen? Um Lucilla’s willen konnte ich das nicht glauben. Der Diener hatte übertrieben oder er hatte mißverstanden, was Oscar ihm gesagt hatte. Da erinnerte ich mich des Briefes, den ich in der Hand hielt. Vielleicht hatte ich den Diener ganz unnöthigerweise über Dinge befragt, welche sein Herr nur mir selbst hatte anvertrauen wollen. Ehe ich aber den Diener wieder fort ließ, befragte ich ihn noch nach Nugent.

»Er ist in Browndown.«

»Um da zu bleiben?«

»Das weiß ich nicht gewiß, gnädige Frau. Ich habe ihn keine Anstalten zur Abreise wachen gesehen und er hat auch nichts gesagt, was aus eine solche Absicht schließen ließe.«

Ich mußte mich sehr zusammennehmen, um nicht vor dem Diener meiner Entrüstung, die mich zu ersticken drohte, Ausdruck zu geben. Das beste Mittel, mich dieser Schwierigkeit zu überheben, war, den Diener fortzuschicken. Ich that das, nachdem ich ihm aus Vorsicht noch ein letztes Wort gesagt hatte.

»Haben Sie irgend Jemanden hier im Pfarrhause etwas von Herrn Oscar‘s Abreise gesagt?« fragte ich.

»Nein, gnädige Frau.« .

»Sagen Sie auch nichts davon, wenn Sie fortgehen. Ich danke Ihnen, daß Sie mir den Brief gebracht haben. Guten Abend.«

Nachdem ich so dafür gesorgt hatte, daß keine Kunde von dem Vorgefallenen Lucilla zu Ohren kommen könne, ging ich wieder zu Herrn Grosse, um mich bei ihm zu entschuldigen und ihn um Erlaubniß zu bitten, mich auf mein Zimmer zurückziehen zu dürfen. Ich fand unsern berühmten Gast eben in zärtlichster Besorgniß für mich damit beschäftigt, das letzte Gericht mit einem Teller zu bedecken, um dasselbe für mich warm zu halten.

»Hier haben wir eine reizende Käse-Omelette«, sagte Grosse. »Zwei Dritttheile davon habe ich aufgegessen, das andere Drittheil wollte ich um alles gern für Sie warm halten. Setzen Sie sich! setzen Sie sich! Hier ist keine Zeit zu verlieren, sonst wird die Omeis lette ganz kalt.«

»Ich bin Ihnen sehr verbunden, Herr Grosse, aber ich habe eben eine sehr traurige Nachricht erhalten.«

»Ach Gott, erzählen Sie sie mir nicht«, platzte der Gourmand mit bestürzter Miene heraus. »Ich bitte Sie, nur keine traurige Nachricht nach einem so vortrefflichen Diner, wie ich es eben eingenommen habe. Stören Sie mich nicht in meiner Verdauung!, Meine gute, liebe Frau, wenn Sie etwas auf mich halten, stören Sie mich nicht in meiner Verdauung.

»Wollen Sie mich entschuldigen, wenn ich Sie ganz ungestört Ihrer Verdauung überlasse und mich auf mein Zimmer zurückziehe?«

Eiligst erhob er sich und öffnete die Thür für mich.

»Ja wohl! Von ganzem Herzen entschuldige ich Sie, meine gute Madame Pratolungo. Gehen Sie gern auf Ihr Zimmer.«

Ich hatte kaum die Schwelle überschritten, als sich auch schon die Thür hinter mir schloß. Ich hörte noch, wie der alte Grobian sich vergnügt die Hände rieb und in sich hinein lachte, weil es ihm so gut gelang, mich und meinen Kummer hinaus zu complimentiren.

In dem Augenblick, wo ich mein Zimmer betrat, fiel es mir ein, daß ich gut thun würde, mich dagegen zu sichern, bei der Lectüre von Oscar‘s Brief überrascht zu werden. In Wahrheit fürchtete ich mich davor, denselben zu lesen. So gern ich mir einreden wollte, daß die Aussage des Dieners falsch gewesen sei, konnte ich mich doch jetzt der dringenden Besorgniß nicht erwehren, daß der Brief seine Aussage in Betreff der Abreise Oscar’s und seines Entschlusses, nicht zurückzukehren, nur bestätigen würde. Ich kehrte wieder um und ging zu Lucilla auf ihr Zimmer.

Ich konnte sie eben erkennen bei dem trüben Schein des Nachtlichts, welches in einer Ecke brannte, um es dem Arzt oder der Wärterin möglich zu machen, zu ihr zu gelangen. Sie war allein und saß auf ihrem Lieblingssitze, einem kleinen Strohstuhl, mit der traurigen weißen Binde um die Augen, aber fleißig strickend und allem Anschein nach ganz zufrieden.

»Fühlen Sie sich nicht einsam, Lucilla?«

Sie wandte sich nach mir um und antwortete mir in ihrem vergnügtesten Ton:

»Durchaus nicht. Ich fühle mich so ganz glücklich.«

»Warum ist Zillah nicht bei Ihnen?«

»Ich habe sie fortgeschickt.«

»Fortgeschickt?«

»Ja! Ich fühlte, daß ich meines Lebens diesen Abend nicht froh werden könnte, wenn ich nicht ganz allein wäre. Ich habe ihn gesehen, liebe Freundin; ich habe ihn gesehen! Wie konnten Sie nur denken, daß ich mich einsam fühlen konnte? Ich fühle mich so unaussprechlich glücklich, daß ich stricken muß, um nur ruhig zu sitzen Wenn Sie noch lange mit mir reden, so springe ich auf und tanze, ganz gewiß, das thue ich! Wo ist Oscar? Der abscheuliche Grosse! Nein, es ist doch zu undankbar, von dem lieben Alten, der mir mein Augenlicht wiedergegeben hat, so zu reden. Aber es ist doch gar zu grausam von ihm, zu sagen, ich sei unnatürlich aufgeregt und Oscar zu verbieten, mich heute Abend zu besuchen. Ist Oscar bei Ihnen im Nebenzimmer? Ist er sehr unglücklich darüber, so von mir getrennt zu sein? Sagen Sie ihm doch, ich dachte an ihn, seit ich ihn gesehen habe, mit so neuen Gedanken!«

»Oscar ist heute Abend nicht hier, liebes Kind.«

»Nein? Dann ist er natürlich in Browndown mit seinem armen unglücklichem entstellten Bruder. Aber jetzt habe ich meinen Abscheu gegen Nugent‘s widerliches Gesicht überwunden. Ich fange an, obgleich ich, wie Sie wissen, ihn von Anfang an nicht leiden konnte — Mitleid mit ihm zu empfinden wegen seiner unglücklichen Hautfarbe. Lassen Sie uns nicht weiter davon reden! Lassen Sie uns überhaupt nicht reden! Ich möchte gern weiter an Oscar denken.«

Sie nahm ihre Strickarbeit wieder zur Hand und versenkte sich in ihre glückliche Gedankenwelt. Mir brach es das Herz, sie zu sehen und zu hören. Ich getrauete mich nicht noch ein Wort weiter zu reden, sondern ging leise zum Zimmer hinaus und trug Zillah auf, sobald Lucilla nach ihr klingeln würde, ihr zu sagen, daß ich, von den Ereignissen des Tages erschöpft, mich zur Ruhe begeben habe.

Endlich war ich allein. Endlich waren alle Manöver, die ich machte, um der traurigen Nothwendigkeit, Oscar‘s Brief zu lesen, zu entgehen, erschöpft; ich Verschloß meine Thür, erbrach den Brief und las was folgt: .

»Liebe gütige Freundin!

Verzeihen Sie mir; ich muß Ihnen eine traurige Ueberraschung bereiten. Dieser Brief soll Ihnen meinen innigsten Dank bringen, und Ihnen ein letztes Lebewohl zurufen.

Halten Sie alle Ihre Nachsicht für mich bereit. Lesen Sie diese Zeilen bis zu Ende; sie werden Ihnen erzählen, was sich zugetragen hat, seit ich das Pfarrhaus verlassen habe.

Von Nugent hatte Niemand etwas gesehen, als ich nach Hause kam. Erst eine Viertelstunde nachher hörte ich an der Thür seine Stimme, wie er nach mir rief und fragte, ob ich nach Hause gekommen sei. Ich antwortete ihm und er kam zu mir in’s Wohnzimmer. Seine ersten Worte waren: »Oscar, ich habe Dich um Verzeihung zu bitten und Dir Lebewohl zu sagen.« Ich vermag den Ton, mit welchem er diese Worte sprach, nicht zu schildern; er würde Ihnen bis in’s innerste Herz gedrungen sein, wie er mir bis in’s innerste Herz drang. Ich vermochte ihm im ersten Augenblick nicht zu antworten. Ich konnte ihm nur meine Hand reichen. Er seufzte schwer und wollte meine Hand nicht fassen.

»Ich habe Dir noch etwas zu sagen«, fing er wieder an, »warte, bis Du das gehört hast, und gieb mir nachher Deine Hand, wenn Du kanns.t« Nicht einmal hinsetzen wollte er sich. Es war mir peinlich, ihn vor mir stehen zn sehen, als wäre er mein Untergebener. Ach, es bedarf meines ganzen Muthes, meiner ganzen Ruhe, um zu wiederholen, was er zu mir sagte. Ich hatte mich mit der Absicht hingesetzt, Ihnen Alles zwischen uns Vorgefallene zu erzählen; aber da kommt mir wieder meine Schwäche in die Quere! Ich kann nicht! Die Thränen kommen mir in die Augen, sobald ich mir die Einzelheiten in’s Gedächtniß zurückrufe. Ich kann Ihnen nur das Resultat mittheilen. Das Bekenntniß meines Bruders laßt sich in drei Worte zusammenfassen. Machen Sie sich auf eine schreckliche, betrübende Enthüllung gefaßt; Nugent liebt sie. Stellen Sie sich meine Empfindungen bei dieser Entdeckung vor, nachdem ich gesehen hatte, wie meine unschuldige Lucilla ihn mit ihren Armen umschlang, nachdem ich mit meinen eigenen Augen gesehen hatte, wie sie sich bei seinem Anblick gefreut, wie sie bei meinem Anblick geschaudert hat! Brauche ich Ihnen zu sagen, was ich dabei litt? Nein.

Nugent reichte mir die Hand, als er geendigt hatte, wie ich ihm vorher die meinige gereicht hatte.

»Die einzige Art, sagte er, »wir ich die Sache gegen Dich und gegen sie wieder gut machen kann, ist, daß ich mich vor keinem von Euch je wieder blicken lasse. Reiche mir die Hand Oscar und laß’ mich ziehen.«

Wenn ich so gewollt hatte, würde die Sache damit geendet haben. Ich wollte es anders und es hat anders geendet. Können Sie rathen wie?«

Ich legte den Brief einen Augenblick bei Seite. Der Inhalt machte mich so unglücklich und versetzte mich in eine so leidenschaftliche Aufregung, daß ich nahe daran war, den Brief, ohne sein Ende zu kennen, zu zerreißen und mit Füßen zu treten. Ich ging im Zimmer auf und ab, ich tauchte mein Schnupftuch in kaltes Wasser und band es mir um den Kopf. Bald hatte ich meine Fassung wiedergewonnen; ich konnte meine Gedanken wieder für einen Augenblick von meiner armen Lucilla abwenden und zu dem Brief zurückkehren. Er lautete weiter so:

»Was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, kann ich ruhig niederschreiben. Sie sollen hören, was ich beschlossen und was ich gethan habe. Ich bat Nugent, mich einen Augenblick zu entschuldigen, ich wolle hinausgehen, um ungestört zu überdenken, was er mir gesagt habe. Er versuchte mich daran zu verhindern; aber ich bestand darauf. Zum ersten Mal in unserm Leben vertauschten wir die Rollen. Ich war der Bestimmende und er folgte mir. Ich ließ ihn allein und ging in’s Thal hinaus.

Die himmlische Ruhe, die beruhigende Einsamkeit halfen mir. Jetzt wurde mir unser Beider Position ganz klar. Ehe ich wieder nach Hause zurückkehrte, war ich entschlossen, es koste was es wolle, selbst das Opfer zu bringen, zu welchem mein Bruder sich bereit, erklärt hatte. Ich hatte mich überzeugt, daß es um Lucilla‘s und meines Bruders willen, mir und nicht ihm obliege, fortzugehen.

Tadeln Sie mich nicht und grämen Sie sich nicht um meinetwegen, lesen Sie weiter. Ich möchte, daß Sie die Sache mit meinen Augen ansähen, daß Sie empfänden, wie ich in diesem Augenblick empfinde.

Wenn ich erwäge, was Nugent mir gestanden hat und was ich mit meinen, eigenen Augen gesehen habe — habe ich da ein Recht, Lucilla zu binden? Ich bin fest überzeugt, daß ich dazu kein Recht habe. Wie kann ich, nachdem ich ihr in dem Augenblick, wo ihre Augen zuerst mich erblickten, nachdem ich ihr Widerwillen und Entsetzen eingeflößt, nachdem ich sie in Nugent‘s Armen ahnungslos glücklich gesehen habe, wie kann ich da noch ein Recht auf sie als die Meinige geltend machen? Unsere Heirath ist unmöglich geworden. Um ihretwillen kann und darf ich sie nicht an ihr Wort für gebunden erachten. Die Vernichtung meines Glücks ist nichts, die Vernichtung ihres Glücks würde ein Verbrechen sein. Ich binde sie ihres Wortes, sie ist frei.

Das betrachte ich als meine Pflicht gegen Lucilla.

Nun zu Nugent. Ich verdanke es lediglich meinem Bruder, daß in jenem Criminalprozesse die Ehre unserer Familie gerettet wurde und daß ich einem schmachvollen Tode aus dem Schaffot entgangen bin. Giebt es eine Grenze für die Verbindlichkeit, die er mir durch die Leistungen eines solchen Dienstes auferlegt hat? Nein, keine. Der Mann, der Lucilla liebt und der Bruder, der mir das Leben gerettet hat, sind eine und dieselbe Person. Ich fühle mich verpflichtet, ihm die Freiheit zu gewähren, und ich gewähre sie ihm, Lucilla durch offene und loyale Mittel, wenn er kann, zu gewinnen. Sobald Herr Grosse sie für stark genug erklärt, eine solche Enthüllung zu ertragen, mag sie den Irrthum, in den sie durch meine Schuld verfallen ist, erfahren, mag sie diese Zeilen lesen, die in der Absicht geschrieben sind, so gut von ihr wie von Ihnen gesehen zu werden, und mag mein Bruder ihr nachher erzählen, was heute Abend in diesem Hause zwischen ihm und mir vorgefallen ist. Sie liebt ihn jetzt in dem Glauben, daß er Oscar sei. Wird sie ihn noch lieben, wenn sie seinen wirklichen Namen erfahren haben wird? Die Antwort auf diese Frage bleibt der Zukunft vorbehalten. Für den Fall, daß die Antwort für Nugent günstig lautet, habe ich bereits Anstalt getroffen, von meinem Einkommen eine Summe festzusetzen, welche meinen Bruder in den Stand setzen wird, sich zu verheirathen. Sein Genius soll sich, ungehemmt durch materielle Sorgen, frei entfalten können. Da ich viel mehr besitze, als ich zur Befriedigung meiner einfachen Bedürfnisse brauche, kann ich meine Ersparnisse für keinen besseren und edleren Zweck als diesen verwenden.

Das betrachte ich als meine Pflicht gegen Nugent.

Jetzt wissen Sie, was ich beschlossen habe.

Was ich gethan habe, läßt sich in zwei Worten sagen. Ich habe Browndown für immer verlassen. Ich bin fortgegangen, unter dem Schlage, der mich getroffen hat, fern von Ihnen allen zu leben oder zu sterben, wie es Gott gefällt.

Vielleicht daß ich nach Jahren, wenn ihre Kinder heranwachsen, Lucilla einmal wiedersehe, und die Hand des geliebten Weibes, die meine Frau hätte werden können, wie eine Schwesterhand drücke. Das geschieht vielleicht, wenn ich leben bleibe. Wenn ich sterbe, wird keiner von Ihnen etwas davon erfahren. Mein Tod soll keinen traurigen Schatten auf ihr Leben werfen. Verzeihen Sie mir und vergessen Sie mich, und bewahren Sie sich, wie ich es thue, die einzige und schönste Hoffnung, die uns Sterblichen bleibt, die Hoffnung auf Jenseits.

Ich lege für den Fall, daß Sie deren bedürfen sollten, die Adresse meines Banquiers in London ein. Ich werde demselben meine Instructionen geben. Wenn Sie mich lieben, wenn Sie Mitleid mit mir haben, so versuchen Sie es nicht, mich in meinem Entschlusse wankend zu machen. Sie würden mich nur traurig machen, aber nie von meinem Entschlusse abbringen. Schreiben Sie mir nicht eher, als bis Nugent Gelegenheit gehabt hat, seine eigene Sache zu verfechten und Lucilla eine Entscheidung über ihre Zukunft getroffen hat.

Noch einmal« ich danke Ihnen für die Güte, mit der Sie meine Schwäche und meine Thorheiten getragen haben. Gott fegne Sie — Leben Sie wohl.

Oscar.«

Ueber die Wirkung, welche dieser Brief beim ersten Lesen auf mich übte, sage ich nichts. Noch jetzt, nach so langer Zeit, kann ich mich nicht entschließen, die Erinnerung an das, was ich an jenem traurigen Abend, als ich allein auf meinem Zimmer saß, litt, wieder anfzufrischen. Ich will mich darauf beschränken, kurz zu erzählen, zu welchem Entschlusse ich gelangte.

Ich beschloß zuerst, mit dem Frühzug am nächsten Morgen nach London zu gehen und Oscar mit Hilfe seines Banquiers aufzusuchen, und sodann Maßregeln zu ergreifen, um den Schurken, der das Opfer des Lebensglücks seines Bruders angenommen hatte, zu verhindern, in meiner Abwesenheit das Pfarrhaus zu betreten.

Mein einziger Trost an jenem Abend war das Bewußtsein, einen festen Entschluß gefaßt zu haben. Dieses Bewußtsein gab mir die Kraft, mich bei Lucilla zu entschuldigen, ohne meinen Kummer zu verrathen, als ich sie wieder sah.

Bevor ich zu Bett ging, hatte ich sie ruhig und glücklich verlassen; ich hatte mit Grosse verabredet, daß er noch den ganzen nächsten Tag über seine reizbare Patientin von allen Besuchern fern halten solle; ich hatte mir als Verbündeten bei meinen Anstalten, um Nugent am Betreten des Hauses zu verhindern, keinen Geringeren gesichert, als den Ehrwürdigen Finch selbst. Ich sprach ihn während des Abends in seinem Studierzimmer und erzählte ihm alles Vorgefallene bis auf den einen Umstand, daß Oscar den unseligen Entschluß gefaßt habe, sein Vermögen mit seinem nichtswürdigen Bruder zu theilen. Ich ließ den Pfarrer absichtlich in dem Glauben, daß Oscar es Lucilla frei gestellt habe, die Werbungen eines Mannes anzunehmen, der sein Vermögen bis auf den letzten Heller durchgebracht habe. Die Rede des Ehrwiirdigen Finch, nachdem ich ihm diese Aussicht eröffnet hatte, war merkwürdig, soll aber, aus Ehrfurcht vor seinem geistlichen Stande, hier nicht näher berichtet werden.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Frühzuge nach London.

Noch an demselben Abend fuhr ich allein wieder nach Dimchurch zurück, ohne den Zweck, der mich nach der Hauptstadt geführt hatte, im Mindesten erreicht zu haben.

Oscar war Morgens gleich nach Eröffnung der Bank dort erschienen, hatte einige hundert Pfund aufgenommen, hatte den Banquiers gesagt, daß er ihnen demnächst eine Adresse aufgeben werde, unter welcher sie ihm schreiben könnten, und war dann ohne Weiteres nach dem Continent abgereist.

Ich brachte den Tag damit zu, Anstalten zu seiner Entdeckung auf den in solchen Fällen gebräuchlichen Wegen zu machen, und kehrte am Abend in einer aus Verzweiflung und Zorn gemischten Stimmung nach Hause zurück. In der ersten Bitterkeit meiner Enttäuschung war ich ganz ebenso entrüstet über Oscar, wie über Nugent. Aus tiefstem Herzen verwünschte ich den Tag, welcher den Einen und den Anderen nach Dimchurch gebracht hatte.

Als wir uns bereits in einiger Entfernung von London befanden und durch die ruhigen Wälder und Wiesen rasch dahin fuhren, fing mein Gemüth an, sich wieder zu beruhigen. Allmählig fing die unerwartete Entfaltung von Festigkeit und Entschlossenheit in Oscars Benehmen, so innig ich auch dieses Benehmen, noch immer beklagte, eine neue Wirkung auf mein Gemüth zu üben an. Ich dachte jetzt mit mißbilligender Bewunderung an meine eigene oberflächliche Beurtheilung der Charaktere der beiden Zwillingsbrüder zurück.

Als ich mir die Sache ungestört im Eisenbahnwagen, in welchem ich ganz allein saß, überlegen konnte, gelangte ich zu einem Schluß, welcher meinem Verfahren bei der Leitung Lucilla‘s durch die Wirren und Gefahren, die ihr noch bevorstanden, zur Richtschnur wurde.

Unsere physische Constitution hat, wie mir scheint, mehr Einfluß auf unsere Handlungsweise, nach welcher selbstverständlich unsere Mitmenschen uns beurtheilen, mehr überhaupt mit unserem ganzen Leben zu thun, als wir gewöhnlich glauben. Ein Mensch mit zarten Nerven sagt und thut Dinge, welche uns oft geringer von ihm denken lassen, als er es verdient. Ein solcher Mensch ist in der unglücklichen Lage, sich beständig von seiner schlechtesten Seite zu zeigen. Menschen mit starken Nerven dagegen erfreuen sich auch regelmäßig einer gesunden Zuversichtlichkeit des Auftretens, welches uns leicht zu der irrthümlichen Auffassung verleitet, daß ihr Wesen wirklich dem entspricht, was es bei oberflächlicher Betrachtung zu sein scheint. Vermöge ihres guten Humors sind sie gute Gesellschafter und machen sich bei den Leuten, mit denen sie in Berührung kommen, beliebt, — während sie doch unter einer äußeren physisch gesunden Hülle vielleicht ein sittlich faules inneres Wesen verbergen. Dieser letztere Typus des physischen Menschen, erschien mir als das Abbild Nugent Dubousrg’s, jener erstere als das Oscar’s. Alles Schwächliche und Kümmerliche in Oscar‘s Natur war früher in seinem Auftreten so vorherrschend zur Geltung gekommen, daß die stärkeren und edleren Seiten desselben dadurch ganz in den Hintergrund gedrängt waren. Im tiefsten Innern dieses krankhaft reizbaren Menschen, welcher sich keiner der kleinen Prüfungen seines Lebens in unserem Dorfe gewachsen gezeigt hatte, war doch etwas verborgen gewesen, was ihm, als der entscheidende Augenblick kam, die Festigkeit verlieh, das schreckliche Unglück, das ihn betroffen hatte, würdig zu tragen. Je mehr meine Reise sich ihrem Ende näherte, desto mehr überzeugte ich mich, daß ich erst jetzt, so bitter er mich auch getäuscht hatte, Oscar’s Charakter nach seinem wahren Werthe schätzen lernte. Von dieser Ueberzeugung durchdrungen, fing ich bereits an, unserer hoffnungslos scheinenden Zukunft mit kühner Zuversicht entgegen zu blicken. Ich gelobte, daß Lucilla, so lange ich Kraft behielte, ihr zu helfen, den Mann nicht verlieren solle, dessen beste Eigenschaften ich verkannt hatte, bis er sich entschlossen hatte, ihr für immer den Rücken zu kehren.

Als ich im Pfarrhause eintraf, sagte man mir, daß Herr Finch mich zu sprechen wünsche. Mein lebhaftes Verlangen, Lucilla zu sehen, ließ mich keinen Aufschub ertragen. Ich ließ dem Pfarrer sagen, daß ich in wenigen Minuten bei ihm sein würde und eilte nach Lucilla’s Zimmer hinauf.

»Ist Ihnen der Tag sehr lang geworden, liebes Kind?« fragte ich, nachdem wir uns herzlich begrüßt hatten. »Es war ein köstlicher Tag«, antwortete sie vergnügt. »Grosse hat mich spazieren geführt, ehe er nach London zurückkehrte. Können Sie rathen, wohin wir gegangen sind?«

Eine böse Ahnung durchfuhr mich; ich trat einige Schritte zurück. Ich betrachtete ihr liebliches, glückliches Gesicht, ohne alle Bewunderung, ja noch schlimmer, mit dem größten Mißtrauen.

»Wohin sind Sie denn gegangen?« fragte ich.

»Natürlich nach Browndown. «

Ein Ausruf entfuhr mir: »Der infame Grosse«, murmelte ich auf französisch für mich hin. Ich konnte nicht anders, ich wäre daran gestorben, wenn ich die Worte hätte zurückdrängen müssen, so außer mir war ich.

Lucilla lachte. »O, o, es war meine Schuld, ich bestand darauf, Oscar zu sprechen. Sobald mir mein Wille geschah, benahm ich mich vortrefflich. Ich verlangte keinen Augenblick daß mir die Binde abgenommen werde, ich war zufrieden, wenn ich nur mit ihm sprechen durfte. Der liebe alte Grosse, der nicht halb so hart gegen mich ist, wie Sie und mein Vater, blieb während des ganzen Gespräches bei uns. Es hat mir so gut gethan. Brummen Sie nur nicht, rneine liebe, kleine Madame Pratolungo! Mein Arzt hat meine Unvorsichtigkeit sanctionirt. Ich brauche Sie nicht zu bitten, morgen mit mir nach Browndown zu gehen; Oscar kommt her; meinen Besuch zu erwidern.«.

Diese letzten Worte waren für mich entscheidend. Ich hatte einen ermüdenden Tag gehabt; aber er follte für mich noch nicht zu Ende sein. Ich dachte bei mir: »Ich will mit Herrn Nugent in’s Reine kommen, bevor ich mich diesen Abend zur Ruhe lege. «

.

»Können Sie mich für eine kurze Zeit entbehren?« fragte ich; »ich muß hinüber, Ihr Vater wünscht mich zu sprechen.«

Lucilla fuhr zusammen. »Was will er von Ihnen?« fragte sie eifrig.

»Er will mich wegen geschäftlicher Angelegenheiten in London sprechen« — und damit verließ ich sie, bevor ihre Neugierde mich durch weitere Fragen bei meinem augenblicklichen Gemüthszustande rasend machte.

Ich fand den Pfarrer bereit, mich mit seinem gewöhnlichen Strom der Beredtsamkeit zu überschütten. Aber fünfzig Ehrwürdige Finche hätten bei der Stimmung, in der ich mich in jenem Augenblick befand, meine Aufmerksamkeit nicht fesseln können. Zum Erstaunen des Ehrwürdigen Herrn ließ ich ihn nicht gleich zu Worte kommen, sondern fing selbst an.

»Ich komme eben von Lucilla, Herr Finch, ich weiß, was vorgefallen ist.«

»Warten Sie einen Augenblick, Madame Pratolungo. Eines ist gleich von vornherein von der größten Wichtigkeit. Ist es Ihnen völlig klar, daß, ich in keinem Sinne des Wortes zu tadeln bin? «

»Völlig«, unterbrach ich ihn. »Natürlich würden sie nicht nach Browndown gegangen sein, wenn Sie darein gewilligt hätten, Nugent Dubourg in’s Haus zu lassen.«

»Halt!« rief Herr Finch, indem er seine rechte Hand erhob. »Beste Frau, Sie sind in einem Zustand hysterischer Ueberstürzung. Sie sollen mich hören! Ich habe mehr gethan, als nur meine Einwilligung verweigern. Als der Mann, Grosse — ich bestehe darauf, daß Sie sich beruhigen — als der Grosse zu mir kam, und mit mir über die Sache sprach, that ich mehr, ich sage unendlich viel mehr, als meine Einwilligung verweigern. Sie kennen die Kraft meiner Sprache. Beunruhigen Sie sich nicht. Ich sagte: »Herr, als Geistlicher und Vater bin ich fest entschlossen. «

»Ich verstehe Sie, Herr Finch. Was Sie auch zu Herrn Grosse gesagt haben mögen, es war ganz nutzlos. Er ließ Ihre persönliche Ansicht der Sache völlig unberücksichtigt.«

»Madame Pratolungo —!«

»Er fand Lucilla durch ihre Trennung von Oscar bedenklich aufgeregt und machte seine, wie er es nennt, berufsmäßige Freiheit des Handelns geltend«

»Madame Pratolungo!«

»Sie beharrten dabei, Nugent Dubourg Ihr Haus zu verschließen. Er beharrte ebenso fest auf seinem Willen und brachte Lucilla nach Browndown.«

Herr Finch stand auf und suchte mir mit dem ganzen Gewicht seiner ungeheuren Stimme zu imponiren.

»Still!« schrie er, indem er mit der flachen Hand auf den neben ihm stehenden Tisch schlug.

Ich ließ mich nicht einschüchtern; ich schrie auch meinerseits und schlug mit meiner flachen Hand auf den Tisch.

»Erlauben Sie mir eine Frage, Herr Finch, ehe ich fortgehe«, sagte ich. »Seit Ihre Tochter nach Browndown gegangen ist, sind bereits viele Stunden verflossen. Haben Sie Herrn Nugent Dubourg gesehen?«

Der Papst von Dimchurch zog plötzlich mitten im Schleudern seiner häuslichen Bullen andere Saiten auf.

»Verzeihen Sie mir«, sagte er in seinem ausgesucht höflichsten Ton. »Dieser Punkt bedarf einer eingehenden Erklärung. «

Ich lehnte es ab, diese eingehende Erklärung abzuwarten. »Sie haben ihn nicht gesehen?« fragte ich.

»Ich habe ihn nicht gesehen«, wiederholte Herr Finch. »Meine Stellung Nugent Dubourg gegenüber ist sehr merkwürdig, Madame Pratolungo. Als Vater möchte ich ihm gern den Hals umdrehen. Als Geistlicher halte ich es für meine Pflicht, meinem Unwillen Einhalt zu thun und ihm zu schreiben. Können Sie sich meine Verantwortlichkeit vergegenwärtigen? Können Sie die Unterscheidung, die ich mache, verstehen?«

Ich verstand, daß er sich fürchtete. Statt aller Antwort verneigte ich mich leicht mit dem Kopfe gegen ihn, ich hasse feige Menschen, und ging schweigend nach der Thür.

Herr Finch erwiderte meine Verneigung mit einem Blick, in welchem sich fassungslose Bewunderung aussprach. »Wollen Sie mich verlassen?« fragte er in freundlich schmeichelndem Ton.

»Ich will nach Browndown.«

Wenn ich gesagt hätte, ich gehe an einen Ort, dessen der Pfarrer in den nachdrücklichsten Stellen seiner Predigten zu gedenken oft Gelegenheit hatte, sein Gesicht hätte kaum mehr Erstaunen und Unruhe verrathen können, als bei meiner Antwort. erhob seine gewaltige Rechte, er öffnete seine beredten Lippen; aber noch bevor der nahende Strom der Beredtsamkeit sich über mich ergießen konnte, war ich zum Zimmer hinaus auf dem Wege nach Browndown.



Sechstes Kapitel - Giebt es keine Entschuldigung für ihn?

Oscar‘s Diener, der nach seiner Kündigung noch einen Monat lang das Haus zu hüten hatte, öffnete mir die Hausthür. Obgleich es eine für die primitiven Dimchurcher Verhältnisse späte Stunde war, schien der Mann doch bei meinem Anblick durchaus nicht überrascht zu sein.

»Ist Herr Nugent Dubourg zu Hause?«

»Ja, Madame«, antwortete er und fügte dann mit leiserer Stimme hinzu, »ich glaube, Herr Nugent hat darauf gerechnet, Sie heute Abend zu sehen.«

Gleichviel ob absichtlich oder nicht, hatte der Diener mir einen guten Dienst geleistet, er hatte mich dahin gebracht, auf meiner Hut zu sein. Nugent Dubourg kannte meinen Charakter besser, als ich den seinigen gekannt hatte. Er hatte vorausgesehen, was erfolgen werde, wenn ich bei meiner Rückkehr nach dem Pfarrhause von Lucilla’s Besuch hörte, und er hatte sich ohne Zweifel demgemäß vorbereitet. Ich bekenne, daß ich mich einer gewissen nervösen Aufregung nicht erwehren konnte, als ich dem Diener in das Wohnzimmer folgte. In dem Augenblick jedoch, da er die Thür öffnete, verließ mich diese ängstliche Befangenheit ebenso plötzlich wie sie gekommen war. Ich fühlte mich wieder ganz als die Wittwe Pratolungo’s, als ich das Zimmer betrat.

Eine Leselampe mit dunklem Schirm war das einzige auf dem Tisch befindliche Licht. Neben dieser Lampe saß mit einem Buch in der Hand und einer Cigarre im Munde, behaglich ausgestreckt in einem Lehnstuhl, Nugent Dubourg. Bei meinem Eintritt legte er das Buch auf den Tisch und stand auf, mich zu empfangen. Jetzt, wo ich wußte, mit was für einem Menschen ich zu thun hatte, war ich entschlossen, mir auch die geringfügigsten Umstände nicht entgehen zu lassen. Es konnte mir vielleicht zum Verständniß seines Wesens förderlich sein, wenn ich wußte, womit er sich, während er mich erwartete, beschäftigt hatte.

Ich sah mir das Buch an, es waren Rousseauts »Confessions«. Er trat mir mit einem freundlichen Lächeln entgegen und reichte mir die Hand, als ob nichts vorgefallen wäre, was unsere gewöhnlichen Beziehungen zu einander hätte stören können. Ich trat einen Schritt zurück und sah ihn an.

»Wollen Sie mir nicht die Hand geben?« fragte er.

»Ich will Ihnen gleich darauf antworten« sagte ich, »wo ist Ihr Bruder?«

»Das weiß ich nicht«

»Sobald Sie es wissen und Ihren Bruder in dieses Haus zurückgeführt haben werden, Herr Nugent Dubourg, will ich Ihnen die Hand geben, nicht eher.«

Er verneigte sich mit einem satyrischen Achselzucken und fragte mich, ob er mir einen Stuhl anbieten dürfe. Ich nahm mir selbst einen Stuhl und stellte denselben so hin, daß ich ihm gegenüber sitzen mußte, sobald er seinen Sitz wieder einnahm. Im Begriff, sich niederzusetzen, blieb er stehen und sah nach dem offenen Fenster.

»Soll ich meine Cigarre wegwerfen? « fragte er.

»Meinetwegen nicht, mir macht das Rauchen nichts« .

»Ich danke Ihnen.« Er setzte sich wieder und zwar so, daß der von der Lampe geworfene Schatten auch auf sein Gesicht fiel. Nachdem er einige Züge geraucht hatte, sprach er wieder, ohne mich anzusehen. »Darf ich fragen, was mir die Ehre Ihres Besuches verschafft?«

»Zweierlei. Erstens die Absicht, Sie zu bestimmen, Dimchurch morgen früh zu verlassen. Zweitens der Entschluß, Ihren Bruder wieder mit seiner Verlobten, zu vereinigen.«

Er sah erstaunt zu mir auf. Die Reizbarkeit meines Temperaments, wie er sie kannte, machte, daß er nicht auf die vollkommene Ruhe in Ton und Wesen gefaßt war, mit welcher ich seine Frage beantwortet hatte. Dann heftete er seinen Blick auf seine Cigarre, stieß die Asche ab und dachte einen Augenblick nach, bevor er wieder sprach.

»Ich komme gleich auf die Frage meiner Abreise von Dimchurch«, sagte er. »Haben Sie einen Brief von Oscar erhalten?«

»Ja.«

»Haben Sie ihn gelesen?«

»Ja.«

»Dann wissen Sie, daß wir uns verständigt haben?«

»Ich weiß, daß Ihr Bruder sich für Sie geopfert hat und daß Sie sich dieses Opfer in niedriger Weise zu Nutze gemacht haben.«.

Er fuhr zusammen und sah wieder erstaunt zu mir auf. Ich sah, daß etwas in meiner Ausdrucksweise oder in meinem Ton ihn empfindlich getroffen hatte.

»Sie haben ein Privilegium als Dame.«, sagte er, »aber mißbrauchen Sie dasselbe nicht. Was Oscar gethan hat, hat er aus eigenem Antriebe gethan.«

»Was Oscar gethan hat«, erwiderte ich« »ist bejammernswerth thöricht und höchst verkehrt; aber bei aller Verkehrtheit liegt doch in dem Motiv, das ihn dabei geleitet hat, etwas Großmüthiges, etwas Edles. Was dagegen Ihr Benehmen bei dieser Gelegenheit betrifft, so kann ich keine anderen als niedrige und feige Motive für Ihre Handlungsweise erkennen.«

Er sprang auf und warf seine Cigarre in das leere Kamim.

»Madame Pratolungo» sagte er, »ich habe nicht die Ehre, irgend etwas von Ihrer Familie zu wissen. Ich kann eine Frau für eine mir von derselben angethane Insulte nicht zur Rechenschaft ziehen. Haben Sie vielleicht in oder außerhalb Englands einen männlichen Verwandten?«

»Ich habe zufällig etwas, was bei dieser Gelegenheit dieselben Dienste leisten wird, erwiderte ich. »Ich habe eine herzliche Verachtung für Drohungen aller Art und eine nicht zu erschütternde Entschlossenheit, zu sagen, was ich denke«

Er ging nach der Thür und öffnete dieselbe mit den Worten:

»Ich muß Ihnen die Gelegenheit nehmen, noch weiter etwas zu sagen. Ich bitte um die Erlaubniß, Sie hier allein lassen und Ihnen einen guten Abend wünschen zu dürfen.«

Er öffnete die Thür. Als ich das Haus betrat, hatte ich mich für den äußersten Fall mit einem verzweifelten Entschluß gewaffnet, den ich nur im äußersten Nothfall ihm oder sonst Jemand mittheilen wollte. Jetzt war der Augenblick gekommen, wo ich das sagen mußte, was ich von ganzem Herzen gehofft hatte, ungesagt lassen zu können.

Ich stand gleichfalls auf und hielt ihn, als er im Begriff war, das Zimmer zu verlassen, zurück.

»Setzen Sie sich ruhig wieder hin und lesen Sie weiter, sagte ich. »Unsere Zusammenkunft ist zu Ende. Bevor ich dieses Haus verlasse, habe ich Ihnen nur noch ein letztes Wort zu sagen. Sie vergeuden nur Ihre Zeit, wenn Sie noch länger in Dimchurch bleiben.«

»Das muß ich selbst am besten beurtheilen können»,antwortete er, indem er mir Platz machte, um mich hinaus zu lassen.

»Verzeihen Sie mir, aber Sie sind durchaus nicht in der Lage, das beurtheilen zu können. Sie wissen nicht, was ich zu thun entschlossen bin, sobald ich nach dem Pfarrhause zurückkomme.«

Sofort änderte er seine Stellung und postirte sich vor die offene Thür, um mich so zu verhindern, das Zimmer zu verlassen.

»Und was sind Sie entschlossen, zu thuu?« fragte er, indem er seine Augen fest auf die meinigen geheftet hielt.

»Ich bin entschlossen, Sie zu zwingen, Dimchurch zu verlassen.«

Er lachte frech. Ich aber fuhr ebenso ruhig wie bisher fort. »Sie haben sich diesen Morgen gegen Lucilla für Ihren Bruder ausgegeben«, sagte ich. »Sie haben das zum letzten Mal gethan, Herr Nugent Dubourg.«

»So? Wer will mich verhindern, es noch einmal zu thun?«

»Ich.«

Diesmal nahm er die Sache ernst.

»So? « fragte er.

»Wie wollen Sie mich denn controlieren. Wenn ich fragen darf?«

»Ich kann Sie durch Lucilla controliren. Wenn ich in’s Pfarrhaus zurückkomme, kann und will ich Lucilla die Wahrheit sagen.«

Er fuhr zusammen, faßte sich aber sofort wieder.

»Sie vergessen etwas« Madame Pratolungo. Sie vergessen, was der behandelnde Arzt uns gesagt hat.«

»Das ist mir vollkommen gegenwärtig. Er erklärte, wenn wir irgend etwas sagten oder thäten, was seine Patientin in Ihrem gegenwärtigen Zustande aufregen könne, nicht für die Folgen einstehen zu können.«

»Nun?«

»Nun, bei der Alternative, die mir gestellt ist, entweder Sie gewähren und Beiden das Herz brechen zu lassen oder der Warnung des Arztes zu trotzen, habe ich, so furchtbar auch diese Wahl ist, meine Wahl getroffen.

Ich sage Ihnen gerade in’s Gesicht. lieber will ich, daß Lucilla wieder erblindet, als daß sie Ihre Frau wird.«

Die Stärke seiner Position hatte sich in seiner Vorstellung auf die Ueberzeugung gegründet, daß Grosse’s ärztliche Autorität mir die Zunge binden werde.

Jetzt hatte ich seine Berechnung zu Schanden gemacht.

Er wurde todtenbleich, wie ich trotz der matten Beleuchtung sehr wohl erkennen konnte.

»Ich glaube Ihnen nicht!« sagte er.

»Kommen Sie morgen nach dem Pfarrhause«, antwortete ich, »und Sie werden sehen. »Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen. Lassen Sie mich hinaus.«

Vielleicht glaubt der Leser, ich habe ihn nur erschrecken wollen. Das wäre aber durchaus irrig. Man mag mich tadeln oder mir zustimmen — aber ich kann versichern, daß es mir mit dem Entschluß, den ich aussprach, vollkommener Ernst war. Ob mein Muth während des Ganges von Browndown vorgehalten haben und ob ich nicht schließlich Lucilla gegenüber vor der Ausführung zurückgeschreckt sein würde, das ist mehr; als ich selbst zu sagen vermag. Alles was ich sagen kann, ist, daß ich in meiner Verzweiflung fest entschlossen war, meine Drohung auszuführen und daß Nugent Dubourg aus meiner Stimme etwas heraushörte, was ihm sagte, daß es mir mit meinen Worten Ernst sei.«

»Sie Teufel!« schrie er, indem er mit wüthenden Blicken auf mich zutrat. Die leidenschaftliche Gluth der Liebe, welche der Elende für sie fühlte, machte ihn am ganzen Leibe zittern, als sich sein Abscheu vor mir in jenen beiden Worten Luft machte.

»Verschonen Sie mich mit Ihrer Ansicht über meinen Charakter«, sagte ich. »Ich kann von Ihnen kein Verständniß für die Motive einer rechtschaffenen Frau erwarten. Zum letzten Mal, lassen Sie mich hinaus.«

Aber statt mich hinauszulassen, verschloß er die Thür und steckte den Schlüssel in die Tasche. Dann wies er aus den Stuhl, auf welchem ich gesessen hatte.

»Setzen Sie sich«, sagte er, indem er plötzlich die Stimme sinken ließ und dadurch einen plötzlichen Wechsel seiner Stimmung zu erkennen gab. »Lassen Sie mich einen Augenblick nachdenken.«

Ich setzte mich wieder. Er rückte seinen Stuhl an die andere Seite des Tisches und bedeckte das Gesicht mit seinen Händen. So saßen wir eine Weile schweigend einander gegenüber. Von Zeit zu Zeit sah ich nach ihm auf, Zwischen seinen Fingern glitzerte etwas. Ich stand leise auf und beugte mich über den Tisch hin, um zu erkennen, was es sei; Thränen, wahrhaftig Thränen, die sich durch seine Finger, die er vors Gesicht hielt, hindurchdrängten. Ich hatte ihn eben anreden wollen. Jetzt setzte ich mich wieder schweigend nieder.

»Sagen Sie mir, was Sie von mir verlangen, was Sie wünschen, das ich thun soll.«

Das waren die ersten Worte, die er wieder sprach. Er sagte sie, ohne die Hände zu bewegen, so ruhig, so traurig, in einem so hoffnungslos kummervollen, so klaglos resignierten Ton, daß ich, die ich das Zimmer von Haß gegen ihn erfüllt betreten hatte, wieder aufstand und an seinen Stuhl herantrat. Ich, die ich ihn noch vor einer Minute, wenn ich die Kraft besessen, gern zu Boden gestreckt hätte, legte ihm, indem ich ihn von ganzem Herzen bemitleidete, die Hand auf die Schulter. So sind die Frauen! Das ist ein Beispiel ihres Urtheils, ihrer Festigkeit und ihrer Selbstbeherrschung.

»Seien Sie gerecht, Nugent«, sagte ich, »seien Sie ehrenhaft, seien Sie Alles, wofür ich Sie ehemals gehalten habe. Mehr verlange ich nicht von Ihnen.«

Er ließ die Arme auf den Tisch fallen und den Kopf auf die Arme sinken und brach in einen Strom von Thränen aus. Das sah seinem Bruder so ähnlich, daß ich beinahe hätte glauben können, auch ich hatte Einen mit dem Andern verwechseln können.

»Ganz wie Oscar«, dachte ich bei mir, »an jenem Tage, wo ich ihn zuerst in eben diesem Zimmer sprach!«

»Kommen Sie«, sagte ich, als er ruhiger geworden war, »wir werden schließlich noch dahin gelangen, uns einander zu verstehen, uns zu achten.

Ungeduldig schüttelte er meine Hand wieder von seiner Schulter ab und wandte sein Gesicht vom Lichte weg.

»Reden Sie nicht davon, daß Sie mich verstehen könnten«, sagte er. »Ihre Sympathien sind für ihn. Er ist das Opfer, er ist der Märtyrer, er erfreut sich Ihrer ganzen Achtung, Ihres ganzen Mitleids. Ich bin ein Feigling, ein Nichtswürdiger; ich habe keine Ehre und kein Herz. Mich darf man wie einen Wurm zertreten. Mein Unglück habe ich verdient! An einem solchen Schurken wie ich, wäre das Mitleid nur vergeudet, nicht wahr?«

Ich war in schmerzlicher Verlegenheit, wie ich ihm antworten sollte. Alles, was er gegen sich vorgebracht, hatte ich wirklich von ihm gedacht. Und warum sollte ich nicht? Hatte er sich doch wirklich nichtswürdig benommen, erschien doch wirklich die tiefste Entrüstung gegen ihn gerechtfertigt. Und doch, und doch; es ist bisweilen gar zu schwer für ein Frauenherz, einem Manne, wie schlecht er sich auch benommen haben möge, nicht zu verzeihen, wenn es weiß, daß die Liebe zu einem Weibe dieses Benehmen veranlaßt hat!

»Was ich auch immer von Ihnen gedacht haben mag«, sagte ich, »es steht noch immer bei Ihnen, Nugent, meine Achtung wiederzugewinnen.«

»So?« fragte er höhnisch. »Ich weiß es besser. Sie haben nicht Oscar vor sich. Sie reden mit einem Manne, der die Frauen kennt. Ich weiß, wie Ihr Alle an Euren Ansichten festhaltet, nur weil es Eure Ansichten sind, ohne Euch zu fragen, ob Sie richtig oder falsch sind. Männer könnten mich verstehen und bemitleiden — Frauen nicht. Die besten und gescheidtesten unter Euch haben keinen Begriff von der Liebe eines Mannes. Die Liebe macht Euch nicht so rasend wie uns. Bei Frauen begegnet sie noch gewissen Schranken, bei Männern durchbricht sie jede Schranke. Sie raubt Ihnen Verstand, Ehrgefühl und Selbstachtung, sie stellt sie auf eine Stufe mit dem Thiere, sie treibt dieselben zum Wahnsinn. Ich sage Ihnen, ich bin für meine eigenen Handlungen nicht verantwortlich. Das Beste, was Sie für mich thun könnten, wäre, mich in ein Irrenhaus zu sperren. Das Beste, was ich selbst für mich thun könnte, wäre, mir die Kehle abzuschneiden O ja, es ist entsetzlich, so zu reden, nicht wahr? Ich sollte dagegen ankämpfen, wie Sie es nennen. Ich sollte mich zusammennehmen und mich zu beherrschen suchen. Ha! ha! hat Sie sind eine gescheidte, eine erfahrene Frau. Und doch haben Sie, obgleich Sie mich hunderte von Malen in Lucilla’s Gesellschaft gesehen haben, nie eine Spur des Kampfes bei mir entdeckt. Von dem ersten Augenblicke an, wo ich dieses himmlische Geschöpf zuerst gesehen habe, habe ich« einen einzigen langen Kampf mit mir selbst gekämpft, habe ich unablässig Höllenqualen der Scham und der Gewissensbisse erduldet, und Sie, meine kluge Freundin, haben so wenig beobachtet und wissen so wenig, daß Sie in meinem Benehmen nichts anderes zu sehen vermögen, als das Benehmen eines Feiglings und eines Schurken!«

Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Ich war begreiflicherweise durch seine Aeußerungen etwas aufgeregt. Ein Mann, der sich anmaßte, sich auf die Liebe besser zu verstehen, als eine Frau! Hat man je von einer so ungeheuerlichen Verkehrung der Begriffe gehört? Ich appellire an die Frauen!

»Sie sind der Letzte, der ein Recht hätte, mich zu tadeln«, sagte ich. »Ich hatte eine zu hohe Meinung von Ihnen, um zu argwöhnen, was in Ihnen vorging. Ich verspreche Ihnen aber, nie wieder in diesen Fehler zu verfallen.«

Er trat wieder auf mich zu und sah mir scharf ins Gesicht.

»Wollen Sie wirklich behaupten, daß Sie an jenem Tage, wo ich sie zuerst sah, nichts bemerkt haben, was Ihnen zu denken gegeben hätte?« fragte er. »Sie waren ja im Zimmer; ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß ich in ihrer Gegenwart verstummte? Und haben Sie auch später nichts Verdächtiges bemerkt? War mir denn, während ich Folterqualen erlitt, sobald ich sie nur anblickte, nichts anzusehen, was für sich selbst gesprochen hätte?«

»Ich sah wohl, daß Sie sich nie in ihrer Gegenwart behaglich fühlten«, erwiderte ich, »aber ich hatte Sie gern, traute Ihnen und verstand Sie nicht.«

»Verstanden Sie auch von dem, was weiter geschah, nichts? Habe ich nicht mit ihrem Vater gesprochen? Habe ich nicht versucht, ihre Heirath zu beschleunigen? Habe ich wirklich auf keine Weise zu erkennen gegeben, was ich empfand, als Sie mir mittheilten, daß das Erste, was sie an Oscar angezogen habe, seine Stimme gewesen sei, und als ich Sie darauf aufmerksam machte, daß meine Stimme der seinigen vollkommen gleiche? Habe ich Ihnen nicht, als wir zuerst davon sprachen, ob er nicht Lucilla die Entstellung seines Gesichts bekennen solle, darin zugestimmt, daß er ihr in seinem eigenen Interesse die Wahrheit sagen müsse? Als sie nahe daran war, die Sache selbst zu entdecken, wessen Einfluß wurde da aufgeboten, um ihn zu einem Geständniß zu bewegen? Der meinige! Und was that ich, als er es versuchte, die Sache zu bekennen, sie ihn aber nicht verstand? Was that ich, als sie zum ersten Mal in den Irrthum verfiel, mich für den Entstellten zu halten?«

Die Kühnheit dieser letzten Frage benahm mir fast den Athem: »Sie waren grausam behilflich dazu, sie zu betrügen«, antwortete ich entrüstet. »Sie ermuthigten Ihren Bruder schmählicherweise bei seiner Politik des Schweigens.«

Er sah mich mit einem Ausdruck zornigen Erstaunens an, der meinem zornigen Erstaunen mehr als die Spitze bot.

»Das ist also die feine Auffassungsgabe der Frauen!« rief er aus, »das ist also der wunderbare Takt, der dem weiblichen Geschlechte eigen ist! Sie vermögen kein anderes, als ein niedriges Motiv meiner Aufopferung für Oscar zu erkennen!«

Ich fing an zu ahnen, daß seinem Benehmen doch wohl noch ein anderes, als das von mir vermuthete schlechte Motiv zu Grunde gelegen haben könne. Nun, es mochte sein, daß ich Unrecht gehabt hatte, aber mich kränkte der Ton, den er gegen mich annahm. Jedem andern Menschen gegenüber würde ich bereit gewesen sein, meinen Irrthum einzugestehen; ihm gegenüber wollte ich ihn nicht eingestehen.

»Blicken Sie einen Augenblick zurück«, nahm er in ruhigerem und sanfterem Tone wieder auf. »Und sehen Sie, wie hart Sie mich beurtheilen. Ich ergriff die Gelegenheit, ich schwöre es Ihnen, ich ergriff die Gelegenheit, mich in dem Augenblick, wo ich von ihrem Mißverständniß hörte, zu einem Gegenstand des Entsetzens für sie zu machen. Da ich fühlte, daß es mir immer weniger möglich wurde, sie zu meiden, ergriff, ich begierig die Gelegenheit, sie mich meiden zu machen. Ich that das und ich that mehr! Ich bat Oscar, mich von Dimchurch fortgehen zu lassen. Er beschwor mich aber im Namen unserer brüderlichen Liebe, zu bleiben. Ich konnte ihm nicht widerstehen. Wo finden Sie in dem Allen die Spuren des Benehmens eines Schurken? Würde ein Schurke sich Ihnen gegenüber wohl zehnmal verrathen haben, wie ich es bei jenem Gespräch that, das wir im Pavillon führten? Ich erinnere mich, damals die Worte gesprochen zu haben: ich wollte, ich wäre nie nach Dimchurch gekommen. Konnte es noch einen Grund geben, mich zu einer solchen Aeußerung zu veranlassen? Wie kommt es, daß Sie mich niemals auch nur fragten, was ich damit meine?«

»Sie vergessen«, schaltete ich ein, »daß ich keine Gelegenheit hatte, Sie darnach zu fragen. Lucilla unterbrach uns damals und lenkte meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge. Warum aber versuchen Sie es, mich in dieser Weise zu beschuldigen?« fuhr ich, durch den Ton, den er gegen mich annahm, mehr und mehr gereizt, fort. »Welches Recht haben Sie, sich ein Urtheil über mein Benehmen zu erlauben?«

Er sah mich mit einem Ausdruck fassungslosen Staunens an.

»Habe ich mir ein Urtheil über Ihr Benehmen erlaubt?« fragte er.

»Ja.«

»Vielleicht habe ich gedacht, daß Sie, wenn Sie bei Zeiten meine Verblendung erkannt hätten, derselben auch bei Zeiten hätten Einhalt thun können. Aber nein«, rief er, noch ehe ich ihm antworten konnte, »nichts hätte derselben Einhalt thun können — nichts wird sie heilen als mein Tod. Lassen Sie uns versuchen, uns zu verständigen. Ich bitte Sie um Verzeihung, wenn ich Sie beleidigt habe. Ich bin bereit, Ihr Benehmen billig zu beurtheilen. Wollen Sie auch das meinige billig beurtheilen?«

Ich bemühte mich endlich, ihm zu willfahren. Obgleich mich seine Art, mit mir zu reden, verletzte, fühlte ich im Geheimen für ihn, wie ich es vorhin bekannt habe. Aber ich konnte ihm nicht verzeihen, daß er an jenem Tage, wo Lucilla zum ersten Mal ihre Sehkraft versuchte, ihre ersten Blicke auf sich zu lenken gewagt, daß er noch an diesem Morgen sich gegen Lucilla für seinen Bruder ausgegeben, daß er es geduldet hatte, daß sein Bruder mit gebrochenem Herzen fortgegangen und von Allem, Was ihm theuer war, sich losgerissen und freiwillig in die Verbannung begeben hatte. Nein, ich konnte wohl für ihn fühlen, aber ich konnte ihn nicht milde beurtheilen. Ich setzte mich schweigend nieder.

Er aber kam alsbald, nunmehr mit der größten Höflichkeit, auf die zwischen uns streitige Frage zurück. Trotz alledem beunruhigte er mich durch das, was er jetzt sagte, mehr, als durch irgend etwas, was er bis dahin ausgesprochen hatte.

»Ich wiederhole, was ich Ihnen bereits gesagt habe«, fuhr er fort. »Ich bin nicht mehr verantwortlich für das, was ich thue. Wenn ich mich nicht völlig über mich selbst täusche, so kann man mir, glaube ich, künftig nicht mehr trauen. Lassen Sie mich Ihnen, so lange ich noch dazu im Stande bin, die Wahrheit sagen. Was auch später geschehen möge vergessen Sie es nicht; ich habe mich heute Abend offen darüber gegen Sie ausgesprochen.«

»Halt!« rief ich, »ich verstehe Sie nicht. Jeder Mensch ist Verantwortlich für seine Handlungen.«

Er unterbrach mich mit einer ungeduldigen Handbewegung.

»Bleiben Sie bei Ihrer Meinung, ich bestreite sie nicht. Sie werden sehen, Sie werden sehen, Madame Pratolungo, der Tag, an welchem wir jenes Gespräch im Pavillon des Pfarrgartens führten, bildet ein denkwürdiges Datum in meinem Kalender. Mein letzter redlicher Kampf, meinem armen Oscar treu zu bleiben, endete an jenem Tage. Die Anstrengungen, die ich seitdem gemacht habe, waren nicht viel mehr als Ausbrüche der Verzweiflung. Sie haben nichts vermocht gegen die Gewalt der Leidenschaft, die mich ganz beherrscht und die der Fluch meines Lebens geworden ist. Reden Sie nicht von Widerstand. Aller Widerstand hält bei einem gewissen Punkte nicht mehr vor. Seit jener Zeit hat mein Widerstand seine Grenzen gefunden. Sie haben gehört, wie ich gegen die Versuchung gekämpft habe, so lange ich ihr Widerstand zu leisten vermochte. Ich kann Ihnen jetzt nur noch sagen, wie ich ihr erlegen bin.«

Die rücksichtslose, schamlose Ruhe, mit der er das sagte, fing an, mich wieder gegen ihn aufzubringen. Die beständigen Schwankungen und Widersprüche in seinen Worten reizten mich und brachten mich außer Fassung. Wie Quecksilber konnte man ihn auf keine Weise fassen.

»Erinnern Sie sich jenes Tages?« fragte er, »wo Lucilla die Geduld verlor und Sie bei ihrem Besuch in Browndown so unfreundlich empfing?»

Ich nickte bejahend mit dem Kopfe.

»Sie sprachen vorhin davon, daß ich mich ihr gegenüber für Oscar ausgegeben habe. Bei der eben erwähnten Gelegenheit gab ich mich zum ersten Mal für ihn aus. Sie waren zugegen und hörten mich. Hielten Sie es damals der Mühe werth, über die Motive nachzudenken, welche mich dazu bestimmten, mich ihr gegenüber für meinen Bruder auszugeben?«

»Soweit ich mich erinnere«, antwortete ich, »beruhigte ich mich bei der ersten Erklärung, die mir einfiel. Ich dachte, Sie gaben einer augenblicklichen neckischen Laune auf Kosten Lucilla’s nach.«

»Ich gab der Leidenschaft nach, die mich verzehrte. Ich sehnte mich darnach, die Wollust ihrer Berührung zu empfinden und so vertraulich von ihr behandelt zu werden wie Oscar. Noch schlimmer als das, ich wollte versuchen, wie vollständig ich sie täuschen könne, wie leicht ich sie würde heirathen können, wenn ich Euch nur Alle betrügen und sie allein irgendwo hinbringen könnte. Der Teufel besaß mich. Ich weiß nicht, wie die Sache geendet haben würde, wenn Oscar nicht eingetreten und Lucilla nicht in Zorn ausgebrochen wäre, wie sie es that. Sie betrübte mich, sie erschreckte mich, sie gab mich meinem besseren Selbst zurück. Ich stürzte mich, ohne sie vorzubereiten, auf die Frage der Wiederherstellung ihrer Sehkraft, weil ich darin das einzige Mittel sah, ihre Aufmerksamkeit von der unwürdigen Art, wie ich mir ihre Blindheit zu Nutze gemacht hatte abzulenken. An jenem Abend litt ich Aengste der Selbstverurtheilung und der Gewissensqual, die selbst Ihnen, Madame Pratolungo, genügt haben würden. Bei einer nächsten Gelegenheit, die sich mir darbot, machte ich die Sache gegen Oscar wieder gut. Ich förderte seine Interessen; ich legte ihm sogar die Worte, die er zu Lucilla sagen sollte, in den Mund«

»Wann?« unterbrach ich ihn. Wo? Wie?«

»Als die beiden Aerzte uns verlassen hatten, in Lucilla’s Wohnzimmer, in der Hitze der Discussion, ob sie sich der Operation sofort unterwerfen, oder ob sie Oscar erst heirathen, und Grosse die Operation an ihren Augen später vornehmen lassen solle. Wenn Sie sich unserer Unterhaltung erinnern, werden Sie wissen, daß ich Alles aufbot, um Lucilla zu überreden, meinen Bruder zu heirathen, bevor Grosse die Operation an ihren Augen vornähme. Vergebens! Sie warfen das ganze Gewicht Ihres Einflusses in die andere Wagschale. Meine Bemühungen waren umsonst. Es änderte sich nichts. Was ich gethan hatte, war aus reiner Verzweiflung geschehen. Es war lediglich der Impuls des Augenblicks gewesen, es hielt nicht vor. Als die nächste Versuchung an mich herantrat, benahm ich mich wie ein Schurke, wie Sie sagen.»

»Ich habe nichts gesagt«, antwortete ich kurz.

»Nun gut — wie Sie denken also. Schöpften Sie endlich Verdacht gegen mich, als Sie mich gestern im Dorfe trafen? Selbst Ihre Augen müssen mich bei dieser Gelegenheit durchschaut haben!« .

Ich antwortete mit einem Kopfnicken. Ich hatte keine Lust, abermals in Streit mit ihm zu gerathen. Auf eine wie schwere Probe er auch meine Geduld stellte, so wollte ich es doch in Lucilla’s Interesse versuchen, auf freundlichem Fuße mit ihm zu bleiben.

»Sie wußten es merkwürdig gut zu verbergen, fuhr er fort« »als ich dahinter zu kommen suchte, ob Sie mich ausgefunden hätten oder nicht. Ihr tugendhaften Leute versteht es meisterhaft, zu täuschen, wenn es Euren Interessen dient. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, worin die Versuchung, der ich gestern ausgesetzt war, bestand. Den ersten Blick ihrer Augen, wenn sie sich der Welt öffneten, das erste Licht der Liebe und Freude, das von ihrem himmlischen Antlitz ausstrahlen würde welche Tollheit, zu glauben, ich würde dulden, daß dieser Blick auf einen andern Mann falle, daß dieses Licht von anderen Augen gesehen werde! Kein Mensch, der sie anbetet, wie ich sie anbete, würde anders gehandelt haben, als ich es that. Ich hätte aus die Kniee fallen und Grosse anbeten mögen, als er mir ahnungsloser Weise proponirte, gerade den Platz im Zimmer einzunehmem den ich einzunehmen entschlossen war. Sie sehen, was ich vorhatte. Sie thaten Ihr Bestes und thaten es meisterlich, meinen Plan zu vereiteln. O, Ihr Mustermenschen, Ihr versieht es, wenn es sich darum handelt, einen schlauen Streich zu spielen, die ausgesuchtesten Mittel zur Anwendung zu bringen! Sie haben gesehen, wie es endete. Das Glück war mir in der elften Stunde hold, das Glück scheint wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte. Der erste Blick ihrer Augen fiel auf mich; ich war es, den das erste Licht der Liebe und Freude auf ihrem Antlitz bestrahlte. Ihre Arme umschlangen mich und Ihr Busen ruhte an meiner Brust!«

Ich konnte es nicht länger ertragen.

»Oeffnen Sie die Thür«, sagte ich, »ich schäme mich in demselben Zimmer mit Ihnen zu sitzen.»

»Das wundert mich nicht«, antwortete er, »Sie mögen sich wohl meiner schämen« ich schäme mich selbst.«

Es lag etwas Cynisches in seinem Ton, nichts Insolentes in seinem Wesen. Derselbe Mann, der sich noch eben so schmählich seines Sieges über Unschuld und Unglück gerühmt hatte, sprach und benahm sich jetzt wie ein Mensch, der aufrichtige Scham empfindet. Wenn ich mich nur hätte überzeugen können, ob er sich über mich lustig mache oder vor mir heuchle, so würde ich gewußt haben, was ich zu thun habe. Aber ich wiederhole, er bereuete, so unmöglich es auch scheinen mag, doch unzweifelhaft das, was er eben gesagt hatte, einen Augenblick nachher aufrichtig. Trotz all’ meiner Welterfahrung und meiner langjährigen Uebung, mit ungewöhnlichen Charakteren zu verkehren, machten mich Nugent’s Worte doch wieder so irre, daß ich inmitten des Weges zwischen ihm und der verschlossenen Thür wieder stehen blieb.

»Glauben Sie mir?« fragte er.

»Ich verstehe Sie nicht» antwortete ich.

Er zog den Schlüssel zur Thür aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch, nahe dem Stuhl, von dem ich eben ausgestanden war.

»Ich verliere die Besinnung, wenn ich von ihr rede oder an sie denke«, fuhr er fort. »Ich würde Alles, was ich besitze, darum geben, wenn ich das, was ich eben gesagt habe, ungesagt machen könnte. Sie können es nicht in zu starken Ausdrücken verdammen. Die Worte entfuhren mir — ich hätte sie nicht zurückhalten können und wenn Lucilla selbst zugegen gewesen wäre. Gehen Sie, wenn Sie wollen. Ich habe kein Recht, Sie noch länger hier zu halten, nachdem ich mich so benommen habe. Da liegt der Schlüssel, bedienen Sie sich seiner. Nur denken Sie erst nach, bevor Sie mich verlassen. Sie wollten mir etwas vorschlagen, als Sie eintraten. Vielleicht könnten Sie Einfluß auf mich üben, könnten meine Scham erregen und mich vermögen, mich zu benehmen wie ein ehrenhafter Mensch. Thun Sie, was Sie wollen, es steht ganz bei Ihnen.«

Ich weiß nicht, handelte ich wie eine gute Christin? oder wie eine verächtliche Närrin? Aber ich setzte mich wieder nieder und beschloß, ihm eine letzte Chance zu geben.

»Das ist gütig von Ihnen«, sagte er, »Sie ermuthigen mich; Sie zeigen mir, daß es der Mühe werth ist, es noch einmal mit mir zu versuchen. Ich hatte gestern in diesem Zimmer eine edle Regung und es hätte mehr als eine Regung werden können, wenn mir nicht eine andere Versuchung gerade in den Weg getreten wäre.«

»Welche Versuchung?« fragte ich.

»Oscar’s Brief hat es Ihnen mitgetheilt, Oscar selbst hat mir die Versuchung in den Weg gestellt.«

»Ich habe nichts der Art in dem Brief gelesen.«

»Hm er Ihnen nicht geschrieben, daß ich ihm angeboten habe, Dimchurch für immer zu verlassen? Ich meinte es aufrichtig; ich hatte den Jammer auf dem Gesicht des armen Jungen gesehen, als Grosse und ich Lucilla aus dem Zimmer führten. Mein Vorschlag war von ganzem Herzen aufrichtig gemeint. Wenn er meine Hand ergriffen und mir Lebewohl gesagt hätte, so wäre ich fortgegangen. Er bestand aber darauf, sich die Sache allein zu überlegen und kehrte damit zu dem Opfer entschlossen —«

»Warum haben Sie dieses Opfer angenommen?«

»Weil er mich in Versuchung führte.«

»Sie in Versuchung führte?«

»Ja« wie anders wollen Sie es nennen« daß er es mir überließ, Lucilla, wenn ich könne, zu gewinnen. Wie anders wollen Sie es nennen — wenn er mir ein Leben mit Lucilla in Aussicht stellte. Der arme liebe großmüthige Junge; er führte mich in Versuchung, zu bleiben, wo er mich hätte ermuntern sollen« zu gehen. Wie konnte ich da widerstehen? Tadeln Sie die Leidenschaft, die sich meiner bemächtigt hat, aber tadeln Sie mich nicht!«

Ich sah nach dem auf dem Tisch liegenden Buch, in welchem er gelesen hatte, als ich das Zimmer betrat. Seine sopbistischen Ergüsse waren nichts gewesen,als Rousseau’s Confessions aus zweiter Hand. Nun wohl! Wenn seine Aeußerungen ein verfälschter Rousseau waren, so blieb mir nur übrig, als erster Pratolungo zu sprechen. Ich ließ mich gehen, ich war gerade in der rechten Stimmung dazu.

»Wie kann ein gescheiter Mensch wie Sie, sich selbst so betrügen!« sagte ich. »Ihre Zukunft mit Lucilla? Es giebt für Sie keine Zukunft mit Lucilla, an die man ohne Grausen denken könnte. Angenommen — so lange ich lebe wird es zwar nie geschehen — aber angenommen, Sie heiratheten sie. Guter Himmel! welch’ ein elendes Leben würden Sie Beide führen. Sie lieben Ihren Bruder. Glauben Sie, daß Sie jemals einen ruhigen Augenblick haben würden, wo Sie der Gedanke verlassen würde: »Ich habe Oscar um das Weib, das er liebte, betrogen, ich habe sein Leben verwüstet, ich habe sein Herz gebrochen.« Sie würden sie nicht ansehen, nicht mit ihr reden, sie nicht berühren können ohne das bittere Gefühl dieses schrecklichen Vorwurfs. Und sie? Was glauben Sie wohl, was sie Ihnen als Frau sein würde, wenn sie erführe, wie Sie sie erlangt haben; ich weiß nicht wen sie mehr hassen würde, Sie oder sich selbst. Sie würde keinem Mann auf der Straße begegnen können, ohne daß sich ihr die Frage aufdrängte: »ob der wohl je etwas so Schmähliches verübt hat, wie das, was mein Mann an mir gethan hat?« Der Anblick jeder verheiratheten Frau ihrer Bekanntschaft würde sie mit Neid und Zorn erfüllen. »Was Dein Mann auch für Fehler haben mag, würde sie denken müssen, »er hat Dich doch nicht gewonnen, wie der meintge mich.« Sie wollten glücklich werden oder auch nur ein erträgliches Leben in der Ehe führen? Gehen Sie! Ich habe mir ein paar Pfund erspart, seit ich bei Lucilla bin. Ich wette jeden Heller, den ich besitze, daß Sie beide sich vor Ablauf von sechs Monaten nach Ihrer Verheirathung mit gegenseitiger Zustimmung wieder trennen würden. Nun, was wollen Sie thun? Wollen Sie abreisen oder hier bleiben? Wollen Sie, wie ein ehrenhafter Mann, Oscar zurückbringen oder wollen Sie ihn gehen lassen und sich für immer mit Unehre bedecken?«

Seine Augen funkelten. Sein Gesicht überflog eine tiefe Röthe. Er sprang aus und schloß die Thür auf. Was wollte er thun? Forteilen, um nach dem Continent zu reisen, oder mich zum Hause hinauswerfen? Er rief nach dem Diener.

»James.«

»Ja, Herr!«

»Verschließen Sie das Haus, sobald Madame Pratolungo und ich dasselbe verlassen haben. Ich komme nicht wieder.«

»Herr!«

»Packen Sie meinen Koffer und schicken Sie ihn mir morgen unter der Adresse von Nagels Hotel in London nach.«

Er schloß die Thür wieder und trat wieder auf mich zu.

»Sie weigerten sich, mir die Hand zu geben, als Sie eintraten», sagte er, »wollen Sie mir sie nun geben? Ich verlasse Browndown zugleich mit Ihnen und komme nicht wieder, ohne Oscar mitzubringen.«

»Meine beiden Hände sollen Sie haben!« rief ich aus und erfaßte sie. Ich konnte nichts weiter sagen. Ich konnte mich nur fragen, ob ich wache oder träume, ob ich fürs Tollhaus reif sei, oder ungehindert fortgehen dürfe.

»Kommen Sie, sagte er, »ich will Sie bis an das Gitter des Pfarrhauses begleiten.«

»Sie können heute Abend nicht mehr fort«, sagte ich, »der letzte Zug ist schon lange abgegangen.«

»O, ich kann doch! Ich kann zu Fuß nach 155 Brigthon gehen, dort schlafen und morgen früh von dort nach London fahren. Nichts soll mich vermögen, noch eine Nacht in Browndown zu bleiben. Halt! Noch eine Frage, ehe ich die Lampe auslösche.«

»Und die wäre?«

»Haben Sie heute in London irgend etwas dazu gethan, um Oscar’s Spur zu verfolgen?«

»Ich bin zu einem Advocaten gegangen und habe mit demselben die möglichen Verabredungen getroffen.«

»Hier ist mein Taschenbuch. Schreiben Sie mir doch Namen und Adresse des Advocaten hinein.«

Ich that das. Darauf löschte er die Lampe und ließ mich auf den Corridor hinaus.

Der Diener stand ganz außer sich vor Erstaunen dabei. »Gute Nacht, James. Ich bringe Ihnen Ihren Herrn nach Browndown zurück.« Mit diesen Worten nahm er Hut und Stock und gab mir seinen Arm. Im nächsten Augenblick waren wir draußen im dunkeln Thal auf dem Wege nach dem Dorfe.

Auf dem Rückwege nach dem Pfarrhause sprach er mit einer von fieberhafter Aufregung zeugenden Volubilität. Er vermied jede noch so entfernte Anspielung auf den bei unserer sonderbaren und stürmischen Zusammenkunft behandelten Gegenstand, erging sich aber mit einem noch unendlich gesteigerten Ausdruck des Selbstvertrauens in einer Wiederholung seiner früheren ruhmredigen Versicherungen der großen Dinge, die er als Maler ausführen wolle. Die Mission, welche er habe, die Menschheit mit der Natur auszusöhnen, der großartige Maßstab, in welchem er das Auge und das Herz erquickende Landschaften zum Wohl der leidenden Menschheit wiederzugeben beabsichtige, die Nothwendigkeit, ihn nicht als einen großen Maler, sondern als einen Parakleten der Kunst zu betrachten — das Alles mußte ich zu meiner Beruhigung in Betreff seiner Aussichten und Beschäftigungen für die Zukunft noch einmal anhören. Erst als wir bei dem Gitter des Pfarrhauses stille standen, kam er auf das zwischen uns Vorgefallene zurück, aber auch jetzt berührte er den Gegenstand in der denkbar kürzesten Weise.

»Nun!« sagte er.

»Habe ich Ihre alte Achtung wiedergewonnen? Glauben Sie jetzt an eine gute Seite in Nugent Dubourgs Natur? Der Mensch ist ein aus seltsamen Widersprüchen bestehendes Thier. Sie sind eine Frau, wie man sie unter zehntausend Ihres Geschlechts nur einmal findet. Geben Sie mir einen Kuß.

Er küßte mich nach ausländischer Sitte auf beide Wangen.

»Und jetzt zu Oscar!« rief er heiter; schwang seinen Hut und verschwand in der Dunkelheit. Ich blieb am Gitter stehen, bis der letzte Klang seiner raschen Fußtritte in der dunkeln Nacht verhallt war.

Eine unbeschreibliche Niedergeschlagenheit bemächtigte sich meines Gemüths. In dem Augenblick, wo er mich verlassen hatte, fing ich wieder an, an ihm zu zweifeln.

»Wird eine Zeit kommen«, fragte ich mich, »wo Alles, was ich diesen Abend gethan habe, noch einmal gethan werden muß?«

Ich öffnete das Gitter. Noch ehe ich nach unserm Theil des Pfarrhauses gelangen konnte, trat mir Herr Finch in den Weg. Mit einer feierlich triumphirenden Miene hielt er mir ein viele Seiten umfassendes Schriftstück entgegen.

»Mein Brief«, sagte er; »ein Brief voll christlicher Vorstellungen und Ermahnungen an Nugent Dubourg.«

»Nugent Dubourg hat Dimchurch verlassen.«

In dieser Antwort theilte ich dem Pfarrer so kurz wie möglich mit, wie mein Besuch in Browndown geendet hatte.

Herr Finch sah seinen Brief an.

So viel Beredtsamkeit sollte verschwendet sein? Nein! Das war unmöglich. »Sie haben sehr richtig gehandelt, Madame Pratolungo«, bemerkte er in seinem patronisirendsten Ton, »in Erwägung aller Umstände sehr richtig gehandelt. Silber ich glaube nicht, daß ich klug daran thun würde, dieses Schriftstück zu vernichten.«

Er verschloß sein Manuscript sorgfältig und schloß dann wieder mit einem geheimnißvollen Lächeln: »Ich wage zu glauben«, sagte er mit affectirter Bescheidenheit, »daß man meinen Brief noch brauchen wird. Ich will Sie in Betreff Nugent Dubourgs nicht entmuthigen. Aber ich kann nicht umhin zu fragen: kann man ihm trauen?«

Das sprach ein Narr, der es auch nicht gesagt haben würde, wenn er nicht seinen herrlichen Brief geschrieben haben würde, aber doch klangen mir seine Worte wie das schmerzliche Echo der bösen Ahnung, — die mein Gemüth in jenem Augenblicke beunruhigte, und noch mehr, sie waren das Echo von Nugent’s eigener böser Ahnung, von seinen Zweifeln an sich selbst, die er mit eigenem Munde so unzweideutig gegen mich ausgesprochen hatte. Ich wünschte dem Pfarrer gute Nacht und ging hinauf.

Lucilla lag im Bett und schlief, als ich leise ihre Thür öffnete.

Nachdem ich eine Weile ihr liebliches friedliches Antlitz betrachtet hatte, mußte ich mich wegwenden, denn ihr Anblick stimmte mich gar zu traurig. Als ich zum letzten Mal den Blick auf sie richtete, bevor ich die Thür schloß, drängte sich mir die verhängnisvolle Frage des Ehrwürdigen Finch wieder auf. Unwillkürlich mußte ich mich fragen: »Kann man ihm trauen?«



Siebentes Kapitel - Sie lernt sehen

Der neue Morgen brachte für mich Reflectionen mit sich, die nicht der angenehmsten Art waren. In meiner Stellung Lucilla gegenüber war ein ernstes Element der Verlegenheit mir, als Nugent und ich uns an der Pforte des Pfarrhauses trennten, noch nicht ausgegangen.

Browndown war jetzt, nach der Abreise beider Brüder, leer. Was sollte ich Lucilla sagen, wenn der falsche Oscar ihr heute nicht seinen versprochenen Besuch machte.

In welches Labyrinth von Lügen hatte das erste Verschweigen der Wahrheit uns Alle verwickelt! Eine Täuschung nach der anderen war uns aufgezwungen worden, ein Unglück nach dem andern war unser Lohn dafür gewesen, und jetzt, wo ich allein mich mit den harten Nothwendigkeiten unserer Lage abzufinden hatte, schien mir keine andere Wahl übrig zu bleiben, als fortzufahren, Lucilla zu betrügen. Ich war der Täuschungen überdrüssig und schämte mich derselben.

Beim Frühstück ging ich, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß Lucilla ihren Besuch nicht vor dem Nachmittag erwarte, jeder weiteren Erörterung über den Gegenstand aus dem Wege. Nach dem Frühstück wußte ich sie eine Zeit lang am Clavier zu fesseln. Als sie der Musik überdrüssig war und wieder von Oscar zu sprechen anfing, setzte ich meinen Hut auf und unternahm eine häusliche Besorgung, welche gewöhnlich Zillah oblag, nur zu dem Zweck, um mich zu entfernen und die widerwärtige Nothwendigkeit, wieder Unwahrheiten zu sagen, bis zum letzten Augenblick zu verschieben. Das Wetter unterstützte mich. Es drohte zu regnen und Lucilla fand sich deshalb nicht veranlaßt, mich zu begleiten.

Meine Besorgung führte mich nach einem Pachthof auf dem nach Brighton führenden Wege. Nachdem mein Geschäft erledigt war, ging ich noch eine Strecke weiter, obgleich es bereits zu regnen anfing. An meinen Kleidern war mir nichts gelegen und in meiner Gemüthsverfassung wollte ich lieber naß werden als nach dem Pfarrhause zurückkehren. Nachdem ich etwa eine Weile weiter gegangen war, wurde die Einsamkeit des Weges plötzlich durch das Erscheinen eines offenen Wagens unterbrochen, der mir in der Richtung von Brighton her entgegen kam. Das Verdeck des Wagens war aufgeschlagen, um die im Wagen sitzende Person gegen den Regen zu schützen. Der Fahrgast sah, als ich vorüber ging, nach mir aus und rief dem Kutscher zu, anzuhalten, mit einer Stimme, die ich sofort als Grosse’s Stimme erkannte. Unser galanter Augenarzt bestand darauf, daß ich bei diesem Wetter sofort an seiner Seite Platz nehme und mit ihm nach Hause zurückfahre.

»Das ist ein unerwartetes Vergnügen«, sagte ich, »ich glaubte, Sie hätten mit Lucilla verabredet, sie nicht vor Ende der Woche wieder zu besuchen.«

Grosse’s Augen glotzten mich durch seine Brillengläser mit einer Würde und einem Ernst an, deren sich der Ehrwürdige Finch selbst nicht zu schämen gehabt hätte.

»Soll ich Ihnen etwas sagen?« fragte er, »Sie sehen neben sich einen verlorenen Mann. Ich werde bald sterben. Lassen Sie doch, bitte, auf mein Grab die Worte setzen: die Krankheit, welche diesen deutschen Mann tödtete, war die liebliche Lucilla. Wenn ich von ihr getrennt bin, haben Sie Mitleid mit mir, ich bedarf desselben so sehr, bricht mir der Angstschweiß in dem Gedanken an das süße Kind aus. Ihre verwünschte Geschichte mit den beiden Brüdern ist eine Art von beständiger Spanischer Fliege für mein Gemüth. Anstatt wie sonst die ganze Nacht in meinem schönen großen englischen Bett ruhig zu schnarchen, wälze ich mich wachend in beständiger Aufregung wegen Lucilla auf meinem Kissen. Ich komme heute, früher als ich’s versprochen hatte, warum glauben Sie wohl? Etwa um nach ihren Augen zu sehen? — weit gefehlt, beste Frau! Nicht ihre Augen machen mir Sorge, mit denen wird es schon gehen. Sie und die Anderen in Ihrem Pfarrhause machen mir Sorge. Sie machen mich nervös und ängstlich für meine Patientin. Ich bin immer bange, daß einer von Ihnen ihr einmal die verfluchte Geschichte mit den beiden Zwillingsbrüdern hinterbringt und Sie in die schrecklichste Aufregung versetzt, wenn ich nicht in der Nähe bin, um bei Zeiten aufzupassen. Wollen Sie sie noch zwei Monate lang ganz in Ruhe lassen? Ach Gott! wenn ich dessen nur, ganz sicher sein könnte, so könnte ich die Heilung ihrer schwachen Augen getrost der Zeit überlassen und ruhig wieder nach London gehen.«

Ich hatte mir vorgenommen, ihn gehörig dafür zur Rede zu stellen, daß er Lucilla nach Browndown gebracht habe. Nach dem, was er eben gesagt hatte, erschien es nutzlos, etwas der Art zu versuchen und doppelt unnütz, zu hoffen, daß er mir gestatten würde, mir aus meiner verwickelten Lage dadurch herauszuhelfen, daß ich ihr die Wahrheit sage.

»Das müssen Sie natürlich am besten beurtheilen können», sagte ich; »Sie haben gar keine Ahnung davon, was es uns unglückliche Menschen kostet, Ihre Vorsichtsmaßregeln zur Ausführung zu bringen.«

Bei diesen Worten fuhr er heftig auf.

»Ihr sollt selbst sagen«, erwiderte er, »ob es Ihnen die Kosten nicht werth ist. Wenn ich mit Lucilla’s Augen zufrieden bin, so soll sie noch heute lernen damit zu sehen. Ihr sollt dabei stehen, Ihr eigensinnigen Weiber und selbst urtheilen, ob es gut ist, noch Schreck und Aufregung zu der Erschöpfung, Reizbarkeit und aller Art Teufeleien hinzuzufügen, wie sie unser armes Kind erdulden muß, wenn sie nach lebenslänglicher Blindheit sehen lernt. Jetzt nichts mehr davon, bis wir nach dem Pfarrhause kommen.« Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, that er mir eine Frage, die ich mit einiger Vorsicht zu beantworten für nöthig hielt. »Wie geht es meinem netten Jungen? — meinem munteren gescheidten Nugent?« fragte er.

»Sehr gut.«

Mehr sagte ich nicht, da ich mich des Bodens unter meinen Füßen durchaus nicht sicher fühlte.

»Merken Sie wohl!« fuhr Grosse fort, »mein munterer Junge Nugent versteht es, sie in einer behaglichen Stimmung zu halten. Mein munterer Junge Nugent ist mehr werth, als Ihr Uebrigen alle zusammen. Ich bestehe darauf, daß er unsere kleine Lucilla im Pfarrhause besucht, trotz des windigen, geschwätzigen Patrons, ihres Vaters. Ich sage positiv: Nugent, soll in’s Haus kommen.«

Da half nun nichts mehr. Ich mußte ihm sagen, daß Nugent Browndown verlassen habe und daß ich es gewesen sei, die ihn fortgeschickt habe.

Einen Augenblick war es mir wirklich zweifelhaft, ob der große Augenarzt seine geschickte Hand nicht dazu mißbrauchen werde, mir eine Ohrfeige zu geben. Es wäre ein vergebliches Bemühen, das fabelhafte Deutsch-Englisch wiederzugeben, in welchem seine Wuth sich auf mein demüthiges Haupt ergoß. Es genüge, zu sagen, daß er erklärte, Nugent’s abscheuliche Verstellung, sich für seinen Bruder auszugeben, sei, so lange Oscar abwesend, von der höchsten Wichtigkeit für eine erfolgreiche Behandlung der reizbaren und fein organisirten Patientin, die wir unter seine Obhut gestellt hätten. Vergebens versicherte ich ihm, daß Nugent’s Zweck bei seiner Entfernung von Dimchurch sei, seinen Bruder zurückzuführen und so Alles wieder in Ordnung zu bringen. Grosse lehnte es rund ab, sich durch irgend welche Rücksichten dieser Art beeinflussen zu lassen. Er sagte, und fluchte dabei, daß meine Einmischung ihm ein schweres Hindernis, in den Weg gelegt habe und daß nur seine zärtliche Sorge für Lucilla ihn davon abhalten könne, den Kutscher auf der Stelle umkehren und uns von nun an für uns selbst sorgen zu lassen.

Als wir vor der Pforte des Pfarrhauses anlangten, hatte er sich ein wenig abgekühlt. Als wir durch den Garten gingen, erinnerte er mich, daß ich versprochen habe, zugegen zu sein, wenn Lucilla die Binde abgenommen werde.

»Nun merken Sie wohl auf!« sagte er, »Sie werden sehen, ob es gut oder schlimm ist, ihr zu sagen, daß sie mit ihren schönen weißen Armen den falschen Bruder umschlungen gehalten hat. Sie sollen mir nachher selbst sagen, ob Sie finden, daß Sie ihr in deutlichen Worten sagen dürfen: »Blau-Gesicht ist der Rechte.«

Wir fanden Lucilla in ihrem Wohnzimmer.

Grosse theilte ihr kurz mit, daß er nichts Besonderes in London zu thun und daß er deshalb seinen Besuch früher gemacht habe, als er es ursprünglich beabsichtigt habe. »Sie wollen an diesem trübseligen, regnichten Tage gern etwas unternehmen, liebes Kind; zeigen Sie doch Papa Grosse einmal, was Sie jetzt, wo Sie Ihre Augen wieder haben. damit anfangen können. Mit diesen Worten band er die Binde los, faßte sie dann ans Kinn und untersuchte ihre Augen, zuerst ohne seine Vergrößerungslinse und dann mit derselben.

»Sind Sie zufrieden mit meinen Augen?« fragte sie ängstlich.

»Ganz famos geht es mit Ihren Augen! Per Dampfwagen erster Classe, wie meine Freunde in Amerika sagen. Jetzt gebrauchen Sie einmal Ihre Augen. Zuerst erfreuen Sie Grosse durch einen Liebesblick. »Und dann sehen Sie mit Ihren Augen.«

Es war unmöglich, seinen Ton zu mißdeuten.

Er war nicht nur mit Ihren Augen zufrieden, er triumphirte. »So«, brummte er zu mir gewandt, »warum ist Herr Sebright nicht hier, um das zu sehen?«

Ich näherte mich begierig Lucilla, um ihre Augen genauer anzusehen. Sie sahen noch etwas trübe aus; auch bemerkte ich, daß sie sich unruhig und manchmal wild hin und her bewegten. Aber wie belebend und verschönernd wirkte doch schon das neue Augenlicht auf ihre ganze Erscheinung .Ihr immer reizendes Lächeln schien jetzt durch das Augenlicht wie verklärt und verbreitete einen Zauber über ihr sanftes Gesicht. Es war unmöglich, nicht nach einem Kuß von ihr zu verlangen. Ich trat auf Lucilla zu, um sie zu beglückwünschen, sie zu umarmen. Aber Grosse trat dazwischen und hielt mich zurück.

»Nein«, sagte er, »gehen Sie an das andere Ende des Zimmers und lassen Sie uns sehen, ob sie zu Ihnen kommen kann.«

Wie Alle, die nicht mehr von der Sache wissen, als ich, hatte ich keine Ahnung, wie jammervoll hilflos Menschen, die ihr Leben lang blind gewesen sind, sich, wenn sie das Augenlicht wieder erlangt haben, zuerst benehmen. In solchen Fällen ist die Anstrengung der Augen, die erst sehen lernen sollen, der Anstrengung der Glieder eines Kindes vergleichbar, das gehen lernt. Wenn Grosse der Sache nicht eine komische Seite abzugewinnen gewußt hätte, so würde die Scene, deren Zeuge ich jetzt sein sollte, höchst peinlich für mich gewesen sein. Meine arme Lucilla würde mich, anstatt mir, wie ich gehofft hatte, die größte Freude zu bereiten, wahrhaftig, glaube ich, das Herz gebrochen und mich in Thränen ausbrechen gemacht haben«

»Also jetzt«, sagte Grosse, indem er eine Hand auf Lucilla’s Arm legte, während er mit der anderen auf mich deutete. »Da steht sie. Können Sie zu ihr hingehen.«

»Natürlich kann ich das!«

»Ich wette mit Ihnen, daß Sie es nicht können. Zehntausend Pfund gegen sechs Pence. Abgemacht. Jetzt versuchen Sie einmal!«

Sie antwortete mit einer kleinen herausfordernden Geberde und that drei hastige Schritte vorwärts. Fassungslos und erschrocken blieb sie nach dem dritten Schritt, noch ehe sie den halben Weg von einem Ende des Zimmers bis zum anderen zurückgelegt hatte, plötzlich stehen.

»Ich habe sie hier stehen gesehen« sagte sie, indem sie auf die Stelle deutete, wo sie stand, und Grosse mit einem kläglichen Blick ansah. »Ich sehe sie auch jetzt noch — aber ich weiß nicht, wo sie ist! Ich fühle sie mir so nahe, als wenn sie meine Augen berührte, und doch —«, bei diesen Worten trat sie wieder einen Schritt vor und griff mit ihren Händen nun sicher nach der leeren Luft — »und doch kann ich ihr nicht nahe genug kommen, um sie zu fassen. O, was bedeutet das! was bedeutet das!«

»Es bedeutet, daß Sie mir meine sechs Pence bezahlen müssen«, sagte Grosse, »ich habe die Wette gewonnen!«

Sie gab ihren Unwillen darüber, daß er sie auslachte, durch ein eigensinniges Kopfschütteln und ein zorniges Zusammenziehen ihrer hübschen Augenbrauen zu erkennen.

»Warten Sie einen Augenblick«, sagte sie, »so leicht sollen Sie Ihre Wette nicht gewinnen; ich will wohl noch zu ihr kommen!« Und damit kam sie in einem Augenblick so leicht, wie ich nur zu ihr hätte gehen können, gerade auf mich zu.

»Ich wette noch einmal«, rief Grosse, der noch hinter ihr stand, mir zu. »Dieses Mal wette ich zwanzigtausend Pfund gegen lumpige vier Pence. — Sie hat ihre Augen geschlossen, um zu Ihnen zu gelangen. Wie?«

Es war wirklich so —sie hatte sich absichtlich wieder blind gemacht. Mit geschlossenen Augen konnte sie auf ein Haar die Entfernung ermessen, die sie mit offenen Augen zu berechnen völlig außer Stande war. Als sie fand, daß wir Beide sie ausgefunden hatten, setzte sich das arme Kind mit einem Seufzer der Verzweiflung nieder. »War das der Mühe werth«, sagte sie traurig zu mir, »mich der Operation zu unterziehen.«

Grosse trat zu uns an unserm Ende des Zimmers.

»Alles zu rechter Zeit«, sagte er, »nur Geduld, und Ihre hilflosen Augen werden schon sehen lernen. So! Jetzt wollen wir einmal mit dem Lernen anfangen. Sie haben eigene Vorstellungen — was — von dieser und jener Farbe? Dachten Sie sich, als sie blind waren, was Ihre Lieblingsfarbe sein würde, wenn Sie sehen könnten? Sie dachten es sich? Und welche Farbe war das? Kommen Sie, sagen Sie es mir.«

»Vorallem Weiß«, antwortete sie, »und dann Scharlachroth.«

Grosse hielt inne und dachte nach.

»Weiß begreife ich«, sagte er. »Weiß ist die Lieblingsfarbe junger Mädchen. Aber warum Scharlachroth? Konnten Sie Scharlachroth sehen, als Sie blind waren?«

»Beinahe«, antwortete sie, »wenn es hell genug war. Ich pflegte zu fühlen, daß etwas an meinen Augen vorüberziehe, wenn mir Scharlachroth gezeigt wurde.«

»Die Staarblinden sehen fast immer Scharlachroth«, murmelte Grosse vor sich hin. »Es muß seinen Grund haben und ich muß ihn herausfinden.« Er fuhr fort, Lucilla zu befragen.

»Und welche Farbe ist Ihnen am verhaßtesten?«

»Schwarz.«

Grosse nickte zustimmend mit dem Kopf. »Das dachte ich mir wohl«, sagte er. »Schwarz hassen sie immer. Das muß auch seinen Grund haben und den muß ich auch herausfinden.«

Darauf trat er an den Schreibtisch, und nahm ein Stück Papier aus dem Schreibkasten und einen runden Federwischer von scharlachrothem Tuch vom Rande des Tintenfasses. Dann sah er sich um, wackelte nach dem anderen Ende des Zimmers zurück und holte sich den schwarzen Filzhut, den er auf der Reise von London her getragen hatte. Er stellte den Hut, das Papier und den Federwischer in einer Reihe neben einander auf. Noch ehe er die nächste Frage thun konnte, deutete sie auf den Hut mit einer Geberde des Widerwillens.

»Nehmen Sie das weg«, sagte sie, »das mag ich nicht sehen.«

Grosse hielt mich zurück, noch ehe ich etwas sagen konnte.

»Warten Sie ein wenig«, flüsterte er mir zu, »es ist nicht ganz so merkwürdig wie Sie denken. Diese Blinden haben Alle, wenn sie zum ersten Mal wieder sehen können, denselben Haß gegen Alles, was dunkel ist.« Er wandte sich zu Lucilla.

»Sagen Sie mir«, fragte er, »ob eine von diesen Sachen Ihre Lieblingsfarbe hat?«

Sie ging mit verächtlicher Miene an dem Hut vorüber, sah sich den Federwischer an und setzte ihn wieder hin, sah sich das Blatt Papier an und legte es wieder hin, zauderte und schloß wieder ihre Augen.

»Nein«, rief Grosse, »das leide ich nicht, wie können Sie sich in meiner Gegenwart wieder blind machen? Was, ich gebe Ihnen Ihr Gesicht wieder und Sie schließen Ihre Augen. Gleich machen Sie sie wieder auf, oder ich stelle sie in die Ecke wie ein unartiges Kind. Ihre Lieblingsfarbe, jetzt heraus damit.

Sie öffnete ihre Augen sehr widerwillig und sah sich abermals den Federwischer und das Papier an.

»Ich sehe nichts, was so hell wäre, wie meine Lieblingsfarbe«, sagte sie.

Grosse hielt das Blatt Papier in die Höhe und fuhr mit seinen Fragen erbarmungslos fort.

»Was! ist Weiß weißer als das?«

»Tausendmal weißer als das.«

»Gut. Jetzt merken Sie auf. Dieses Papier ist weiß, — dieses Schnupftuch (und dabei riß er ihr das Schnupftuch aus der Schürzentasche) ist auch weiß, beides vom weißesten Weiß! Da haben Sie die erste Lection, liebes Kind. Hier in der Hand halte ich Gegenstände von der Farbe, die, als Sie blind waren, Ihre Lieblingsfarbe war.«

»Diese beiden Sachen?« rief sie, auf das Papier und das Schnupftuch deutend, als er sie wieder auf den Tisch warf, mit dem Ausdruck der bittersten Enttäuschung. Sie drehte den Federwischer und den Hut hin und her und blickte zu mir hinüber. Grosse, der es eben mit einem andern Experimente versuchen wollte, überließ es mir, ihr zu antworten. Das Resultat war in beiden Fallen dasselbe, wie bei dem Papier und dem Schnupftuch. Scharlachroth war nicht halb so roth, schwarz nicht den hundertsten Theil so schwarz, wie ihre Einbildungskraft es ihr in den Tagen ihrer Blindheit vorgespiegelt hatte. Und doch konnte sie sich in Betreff dieser letzteren Farbe, in Betreff des Schwarz ein wenig ermuthigt fühlen. Es hatte sie unangenehm berührt, gerade wie das Gesicht des armen Oscar sie berührt hatte, obgleich sie damals nicht gewußt hatte, daß es die ihr verhaßte Farbe trage. Das arme Kind machte einen verzweifelten Versuch, sich gegen ihren erbarmungslosen ärztlichen Lehrer zu behaupten. »Ich wußte nicht, das es Schwarz sei«, sagte sie, »aber der Anblick war mir trotzdem verhaßt.«

Sie versuchte es, während sie sprach, den Hut gegen einen dicht neben ihr stehenden Stuhl zu schleudern und warf ihn statt dessen hoch über der Stuhllehne gegen die Mauer, wenigstens sechs Fuß von dem Gegenstande, nach welchem sie gezielt hatte, entfernt. »Ich bin eine hilflose Närrin«, rief sie leidenschaftlich aus und wurde dabei feuerroth vor Verdruß. »Lassen Sie Oscar mich nicht sehen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, mich vor ihm lächerlich zu machen. Er wird herkommen«, fügte sie hinzu, indem sie sich mit einem flehenden Blick zu mir wandte. »Suchen Sie doch mich bei ihm zu entschuldigen, wenn er mich erst später am Tage zu sehen bekommt.«

Ich versprach ihr um so bereitwilligen eine Entschuldigung zu finden, als ich jetzt eine unerwartete Chance sah, sie, so lange sie Sehen lernte, bis zu einem gewissen Punkte mit der durch Oscar’s Abwesenheit in ihrem Leben bewirkten Lücke auszusöhnen.

Sie wandte sich wieder an Grosse.

»Fahren Sie fort«, sagte sie ungeduldig.

»Lehren Sie mich, mich nicht wie eine Blödsinnige geberden, oder legen Sie mir die Binde wieder um und machen mich wieder blind. Meine Augen nützen mir nichts. Hören Sie?« rief sie wiithend, indem sie ihn bei seinen breiten Schultern faßte und mit dem ganzen Aufgebot ihrer Kraft schüttelte, »meine Augen nützen mir nichts.«

»Gemach, gemacht!« rief Grosse »Wenn Sie sich nicht ruhig verhalten, Sie kleiner Feuerkopf, so werde ich Sie gar nichts lehren. Er nahm das Blatt Papier und den Federwischer und legte ihr beide Gegenstände, nachdem er sie gezwungen hatte, sich zu setzen, auf den Schooß.

»Wissen Sie«, fuhr er fort, »was man unter einem viereckigen und was man unter einem runden Gegenstand versteht?«

Statt ihm zu antworten, appellierte sie entrüstet an mich.

»Ist es nicht ungeheuerlich«, fragte sie mich, »daß er mir solche Fragen thut? O, wie grausam demüthigend! Lassen Sie nur Oscar das nicht hören.«

»Wenn Sie es wissen«, beharrte Grosse, »so können Sie es mir ja sagen. Sehen Sie sich die beiden Gegenstände auf Ihrem Schooß an. Sie sind beide rund oder beide viereckig? Oder ist der eine rund und der andere viereckig? Sehen Sie sie sich an und antworten Sie mir«

Sie sah ihn an und sagte nichts.

»Nun?« fuhr Grosse fort.

»Sie bringen mich außer Fassung, wenn Sie so dastehen und mich durch Ihre schrecklichen Brillengläser ansehen«, sagte sie gereizt.

»Sehen Sie mich nicht an und ich werde Ihnen gleich antworten.«

Grosse drehte sich mit seinem teuflischen Grinsen nach mir um und gab mir ein Zeichen, sie statt seiner genau zu beobachten. Kaum hatte er ihr den Rücken gekehrt, als sie die Augen schloß und mit den Fingerspitzen über das Papier und den Federwischer hinfuhr.

»Der eine Gegenstand ist rund, der andere viereckig«, antwortete sie, indem sie schlau die Augen gerade zu rechter Zeit wieder öffnete, um eine kritische Inspection bestehen zu können, als Grosse sich wieder nach ihr umwandte.

Er nahm ihr das Papier und den Federwischer aus den Händen und vertauschte diese Gegenstände, da er den Streich, den sie ihm gespielt, sehr wohl gemerkt hatte, mit einer kleinen Schale von Bronze und einem Buch.

»Welcher von diesen Gegenständen ist rund und welcher viereckig?« fragte er, indem er dieselben vor ihr in die Höhe hielt.

Sie sah erst das eine und dann das andere an, offenbar unfähig, die Frage nur mit Hilfe ihrer Augen zu beantworten. »Ich bringe Sie außer Fassung, nicht wahr?« sagte Grosse. »Sie können Ihre Augen« nicht schließen wenn ich Sie ansehe, meine kleine Lucilla, nicht wahr?«

Sie wurde abwechselnd roth und blaß. Ich fing an zu fürchten sie würde in Thränen ausbrechen. Grosse verstand es meisterlich, mit ihr umzugehen Dieser rauhe, häßliche, excentrische, alte Mann hatte den feinsten Takt, der mir je vorgekommen war.

»Schließen Sie nur Ihre Augen«, sagte er beschwichtigend, »das ist der erste Weg zum Lernen. Schließen Sie Ihre Augen, nehmen Sie die Gegenstände in die Hand und sagen mir erst einmal so, welcher rund und welcher viereckig ist.«

Sie sagte es ihm sofort.

»Gut. Nun öffnen Sie Ihre Augen und sehen Sie selbst, in der rechten Hand halten Sie die Schaale und in der linken das Buch. Sehen Sie es? Auch gut. Jetzt legen Sie die Sachen wieder auf den Tisch. Was wollen wir nun thun?«

»Darf ich einmal versuchen, ob ich schreiben kann«, fragte sie eifrig. »Ich bin so begierig, zu sehen, ob ich mit meinen Augen statt mit meinen Fingern schreiben kann.«

»Nein tausendmal nein! Ich verbiete Ihnen jetzt noch das Lesen und das Schreiben. Kommen Sie an’s Fenster. Wie verhalten sich Ihre Augen beim Sehen in die Ferne?«

Während wir unsere Experimente mit Lucilla gemacht hatten, hatte sich das Wetter wieder aufgeklärt. Die Wolken zerrissen die Sonne brach durch, die hellen blauen Stellen am Himmel erweiterten sich jeden Augenblick, riesige Schatten fuhren über die lustigen Abhänge der Hügel dahin. Lucilla erhob die Hände in sprachloser Verwunderung, als Grosse das Fenster öffnete und sie dieser Aussicht gegenüber stellte.

»Ob« rief sie aus. Reden Sie nicht mit mir! Berühren Sie mich nichts — Lassen Sie mich genießen! Hier erfahre ich keine Enttäuschung. Etwas so Schönes habe ich mir nie gedacht, nie geträumt!«

Grosse sah mich an und deutete schweigend auf sie. Sie war blaß geworden sie zitterte am ganzen Leibe, überwältigt von ihrer eigenen Ekstase über die Herrlichkeit des Himmels und die Schönheit der Erde, wie sie sich jetzt zum ersten Male ihren Blicken darbot. Ich erriet, warum Grosse meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. »Seheu Sie«, wollte er sagen »mit einem wie zart organisierten Wesen wir es zu thun haben. Kann man wohl zu behutsam sein bei der Behandlung eines so sensitiven Temperaments?« Ich verstand ihn nur zu gut und zitterte auch bei dem Gedanken an die Zukunft. Alles hing jetzt von Nugent ab. Und Nugent hatte mir selbst gesagt, daß er sich selbst nicht aus sich verlassen könne!

Ich fühlte mich erleichtert, als Grosse sie unterbrach. Sie bat ihn dringend, sie noch eine Weile am Fenster stehen zu lassen Aber er schlug es ihr ab. Gleich verfiel sie wieder in das entgegengesetzte Extrem.

»Ich bin in meinem eigenen Zimmer und bin meine eigene Herrin«, sagte sie zornig. »Ich will thun, was ich Lust habe.« Grosse war um eine Antwort nicht verlegen.«

»Thun Sie, was Sie Lust haben; strengen Sie Ihre schwachen Augen an und Sie werden morgen wenn Sie es versuchen zum Fenster hinauszuschauen gar nichts sehen.«

Diese Antwort erschreckte sie so, daß sie sich auf der Stelle wieder fügte. Sie bestand darauf, sich die Binde selbst wieder umzulegen.

»Darf ich jetzt nach meiner Schlafstube gehen?« fragte sie in einem einfach kindlichen Ton. »Ich habe so schone Dinge gesehen und mochte so gern quasi darüber nachdenken.«

Grosse gewährte sofort ihre Bitte, Alles was zu ihrer Beruhigung beitragen konnte, war ihm Recht.

»Wenn Oscar kommt«, flüsterte sie mir zu, als sie im Hinausgehen an mir vorüberkam »lassen Sie mich es ja wissen und sagen Sie ihm nichts von meinen Ungeschicklichkeiten.« Sie hielt einen Augenblick nachdenklich inne. »Ich verstehe mich selbst nicht«, sagte sie. »Ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt. Und doch möchte ich beinahe weinen!« Sie wandte sich zu Grosse. »Kommen Sie her, Papa. Sie sind heute sehr gütig gegen mich gewesen, ich will Ihnen einen Kuß geben.« Sie legte ihre Hände leicht auf seine Schulter; gab ihm einen Kuß auf seine runzlige Wange, schlang ihren Arm um mich und ging hinaus. Grosse trat rasch ans Fenster und bediente sich seines riesigen seidenen Schnupftuchs zu einem Zweck, zu dem er es wohl seit Jahren nicht gebraucht hatte.



Achtes Kapitel - Spuren von Nugent

»Madame Pratolungo!«

»Herr Grosse?«

Er steckte sein Schnupftuch wieder in die Tasche und wandte sich mit wieder ruhig gewordenem Gesicht und seine Theekasten-Schnupftabaksdose in der Hand haltend, nach mir um.

»Wollen Sie es jetzt«, sagte er, indem er emphatisch auf seine Dose klopfte, »nachden Sie sich mit eigenen Augen von Lucilla’s Zustand überzeugt haben, wagem dem lieblichen Mädchen zu sagen, welcher von Beiden fortgegangen ist und sie für immer verlassen hat?«

Es ist schwer zu sagen, wie weit weiblicher Eigensinn es zu treiben im Stande ist, wenn Männer ihnen das Bekenntniß zumuthen, daß sie Unrecht gehabt haben. Nach dem, was ich gesehen, hatte ich so wenig wie er den Muth, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich war nur zu eigensinnig, um das schon jetzt einzugestehen.

»Lassen Sie es sich gesagt sein«,fuhr er fort, »daß, gleichviel ob Sie ihre Furcht erwecken oder ihren Zorn erregen oder ihr Kummer bereiten, alle solche Gemüthsbewegungen sich geradewegs aus ihre zarten, schwachen Augen werfen. Diese Augen sind so zart und so schwach, daß ich Sie abermals um ein Nachtquartier bitten muß, um morgen sehen zu können,« ob ich ihnen nicht bereits zu viel zugemutet habe. Ich frage Sie jetzt zum letzten Mal, haben Sie noch den abscheulichen Muth, ihr die Wahrheit zu sagen?«

Endlich war es ihm gelungen, meinen Eigensinn zu beugen. Ich mußte, so ungern ich es auch that, bekennen, daß für jetzt nichts übrig blieb, als ihr erbarmungvoll die Wahrheit zu verbergen. Nachdem ich soweit gegangen war, versuchte ich es demnächst, ihn darüber um Rath zu fragen, wie ich wohl Lucilla Oscar’s Abwesenheit am Besten erklären könne. Er fand es völlig überflüssig mir als einem Weibe über eire Frage der Ausflüchte und Entschuldigungen Rath zu ertheilen.

»Ich habe nicht so lange in der Welt gelebt«, sagte er, »ohne etwas zu lernen. Wo es sich darum handelt, auf Eierschalen zu gehen und zu flunkern, haben die Frauen nichts von den Männern zu lernen.

— Wollen Sie einen kleinen Gang mit mir durch den Garten machen? Ich habe Ihnen noch etwas zu sagen und mich hungert und dürstet nach Diesem da.«

Und dabei zog er seine Pfeife aus der Tasche. Wir gingen in den Garten. Nachdem er sich an den ersten Zügen aus seiner Pfeife erlabt hatte, erschreckte er ·mich durch die Mittheilung, daß er die Absicht habe, Lucilla ohne Verzug von Dimchurch an die See zu schicken. Dabei leiteten ihn zwei Beweggründe: der medicinische Grund, ihren Organismus zu stärken, und der persönliche, sie vor schmerzlichen Entdeckungen dadurch zu bewahren, daß er sie aus dem Bereich des Geschwätzes im Pfarrhause und im Dorfe entferne. Grosse hatte die schlechteste Meinung von Herrn Finch und seinem Hause. Namentlich kannten seine Abneigung und sein Mißtrauen gegen den Pfarrer keine Grenzen; er charakterissirte den Papst von Dimchurch als einen Affen mit einer langen Zunge und einer affenmenschlichen Fähigkeit, Unheil anzurichten. Der Badeort, für den er sich entschieden hatte, war Ramsgate. Es lag hinreichend entfernt von Dimchurch und nahe genug an London, um es ihm möglich zu machen, Lucilla oft zu besuchen. Nothwendig brauchte er aber meine Mitwirkung zur Ausführung dieses neuen Plans. Wenn ich bereit sei, Lucilla unter meine Obhut zu nehmen, so wolle er mit dem langzüngigen Affen reden und wir könnten dann noch vor Ende der Woche nach Ramsgate abreisen.

Es gab nichts, was mich hätte hindern können, bei der Ausführung dieses Planes behilflich zu sein. Meine einzige Sorge außer Lucilla, meine Sorge für den lieben Papa, war glücklicherweise für einige Zeit beruhigt. Jeder Brief meiner Schwestern aus Frankreich brachte mir dieselben erfreulichen Nachrichten Mein ewig junger Vater war doch endlich dahinter gekommen, daß er nicht mehr in der Blüthe der ersten Jugend stehe. Er hatte sich unter pathetischen Ausdrücken des Bedauerns resigniert, jüngeren Leuten das Verlieben und das Duelliren zu überlassen. Durch Leidenschaften verwüstet, hatte der liebe Unschuldsengel sich jetzt vor Schwertern, Pistolen und Weibern, zum Sammeln von Schmetterlingen und Guitarrespielen geflüchtet. Ich hatte Zeit, mich ganz Lucilla zu widmen und freute mich aufrichtig auf die mir eröffnete Aussicht. Wenn ich mit ihr allein und von dem Pfarrhause, wo immer Gefahr war, daß ihr geschwätziger Klatsch zu Ohren komme, entfernt war, so durfte ich zuversichtlich hoffen, sie gegenwärtig vor Schaden zu hüten und sie Oscar für die Zukunft zu erhalten. Von ganzem Herzen erklärte ich mich Grosses Vorschlag zustimmig.

Nachdem wir uns im Garten getrennt hatten, ging er nach der vom Pfarrer bewohnten Seite des Hauses, um demselben in seiner ärztlichen Eigenschaft den von ihm gesellten Entschluß mitzutheilen, während ich meinerseits wieder zu Lucilla ging, um Oscar so gut wie möglich bei ihr zu entschuldigen und sie auf unsere nahe bevorstehende Entfernung von Dimchurch vorzubereiten.

»Fort, ohne mir Lebewohl gesagt! Fort, ohne mir auch nur geschrieben zu haben?«

Das war der erste Eindruck, den ich bei ihr hervorrief, als ich mein Bestes gethan hatte, Oscar’s Abwesenheit als etwas ganz Unschuldiges zu erklären. Ich glaubte den kürzesten und einfachsten Ausweg aus den: Schwierigkeit gewählt zu haben, indem ich den Sachverhalt nur umkehrte. Mit andern Worten, indem ich ihr erzählte, Nugent sei im Ausland in eine ernste Verlegenheit gerathen und Oscar sei plötzlich abberufen worden, ihm nachzureisen und ihm aus der Verlegenheit zu helfen. Vergebens erinnerte ich sie an Oscar’s ihr wohlbekannten Abscheu vor jeder Art von Abschiednehmen; vergebens stellte ich ihr vor, daß die Dringlichkeit der Sache ihm keine andere Wahl gelassen habe, als mir seine Entschuldigung und sein Lebewohl anzuvertrauen; vergebens versprach ich ihr, er, werde ihr bei erster Gelegenheit schreiben. Sie hörte mir zu, ohne überzeugt zu sein. Je beharrlicher ich die Sache zu erklären versuchte, desto beharrlicher betonte sie Oscar’s unerklärliche Rücksichtslosigkeit gegen sie. Was unsere Reise nach Ramsgate anlangte, so war es unmöglich, sie für die Sache zu interessiren. Ich gab es verzweifelt auf.

»Gewiß hat doch Oscar eine Adresse hinterlassen, unter der ich ihm schreiben kann!« sagte sie.

Ich konnte nur antworten, daß er zu unsicher über seine eigenen Bewegungen gewesen sei, um im Stande zu sein, das vor seiner Abreise zu thun.

»Die Sache ist schlimmer, als Sie denken«, fuhr sie fort, »ich glaube, Oscar fürchtet sich, seinen unglücklichen Bruder hierher zurückzubringen. Ich weiß, ich habe mich bei dem Anblick des Blaugesichts entsetzt. Aber ich habe das jetzt völlig überwunden. Ich empfinde nichts mehr von dem albernen Entsetzen vor dem armen Menschen, das mich erfüllte, so lange ich blind war. Jetzt, wo ich selbst gesehen habe, wie er wirklich aussieht, kann ich für ihn empfinden. Das wollte ich Oscar sagen. ich wollte ihm sagen, daß er seinen Bruder, wenn er wolle, zu uns zurückbringen könne, ich wollte gerade das, was jetzt geschehen ist, verhindern, verhindern, daß er glaube mich verlassen zu müssen, wenn er seinen Bruder sehen wolle. Ihr seid sehr hart gegen mich und ich habe wohl Grund, mich darüber zu beklagen.«

Trotz dieser kränkenden Aeußerungen empfand ich doch bei dem, was sie sagte, einigen Trost. Oscar’s Entstellung würde also nicht das schreckliche Hinderniß seiner Rehabilitierung bei Lucilla sein, für das ich es gehalten hatte. Ich bedurfte des Trostes, den diese Erwägung mir gewähren konnte, gar sehr. Lucilla zeigte zwar keine offene Feindseligkeit gegen mich, aber eine Kühle welche ich schmerzlicher empfand, als wirkliche Feindseligkeit.

Am nächsten Morgen frühstückte ich im Bett und stand erst gegen Mittag auf, gerade noch zeitig genug, um Grosse vor seiner Rückkehr nach London noch Lebewohl zu sagen.

Er war in der besten Laune. Lucilla’s Augen waren trotz der Anstrengung, die er ihnen Tags zuvor zugemuthet hatte, nicht nur nicht schlimmer, sondern besser geworden. Es bedurfte nur noch der stärkenden Luft von Ramsgate, um den Erfolg der Operation zu sichern. Herr Finch hatte Einwendungen erhoben, die sich alle um den Geldpunkt drehten; aber bei einer Tochter, die ihre eigene Herrin war und die ihr eigenes Vermögen hatte, waren seine Einwendungen von keinem Belang. Am nächsten oder spätestens am nächstfolgenden Tage sollten wir nach Ramsgate abreisen. Ich versprach unserm guten Doctor, ihm zu schreiben, sobald wir installiert sein würden und er verpflichtete sich seinerseits, — uns unmittelbar nachher zu besuchen.

»Lassen Sie sie ihre Augen täglich zwei gute Stunden gebrauchen,« sagte Grosse beim Abschied, »sie kann damit thun, was sie will, nur nicht lesen und schreiben, bis ich nach Ramsgate zu Ihnen komme. Es ist höchst wunderbar, zu sehen, wie ihre Augen sich machen. Das nächste Mal, daß ich den guten Herrn Sebright wiedersehe — hei! wie will ich da über diesen funkelnagelneuen respectabeln Mann herfahren!«

Ich konnte mich eines ängstlichen Gefühls, wie der Tag vergehen würde, nicht erwehren, als Grosse mich mit Lucilla allein ließ.

Zu meinem unaussprechlichen Erstaunen kam sie mir nicht nur mit den nöthigen Entschuldigungen für ihr Benehmen am vorhergehenden Tage entgegen, sondern zeigte sich vollkommen resigniert über den zeitweiligen Verlust von Oscar’s Gesellschaft. Nicht ich, sondern sie selbst bemerkte, er habe keine bessere Zeit für seine Abwesenheit wählen,könne, als diese für sie demüthigende Zeit, wo sie rund von viereckig unterscheiden lernen müsse. Nicht ich, sondern sie hieß die kleine Reise nach Ramsgate als eine angenehme Abwechselung in ihrem einförmigen Leben, welche ihr über Oscar’s Abwesenheit hinweghelfen würde, willkommen. Kurz, wenn sie einen Brief von Oscar gehabt hätte und durch denselben jeder Sorge für ihn überhoben gewesen wäre, so hätten ihre Worte und Blicke keinen schärferen Contrast zu ihren gestrigen Worten und Blicken bilden können, als sie es jetzt thaten.

Wenn ich keine andere Veränderung an ihr bemerkt hätte, als diesen willkommenen Wechsel ihrer Stimmung, so würde ich mich jenes Tages nur als eines ungetrübt glücklichen zu erinnern haben.

Aber leider habe ich noch etwas Unerfreuliches hinzuzufügen. Während sie sich bei mir entschuldigte und sich in so verständigen und so befriedigenden Ausdrücken, wie ich sie eben wiederholt habe, aussprach, bemerkte ich in ihrem Wesen eine sonderbare geheime Verlegenheit, wie ich sie ähnlich mir gegenüber noch nie an ihr beobachtet hatte. Und, was noch ausfallender war, als Zillah in’s Zimmer trat, bemerkte ich, daß Lucilla’s Verlegenheit sich in Gesicht und Wesen ihrer alten Amme, als diese mit mir sprach, wiederspiegelte.

Ich konnte aus dem, was ich beobachtete, nur einen Schluß ziehen; Beide verbargen etwas vor mir und Beide schämten sich dessen mehr oder weniger.

An einer früheren Stelle in dieser Erzählung habe ich von mir gesagt, ich sei von Natur nicht argwöhnisch. Ebendeshalb verfalle ich auch, wenn sich mir ein Argwohn unabweislich aufdrängt, wie es eben jetzt der Fall war, leicht in das entgegengesetzte Extrem. Im vorliegenden Fall richtete sich mein Argwohn um so entschiedener gegen eine bestimmte Person, als ich früher keinen Argwohn gegen dieselbe in mir hatte aufkommen lassen wollen. »Auf eine oder die andere Art«, sagte ich mir, »steckt Nugent Dubourg dahinter.«

Stand er im Geheimen unter dem Vorgeben, Oscar zu sein, mit ihr in Verbindung?

Der bloße Gedanke trieb mich, sie sofort wissen zu lassen, daß mir die Veränderung in ihrem Wesen nicht entgangen sei.

»Lucilla«, sagte ich, »ist etwas vorgefallen?«

»Was meinen Sie damit?« fragte sie kalt.

»Es kommt mir vor, als seien Sie etwas verändert«, fing ich an.«

»Ich verstehe Sie nicht«, antwortete sie und entfernte sich dabei von mir.

Ich sagte nichts mehr. Wenn unser Verhältnis weniger vertraulich und innig gewesen wäre, so hätte ich ihr vielleicht offen gestanden, was in mir vorging. Aber wie konnte ich zu Lucilla sagen: »Sie betrügen miich!« Das wäre das Ende unseres schwesterlichen Verhältnisses unserer Freundschaft gewesen. Wenn iu dem Verhältniß zweier Menschen, die sich lieben, das Vertrauen verloren geht, so ist Alles verloren. Von dem Augenblick an stehen sie sich wie Fremde gegenüber und müssen sich gegenseitig mit äußeren Höflichkeitsbezeugungen begnügen. Feinfühlende Gemüther werden es verstehen, warum ich mir die von ihr aufgedrängte Entfremduug gefallen ließ und nichts weiter sagte.

Ich ging allein in’s Dorf. Ich wußte es so gut zu machen, daß die Sache nichts Auffälliges hatte, als ich mich erst mit Gootheridge im Gasthof und dann mit dem Diener in Browndown ein wenig über Nugent unterhielt. Wenn Nugent im Geheimen nach Dimchurch zurückgekehrt war, so war es in dem kleinen Dorf fast unzweifelhaft sicher, daß einer von den beiden Männern ihn gesehen haben mußte. Aber keiner von Beiden hatte ihn gesehen.

Ich schloß daraus, daß er es nicht versucht habe, sich persönlich mit ihr in Verbindung zu setzen. Sollte er es noch schlauer und noch sicherer, brieflich versucht haben?

Ich kehrte nach dem Pfarrhause zurück. Es war dicht vor der Stunde wo Lucilla mit meiner mir von Grosse übertragenen Genehmigung ihre Augen gebrauchen sollte. Als ich ihr die Binde abnahm, bemerkte ich einen Umstand, welcher mich in dem Schluß, zu welchem ich gelangt war, bestärkte. Ihre Augen vermieden es geflissentlich, den meinigen zu begegnen. Ich unterdrückte den Schmerz, den mir diese neue Entdeckung verursachte, so gut ich konnte, und wiederholte ihr Grosse’s Verbot jedes Versuchs zu lesen oder zu schreiben, bis er sie wieder gesehen haben werde.

»Er braucht mir das nicht zu verbieten«, sagte sie.

»Haben Sie es schon versucht?« fragte ich.

»Ich habe ein kleines Buch mit Kupferstichen besehen«, antwortete sie, »aber ich konnte nichts unterscheiden. Die Linien verschoben sich alle in einander und schwammen mir vor den Augen.«

»Haben In Sie schon versucht zu schreiben?« fragte ich weiter. Ich schämte mich meiner, daß ich ihr diese Falle stellte, wiewohl die dringende Nothwendigkeit, herauszufinden, ob sie in geheimer Correspondenz mit Nugent stehe, mein Verfahren gewiß entschuldbar erscheinen ließ.

»Nein«, erwiderte sie, »zu schreiben habe ich nicht versucht.«

Bei diesen Worten wechselt sie die Farbe.

Ich muß hier bekennen, daß ich, als ich meine Frage that, zu aufgeregt war, um an etwas zu denken, dessen ich mich in einem ruhigeren Zustand erinnert haben wurde. Selbst wenn sie wirklich eine Correspondenz führte, welche sie vor mir geheim zu halten wünschte, hatte sie nicht nöthig, sich ihrer Augen zu bedienen. ZilIah pflegte ihr die für sie anlangenden Briefe vorzulesen, ehe ich in’s Pfarrhaus kam und sie konnte, wie ich bereits erzählt habe, kurze Billete schreiben, wobei sie sich mit den Fingern auf dem Papier zurecht fand. Ueberdies wurde, da sie unter Anwendung erhabener Lettern gelernt hatte, mit dem Gefühl zu lesen, gerade wie sie schreiben gelernt hatte, selbst wenn ihre Augen schon hinlänglich wieder hergestellt gewesen wären, um sie in den Stand zu setzen, kleine Gegenstände zu unterscheiden, doch nur Uebung sie befähigt haben, sich derselben zu Correspondenzzwecken zu bedienen.

Diese Erwägungen, welche mir im ersten Augenblick nicht eingefallen waren, drängten sich mir später im Laufe des Tages auf und ließen mich bis zu einem gewissen Punkt meine Ansicht ändern. Jetzt erklärte ich mir den Wechsel der Farbe, den ich an ihr beobachtet hatte, als das äußere Anzeichen eines ihr aufsteigenden Argwohns — des Verdachts, daß ich einen besonderen Beweggrund habe, sie zu befragen. Mein Argwohn gegen Nugent blieb übrigens dadurch unberührt. Ich mochte es Versuchen, wie ich wollte, ich konnte den Gedanken nicht los werden, daß er ein falsches Spiel mit mir spiele und daß er es auf die eine oder die andere Art möglich gemacht habe, nicht nur sich mit Lucilla in Verbindung zu setzen, sondern sie zu überreden, das, was er gethan hatte, vor mir geheim zu halten.

Ich verschob jeden Versuch, weitere Entdeckungen zu machen, auf den nächsten Tag.

Unmittelbar vor dem Schlafengehen fiel mir plötzlich ein, Zillah zu befragen. Aber bei einiger Ueberlegung kam ich davon zurück. Wie ich die Alte kannte, würde sie einfach geleugnet — und dann ihrer Herrin das Vorgefallene mitgetheilt haben. Und ich kannte Lucilla gut genug, um zu wissen, daß nach dem, was bereits zwischen uns vorgefallen war, daraus ein Streit mit mir entstanden sein würde. Die Dinge standen schon so schlimm genug, ich hätte sie um keinen Preis schlimmer noch machen mögen. Am nächsten Morgen beschloß ich, ein wachsames Auge auf das Dorf-Postamt und auf die Bewegungen der Amme zu haben.

Der Morgen brachte mir einen Brief aus dem Ausland.

Die Adresse war von der Hand einer meiner Schwestern. Wir pflegten einander regelmäßig alle vierzehn Tage oder drei Wochen zu schreiben Dieser Brief aber folgte seinem Vorgänger nach Verlauf von weniger als einer Woche. Was hatte das zu bedeuten? Gute oder schlimme Nachrichten?

Ich öffnete den Brief.

Er enthielt ein Telegram mit der Meldung, daß mein armer theurer Vater gefährlich verwundet in Marseille liege. Meine Schwestern waren bereits zu ihm geeilt und beschworen mich, ihnen ohne Verzug zu folgen. Brauche ich die Geschichte dieses jammervollen Unglücksfalles noch näher zu erzählen? Natürlich fängt sie mit einem Weibe und einer Entführung an, und endigt mit einem jungen Mann und einem Duell. Papa war so ritterlich, wie er leicht entflammt war. Es war die alte Geschichte!



Neuntes Kapitel - Eine schwere Zeit für Madame Pratolungo

Hätte ich nicht auf das Unglück, welches jetzt meine Schwestern und mich betroffen hatte, vorbereitet sein müssen? Hätte es mir nicht, wenn ich meine eigene Erfahrung von meinem armen Vater deutlich vor Augen gehalten hätte, klar sein müssen, daß die Gewohnheiten eines Lebens sich schwerlich am Ende dieses Lebens ändern? Wenn ich ordentlich nachgedacht hätte, würde ich gewiß vorausgesehen haben, daß je länger seine Besserung dauerte, desto näher ein Rückfall im Anzuge sein müsse und es nur um so wahrscheinlicher sei, daß er den hoffnungsvollen Erwartungen nicht entsprechen werde, welche ich von seinem Betragen für die Zukunft gehegt hatte. Ich gebe das Alles zu. Aber wo sind die Mustermenschen, die ordentlich nachdenken können, wenn ihr Nachdenken sie zu einem andern Schlusse führen würde, als es ihrem Interesse zusagt? O, meine verehrten Damen und Herren, dem Wesen der meisten Menschen liegt ein gewaltiger Unterbau von Thorheit zu Grunde!

Sobald ich wieder zu mir gekommen war, konnte ich über das, was mir zu thun oblag, nicht einen Augenblick zweifelhaft sein. Meine Pflicht gebot mir, so rasch von Dimchurch abzureisen, daß ich noch den von London nach dem Coutinent abgehenden Schnellzug am Abend um acht Uhr erreichen könnte.

Durfte ich aber Lucilla verlassen? Ohne Zweifel! Selbst ihre Interessen waren, so zärtlich ich sie auch liebte und so ängstlich besorgt ich für sie war, mir doch nicht so heilig, wie die Interessen, welche mich an das Krankenbett meines Vaters riefen.

Ich hatte noch einige Stunden vor mir, bevor ich Lucilla würde verlassen müssen. Alles was ich thun konnte, war, diese Stunden dazu zu verwenden, die denkbar besten Vorkehrungen zu ihrem Schutze in meiner Abwesenheit zu treffen.

Lange konnte unsere Trennung nicht dauern. Bei dem hohen Alter meines Vaters mußte sich der quälende Zweifel, ob er sterben oder am Leben bleiben werde, bald lösen.

Ich ließ sie bitten, auf mein Zimmer zu kommen und zeigte ihr meinen Brief.

Der Inhalt desselben betrübte sie aufrichtig.

Einen Augenblick, während sie mir in wenigen Worten ihre Theilnahme ausdrückte, machte sich der peinliche Zwang in ihrem Benehmen gegen mich nicht bemerklich. Er kam aber alsbald wieder zum Vorschein, als ich ihr meine Absicht, noch an demselben Tage nach Frankreich zu reisen, mittheilte und ihr mein Bedauern darüber ausdrückte, daß unsere Reise nach Ramsgate für jetzt aufgeschoben werden müsse. Sie gab mir nicht nur eine gezwungene Antwort, bei der es mir vorkam, als fasse sie eben im Augenblicke einen Plan, sondern sie verließ mich auch alsbald wieder unter einer ganz gewöhnlichen Entschuldigung. »Sie haben bei dieser traurigen Veranlassung gewiß viel zu denken; ich will Ihnen nicht länger lästig fallen. Wenn Sie meiner bedürfen, so wissen Sie, wo ich zu finden bin.«

Mit diesen Worten ging sie zum Zimmer hinaus. Als sie die Thüre hinter sich geschlossen hatte, überkam mich ein Gefühl der Hilflosigkeit und Verwirrung, wie ich es nie empfunden hatte.

Ich fühlte, daß ich irgend etwas vornehmen müsse, um nicht ganz zusammen zu brechen, und machte mich daran, die wenigen Gegenstände, deren ich zur Reise bedurfte, zusammenzupacken. Ich, die ich gewohnt war, mich bei allen Vorkommnissen meines Lebens rasch zu entschließen, war jetzt nicht einmal klar genug, um die Thatsachen zu sehen, wie sie wirklich waren. Einen Entschluß zu fassen, war ich in jenem Augenblick so fähig, wie Frau Finch’s Baby.

Die Anstrengung des Packens half mir, mich ein wenig zu erholen, brachte mich aber meiner gewohnten Fassung in Gemüth und Geist um nichts näher.

Als ich fertig war, setzte ich mich rathtos nieder; ich fühlte das dringende Bedürfniß, vor meiner Abreise über mein Verhältniß zu Lucilla in’s Klare zu kommen und wußte doch noch immer nicht, wie ich es anfangen sollte. Mit unbeschreiblichem Widerwillen fühlte ich plötzlich Thränen in meinen Augen. Ich hatte gerade noch genug von der Wittwe Pratolungo’s in mir übrig, um mich meiner von ganzem Herzen zu schämen. Frühere Wechselfälle und Gefahren in den Tagen meines republikanischen Lebens mit meinem Gatten, hatten mich zu einer tüchtigen Fußgängerin gemacht und mir eine zigeunerhafte Liebhaberei für das Wandern im Freien, ähnlich der meiner kleinen Jicks eingepflanzt. Ich setzte mir meinen Hut auf und ging hinaus, zu sehen, was körperliche Bewegung für mich zu thun vermöge.

Ich versuchte es mit dem Garten. Nein! Der Garten war mir, ich kann nicht sagen warum, nicht groß genug. Ich hatte noch einige Stunden übrig. Ich versuchte es mit den Hügeln. Als ich mich links wandte und an der Kirche vorüberging, hörte ich durch die offenen Fenster das Bum, Bum der Stimme des Ehrwürdigen Finch, der die Dorfkinder katechisirte. Dem Himmel sei Dank! er konnte mir auf keine Weise in den Weg kommen. So rasch ich konnte, stieg ich die Hügel hinauf. Die frische Luft und die Bewegung klärten meinen Geist. Nachdem ich länger als eine Stande scharf marschirt war, kehrte ich nach dem Pfarrhause zurück und hatte mich wiedergefunden. Vielleicht waren noch einige Reste von Unentschlossenheit in mir, oder übte mein Schmerz eine entnervende Wirkung auf mich, welche mich die Veränderung in meinem Verhältniß zu Lucilla noch peinlicher als bisher empfinden ließ. Ich war jetzt entschlossen, es zu einer offenen Erklärung mit Lucilla zu bringen, bevor ich sie unbeschützt im Pfarrhause ließe; aber auch jetzt noch schreckte ich davor zurück, mich einer directen Abweisung in einem Gespräch mit ihr auszusetzen. Ich nahm ein Blatt aus dem Buch des armen Oscar und schrieb darauf, was ich ihr zu sagen hatte.

Ich klingelte einmal, noch einmal, Niemand erschien. Ich ging nach der Küche; Zillah war nicht da. Ich klopfte an die Thür ihres Schlafzimmers, keine Antwort; ich machte die Thür auf, das Schlafzimmer war leer. Ich war also genöthigt, entweder, so ungeschickt es auch herauskommen würde, Lucilla selbst mein Billet zu geben, oder mich zu entschließen, doch mit ihr zu reden.

Ich konnte es nicht über mich gewinnen, mit ihr zu reden; ich ging daher mit meinem Billet in der Hand nach ihrem Zimmer und klopfte.

Aber auch hier erhielt ich keine Antwort. Ich klopfte noch einmal, wieder keine Antwort. Ich öffnete die Thür; das Zimmer war leer. Auf dem kleinen Tisch am Fuße des Bettes lag ein an mich adressirter Brief. Die Adresse war von Zillahs Hand. Aber in der Ecke stand Lucilla’s in ihrer gewöhnlichen Weise geschriebener Name, zum Zeichen, daß sie den Brief ihrer Amme dictirt habe. Mir fiel ein Stein vom Herzen als ich den Brief in die Hand nahm. Derselbe Gedanke, schloß ich, auf den ich verfallen war, war auch ihr gekommen. Auch sie war von der Verlegenheit einer persönlichen Erklärung zurückgeschreckt; auch sie hatte geschrieben und wich mir aus, bis ihr Brief für sie gesprochen und uns vor meiner Abreise wieder ausgesöhnt habe.

In dieser angenehmen Erwartung öffnete ich den Brief. Man urtheile, was ich empfinden mußte, als ich sah, was er wirklich enthielt.

»Liebe Madame Pratolungo, — Sie werden mir beistimmen, daß es nach Herrn Grosse’s Erklärung in Betreff der Wiederherstellung meiner Augen sehr wichtig für mich ist, meine Reise nach Ramsgate nicht zu verschieben. Da Sie durch Umstände, die ich aufrichtig bedaure, mich an die See zu begleiten verhindert sind, habe ich beschlossen, nach London zu meiner Taute, Fräulein Batchford, zu gehen und dieselbe zu bitten, mich statt Ihrer zu begleiten. Ich habe so viele Beweise ihrer aufrichtigen Zuneigung zu mir, daß ich fest überzeugt sein kann, sie werde Ihnen gern die Obhut über mich abnehmen. Da ich keine Zeit verlieren darf, so reise ich ab, ohne Ihre Rückkehr von Ihrem Spaziergang abzuwarten. Sie wissen zu genau, wie wichtig unter Umständen ein förmliches Lebewohl sein kann, als daß ich befürchten müßte, Sie würden es mir übel nehmen, daß ich mich auf diese Weise von Ihnen verabschiede. Mit den besten Wünschen für die Wiederherstellung Ihres Herrn Vaters, verbleibe ich

Ihre treu ergebene Lucilla.

P.s. Sie brauchen sich keine Sorge meinetwegen zu machen. Zillah bringt mich nach London und sobald ich im Hause meiner Tante angelangt bin, werde ich mich mit Herrn Grosse in Verbindung setzen.«

Hätte nicht ein Satz in dem Brief gestanden, so würde ich sicherlich dieses grausame Schreiben mit dem sofortigen Aufgeben meiner Stellung als Lucilla’s Gesellschafterin beantwortet haben.

Dieser Satz war der, in welchem Lucilla mir die Entschuldigung, die ich für Oscar’s Abwesenheit vorgebracht hatte, so höhnisch zurückgab. Die sarkastische Anspielung meiner genauen Bekanntschaft mit einem Vorfall, der es unmöglich gemacht habe, sich mit einem förmlichen Lebewohl aufzuhalten, beseitigte meinen letzten leisen Zweifel daran, daß Nugent hier sein verrätherisches Spiel getrieben habe. Ich hegte jetzt nicht mehr nur den Argwohn, sondern die feste Ueberzeugung, daß er sich unter dem Namen seines Bruders mit ihr in Verbindung gesetzt und daß er es auf eine mir unerklärliche Weise verstanden habe, so auf Lucilla’s Gemüth zu wirken, das innewohnende Mißtrauem welches ihre Blindheit ihrem Wesen eingepflanzt hatte, so aufzuregen, daß es ihm gelungen war, ihr für den Augenblick alles Vertrauen zu mir zu rauben.

Auch mit dieser Ueberzeugung hatte ich noch mitleidige und großmüthige Empfindungen für Lucilla. Weit entfernt, meine arme, betrogene schwesterliche Freundin wegen ihrer grausamen Abreise und ihres noch grausameren Briefes zu tadeln, maß ich Nugent die ganze Schuld bei. So sehr ich auch durch meine eigenen Sorgen in Anspruch genommen war, so mußte ich doch an die Gefahr, in der sich Lucilla befand und an das Unrecht denken, das Oscar widerfahren war. Mein früherer Entschluß, die beiden wieder mit einander zu vereinigen, stand noch unerschütterlich fest und was ich Nugent schuldig war, war mir auch in diesem Augenblicke so gegenwärtig, daß ich meine Schuld voll abzutragen beschloß.

Was konnte ich aber, bei der Wendung, welche die Dinge genommen hatten und bei der Kürze der Zeit,·die mir noch übrig blieb, jetzt thun? Wie konnte ich, wenn Fräulein Batchford, wie ich es als wahrscheinlich annehmen mußte, ihre Nichte nach Ramsgate begleitete, Nugent daran verhindern, sich in meiner Abwesenheit mit Lucilla während ihres Aufenthaltes an der See in Verbindung zu setzen? Um darüber mit mir ins Reine zu kommen, mußte ich zuvor in Erfahrung bringen, ob Fräulein Batchford als ein Mitglied der Familie in Betreff des traurigen Verhältnisses, in welchem Oscar und Lucilla jetzt standen, ins Vertrauen gezogen werden solle.

Die einzige Person, die ich in dieser Schwierigkeit zu Rathe ziehen konnte, war der Pfarrer. In meiner Abwesenheit ruhte ersichtlich die ganze Verantwortlichkeit auf dem Ehrwürdigen Finch als Haupt der Familie. Ich ging sofort nach der anderen Seite des Hauses. Wenn Herr Finch von seiner Katechisirung noch nicht wieder nach Hause zurückgekehrt war, so mußte ich mich im Dorfe nach ihm erkundigen und ihn in den Hütten seiner Gemeindemitglieder aufsuchen. Der Klang seiner gewaltigen Stimme überhob mich alsbald jedes Zweifels in dieser Beziehung. Das Bum-Bum, das ich zuletzt aus der Kirche hatte ertönen hören, schallte mir jetzt wieder aus dem Studierzimmer entgegen.

Als ich das Zimmer betrat, fand ich Herrn Finch stehend und in höchster Aufregung, Frau Finch und ihr Baby, welche sich, wie gewöhnlich in eine Ecke verschanzt hatten, haranguirend. Mein Erscheinen auf der Scene gab dem Strom seiner Beredtsamkeit augenblicklich eine andere Richtung, indem sich derselbe sofort über meine arme Person ergoß. Der Leser wird sich aus dem Anfang dieser Erzählung erinnern, daß der Pfarrer und Lucilla’s Tante seit undenklichen Zeiten auf dem schlechtesten Fuße gestanden hatten und dadurch auf den folgenden Austritt genügend vorbereitet sein.

»Da sind Sie ja! Eben wollte ich nach Ihnen schicken«, rief mir der Papst von Dimchurch entgegen. »Regen Sie meine Frau nicht auf. Sprechen Sie nicht Mit ihr! Sie sollen gleich hören, warum. Reden Sie nur mit mir. Seien Sie ruhig, Madame Pratolungo. Sie wissen nicht, was vorgefallen ist; ich will es Ihnen sagen.« .

Ich wagte es, ihn zu unterbrechen und ihm zu sagen, daß ich durch Lucilla’s Brief von der plötzlichen Abreise seiner Tochter nach dem Hause ihrer Tante unterrichtet sei. Herr Finch machte eine ungeduldig abwehrende Handbewegung, als wolle er damit ausdrücken, daß meine Antwort zu unwichtig sei, um auch nur die geringste Notiz davon zu nehmen.

, »Ja! ja! ja! Ich weiß, Sie sind oberflächlich von den Thatsachen unterrichtet. Aber Sie sind weit entfernt, zu wissen, was die plötzliche Entfernung meiner Tochter aus meinem Hause wirklich bedeutet. Aengstigen Sie sich nicht, Madame Pratolungo, und regen Sie meine Frau nicht auf. Wie geht es Dir, liebes Kind? Was macht das Kind? Gut? Dank der allmächtigen Vorsehung, geht es Euch Beiden gut. — Nun hören Sie mich an, Madame Pratolnugo. Die Flucht meiner Tochter, ich sage absichtlich Flucht, denn es ist nichts Geringeres — die Flucht meiner Tochter aus meinem Hause — ich flehe Sie an, seien Sie ruhig — bedeutet einen zweiten Schlag, den die Familie meiner ersten Frau mir versetzt. Mir versetzt«, wiederholte Herr Finch, indem er sich bei der Erinnerung an seine alte Feindschaft mit den Batchfords ereiferte — »den mir Fräulein Batchford, Lucilla’s Tante, in der Person meiner zweiten Frau und meines unschuldigen Kindes versetzt — Bist Du auch wirklich wohl, liebes Kind? Ist das Kind auch wirklich wohl? Dem Himmel sei Dank, ja! — Concentriren Sie Ihre Aufmerksamkeit, Madame Pratolungo, Sie sind zerstreut. Von Fräulein Batchford angestiftet, hat meine Tochter mein Haus verlassen. Die Reise nach Ramsgate ist eine reine Ausflucht. Und wie hat sie mein Haus verlassen? Nicht nur, ohne mir vorher Lebewohl zu sagen — ich bin ja Niemand! — sondern ohne die geringste Rücksicht auf die Lage meiner Frau zu nehmen. In ihren Reisekleidern trat meine Tochter übereilig, oder mich des drastischen Ausdrucks meiner Frau zu bedienen, »stürzte sie« in die Kinderstube, wo meine Frau eben damit beschäftigt war, dem Säugling mütterliche Nahrung zu verabreichen. Unter Umständen, welche das Herz eines Banditen oder Wilden gerührt haben würden, kündigte meine unnatürliche Tochter — erinnere mich, Frau, daß ich heute Abend Shakespeare’s König Lear vorlese — ohne Vorbereitung an, daß Sie durch heimische Umstände sie nicht nach Ramsgate bgleiten könnten. Ich bin betrübt, davon zu hören, Madame Pratolungo. Geben Sie der Vorsehung die Schuld. Durchhalten, Mrs. Finch; durchhalten, nachdem sie meine Frau heute morgen mit dieser erschütternden Nachricht erschreckt hatte, erklärte meine Tochter als nächstes, dass sie vorhatte, das Dach ihres Vaters zu verlassen, ohne darauf zu warten, ihrem Vater Lebwohl zu sagen. Das Erreichen eines Zuges, werden Sie sehen, war (kein Zweifel auf Betreiben Miss Batchfords) von höherer Wichtigkeit als die elterliche Umarmung oder der väterliche Segen. Nachdem sie eine Nachricht der Entschuldigung für mich hinterlassen hatte, stieß mein herzloses Kind (Ich gebrauche Mrs. Finch bildliche Sprache ein weiteres Mal - Du hast sehr, sehr mächtige Ausdrücke, Mrs. Finch) - stieß mein herzloses Kind heraus aus der Kinderstube, um den Zug zu kriegen; nachdem sie, soweit sie wusste oder sie darum besorgt war, es geschafft hatte, meiner Frau einen Schock zu versetzen, der die Quelle des mütterlichen Unterhalts an ihrem Grund versauert haben könnte. Das ist ein Schicksalsschlag, Madame Pratolungo! Wie kann ich wissen, dass nicht in diesem Moment eine saure Störung durchgeführt wurde, anstatt einer gesunden Annäherung zwischen Mutter und Kinde? Ich werde Ihnen einen alkalischen Schluck vorbereiten, Mrs. Finch, der nach den Mahlzeiten genommen werden muss. Nicht sprechen; nicht bewegen! Lass mich deinen Puls fühlen. Ich halte Miss Batchford für all das verantwortlich, Madame Pratolungo, für was auch immer passiert - meine Tochter ist ein bloßes Werkzeug in den Händen der Familie meiner ersten Frau. Lass mich deinen Puls fühlen, Mrs. Finch. Mir gefällt dein Puls nicht. Eine liegende Stellung und ein weiteres warmes Bad - unter der Vorsehung, Madame Pratolungo - mag den Schlag abwehren. Könnten Sie freundlicherweise die Tür öffnen und Mrs. Finchs Taschentuch holen? Lassen Sie den Roman stehen - das Taschentuch.«

Ich ergriff die erste Gelegenheit, wieder zu sprechen, als Mr. Finch seine Frau (mit seinem Arm um ihre Hüfte) zur Tür führte - indem ich die Frage, die ich stellen wollte, in dieser vorsichtigen Art stellte:

»Schlagen Sie vor, Sir, entweder mit Ihrer Tochter oder mit Miss Batchford zu sprechen, während Lucilla vom Pfarrhaus entfernt ist? Meine Absicht, diese Frage zu wagen -«

Bevor ich meine Absicht darlegen konnte, drehte sich Herr Finch herum (wobei er auch Mrs. Finch mit sich drehte) und beäugte mich von Kopf bis Fuß mit einem Blick von entrüstetem Erstaunen.

»Ist es möglich, dass sie diesen doppelten Schiffsbruch sehen können« sagte Mr. Finch, und meinte damit seine Frau und sein Kind, »und annehmen, dass ich selbst Kontakt aufnehmen oder Kontakt jeglicher Art gutheißen würde mit den Personen, die dafür verantwrotlich sind? Meine Güte! Kannst Du Madame Pratolungos außergewöhnliche Frage erklären? Muss ich das so verstehen (oder verstehst du das so), dass Madame Pratolungo mich beleidigen will?«

Es war nutzlos, mich zu erklären. Es war nutzlos für Mrs. Finch (die einige nutzlose Anstrengungen machte, ein oder zwei Worte dazu in ihrem eigenen Interesse zu sagen), ihren Ehemann zu besänftigen. All das, was die arme kränkliche Dame tun konnte, war mich darum zu bitten, ihr aus dem Ausland zu schreiben. »Es tut mir leid, dass Sie Unannehmlichkeiten haben; und ich wäre froh, von Ihnen zu hören.« Mrs. Finch hatte kaum Zeit diese freundlichen Worte auszusprechen, bevor der Pfarrer mit einer donnernden Stimme von mir verlangte, mir das »doppelte Schiffswrack« und es zu respektieren, wenn ich keinen Respekt vor ihm hatte - und damit ging er, seine Frau und sein Baby aus dem Zimmer.

Nachdem ich die Absicht, die mich in das Studierzimmer gebracht hatte, erreicht hatte, machte ich keinen Versuch ihn aufzuhalten. Das wenige Gefühl, das der Mann in seinen besten Zeiten besaß, war vollständig aufgebracht durch den Schlag, welchen Lucillas abrupte Abreise auf seine Wichtigkeit seiner Meinung nach gehabt hatte. Dass es in einer Aussöhung zwischen ihm und seiner Tochter vor der Fälligkeit der nächsten Zeichnung der Haushaltsausgaben kommen würde, war ein Angelegenheit von absoluter Sicherheit. Aber bis diese Zeit kam, fühlte ich, dass es gleichsam sicher war, dass er seine verletzte Würde damit verteidigen würde, irgendeinen Kontakt persönlich oder schriftlich mit Ramsgate aufzunehmen. Während der kurzen Zeit meiner Abwesenheit von England würde Miss Batchford als unkenntlich von der gefährlichen Stellung ihrer Nichte zwischen den Zwillingsbrüdern zurückgelassen werden, so wie auch Lucilla selbst. Dies zu wissen, war die Information, wegen der ich hergekommen war. Nichts war mehr nötig, um mein Gehirn wieder einmal zum Arbeiten zu bringen und darauf zu reagieren.

Wie sollte ich darauf reagieren?

In diesem Augenblick sah ich nur einen Weg. Für den Fall, daß Grosse vor meiner Rückkehr Lucilla für völlig wiederhergestellt erklären sollte, konnte ich nichts Besseres thun, als Fräulein Batchford in die Lage versetzen, an meiner Stelle die Wahrheit zu verkünden. Ich mußte aber die Gefahr einer vorzeitigen Enthüllung verhüten, mit andern Worten, ich mußte Vorkehrungen treffen, daß die alte Dame das Geheimniß nicht eher erführe, als die Zeit gekommen wäre, wo dasselbe ohne Gefahr würde offenbart werden können.

Diese anscheinend so verwickelte Schwierigkeit war leicht zu heben, wenn ich vor meiner Abreise statt eines Briefes zwei Briefe schrieb.

Den ersten Brief adressirte ich an Lucilla. Ohne ihres Benehmens gegen mich irgend welche Erwähnung zu thun, legte ich ihr mit aller erforderlichen Deliecatesse, aber unter Angabe aller Einzelheiten ihre Stellung zwischen Oscar und Nugent dar und verwies sie für die Beweise der Wahrheit meiner Behauptungen auf ihre Verwandten im Pfarrhause. »Ich überlasse es Ihnen ganz fügte ich hinzu, »ob Sie mir antworten wollen oder nicht. Prüfen Sie die Wahrheit meiner Mittheilung und wenn Sie sich wundern sollten, daß dieselbe so spät kommt, so wenden Sie sich an Herrn Grosse, den die ganze Verantwortlichkeit dafür trifft.« Damit endete ich, entschlossen, wie ich war, meine Rechtfertigung nach dem Unrecht, das mir Lucilla angethan hatte, den Thatsachen zu überlassen. Ich gestehe, ihr Benehmen hatte mich, wenn ich auch Nugent die ganze Schuld beimaß, doch zu tief gekränkt, als daß ich es der Mühe werth hätte halten sollen, ein Wort zu meiner Vertheidigung zu sagen.

Nachdem ich diesen Brief versiegelt hatte, schrieb ich an Lucilla’s Tante.

Es war keine leichte Sache für mich, mich an Fräulein Batchford zu wenden. Die Verachtung, welche sie für Herrn Finch’s politische und religiöse Ansichten hegt, wurde mehr als aufgewogen durch ihre entschiedene Ueberzeugung gegen meine republikanischen Ansichten. Ich habe schon früher erzählt, wie ein politischer Disput zwischen der torystischen alten Dame und mir in einen Zank zwischen uns ausartete, in Folge dessen mir seit jener Zeit die Thür der alten Dame verschlossen war. Trotzdem wagte ich es, ihr zu schreiben, weil ich wußte, daß Fräulein Batchford, abgesehen von ihren leidenschaftlichen Vorurtheilen, eine vornehme Dame im besten Sinne des Wortes, daß sie ihrer Nichte zärtlich ergeben und ebenso bereit sei, mir, abgesehen von meinen leidenschaftlichen Vorurtheilen, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wie ich bereit war, gerecht gegen sie zu sein. Ich schrieb in einem Ton wahrer echter Hochachtung, appellirte an ihre Nachsicht, um mich zu einem gleichen Verfahren zu ermuthigen, und bat sie, Lucilla meinen Brief an dem Tage zu geben, wo Grosse jede weitere ärztliche Behandlung für überflüssig erklären würde. Bis dahin bat ich Fräulein Batchford im Interesse ihrer Nichte, meinen Brief als eine streng vertrauliche Mittheilung zu betrachten, indem ich hinzufügte, daß die Gründe, welche mich zu dieser Bitte veranlaßten, sich in meinem Briefe an Lucilla finden würden, welchen ich Fräulein Batchford zn lesen ermächtigte, sobald die Zeit, ihn zu öffnen, gekommen sein werde.

Auf diese Weise hatte ich, wie ich sicher glaubte, die einzige mögliche Maßregel ergriffen, um Nugent Dubourg zu verhindern, in meiner Abwesenheit ernstes Unheil einzurichten.

Was ihm auch seine unbezähmbare Leidenschaft für Lucilla zu unternehmen verleiten mochte, keinesfalls konnte er irgend einen entscheidenden Schritt thun, ehe Grosse Lucilla für völlig wiederhergestellt erklärt haben würde. An dem Tage, wo Grosse diese Erklärung abgäbe, würde sie meinen Brief erhalten und aus demselben die abscheuliche Täuschung, die man gegen sie geübt hatte, erfahren.

.

Der Gedanke an einen Versuch, Nugent aufzufinden, kam mir gar nicht in den Sinn. Wo er sich auch aufhalten mochte, in England oder im Auslande, es würde vergeblich gewesen sein, noch einmal an seine Ehre zu appelliren. Ich würde mich nur selbst herabgesetzt haben, wenn ich nochmals mit ihm gesprochen und ihm vertraut hätte. Das Einzige, was geschehen konnte, war, ihn, sobald es möglich war, vor Lucilla bloßzustellen.

Ich hatte eben meine Briefe vollendet und den einen in den andern eingeschlossen, als der gute Herr Gootheridge, mit dem ich vorher die nöthige Verabredung getroffen hatte, mich abrief, um mich in seinem leichten Wägelchen nach Brighton abzuholen. Die Chaise, die er zu vermiethen pflegte, war bereits zu derselben Reise von Lucilla und ihrer Amme in Anspruch genommen und war noch nicht wieder von Brighton zurückgekommen.

Ich erreichte den Zug noch rechtzeitig und kam in London so früh an, daß ich noch Zeit übrig behielt. Entschlossen, mich selbst zu überzeugen, daß mein Brief an seine richtige Adresse gelangte, fuhr ich vor dem Hause von Fräulein Batchford vor und sah, wie der Kutscher meinen Brief dem Diener übergab.

Es war ein bitterer Augenblick, als ich aus Furcht, Lucilla möchte am Fenster sein und mich sehen, meinen Schleier über’s Gesicht zog. Außer dem Diener, der die Thür öffnete, war Niemand sichtbar. Wenn ich in dem Augenblick Tinte, Feder und Papier zu meiner Disposition gehabt hätte, so würde ich, glaube ich, doch noch schließlich an Lucilla geschrieben haben. Wie die Dinge standen, konnte ich nichts thun, als ihr das Unrecht, welches sie mir angethan hatte, vergeben. Ich vergab ihr vom Grund meines Herzens und sehnte mich nach der gesegneten Stunde, die uns wieder vereinigen würde.

Inzwischen konnte ich jetzt, nachdem ich Alles, was in meiner Macht stand, gethan hatte, sie zu schützen und ihr zu helfen, alle meine Gedanken, soweit sie nicht von meinem armen mißleiteten Vater in Anspruch genommen waren, Oscar zuwenden.

Genöthigt, nach dem Continent abzureisen, beschloß ich, wiewohl die Chancen äußerst ungünstig fürs mich standen, Alles, was ich in meiner peinlichen Lage vermochte, aufzubieten, um den Ort, wohin sich Oscar geflüchtet hatte, zu entdecken. Die traurigen Stunden banger Erwartung am Krankenlager meines Vaters würden mir leichter vergehen, wenn ich überzeugt sein könnte, daß die Nachsuchungen nach dem Verlorenen auf meinen Antrieb ihren Fortgang nähmen und wenn ich mir von Tag zu Tag würde sagen können. daß, wenn nicht mehr, doch die Möglichkeit für mich vorhanden sei, ihn wiederzusehen.

Das Bureau des Advocaten den ich während meines früheren Besuchs in London zu Rathe gezogen hatte, lag auf meinem Wege nach dem Bahnhof. Ich fuhr vor und war glücklich genug, ihn noch zu treffen.

Von Oscar hatte er noch nichts gehört. Der Advocat erwies sich mir jedoch nützlich durch einen Empfehlungsbrief, den er mir an einen Mann in Marseille gab, dessen Geschäft darin bestand, schwierige vertrauliche Nachforschungen anzustellen und der Agenten in allen großen Städten Europa’s hatte. Die Spur eines Mannes von Oscar’s traurig auffallendem Aeußeren mußte natürlich leicht zu verfolgen sein, wenn nur die richtige Maschinerie zu diesem Zweck ins Werk gesetzt werden konnte. Meine Ersparnisse würden hinreichen, diesen Zweck zu erreichen und ich war entschlossen sie, soweit sie reichten, nach der Ankunft an meinem Bestimmungsorte zu diesem Zwecke zu verwenden.

Die See war bei der Ueberfahrt über den Canal an jenem Abend sehr unruhig. Ich blieb auf dem Deck und ließ mir lieber jede Unbequemlichkeit gefallen um nur nicht in die Atmosphäre der Cajüte hinabsteigen zu müssen. Als ich den Blick auf die See richtete, erschienen mir die dunklen Wassermassen wie ein trauriges aber treues Bild meiner dunklen Aussichten in die Zukunft. Auf den angebahnten Weg, den wir dahinfuhren schienen die matten Strahlen eines trüben umwölkten Mondes, wie die schwachen Strahlen der Hoffnung, die mein Gemüth matt beleuchteten, wenn ich an die Zukunft dachte.



Erstes Kapitel - Lucilla’s Geschichte von ihr selbst erzählt.

Man wird sich aus meiner Schilderung dessen, was Lucilla bei der ihr ertheilten Unterweisung des Augenarztes im Gebrauch ihrer Augen sagte und that, erinnern daß ihr besonders daran gelegen war, sich die Erlaubniß zu dem Versuch zu erwirken, wie sie schreiben könne.

Das Motiv, das sie dabei leitete, war das, von welchem ein liebendes Herz immer geleitet wird. Ihr einziger Ehrgeiz besteht darin, sich dem Manne, den sie liebt, selbst in den geringfügigsten Dingen von der vortheilhaftesten Seite zu zeigen. Das war auch Lucilla’s einziger Ehrgeiz Oscar gegenüber.

In dem Bewußtsein, daß ihre bis dahin mühsam und mangelhaft durch ihren Tastsinn geleitete Handschrift einen traurig unvortheilhaften Contrast zu der Handschrift anderer sehender Frauen darbieten müsse, ließ sie nicht ab, Grosse zu bitten, ihr zu erlauben, daß sie »mit den Augen statt mit den Fingern« schreiben lerne, bis es ihr wirklich gelungen war, die Widerstandskraft des würdigen Arztes zu brechen.

Die überraschend schnelle Stärkung ihrer Sehkraft während ihres Aufenthalts an der See, von der ich später erfuhr, ließ es gerechtfertigt erscheinen, daß er ihr nachgegeben hatte. Mit unermüdlicher Ausdauer gelang es ihr, während sie täglich ihre Sehkraft mehr gebrauchen lernte, die große Schwierigkeit, mit den Augen« statt mit dem Gefühl schreiben zu lernen, zu überwinden. Nachdem sie sich anfänglich auf liniertem Papier in Schreibbüchern geübt hatte, kam sie bald dahin, bequem einzelne Worte nach Dictat zu schreiben. Der nächste Fortschritt war, daß sie Billete schrieb und dann, daß sie ein Tagebuch führte, das Letztere nach dem Rath ihrer Tante, welche ihre Jugend in der Zeit vor der Einführung des billigen Briefportos verlebt hatte, wo die Leute Tagebücher führten und lange Briefe schrieben, kurz, wo die Leute Zeit hatten, an sich zu denken, und was noch merkwürdiger ist, auch ihre Gedanken über sich niederzuschreiben.

Lucilla’s in Ramsgate geführtes Tagebuch liegt vor mir, während ich diese Zeilen schreibe.

Ich hatte anfänglich die Absicht, dasselbe in der Art zu benutzen, daß ich den Gang meiner Erzählung ununterbrochen fortsetzen und weiter in eigener Person schreiben wollte, wie ich es bisher gethan habe und — wie ich es wieder zu thun gedenke, wenn ich wieder handelnd auftreten werde.

Nachdem ich mir die Sache aber nochmals überlegt und das Tagebuch wieder durchgelesen habe, halte ich es doch für das Richtigere, Lucilla die Geschichte ihres Aufenthalts in Ramsgate mit ihren eigenen Worten erzählen zu lassen und nur gelegentlich, wo es mir erforderlich erscheint, Bemerkungen hinzuzufügen. Bei diesem Verfahren werde ich, glaube ich, eine größere Abwechselung, Frische und Anschaulichkeit der Darstellung erzielen. Warum sind Geschichtsbücher — mit einigen glänzenden mir wohlbekannten Ausnahmen —, im Allgemeinen eine so langweilige Lectüre? Weil sie die aus zweiter Hand geschriebene Erzählung von Ereignissen enthalten. Nun möchte ich aber alles lieber sein als langweilig. Vielleicht findet der Leser, daß ich bereits langweilig gewesen bin? Einem solchen Urtheil würde ich aber, so wahr ich eine rechtschaffene Frau bin, nicht zustimmen können. Es giebt Leute, die mit einem langweiligen Geist an ihre Lectüre gehen und dann den Schriftsteller für ihre Langeweile verantwortlich machen. Ich sage nichts weiter.

Es bleibt also dabei, daß Lucilla die während meines Aufenthaltes auf dem Continent in Ramsgate vorgefallenen Ereignisse selbst erzählen soll und daß ich mich darauf beschränken werde, hier und da eine mit P. unterzeichnete Anmerkung einzustreuen.

Lucilla’s Tagebuch.

»East-Cliff, Ramsgate, den 28. August.

Heute sind es vierzehn Tage, seit ich hier mit meiner Tante angekommen bin. Ich hatte Zillah schon von London aus nach Dimchurch zurückgeschickt. Ihr Rheumatismus wird der armen Alten in der feuchten Seeluft doppelt beschwerlich.

Mit meinem Schreiben geht es seit acht Tagen etwas besser. Ich kann die Feder leichter bewegen, meine Handschrift sieht doch der eines Kindes nicht mehr ganz so ähnlich. Wenn ich erst Oscar’s Frau bin, werde ich ebenso gut schreiben können wie andere Damen.«

(Anm — Das arme Kind ist sehr genügsam. Ihre verbesserten Schriftzüge sind noch gewaltig schief und krumm. Einige ihrer Buchstaben umarmen sich wie zärtliche Freunde und andere stehen weit auseinander wie bittere Feinde. Ich sage das nicht, um eine Bemerkung über Lucilla zu machen, sondern, um mich zu entschuldigen wenn ich bei der Abschrift ihres Tagebuchs Versehen machen sollte. Nun wollen wir sie fortfahren lassen. P)

»Oscar’s Frau. Wann werde ich Oscar’s Frau sein? Ich habe ihn noch nicht einmal gesehen. Er wird noch durch etwas, ich fürchte durch eine Differenz mit seinem Bruder, auf dem Continent zurückgehalten. Der Ton seiner Briefe hat fortwährend etwas Reserviertes, was mich beunruhigt und mir unerklärlich ist. Bin ich denn ganz so glücklich, wie ich es nach Wiedererlangung meiner Sehkraft zu sein hoffte?

Es ist nicht Oscar’s Schuld, wenn ich dann und wann trübe gestimmt bin; ist meine eigene Schuld. Ich habe meinen Vater beleidigt und fürchte bisweilen, nicht recht gegen Madame Pratolungo gehandelt zu haben. Diese Dinge quälen mich.

Es scheint mein Schicksal zu sein, immer mißverstanden zu werden. Bei meiner plötzlichen Flucht aus dem Pfarrhause wollte ich nicht unehrerbietig gegen meinen Vater handeln. Ich ging fort, weil ich mich ganz unfähig fühlte, der Frau gegenüber zu treten, die ich einst zärtlich liebte — noch liebe, wenn ich an sie denke, wie ich es jetzt wieder thue. Es ist so unerträglich, in dem Bewußtsein, daß man das Vertrauen zu einer Person verloren hat, der man einst unbegrenztes Vertrauen schenkte, dieser Person zu jeder Tagesstunde mit einem freundlichen Gesicht, als ob nichts vorgefallen wäre, begegnen zu müssen. Der Drang, einer ferneren Begegnung mit ihr zu entgehen, wurde, als ich fand, daß sie das Haus verlassen habe, um einen Spaziergang zu machen, unwiderstehlich. Wenn ich mich noch einmal in derselben Lage befände, würde ich dasselbe noch einmal thun. Ich habe das in meinem Briefe an meinen Vater angedeutet und ihm gesagt, daß etwas Unangenehmes zwischen mir und Madame Pratolungo vorgefallen und daß ich nur deshalb so rasch fortgegangen sei. Vergebens! Er hat meinen Brief nicht beantwortet. Ich habe seitdem an meine Stiefmutter geschrieben und aus ihrer Antwort habe ich erfahren, wie ungerecht er sich über meine Tante äußert. Ohne den leisesten Grund ist er noch aufgebrachter gegen meine Tante als gegen mich!

Bei dieser traurigen Entfremdung habe ich einen Trost: soweit ich dabei in Betracht komme, wird sie nicht von Dauer sein. Mit meinem Vater werde ich mich früher oder später sicherlich wieder verständigen. Wenn ich wieder in’s Pfarrhaus zurückkehre, werde ich mich mit ihm aussöhnen, wir werden wieder so gut wie je mit einander auskommen.

Aber wie wird es mit mir und Madame Pratolungo werden? Sie hat meinen Brief nicht beantwortet, ich fange an, zu wünschen, daß ich ihn nicht geschrieben hätte, wenigstens nicht den Schluß. Ich habe seit ihrer Abreise absolut nichts von ihr gehört; ich weiß nicht, wann sie, oder ob sie überhaupt je wieder zu mir nach Dimchurch zurückkehren wird. O, was würde ich darum geben, wenn mir dieses schreckliche Geheimniß aufgeklärt würde, wenn ich wüßte, ob ich vor ihr auf die Knie fallen und sie um Vergebung bitten müßte? Oder ob ich den Tag, an welchem diese Frau meine Gesellschafterin und meine Freundin wurde, zu den traurigsten Tagen meines Lebens zählen muß?

Habe ich voreilig, oder habe ich richtig gehandelt?

Das ist die Frage, die sich mir aufdrängt und mich quält, so oft ich des Nachts aufwache. Ich will doch einmal wieder, wenigstens zum fünfzigsten Male, Oscar’s Brief ansehen.« (Anmerkung: Ich schreibe den Brief hier ab. Andere Augen als die ihrigen werden ihn hier lesen. Es ist natürlich Nugent, der hier unter Oscar’s Namen, an sie schreibt. Der Leser wird sehen, daß die guten Entschlüsse, mit denen er mich verließ, bis Paris vorhielten, dann aber wieder anderen Gefühlen Platz machten, wie sie sich in Folgendem ausgesprochen finden. P.)

»Meine geliebte Lucilla. — Hier in Paris finde ich, seit ich Browndown verlassen habe, den ersten freien Moment, um Dir zu schreiben. Madame Pratolungo hat Dir ohne Zweifel mitgetheilt, daß ich in einer dringenden Veranlassung plötzlich zu meinem — Bruder habe reisen müssen. Ich habe den Ort, wo ich Ihn treffen soll, noch nicht erreicht. Bevor ich zu ihm eile, laß’ mich Dir erzählen, worin jene dringende Veranlassung, die mich von Dir getrennt hat, besteht. Madame Pratolungo erfreut sich nicht mehr meines Vertrauens. Wenn Du etwas weiter gelesen haben wirst, wird sie sich auch des Deinigen nicht mehr erfreuen.

Ach, mein geliebtes Kind, ich, der ich gern mein Leben für Dein Glück hingeben möchte, muß Dich erschrecken, aufregen und betrüben. Ich will mich so kurz wie möglich fassen. Ich habe eine schreckliche Entdeckung gemacht. Lucilla, Du hast Madame Pratolungo als einer Freundin Dein Vertrauen geschenkt Trau’ ihr nicht mehr. Sie ist Deine und meine Feindin.

Ich hatte schon seit einiger Zeit Verdacht gegen sie geschöpft. Mein schlimmster Verdacht hat sich bestätigt.

Längst hätte ich Dir mittheilen sollen, was ich Dir jetzt sage. Aber ich schreckte davor zurück, Dich zu betrüben. Dein liebes Gesicht traurig zu sehen, bricht mir das Herz. Nur entfernt von Dir, wenn sich mir die Folgen einer unterlassenen Warnung bedrohlich darstellen, finde ich den Muth, jener Frau die Maske von ihrem falschen Gesicht zu reißen und sie Dir in ihrer wahren Gestalt zu zeigen. Es ist mir unmöglich, in einem Briefe auf alle Einzelheiten einzugehen; ich behalte mir die Mittheilung aller näheren Umstände bis zu dem Zeitpunkt vor, wo wir uns wiedersehen und bis ich Dir das bieten kann, was Du zu verlangen ein Recht hast, den Beweis, daß ich die Wahrheit rede.

Inzwischen bitte ich Dich, Dich Deiner eigenen Gedanken, Deiner eigenen Worte an jenem Tage zu erinnern, wo Madame Pratolungo Dich im Pfarrhausgarten beleidigte. Bei jener Gelegenheit entfuhr die Wahrheit den Lippen der falschen Französin und sie wußte es!

Erinnerst Du Dich noch dessen, was Du sagtest, als sie Dir nach Browdown folgte? Ich meine, nachdem sie Dir erklärt hatte, daß Du Dich in meinen Bruder verliebt haben würdest, wenn Du ihm zuerst begegnet sein würdest, und nachdem Nugent, offenbar auf ihren Antrieb, Deine Blindheit dazu mißbraucht hatte, Dich glauben zu machen daß Du mit ihm sprächest. Was sagtest Du damals, als Du den Streich aufgefunden hattest und die Dir angethane Beleidigung schmerzlich empfandest?

Du sagtest wörtlich oder doch nahezu wörtlich:

»Sie hat Dich vom ersten Augenblick an gehaßt, Oscar — sie hat es seit seiner Ankunft mit Deinem Bruder gehalten. Heirathe mich nicht in Dimchurch! Laß’ uns einen Ort aufsuchen den sie nicht kennen Sie haben sich Beide gegen Dich und gegen mich verschworen. Hüte Dich, hüte Dich vor ihnen!«

Lucilla! ich wiederhole Dir Deine eigenen Worte; ich richte die Warnung — die prophetische Warnung — an Dich, die Du mir ahnungslos in vergangenen Tagen gegeben hast. »Ich fürchte, mein unglücklicher Bruder liebt Dich, und ich weiß gewiß, daß Madame Pratolungo an ihm eine Interesse nimmt, das sie niemals für mich gefühlt hat. Was Du damals zu mir sagtest, sage ich jetzt zu Dir: sie haben sich mit einander gegen uns verschworen; hüte Dich, hüte Dich vor ihnen!

Wenn wir uns wiedersehen werde ich bereit sein, die Verschwörung zu vereiteln. Bis dahin aber beschwöre ich Dich, so wahr Dir an meinem und Deinem Glück gelegen ist, Madame Pratolungo nicht ahnen zu lassen, daß sie entlarvt ist. Ich glaube sicher, daß sie es ist, welche ein Vorwurf trifft. Ich gehe, wie Du jetzt begreifen wirst, zu einem ganz andern Zweck zu meinem Bruder, als den ich Deiner falschen Freundin zu meiner Entschuldigung genannt habe. Fürchte kein Zerwürfniß zwischen Nugent und mir. Ich kenne ihn, ich werde finden daß er mißleitet worden ist und der Versuchung nicht widerstehen konnte. Ich stehe dafür, daß er jetzt, wo er keinem üblen Einflusse mehr ausgesetzt ist, wie ein rechtschaffener Mann handeln und Deine und meine Verzeihung verdienen wird. Der Grund, den ich Madame Pratolungo als Entschuldigung für mich genannt habe, wird sie abhalten sich in unsere Angelegenheit zu mischen. Das war der einzige Zweck, um dessentwillen ich ihr jenen angeblichen Grund nannte.

Halte mich über Deine und ihre Bewegungen genau au fait. Ich lege eine Adresse ein, an welche Du mit der Gewißheit schreiben kannst, daß Deine Briefe richtig befördert werden.

Ich meinerseits verspreche Dir, fortwährend zu schreiben. Noch einmal, vertraue keiner lebenden Seele das Geheimniß an, welches ich Dir in diesem Briefe enthüllt habe. Du kannst darauf rechnen, daß ich baldigst wieder bei Dir sein werde, um Dich mit der Autorität eines Ehemannes aus den Händen der Frau zu befreien welche uns so grausam betrogen hat. Dein Dich zärtlich liebender Oscar.«

(Anm. — Ich brauche hier nicht länger bei der teuflischen Schlauheit — kein andrer Ausdruck bezeichnet die Sache richtig — zu verweilen welche diesen abscheulichen Brief eingegeben hatte. Man lese im achten und neunten Kapitel des zweiten Bandes nach und man wird sehen wie geschickt er das, was ich in einem Augenblick thörichter Aufregung und was Lucilla in einem Augenblick sagte, als sie ihrer selbst nicht mächtig war, dazu benutzte, mich ihr gegenüber anzuschwärzen. Ahnungslos mußten wir unserem Feinde den Boden bieten auf welchem er sein lügenhaftes Gebäude aufrichtete. Im Uebrigen bedarf es keiner weiteren Erklärung. Nugent beharrt noch immer dabei, sich für seinen Bruder auszugeben. Er erräth leicht den Grund, den ich Lucilla als Entschuldigung für seine Abreise angegeben haben werde und er kommt über die Schwierigkeit der auffallenden Thatsache, daß er den Zweck seiner Reise einer Frau anvertraut habe, der er mißtraut, dadurch hinweg, daß er erklärt, er habe es für nothwendig gehalten mich in Betreff des wahren Zwecks seiner Reife zu täuschen. Aus dem weiteren Inhalt des Tagebuchs wird man sehen, wie geschickt er mit der Maschinerie, welche er durch seinen Brief in Bewegung gesetzt hat, zu arbeiten weiß. Alles was ich hier zur Erklärung hinzuzufügen brauche, ist, daß die Verzögerung seiner Ankunft in Ramsgate, über welche Lucilla sich beklagt, lediglich durch sein Zaudern veranlaßt war. Sein Ehrgefühl war, wie ich später erfahren habe, noch nicht ganz erstorben. Je tiefer er sank, desto verzweifelter rang seine bessere Natur darnach, ihn wieder zu erheben. Nur seine Gewissensbisse konnten ihn in Paris zurückhalten. Ich brauche wohl kaum noch zu bemerken daß er nie über Paris hinauskam und nie den Aufenthaltsort seines Bruders entdeckte, nachdem Lucilla ihn brieflich benachrichtigt hatte, daß ich verreist und sie mit ihrer Tante in Ramsgate sei. Ich bin fertig. Hören wir weiter, was Lucilla zu sagen hat. P.)

»Ich habe Oscar’s Brief noch einmal gelesen. Er ist die Ehrenhaftigkeit selbst; er ist unfähig, mich zu täuschen. Ich erinnere mich. Das. wovon er spricht. freilich nur in einem Augenblick. wo ich außer mir vor Zorn war. gesagt und auch gedacht zu haben. Und doch — sollte es nicht möglich sein, daß der Schein Oscar betrogen hat? O, Madame Pratolungo! Ich hatte eine so hohe Meinung von Ihnen; ich liebte Sie so zärtlich, — ist es möglich, daß Sie der Bewunderung und der Liebe, die Sie mir einst einflößten unwürdig sind?

Ich stimme Oscar darin durchaus bei, daß seinen Bruder kein Vorwurf trifft. Es ist traurig, ja entsetzlich, daß Nugent Dubourg es sich erlaubt hat, sich in mich zu verlieben. Aber ich kann nicht umhin ihn zu bemitleiden; der arme entstellte Mensch, ich hoffe, er wird eine gute Frau finden! Wie er gelitten haben muß!

Ich kann den Zustand der Ungewißheit, in dem ich jetzt lebe, nicht länger ertragen Oscar soll und muß mich mit seinen Worten überzeugen, daß er in Betreff Madame Pratolungo’s Recht hat. Ich werde ihm mit nächster Post schreiben und darauf bestehen daß er nach Ramsgate kommt.

Den 29. August. Ich habe ihm gestern unter der Pariser Adresse geschrieben Mein Brief wird morgen ankommen? Wo mag er sein? Wann wird er ihn bekommen?

(Anm. Dieser unschuldige Brief that seine verhängnißvolle Wirkung. Er machte dem inneren Kampfe, der Nugent bis dahin noch zurückgehalten hatte, ein Ende. An demselben Morgen wo er ihn erhielt, reiste er nach England ab. Hier, was Lucilla darüber in ihrem Tagebuch schreibt. P.)

»Den 31 August, Beim Frühstück erhielt ich ein Telegramm.

Ich bin zu glücklich, um die Hand ruhig halten zu können, ich schreibe schauderhaft. Aber was liegt daran, mir liegt an nichts etwas, außer an meinem Telegramm. (O, welch’ ein edler Geist war der Erfinder der Telegramme!) Oscar ist auf dem Wege nach Ramsgate.«



Zweites Kapitel - Fortsetzung von Lucilla’s Tagebuch.

»Den 1. September. Ich fühle mich heute ruhig genug, um wieder an meinem Tagebuch zu schreiben und mich in Gedanken ein Wenig mit alle dein zu beschäftigen, was ich gefühlt und gedacht habe, seit Oscar hier ist.

Jetzt, wo mir Madame Pratolungo verloren ist, habe ich keinen Freund, mit dem ich meine kleinen Geheimnisse durchsprechen könnte. Meine Tante ist die Güte und Freundlichkeit selbst gegen mich, aber wie kann ich bei einer Frau, die so viel älter ist als ich, die in einer von der meinigen so verschiedenen Welt gelebt hat und deren Ideenkreis von dem meinigen so weit ab zu liegen scheint, wenn ich mit ihr von meinen Thorheiten und Extravaganzen rede, auf Sympathie rechnen? Mein einziger Vertrauter und Freund ist mein Tagebuch; ich kann auf diesen Blättern nur mit mir über mich reden. Ich fühle mich bisweilen recht einsam. Ich sah am Strande zwei Mädchen, die einander alle ihre Geheimnisse erzählten und ich fürchte, ich habe sie beneidet. Nun, mein liebes Tagebuch, wie war mir denn, als Oscar, nach dem ich mich einst gesehnt hatte, endlich kam? Ich muß hier ein schreckliches Bekenntniß ablegen; aber mein Tagebuch liegt verschlossen und ihm darf ich die Wahrheit anvertrauen. Ich hätte weinen mögen, so entsetzlich enttäuscht fühlte ich mich. Nein, enttäuscht ist nicht das rechte Wort. Ich finde keinen Ausdruck. Es gab einen Augenblick — ich wage es kaum niederzuschreiben, es scheint ein so verruchter Gedanke, es gab einen Augenblick, wo ich fast wünschte, wieder blind zu sein. Er umschlang mich mit seinen Armen, er nahm meine Hand in die seinige, wie würde ich in der Zeit meiner Blindheit dabei empfunden haben, welch’ ein entzückender Strom würde mich bei seiner Berührung durchzuckt haben! Nichts der Art empfand ich jetzt. So gering war der Eindruck, den er auf mich hervorbrachte, daß ich, wenn es möglich gewesen wäre, hatte glauben können, er sei Oscar’s Bruder. Später ergriff ich seine Hand und schloß dabei die Augen, um zu versuchen, ob ich mich nicht wieder in den alten Zustand meiner Blindheit versetzen könne. Aber vergebens, die Wirkung war dieselbe. Ich empfand nichts, gar nichts! Sollte es daher rühren, daß er in seinem Benehmen etwas reserviert gegen mich ist? Das ist er nämlich unbestreitbar! Ich empfand es in dem Augenblick, wo er zuerst das Zimmer betrat und empfinde es noch heute. Nein, das ist es nicht. In der ersten Zeit unserer Bekanntschaft, wo wir erst anfingen, uns zu lieben, war er reserviert gegen mich, aber damals machte mir das nichts aus, damals war ich noch nicht das unverständige Geschöpf, das ich seitdem geworden bin. Ich kann mir die Sache nur auf eine Weise erklären, die Wiederherstellung meiner Sehkraft hat ein neues Wesen aus mir gemacht. Ich habe einen neuen Sinn bekommen, ich bin nicht mehr dasselbe Mädchen. Diese große Veränderung muß eine Wirkung auf mich geübt haben, von der ich keine Ahnung hatte, bis Oscar herkam. Sollte ich die Wiedererlangung meiner Sehkraft mit dem Verlust meines Tastsinnes haben erkaufen müssen? Das nächste Mal, wo Grosse herkommt, werde ich ihm diese Frage vorlegen.

Außerdem hatte ich noch eine zweite Enttäuschung; er ist nicht entfernt so schön, wie ich ihn mir in meiner Blindheit vorgestellt hatte. An jenem Tage, wo mir die Binde zuerst von den Augen genommen wurde, konnte ich nur sehr undeutlich sehen. Als ich damals in mein Wohnzimmer stürzte, errieth ich mehr, als daß ich es wußte, daß es Oscar sei. Die grauen Haare meines Vaters und der weibliche Anzug meiner Stiefmutter würden jedem Menschen an meiner Stelle unbedingt dazu verhelfen haben, den richtigen Mann sofort, wie ich es that, zu erkennen. Aber jetzt ist das ganz anders. Ich kann jetzt seine Züge genau sehen und die Folge davon ist, ich würde es Niemand bekennen, daß ich die Wirklichkeit von der Vorstellung, die ich mir in den Tagen meiner Blindheit von ihm gemacht hatte, o so ganz verschieden finde! Das Einzige, worin ich mich nicht enttäuscht finde, ist seine Stimme. Wenn er mich nicht sehen kann, so schließe ich meine Augen und lasse meine Ohren wieder den alten, ach so weit entschwundenen Zauber empfinden. Das also habe ich durch meine Operation und meine Gefangenschaft im dunklen Zimmer erlangt.

Was schreibe ich da? Ich sollte mich schämen! Ist es denn nichts, daß mir jetzt die ganze Schönheit von Land und See, die ganze Pracht der Wolken und des Sonnenscheins offenbar geworden ist? Ist es nichts, daß ich meine Nebenmenschen jetzt sehen, daß ich die munteren Gesichter der Kinder, wenn ich mit ihnen rede, mich anlächeln sehen kann? Aber genug von mir, ich werde unglücklich und undankbar, wenn ich an mich selbst denke.

Ich will jetzt von Oscar schreiben: Er gefällt meiner Tante. Sie findet ihn hübsch und sagt, sein Benehmen sei das eines Gentleman. Das Letztere ist ein hohes Lob aus dem Munde meiner Tante. Sie verachtet die gegenwärtige Generation der jungen Männer. »In meiner Zeit«, sagte sie neulich, »pflegte ich junge Männer zu sehen, jetzt sehe ich nur noch junge Bestien — weiter nichts.«

Oscar seinerseits scheint bei näherer Bekanntschaft auch Geschmack an meiner Tante gefunden zu haben. Als ich ihn zum ersten Mal vorstellte, fiel mir auf, daß er die Farbe wechselte und sehr unbehaglich aussah, er ist bisweilen fast beunruhigend nervös; ich denke mir, das vornehme Wesen meiner Tante machte ihn verlegen.« (Anm. Ich kann hier wirklich eine Bemerkung nicht unterdrücken. Das »vornehmes Wesen« ihrer Tante macht mich elend; es besteht, unter uns gesagt, in nichts Anderem, als einer krummen Nase und einer steifen Schnürbrust. Was Nugent Dubourg verlegen machte, als er die alte Dame zum ersten Male sah, war die Furcht vor einer Entdeckung. Er würde von seinem Bruder habe erfahren können, daß Oscar und Fräulein Batchford sich nie gesehen hatten. Der Leser wird, wenn er sich der früheren Vorgänge erinnert, finden, daß sie sich ganz unmöglich gesehen haben konnten. Aber was Nugent nicht mit derselben Sicherheit zum Voraus wissen konnte, war, daß Fräulein Batchford, von dem, was in Dimchurch vorgefallen war, nichts erfahren hatte. Er konnte sich daher nicht eher sicher fühlen, bis er erst einmal in eigener Person das Terrain sondiert hatte. Die ihm hier drohende Gefahr war sicherlich ernsthaft genug, um selbst einen Nugent Dubourg unbehaglich zu stimmen. Und Lucilla spricht noch von dem »vornehmen Wesen« ihrer Tante, das arme unschuldige Kind! Lassen wir sie weiter reden. — P.)

»Das erste Wort, daß ich, sobald meine Tante uns allein ließ, mit Oscar sprach, bezog sich natürlich auf seinen Brief in Betreff Madame Pratolungo’s. Er machte eine flehende Geberde und sah unglücklich aus. »Warum wollen wir uns die Freude von unserem ersten Zusammensein dadurch vergällen, daß wir von ihr reden?« sagte er. »Es ist so unaussprechlich peinlich für Dich und für mich. Laß uns in den nächsten Tagen darauf zurückkommen. Nur jetzt nicht, Lucilla, jetzt nicht!«

Der Nächste, an den ich dachte, war sein Bruder. Ich war durchaus nicht sicher, wie er es aufnehmen würde, wenn ich von diesem spräche. Trotzdem wagte ich eine Frage. Er machte abermals eine flehende Geberde und sah wieder unglücklich aus.

»Mein Bruder und ich verstehen einander, Lucilla. Er wird für jetzt im Auslande bleiben. Laß uns auch davon nicht weiter reden. Sprich nur von Deinen eigenen Angelegenheiten; — ich möchte wissen, wie es im Pfarrhause aussieht. Ich habe nichts von dort gehört, seit Du mir schriebst, daß Du mit Deiner Tante hier seiest, und daß Madame Pratolungo zu ihrem Vater gereist sei. Geht es Deinem Vater gut? Wird er hierher kommen, Dich zu besuchen?«

Ich mochte ihm nichts von dem Zerwürfniß mit meinem Vater sagen.

»Ich habe von meinem Vater nichts gehört, so lange ich hier bin«, antwortete ich. »Jetzt, wo Du wieder hier bist, kann ich schreiben und Deine Ankunft melden und werde dann Nachrichten ans dem Pfarrhause bekommen.«

Er sah mich mit einem etwas sonderbaren Blick an, der bei mir die Besorgniß erweckte, er möge etwas dagegen haben, daß ich an meinen Vater schreibe.

»Du möchtest wohl, daß Dein Vater herkäme?« sagte er, hielt aber dann plötzlich inne und sah mich wieder an.

»Es ist sehr wenig Aussicht, daß er herkommt«, antwortete ich.

Oscar schien sich merkwürdig für meinen Vater zu interessiren. »Sehr wenig Aussicht?« wiederholte er. »Warum?«

Jetzt war ich genöthigt, von dem Familienzwist zu reden, ich vermied es jedoch immer noch, der ungerechten Art zu gedenken, wie mein Vater sich über meine Tante ausgesprochen hatte.

»Solange ich bei Fräulein Batchford bin« sagte ich, »dürfen wir nicht hoffen, meinen Vater hier zu sehen. Sie stehen auf schlechtem Fuß und ich fürchte, es ist für jetzt keine Aussicht an ihre Versöhnung vorhanden. Hast Du etwas dagegen, daß ich Deine Ankunft hier nach Hause melde?« fragte ich.

»Ich!« rief er mit der Miene des größten Erstaunens. »Wie kommst Du auf den Gedanken? Schreibe doch ja, und lasse mir etwas Platz. Ich möchte Deinem Brief ein paar Zeilen hinzufügen.«

Ich kann nicht sagen, wie sehr ich mich durch seine Antwort erleichtert finde. war ganz klar, daß ich seine Absichten dummer Weise mißdeutet hatte. O, meine neuen Augen! Werde ich mich je auf euch verlassen können, wie ich mich einst auf mein Gefühl verlassen konnte?«

(Anm. Ich muß schon wieder eine Bemerkung machen. Ich würde bei der Abschrift des Tagebuches vor Entrüstung bersten, wenn ich mir nicht bei gewissen Stellen Luft machte. Man bemerke, ehe man weiter liest, wie geschickt es Nugent versteht, sich seiner Stellung in Ramsgate genau zu vergewissern, und man beachte, wie verhängnißvoll sich alle Chancen, daß es ihm gelingen werde, sich unentdeckt für Oscar auszugeben, zu seinen Gunsten vereinigen. Fräulein Batchford ist ihm wie der Leser bereits erfahren hat, ganz ergeben. Sie weiß nicht nur Nichts, sondern sie wirkt auch als Abschreckungsmittel für Herrn Finch, der sonst unfehlbar seine Tochter in Ramsgate besucht und sofort die Verschwörung entdeckt haben würde. Nugent hat sich allem Anschein nach, nach allen Seiten hin völlig gedeckt. Ich bin fort; Oscar ist fort. Frau Finch liegt in ihrer Kinderstube fest vor Anker. Zillah war schon von London aus nach Dimchurch zurückgeschickt. Der Dimchurcher Arzt, welcher Oscar behandelt hatte und der ein fataler Zeuge hätte werden können, ist in Indien, wie sich aus dem dritten Kapitel des zweiten Bandes dieser Erzählung ergiebt. Zu dem Londoner Arzt, den Oscar consultirt hatte, steht er schon längst in durchaus keiner Beziehung mehr. Was endlich Herrn Grosse anlangt, so würde der, wenn er nach Ramsgate kommen sollte, sicherlich aus ärztlichen Gründen seine Augen gegen Alles, was vorgeht, verschließen und die Dinge ruhig ihren Gang gehen lassen, so lange sie nur dem einzigen Interesse dienen, welches er anerkennt, dem Interesse der Gesundheit Lucilla’s. So findet Nugent auf seinem Wege thatsächlich durchaus kein Hinderniß und so giebt es keine Art von Schutz für Lucilla, außer in der innern Stimme, welche nicht müde wird, ihr, wenn auch in einer unbekannten Sprache, zuzuflüstern, daß dieser nicht der Rechte sei. Wird sie diese Stimme, ehe es zu spät ist, verstehen? Aber ich will den Leser mit meinen Expectorationen nicht länger aufhalten. Hören wir weiter, was das Tagebuch sagt. P.)

2. September. — Ein regnigter Tag. Oscar und ich haben sehr wenig mit einander gesprochen, was des Aufzeichnens werth wäre.

Meine Tante, die immer bei schlechtem Wetter in trüber Stimmung ist, hat mich lange in ihrem Wohnzimmer zurückgehalten und sich damit amüsirt, mich Proben meiner Sehkraft ablegen zu lassen. Oscar war speciell dazu eingeladen und half der alten Dame meinen neuen Sinn auf hundert verschiedene Arten auf die Probe zu stellen. Er gab sich die größte Mühe, mich zu vermögen, ihm meine Handschrift zu zeigen. Aber ich weigerte mich. Meine Handschrift bessert sich von Tag zu Tag, ist aber noch nicht gut genug.

Ich bemerke hier, wie entsetzlich schwierig es ist, in einem Fall, wie dem meinigen seine Sehkraft neu üben zu müssen.

Wir haben eine Katze und einen Hund im Hause. Würde man es mir glauben, wenn ich es statt meinem Tagebuche der Welt anvertrauen wollte, daß ich heute positiv die beiden Thiere mit einander verwechselt habe? und das, nachdem ich jetzt so gut sehe und meine Briefe in so wenigen raschen Zügen schreiben kann! Und doch ist es wahr, daß ich die beiden Thiere mit einander verwechselt habe, weil ich mich nur auf meine Augen verlassen hatte, anstatt meinem Gedächtniß, durch mein Gefühl zur Hilfe zu kommen. Ich habe einer Wiederholung dieses Irrthums vorgebeugt. Ich nahm das Kätzchen auf den Arm und schloß die Augen — o, wann werde ich mir das abgewöhnen! — und fühlte ihr sanftes, von Hundehaaren so verschiedenes Fell, öffnete dann die Augen und sicherte mir für alle Zukunft die Erinnerung an dieses Gefühl beim Anblick einer Katze.

Eine heute gemachte Erfahrung hat mich auch belehrt, daß ich langsame Fortschritte in der richtigen Beurtheilung von Entfernungen mache.

Trotz meines mangelhaften Sehens freue ich mich des Gebrauches meiner Augen am meisten bei dem Anblick einer großen weiten Aussicht, wenn ich auch nicht genau angeben kann, wie fern oder wie nah die Gegenstände von mir liegen. Nach meiner langen Blindheit fühle ich mich wie aus dunkler Kerkerhaft befreit, wenn ich den Strand, das kühne Vorgebirge und das gewaltige Meer von unserem Fenster aus betrachte. Aber sobald meine Tante anfängt, mich nach den Entfernungen zu fragen, macht sie mir mein Vergnügen zur Qual. Noch schlimmer ist es, wenn man mich nach der Größe von Schiffen und Booten in ihrem Verhältniß zu einander befragt. Wenn ich ein Boot allein sehe, halte ich es für größer, als es wirklich ist. Wenn ich aber neben dem Boot ein Schiff sehe und dann wieder das Boot in’s Auge fasse, so, verfalle ich sofort in das entgegengesetzte Extrem und halte das Boot für kleiner als es ist. Diese Unbeholfenheit meiner Augen ärgert mich fast ebenso sehr, wie mich vor einiger Zeit meine Dummheit ärgerte, als ich, aus einem oberen Fenster blickend, zum ersten Mal einen mit einem Pferde bespannten Ziehwagen sah und denselben für einen von einem Hunde gezogenen Schubkarren hielt. Zu meiner Entschuldigung erwähne ich, daß ich mir Beides, Hund und Schubkarren, während meiner Blindheit fünfmal so groß vorgestellt hatte, als sie es in Wirklichkeit sind, und das läßt, denke ich, mein Versehen doch am Ende nicht gar so schlimm erscheinen.

So amüsirte ich meine Tante. Und welchen Eindruck brachte ich auf Oscar hervor?

Wenn ich meinen Augen trauen dürfte, so würde ich sagen, die Wirkung auf ihn war eine gerade entgegengesetzte, ich machte ihn melancholisch. Aber ich darf meinen Augen nicht trauen. Sie müssen mich täuschen, wenn sie mir sagen, daß er in meiner Gesellschaft zerstreut, befangen und unglücklich aussah.

Oder sollte er an mir etwas verändert finden? Ich könnte vor Aerger und Wuth über mich selbst weinen. Er ist mein Oscar und ist doch nicht der Oscar, den ich kannte, als ich blind war. Eo sonderbar es klingen mag, damals, als ich es nicht sehen konnte, glaubte ich zu wissen, wie er mich ansehe, jetzt, wo ich sehen kann, frage ich mich, ob es wirklich Liebe, oder ob es etwas anderes ist, was mich aus seinen Augen anblickt? Wie soll ich es wissen? Ich wußte es, als ich mich ganz auf meine Phantasie verlassen mußte; aber jetzt kann ich, ich mag es versuchen wie ich will, die alte Phantasie und die neue Sehkraft nicht in Einklang bringen. Ich fürchte, er sieht, daß ich ihn nicht verstehe. O, du lieber Gott, warum habe ich nicht meinen alten guten Grosse gefunden und bin durch ihn ein neues Geschöpf geworden, ehe ich Oscar’s Bekanntschaft machte, dann würde ich nicht mit den Erinnerungen und Vorurtheilen aus der Zeit meiner Blindheit zu kämpfen haben. Aber ich hoffe und glaube, daß ich mich mit der Zeit an mein neues Selbst und damit auch an meine neuen Eindrücke von Oscar gewöhnen werde, und so wird Alles noch gut werden. Für jetzt ist Alles noch nichts weniger als gut. Als wir heute Nachmittag meiner Tante in’s Eßzimmer hinunterfolgten, umschlang er mich mit seinem Arm und drückte mich zärtlich, aber ich empfand nichts dabei. Noch vor einigen Wochen würde es mich wonnig durchzuckt haben.

Da fällt eine Thräne aufs Papier. Was bin ich doch für eine Närrin! Warum kann ich nicht von etwas Anderem schreiben? Heute habe ich zum zweiten Mal an meinen Vater geschrieben und habe ihm, ohne Notiz davon zu nehmen, daß er meinen ersten Brief unbeantwortet gelassen hatte, Oscar’s Ankunft gemeldet. Die einzige — Art, mit meinem Vater fertig zu werden, ist, keine Notiz von seinem Mißmuth zu nehmen und ihn von selbst wieder gut werden zu lassen. Ich gab Oscar den Brief, auf dem ich für ihn einen Platz frei gelassen hatte. Während er sein Postskriptum schrieb, bat er mich, ihm etwas von oben aus seinem Zimmer zu holen. »Als ich zurückkam, hatte er den Brief versiegelt, ohne mir sein Postskriptum gezeigt zu haben. Er hatte es vergessen. Es war nicht der Mühe werth, den Brief deshalb wieder zu öffnen, er sagte mir, was er geschrieben hatte, und das genügte vollkommen.«

(Anm. Ich muß den Leser mit einer Abschrift dessen behelligen, was Nugent wirklich geschrieben hatte. Man wird, daraus ersehen; warum er Lucilla zum Zimmer hinausschickte und den Brief versiegelte, bevor sie wieder da sein konnte. Das Postskriptum ist auch deshalb bemerkenswerth, weil es im Verlauf meiner Erzählung noch eine Rolle spielen wird.

Nugent schreibt also als Oscar an den Pfarrer in Dimchurch. Die Nachahmung der Handschrift seines Bruders konnte ihm dabei keine Schwierigkeiten machen. Eine täuschende Aehnlichkeit der Handschriften gehörte, wie ich glaube schon erwähnt zu haben, zu den vielen überraschenden Aehnlichkeiten der Zwillingsbrüder.

»Geehrter Herr Finch! Sie werden aus Lucilla’s Brief ersehen haben, daß ich wieder vernünftig geworden bin und ihr wieder als ihr Verlobter meine Huldigungen darbringe. Der Hauptzweck dieser meiner Zeilen ist Ihnen vorzuschlagen, daß wir das Vergangene vergangen sein lassen und thun, als wenn nichts vorgefallen wäre.

Nugent hat sich nobel benommen. Er entbindet mich der gegen ihn übernommenen Verpflichtungen, die ich bei unserer letzten Zusammenkunft in Browndown so voreilig übernommen hatte. In der großmüthigsten Weise hat er sein Madame Pratolungo gegebenes Versprechen erfüllt, meinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen und mich Lucilla wieder in die Arme zu führen. Für jetzt bleibt er noch im Auslande.

Wenn Sie mich mit einer Antwort auf diese Zeilen beehren, so muß ich Sie zur Vorsicht in Betreff dessen, was Sie schreiben, ermahnen; denn Lucilla wird ohne Zweifel Ihren Brief sehen wollen. Vergessen Sie nicht, daß sie nicht anders weiß, als daß ich nach einer kurzen durch die Nothwendigkeit, meinen Bruder auf dem Continente zu treffen, veranlaßten Abwesenheit zu ihr zurückgekehrt bin. Es wird ferner wünschenswerth sein, daß Sie meiner unglücklichen Hautfarbe keine Erwähnung thun. Ich habe mich darüber mit Lucilla verständigt und sie fängt an, sich an mich zu gewöhnen. Aber es bleibt doch immer eine traurige Sache; und je weniger davon gesprochen wird, desto besser.

Ihr ganz ergebener
Oscar.«

Wenn ich hier nicht ein Wort der Erklärung hinzufügte, würde der Leser sich kaum eine richtige Vorstellung von der außerordentlichen Geschicklichkeit machen, mit welcher die Täuschung durch dieses Postskriptum aufrecht gehalten wird. Während es sich wie von Oscar geschrieben darstellt und Nugent berichtet, daß er Alles das gethan habe, was er mir zu thun versprochen hatte, vermeidet er absichtlich die bei Oscar sonst gewöhnliche Höflichkeit der Ausdrucksweise. Das geschieht zu dem Zweck, um Herrn Finch zu beleidigen; in welcher Absicht, wird man gleich sehen. Niemand auf der Welt konnte weniger als der Pfarrer geneigt sein, dem Verlobten seiner Tochter, der dieselbe, wenn auch unter Umständen die eine mildere Beurtheilung zulassen, verlassen hatte, die nöthigen Entschuldigungen und Ausdrücke des Bedauerns zu erlassen. Das kurze hochmütige, »Oscar« unterschriebene Postskriptum war ganz dazu gemacht, die Herrn Finch bereits versetzte Kränkung noch zu verschärfen und es wenigstens wahrscheinlicher zu machen, daß er in Betreff der von ihm kundgegebenen Absicht, die Trauung selbst vorzunehmen, anderen Sinnes werden werde. Was aber würde eintreten, wenn er sich dessen weigern sollte? Ein Fremder, mit Oscar und Nugent gleich unbekannter Geistlicher würde an Herrn Finch’s Stelle die Trauung vollziehen. Jetzt wird der Leser das Postskriptum verstehen; aber selbst die schlauesten Leute vermögen doch nicht immer für alle möglichen Vorkommnisse Vorsorge zu treffen. Die feinst ersonnenen Complotte haben meistens doch eine schwache Seite. Das Postskriptum war, wie der Leser gesehen hat, ein kleines Meisterstück. Gleichwohl setzte es den Schreiber, wie das Tagebuch zeigen wird, einer Gefahr aus, die er ihrem vollen Umfange nach erst erkannte, als es zu spät war. Um keinen Verdacht zu erregen, war er genöthigt gewesen, Lucilla zu erlauben, ihrem Vater seine Ankunft in Ramsgate zu melden; in Folge dessen sah er sich nun der Gefahr ausgesetzt, daß diese wichtige häusliche Nachricht von Herrn Finch oder seiner Frau keiner geringeren Person als mir mitgetheilt werde. Man wird sich erinnern, daß die brave Frau Finch mich beim Abschiede im Pfarrhause gebeten hatte, ihr während meiner Abwesenheit zu schreiben und man wird nach dem von mir gegebenen Wink finden, daß der schlaue Nugent sich bereits auf ein schlüpfriges Terrain begeben hat. Weiter habe ich nichts zu bemerken und lasse nun wieder Lucilla reden. P.)

3. September. Oscar scheint mir in seinem Postskriptum zu meinem Brief etwas vergessen zu haben. Etwa zwei Stunden, nachdem ich denselben aus die Post gesandt hatte, fragte er mich, ob der Brief fort sei. Als ich die Frage bejahte, schien ihm die Sache im ersten Augenblick unangenehm zu sein; aber es war bald wieder vorüber. Es machte nichts aus, sagte er, er könne ja leicht wieder schreiben. »Da wir einmal von Briefen reden«, fügte er hinzu, »glaubst Du, daß Madame Pratolungo Dir schreiben wird?« Diesmal war er es, der zuerst von ihr sprach. Ich sagte ihm, daß nach dem, was zwischen uns vorgefallen, nicht viel Aussicht dazu vorhanden sei, daß sie mir schreiben werde, und versuchte es dann, eine der Fragen in Betreff ihrer an ihn zu richten, die er mich früher einmal gebeten hatte, noch nicht zu berühren. Abermals bat er mich dringend, diesen unangenehmen Gegenstand noch ruhen zu lassen, und doch that er mir sonderbarer, ganz unconsequenter Weise im nächsten Augenblick selbst eine Frage in Betreff desselben Gegenstandes. »Hälst Du es für wahrscheinlich, daß sie während ihrer Abwesenheit von England mit Deinem Vater oder mit Deiner Stiefmutter correspondirt?« fragte er. »Ich glaube schwerlich, daß sie meinem Vater schreiben wird«, erwiderte ich, »aber vielleicht, daß sie mit meiner Stiefmutter correspondirt. « Er dachte einen Augenblick nach und lenkte dann das Gespräch auf unseren Aufenthalt in Ramsgate. »Wie lange wirst Du hier bleiben?« fragte er. »Das hängt von Herrn Grosse ab«, antwortete ich. »Ich will ihn das nächste Mal, wenn er herkommt, fragen.« Plötzlich trat er ans Fenster, als wenn er ein wenig außer Fassung gebracht wäre. »Hast Du Ramsgate schon satt?« fragte ich. Er trat wieder auf mich zu und ergriff meine Hand, meine kalte, gefühllose Hand, die bei seiner Berührung nicht empfinden will, wie sie sollte. »Laß mich erst Dein Gatte sein, Lucilla«, sagte er, »und ich will, wenn Du es wünschest, um Deinetwillen in Ramsgate leben.« So sehr diese Worte geeignet waren, mich angenehm zu berühren, so lag doch, als er sie sprach, in seinem Blick und Wesen ein nicht zu beschreibendes gewisses Etwas, das mich erschreckte. Ich schwieg und er fuhr fort: »Was hindert uns, gleich zu heirathen«, fragte er, »wir sind Beide mündig, wir haben auf Niemand Rücksicht zu nehmen, als auf uns selbst.«

(Anm. Man verändere seine Worte, wie folgt: »Warum wollen wir nicht heirathen, bevor Madame Pratolungo etwas von meiner Heirath in Ramsgate erfahren kann?« und man wird seinen Beweggründen den richtigen Ausdruck gegeben haben. Die Situation nähert sich jetzt mit raschen Schritten ihrem verhängnißvollsten Moment. Nugent’s einzige Chance besteht darin, daß es ihm gelingt, Lucilla zu überreden, ihn zu heirathen, ehe mir etwas von seiner Anwesenheit zu Ohren kommen kann und ehe Grosse sie für hinlänglich wieder hergestellt erklärt, um Ramsgate zu verlassen. P.)

»Du vergissest«, erwiderte ich höchst überrascht, »daß wir auf meinen Vater Rücksicht zu nehmen haben. Es war ja von Anfang an abgemacht, daß er uns in Dimchurch trauen solle.« Oscar lächelte, aber es war durchaus nicht jenes reizende Lächeln, wie ich es mir vorzustellen pflegte, als ich blind war. »Wir werden, fürchte ich, noch lange warten müssen, wenn wir warten wollen, bis Dein Vater uns traute«, sagte er. »Was willst Du damit sagen«, fragte ich »Das will ich Dir sagen«, erwiderte er, »wenn wir das peinliche Capitel in Betreff Madame Pratolungo’s verhandeln.

Glaubst Du inzwischen, daß Dein Vater Deinen Brief beantworten wird?« »Ich hoffe es.« »Und glaubst Du, daß er mein Postskriptum beantworten wird?« »Ganz gewiß wird er das.« Wieder umspielte seine Lippen dasselbe unangenehme Lächeln. Plötzlich brach er die Unterhaltung mit mir ab und setzte sich zu meiner Tante, eine Partie Piquet mit ihr zu spielen. Das Alles trug sich gestern Abend zu Traurig und unbefriedigt ging ich zu Bett. War ich unbefriedigt von Oscar, oder von mir, oder von Beiden? Ich glaube das Letztere.

Heute gingen wir mit einander an der felsigen Küste spazieren. Wie entzückend war es, in der frischen salzhaltigen Luft lustwandeln und sich der köstlichen Aussichten nach allen Richtungen hin zu erfreuen. Auch Oscar schien zu genießen. Im Beginn unsres Spazierganges war er höchst liebenswürdig und ich war verliebter in ihn, als je. Aber auf dem Rückwege trug sich ein kleiner Vorfall zu, der ihn verstimmte und auch meine Laune trübte. Die Sache war folgende: Ich schlug ihm vor, längs des Strandes zurückzukehren, Ramsgate ist noch voll von Gästen und das belebte Treiben an der Küste in den Nachmittagsstunden hat nach meiner langen Blindheit einen Reiz für mich, den es vermuthlich für Leute, die sich immer des Gebrauchs ihrer Augen erfreut haben, nicht hat. Oscar, der einen nervösen Abscheu vor Gedränge hat, und dem jede Berührung mit Leuten, die weniger fein sind als er selbst, zuwider ist, war von meinem Wunsch, mich unter den von ihm so genannten Pöbel am Strande zu mischen, überrascht. Indessen sagte er, er sei bereit, mit mir hinzugehen, wenn ich es besonders wünschte. Ich wünschte es besonders und wir gingen. Am Ufer standen Stühle, wir mietheten zwei solcher Stühle und setzten uns, um uns umzusehen. Ein buntes Leben umgab uns. Affen, Drehorgelspieler, Mädchen auf Stelzen, ein Taschenspieler und ein Trupp singender Neger waren alle beschäftigt, das Publicum zu amüsiren. Mir schien das bunte Farbenspiel und die lärmende Lustigkeit der Menge mit dem schönen blauen Meer vor uns und dem prachtvollen Sonnenschein über uns ein köstliches Schauspiel; ich hatte das Gefühl, als ob zwei Augen längst nicht genug seien, das Alles in sich aufzunehmen. Eine freundliche alte Dame, die neben mir saß, ließ sich in ein Gespräch mit mir ein und bot mir von ihrem Biscuit und Sherry, die sie in ihrer Handtasche bei sich führte, an. Oscar sah zu meinem größten Leidwesen ganz degoutirt aus.

Er fand meine freundliche alte Dame ordinär und nannte die ganze Gesellschaft an der Küste eine Heerde Spießbürger. Während er noch über den Pöbel um uns her brummte, warf er plötzlich einen Seitenblick auf eine Person oder Sache, ich wußte im Augenblick nicht was es war, stand auf und stellte sich so, daß er mir die Aussicht auf die unmittelbar vor mir liegende Promenade abschnitt. Ich hatte zufällig in demselben Augenblick bemerkt, daß sich uns eine Dame in einem Kleide von sonderbarer Farbe näherte und ich stieß Oscar an, sie anzusehen, während sie vor mir vorüberging. » »Warum stellst Du Dich vor mich hin», fragte ich. Noch ehe er antworten konnte, ging die Dame vorüber; sie war in Begleitung von zwei lieblichen Kindern und einem hochgewachsenen Mann. Mein Blick, der zuerst auf die Dame und die Kinder gerichtet war, fiel demnächst auf den Herrn, und ich sah in seinem Gesicht dieselbe schwarzblaue Farbe, welche mich auf dem Gesicht von Oscar’s Bruder erschreckt hatte, als ich damals im Pfarrhause zum ersten Male meine Augen öffnete. Im Augenblick erschrak ich wieder, mehr, glaube ich, über das unerwartete Wiedererscheinen der blauen Hautfarbe auf dem Gesichte eines Fremden, als über die Häßlichkeit dieser Hautfarbe selbst. Ich behielt aber doch Fassung genug, um das Kleid der Dame und die Schönheit des Kindes zu bewundern, bevor ich sie aus dem Gesichte verlor. Oscar sprach mit mir, während ich sie betrachtete, in einem Ton des Vorwurfs, für welchen es, wie mir schien, keine Veranlassung und keine Entschuldigung gab. »Ich wollte Dir den Anblick ersparen«, sagte er, »Du hast es Dir selbst zuzuschreiben, wenn Dich der Mann mit seinem Gesichte erschreckt hat.« »Er hat mich nicht erschreckt«, antwortete ich in ziemlich scharfem Tone. Oscar sah mich sehr aufmerksam an und setzte sich wieder hin, ohne ein Wort weiter zu reden.

Die gutmüthige alte Dame neben mir, die Alles, was vorgegangen war, gesehen und gehört hatte, fing an, mich von dem Herrn mit dem entstellten Gesicht und von der Dame und den Kindern, die ihn begleitet hatten, zu unterhalten. Er sei, sagte sie, ein pensionirter indischer Officier, die Dame sei seine Frau und die beiden schönen Kinder seine Kinder. »Es ist schade, daß ein so hübscher Mann so entstellt ist«, bemerkte meine neue Bekannte, »aber am Ende ist doch nicht viel daran gelegen. Wie Sie sehen, hat er eine hübsche Frau und zwei allerliebste Kinder. Ich kenne die Wirthin des Hauses, wo sie wohnen, und die versichert, daß es in ganz England keine glücklichere Familie giebt. Ein blaues Gesicht scheint also kein so schreckliches Unglück zu sein, nicht wahr, liebes Fräulein?«

Ich stimmte der alten Dame vollkommen bei. Unsere Unterhaltung schien Oscar unbegreiflicher Weise zu verstimmen. Ungeduldig stand er wieder auf und sah nach seiner Uhr.

»Deine Tante wird sich wundern, wo wir bleiben«, sagte er. »Ich denke, Du wirst jetzt von dem Pöbel am Strande genug gehabt haben.«

Ich hatte keineswegs genug gehabt und ich würde gern noch ein bischen länger mit zu dem Pöbel gehört haben. Aber ich sah, daß es Oscar ernstlich verstimmen würde, wenn ich darauf beharrte, noch länger sitzen zu bleiben. So nahm ich den Abschied von meiner lieben alten Dame und verließ ziemlich ungern den Strand.

Er sagte nichts weiter, bis wir uns durch das Gedränge durchgearbeitet hatten. Dann aber kam er, ohne irgend erkennbare Veranlassung, auf den indischen Officier und die Erinnerung an das Gesicht seines Bruders zurück, welche das Gesicht des Fremden in mir erweckt haben müsse.

»Ich begreife nicht, wie Du sagen konntest, der Anblick dieses Mannes habe Dich nicht erschreckt«, sagte er. »Der erste Anblick meines Bruders erschreckte Dich doch furchtbar.«

»Meine Einbildungskraft hatte ihn mir furchtbar vorgemalt, ehe ich ihn gesehen hatte«, antwortete ich. »Nachdem ich ihn einmal gesehen, überwand ich auch bald meinen Widerwillen.«

»So sagst Du!« erwiderte er.

Es hat etwas äußerst Verletzendes wenigstens für mich, sich in’s Gesicht sagen zulassen, daß man etwas behauptet hat, was dem Andern unglaubwürdig erscheint. Es war nicht sehr schicklich, daß ich nach dem, was er mir in seinem Briefe über die Verliebtheit seines Bruders mitgetheilt hatte, dieses Bruders Erwähnung that. Das hätte ich nicht thun sollen, es war aber doch nun einmal geschehen.

»Ich sage, was ich meine«, erwiderte ich. »Bevor ich das von Deinem Bruder wußte, was Du mir mitgetheilt hast, hatte ich mir vorgenommen, Dir um seinet- und Deinetwillen vorzuschlagen, ihn nach unserer Verheirathung mit uns leben zu lassen.«

Oscar stand plötzlich still. Er hatte mir seinen Arm gereicht, um mich durch die Menge zu führen, jetzt zog er denselben zurück.

»Das sagst Du, weil Du böse auf mich bist!« sagte er.

Ich leugnete, daß ich böse auf ihn sei und erklärte wiederholt, daß ich nur die Wahrheit rede.

»Meinst Du wirklich«, fuhr er fort, »daß Du Dich hättest wohl fühlen können, wenn Du das blaue Gesicht meines Bruders zu jeder Tagesstunde hättest vor Augen haben müssen?«

»Ganz wohl, wenn er mir auch ein Bruder hätte sein wollen.«

Oscar deutete auf das, wenige Schritte von uns entfernte Haus, in welchem meine Tante und ich wohnten.

»Hier bist Du dicht bei Eurem Hause«, sagte er, mit zu Boden gesenkten Blicken in einem sonderbar murmelnden Ton. »Ich möchte noch einen längeren Spaziergang machen. Wir treffen uns bei Tische. Damit ging er, ohne ein Wort weiter zu sagen und ohne aufzuschauen.

Also eifersüchtig aus seinen Bruder! Es liegt etwas Unnatürliches und Entwürdigendes in einer solchen Eifersucht. Ich schäme mich, daß ich so etwas von ihm denke. Und doch, wie soll man sein Benehmen anders erklären?

(Anm. Es ist an mir, diese Frage zu beantworten. Lassen wir dem Unglücklichen Gerechtigkeit widerfahren. Die Erklärung seines Benehmen’s hieß in klarem Wort: »Gewissensbisse«. Die einzige Entschuldigung mit der er sein Gewissen über die niederträchtige Rolle, die er spielte, noch beschwichtigen konnte, bestand darin, daß die Entstellung seines Bruders ein verhängnißvolles Hinderniß seiner Verheirathung sei. Und jetzt hatten ihn Lucilla’s eigene Worte und Handlungen belehrt, daß Oscar’s Gesicht für sie kein Hinderniß sein würde, ihn täglich im intimsten Verkehr des häuslichen Lebens um sich zu sehen. Die Qual der Selbstanklagen, die ihm diese Entdeckung bereitete, ließ ihn ihre Nähe meiden. Sein eigener Mund würde ihn verrathen haben, wenn er in jenem Augenblick noch ein Wort weiter mit ihr gesprochen hätte. Was ich hier ausspreche, beruht nicht etwa auf bloßer Vermuthung. Ich weiß, daß es die Wahrheit ist. P.)

»Es ist wieder Abend. Ich bin in meinem Schlafzimmer, aber zu nervös und zu aufgeregt, um zu Bett zu gehen. Ich will die Zeit benutzen, um diesen Bericht über die Ereignisse des Tages zu vollenden.

Oscar kam kurz vor Tisch. Verstört und bleich und so abwesend, daß er kaum zu wissen schien, was er sprach. Keinerlei Erörterung fand zwischen uns statt. Er bat mich um Verzeihung wegen der harten Dinge, die er mir gesagt, und wegen der üblen Laune, zu der er sich mir gegenüber heute Vormittag hatte hinreißen lassen. Ich nahm seine Entschuldigungen bereitwillig an und that mein Bestes, den unbehaglichen Eindruck zu verbergen, den sein abwesend präoccupirtes Wesen auf mich machte. Die ganze Zeit über, während er mit mir sprach, dachte er offenbar an etwas Anderes. Er war dem Oscar, wie er mir aus der Zeit meiner Blindheit vorschwebte, unähnlicher als je. Es war die alte Stimme, die aber in einer mir ganz neuen Weise sprach; ich weiß es nicht anders zu bezeichnen.

Sein Wesen pflegte zwar, wie ich weiß, früher meist ruhig und zurückhaltend zu sein; aber war er so verzweifelt, erschöpft und niedergeschlagen, wie ich es heute gesehen habe? Vergebens frage ich mich darnach. In früheren Tagen konnte ich es nicht sehen und jetzt entsteht mein Urtheil auf so gänzlich anderem Wege, daß es unnütz wäre, meine jetzigen Eindrücke mit den früheren zu vergleichen. O, wie ich Madame Pratolungo entbehre! Welche Erleichterung, welcher Trost würde es für mich gewesen sein, ihr das Alles sagen zu können und zu hören, was sie darauf erwidert haben würde!

Indessen habe ich doch Aussicht, unter allen Umständen in einigen Punkten aufgeklärt zu werden; nur muß ich bis morgen warten. Oscar scheint sich endlich entschlossen zu haben, auf die Erörterungen einzugehen, welchen er bisher immer ausgewichen ist. Er hat mich gebeten, morgen früh allein mit mir sprechen zu dürfen. Die Umstände, die ihn zu dieser Bitte veranlaßten, haben meine höchste Neugierde erregt. Offenbar geht etwas im Geheimen vor, wobei es sich um meine und möglicherweise auch um Oscar’s Interessen handelt.

Bei meiner Rückkehr nach Hause nämlich, nachdem Oscar mich verlassen hatte, fand ich einen mit der Nachmittagspost angekommenen Brief von Grosse vor. Mein lieber euer Doktor kündigte mir seinen Besuch an und fügte in einem Postskriptum hinzu, daß er am nächsten Tage zum zweiten Frühstück eintreffen werde. Ich wußte aus früherer Erfahrung, daß diese Meldung einer Aufforderung an meine Tante gleichkomme, zu leisten, was Küche und Keller zu bieten vermöchten. Ach, du lieber Gott! ich dachte an Madame Pratolungo und ihre Mayonnaise. Wird denn die schöne Zeit nie wiederkehren? Bei Tische meldete ich Grosse’s Besuch und fügte bedeutungsvoll hinzu: »Zum Frühstück.«

Meine Tante sah etwas betroffen von ihrem Teller auf und zwar aus Interesse nicht, wie ich es vermuthet hatte, an der wichtigen Frühstücksfrage, sondern an den Ausspruch, welchen mein ärztlicher Rathgeber über meinen Gesundheitszustand thun werde.

»Ich bin begierig, was Herr Grosse morgen über Dich sagen wird«, fing die alte Dame an. »Ich werde diesmal darauf bestehen, daß er mir einen viel vollständigeren Bericht über Dich erstattet, als er es das vorige Mal gethan hat. Mir scheinst Du völlig wieder hergestellt, liebes Kind.«

»Wünschest Du, daß ich geheilt sei, damit Du fort kannst, liebe Tante?« fragte ich. »Bist Du Ramsgate überdrüssig?«

Die hellen alten Augen meiner Tante funkelten zornig.

»Ich bin es überdrüssig, einen Brief für Dich aufzubewahren«, platzte sie mit dem Ausdruck des Widerwillens heraus.

»Einen Brief für mich?« rief ich aus.

»Ja, einen Brief, den ich Dir erst abgeben soll, wenn Herr Grosse Dich für vollständig wieder hergestellt erklärt hat.«

Oscar der bis dahin nicht das geringste Interesse an der Unterhaltung genommen zu haben schien, hielt plötzlich, im Begriff seine Gabel zum Munde zu führen, inne; wechselte die Farbe und heftete den Blick auf meine Tante.

»Was für einen Brief?« fragte ich.

»Wer hat Dir den gegeben? Warum soll ich ihn nicht sehen, bevor ich ganz wieder hergestellt bin?«

Meine Tante beantwortete diese drei Fragen mit einem dreimaligen halsstarrigen Kopfschütteln.

»Ich hasse Geheimnisse und mysteriöse Geschichten, wie diese«, sagte sie ungeduldig. »Ich sehne mich darnach, es los zu werden. Das ist das Ganze. Ich habe schon zu viel gesagt und werde nun nichts mehr sagen.«

All’ mein Bitten war vergeblich. Meine Tante hatte sich offenbar durch ihre Heftigkeit zu einer Unvorsichtigkeit verleiten lassen. Nachdem ihr aber das einmal widerfahren, war sie jetzt hartnäckig entschlossen, den begangenen Fehler nicht noch schlimmer zu machen. Ich mochte sagen was ich wollte, sie war nicht zu bewegen, irgend etwas Näheres über den geheimnißvollen Brief zu sagen. »Warte, bis Herr Grosse morgen kommt«, das war die einzige Antwort, die ich von ihr erlangen konnte.

Auf Oscar schien dieser kleine Zwischenfall eine Wirkung zu haben, welche die von meiner Tante bei mir erregte Neugierde nur noch steigerte.

Mit athemloser Spannung horchte er auf, während ich meine Tante zu bewegen suchte, meine Fragen zu beantworten. Als ich es aufgeben mußte, schob er seinen Teller bei Seite und aß nichts mehr. Dagegen trank er, der sonst der mäßigste Mensch war, bei Tisch und nachher sehr viel Wein. Abends machte er so viele Versehen beim Kartenspiel mit meiner Tante, daß sie das Spiel sehr ungnädig aufgab. Den Rest des Abends saß er in einer Ecke, angeblich um mir zuzuhören, während ich Klavier spielte, in Wahrheit aber, um sich fernab von meiner Musik und mir tief in seine unbehaglichen Grübeleien zu versenken.

Als er sich verabschiedete, drückte er mir ängstlich die Hand und flüsterte mir die Worte ins Ohr:

»Ich muß Dich morgen allein sprechen, ehe Grosse kommt, kannst Du es einrichten?«

»Ja.«

»Wann?«

»Um elf Uhr bei der Treppe an der Klippe.«

Damit verließ er mich. Aber eine Frage hat mich seitdem unaufhörlich verfolgt. Kennt Oscar den Schreiber des geheimnißvollen Briefes? Ich glaube es sicher. Morgen wird es sich zeigen, ob ich Recht oder Unrecht habe. Wie sehne ich mich nach morgen!«



Drittes Kapitel - Fortsetzung von Lucilla’s Tagebuch

»Den 4. September. »Ich muß den heutigen Tag als einen der traurigsten meines Lebens bezeichnen. Oscar hat. mich Madame Pratolungo in ihrer wahren Gestalt kennen gelehrt. Er hat mir die jammervolles Geschichte so klar gemacht, daß ich mich der Wahrheit seiner Mittheilungen nicht verschließen konnte. Ich habe meine Liebe und mein Vertrauen zu diesem falschen Weibe abgethan; in ihr lebt kein Ehrgefühl, keine Dankbarkeit und keine Delicatesse. Und ich hielt sie einst für — es macht mich elend, daran zu denken! Ich will sie nie wieder sehen.«

(Anm. Wem es nie begegnet sein sollte, sich zum Copiren einer solchen Meinungsäußerung über seinen Charakter genöthigt zu sehen, dem kann ich die Versicherung geben, daß man dabei ganz eigenthümlich empfindet und daß die Versuchung, selbst ein Paar Zeilen hinzuzufügen, fast unwiderstehlich ist. P.)

»Oscar und ich trafen uns verabredetermaßen an der Treppe. Er führte mich nach dem westlichen Hafendamm. Zu dieser Morgenstunde war dort, bis auf einige Matrosen, die uns nicht beachteten, Niemand zu sehen. Es war einer der schönsten Tage des Jahres. Wenn wir vom Auf- und Abgehen müde geworden waren, konnten wir im milden Sonnenschein niedersitzen und die balsamische Seeluft einathmen. Zu diesem reinen Licht und all dem lieblichen Farbenspiel um uns her bildete für mein Gefühl das Gespräch, das uns ganz absorbirte, einen widerwärtigen und abscheulichen Contrast, indem es stundenlang nur Complotte, Lügen und grausamen Betrug aufdeckte.

Ich wußte gleich meine erste Frage so zu stellen, daß er auf die Sache selbst eingehen mußte, ohne Zeit mit solchen Phrasen zu vergeuden, die mich erst auf die Sache hätten vorbereiten sollen.

»Als meine Tante gestern bei Tische eines Briefes gedachte«, sagte ich, »dachte ich mir, daß Du schon etwas davon wissest. Habe ich darin Recht gehabt?«

»Beinahe recht«, antwortete er. »Ich kann nicht sagen, daß ich etwas davon wußte; aber ich schöpfte sofort Verdacht, daß es die Machination unserer Feindin sei.«

»Doch nicht Madame Pratolungo?i«

»Allerdings, Madame Pratolungo.«

Ich war sofort anderer Meinung. Madame Pratolungo und meine Tante hatten sich über Politik gezankt; eine Correspondenz zwischen ihnen und noch dazu eine vertrauliche Correspondenz schien mir daher als etwas äußerst Unwahrscheinliches. Ich fragte Oscar, ob er errathen könne, was der Brief enthalte und warum mir derselbe erst übergeben werden sollte, wenn Grosse mich für ganz wieder hergestellt erklärt haben würde.

»Den Inhalt kann ich nicht errathen«, sagte er, »wohl aber den Zweck des Briefes«

»Und der wäre?«

»Derselbe Zweck, den sie von Anfang an verfolgt hat: meiner Verheirathung mit Dir jedes mögliche Hinderniß in den Weg zu stellen.«

»Welches Interesse kann sie daran haben?«

»Das Interesse meines Bruders.«

»Verzeihe mir, Oscar; aber das kann ich von der Frau nicht glauben.«

Diese Unterhaltung führten wir gehend; bei meinen letzten Worten stand er still, sah mich mit einem durchdringenden Blick an und sagte:

»Du glaubtest es doch von ihr, als Du meinen Brief beantwortetest.«

Das mußte ich zugeben.

»Ich glaubte Deinem Brief«, erwiderte ich, »und theilte Deine Ansicht über sie, solange sie in demselben Hause mit mir war. Ihre Gegenwart gab meinem Zorn und meinem Abscheu gegen sie in einer Weise Nahrung, die ich mir nicht zu erklären weiß. Jetzt, nachdem sie mich verlassen hat, jetzt, wo ich Zeit nachzudenken habe, spricht etwas in mir für sie und martert mich mit Zweifeln, ob ich recht gethan habe. Ich kann es nicht begreifen und nicht erklären, ich weiß nur; daß es so ist.«

Er sah mich noch immer mit steigend gespannter Aufmerksamkeit an.

»Deine gute Meinung von ihr muß sehr fest gewurzelt sein, daß Du mit solcher Zähigkeit daran haftest«, sagte er. »Was hat sie denn gethan, das zu verdienen?«

Wenn ich mir alle meine alten Erinnerungen an sie hätte zurückrufen wollen, hätte ich weinen müssen. Und doch fühlte ich, daß ich so lange wie möglich für sie eintreten müsse. Ich half mir auf folgende Weise.

»Ich will Dir sagen, was sie gethan hat, nachdem ich Deinen Brief empfangen hatte«, entgegnete ich. »Zu meinem Glück befand sie sich an jenem Morgen nicht ganz wohl und frühstückte im Bett. Ich hatte daher reichlich Zeit, mich zu beruhigen und Zillah, die mir Deinen Brief vorgelesen hatte, zum Schweigen zu ermahnen, bevor wir uns an jenem Tage zum ersten Male sahen. Tags zuvor hatte sie mich durch die Art verletzt, wie sie Deine Abwesenheit von Browndown erklärte. Mir schien, daß sie mir nicht mit demselben Vertrauen entgegenkomme, das ich ihr bewiesen haben würde, wenn unser Verhältniß zu einander das umgekehrte gewesen wäre. Als ich sie dann wieder sah, entschuldigte ich mich, Deiner Mahnung uneingedenk, bei ihr und sagte, was sie, wie ich mir dachte, unter den obwaltenden Umständen von mir erwarten würde. Vermuthlich that ich in meiner Aufregung und Verzweiflung des Guten etwas zu viel. Gewiß ist, daß ich bei ihr den Verdacht erweckte, es sei etwas nicht in Ordnung. Sie fragte mich nicht nur, ob etwas vorgefallen sei, sondern ging so weit, mir ausdrücklich zu sagen, ich komme ihr verändert vor. Ich machte der Sache ein Ende, indem ich erklärte, daß ich sie nicht verstehe. Sie muß gesehen haben, daß ich nicht die Wahrheit sagte; sie muß so gut wie ich selbst gewußt haben, daß sich ihr etwas verheimliche. Trotz alledem kam kein Wort weiter über ihre Lippen. Ein stolzes Zartgefühl, das ich so deutlich in ihrem Gesichte sah, wie ich Dich jetzt vor mir sehe, ließ sie schweigen. Sie sah verletzt und gekränkt aus. Ich habe an dieses Aussehen denken müssen, so lange ich hier bin. Ich habe mich gefragt, was mir damals nicht einfiel, ob ein falsches Weib, das sich seiner Schuld bewußt wäre, sich so benommen haben würde? Ein falsches Weib würde doch sicherlich mich zu überlisten und dahin zu bringen versucht haben, meine wirklich gemachten Entdeckungen zu verrathen. Oscar, jenes delicate Schweigen, jener gekränkte Blick sprechen bei mir für sie, wenn ich in ihrer Abwesenheit an sie denke. Ich bin nicht mehr so überzeugt, wie ich es einst war, daß sie das abscheuliche Geschöpf sei, für das Du sie erklärst. Ich weiß, daß Du unfähig bist, mich zu betrügen, daß Du glaubst was Du sagst. Aber sollte es nicht möglich sein, daß der Schein Dich getäuscht hat? Bist Du ganz sicher, daß Dir nicht ein verhängnißvoller Irrthum begegnet ist?«

Ohne mir zu antworten, stand er plötzlich vor einem Sitz unter der steinernen Brustwehr des Hafendammes still und hieß mich mit einer Handbewegung neben ihn hinsetzen. Ich gehorchte ihm; aber anstatt mich anzusehen, wandte er sein Gesicht von mir ab und blickte nach der See hinaus. Ich begriff ihn nicht. Sein Benehmen war mir unerklärlich, ja, fast beunruhigend.

»Habe ich Dich beleidig?« fragte ich.

Jetzt wandte er sich wieder ebenso plötzlich zu mir, wie er sich vorhin von mir abgewandt hatte. Seine Augen hattest einen unstäten Ausdruck; sein Gesicht war bleich.

»Du bist ein gutes, großmüthiges Wesen,« sagte er in einem verwirrt hastigen Ton. »Laß uns von etwas Anderem reden.«

»Nein«, antwortete ich, »ich bin zu lebhaft dabei interessirt, die Wahrheit zu erfahren, um von etwas Anderem reden zu können.«

Bei diesen Worten wechselte er abermals die Farbe; eine tiefe Röthe überflog sein Gesicht; er seufzte schwer, wie man es wohl thut, wenn man eine große Anstrengung macht.

»Bestehst Du darauf?« fragte er.

»Ich bestehe darauf.«

Er stand wieder auf. — Je näher ihm die Nothwendigkeit rückte, mir alles das zu sagen, was er mir bis jetzt verheimlicht hatte, desto schwerer schien es ihm zu werden, das erste Wort zu sprechen.

»Hast Du etwas dagegen, daß wir wieder gehen?« fragte er.

Ich stand schweigend auf und legte meinen Arm in den seinigen. Langsam gingen wir bis an das Ende des Hafendammes. Hier angelangt, stand er still und sprach, den Blick auf die weite blaue Wasserfläche statt auf mich gerichtet, diese ersten, harten Worte:

»Ich verlange nicht von Dir, daß Du mir irgend etwas auf meine bloße Versicherung hin glaubst. Die eigenen Worte und die eigenen Handlungen des Weibes sollen Dir ihre Schuld beweisen. Wie ich zuerst dazu kam, Verdacht gegen sie zu schöpfen, wie ich meinen Verdacht später bestätigt fand, das will ich Dir nicht mittheilen, weil ich entschlossen bin, meinen Einfluß auf Dich nicht dazu zu mißbrauchen, Dich zu meinen Ansichten zu bekehren. Erinnere Dich jenes bereits in meinem Brief erwähnten Moments, wo sie sich Dir gegenüber im Pfarrhausgarten verrieth. Ist es wahr, daß sie damals zu Dir sagte, Du würdest Dich in meinen Bruder verliebt haben, wenn Du ihm und nicht mir zuerst begegnet wärest?«

»Das ist wahr«, antwortete ich; »aber fügte ich sofort hinzu, »in einem Moment, wo sie ihrer selbst nicht ganz mächtig war und wo auch ich meine Fassung verloren hatte.«

»Erinnere Dich eines etwas späteren Zeitpunktes«, fuhr er fort, »des Zeitpunktes, wo sie Dir nach Browndown gefolgt war. War sie auch da ihrer selbst noch nicht mächtig, als sie sich bei Dir entschuldigte?«

»Nein.«

»Legte sie sich ins Mittel als Nugent Deine Blindheit dazu mißbrauchte, Dich glauben zu machen, daß Du mit mir sprächest?«

»Nein.«

»War sie in jenem Augenblick ihrer selbst noch nicht mächtig?«

Ich versuchte es noch immer, sie zu vertheidigen.

»Sie durfte wohl auf mich böse sein«, sagte ich. »Sie hatte sich bei mir aufs Freundlichste entschuldigt und ich hatte diese Entschuldigung in einer unverzeihlich unartigen Weise zurückgewiesen.«

Meine Fürsprache machte bei ihm keinen Eindruck. Er faßte vielmehr seine Anklage ganz kühl in die Worte: »Sie verglich mich zu meinem Ungunsten mit meinem Bruder und sie ließ es zu, daß mein Bruder als er mit Dir sprach, Dich glauben machte, er sei ich, ohne der Sache Einhalt zu thun. In diesen beiden Fällen kann ihre Gereiztheit zur Erklärung und zur Entschuldigung ihres Benehmens dienen. Gut. Es kommt nichts darauf an, ob wir in dieser Beziehung einer Meinung sind oder nicht. Aber laß uns, ehe wir weiter gehen, uns wo möglich über eine unbestreitbare Thatsache einigen. Welcher von uns beiden Brüdern war vom ersten Augenblicke an ihr Liebling?«

Darüber konnte man allerdings nicht zweifelhaft sein. Ich gab ohne Weiteres zu, daß Nugent ihr Liebling sei. Und noch mehr, ich erinnerte mich, daß ich sie beschuldigt habe, vom ersten Augenblicke an nie gerecht gegen Oscar gewesen zu sein.«

(Anmerk.: Man sehe das sechzehnte Kapitel des ersten Bandes und daselbst Madame Pratolungo’s Bemerkung, daß der Leser noch einmal wieder von diesem Umstand hören werde. P.)

Oscar fuhr fort:

»Behalte das im Gedächtniß und laß uns nun weiter bis zu dem Zeitpunkte vorgehen, wo wir in Deinem Wohnzimmer versammelt waren, um über die Operation Deiner Augen zu debattiren. Die uns vorliegende Frage war, so viel ich mich erinnere, ob Du Dich schon vor der Operation mit mir verheirathen solltest? Oder ob wir warten sollten, bis die Operation vollzogen und Du vollständig geheilt wärest? Wofür entschied sich Madame Pratolungo bei dieser Gelegenheit? Sie entschied sich gegen mein Interesse; sie redete Dir zu, unsere Heirath aufzuschieben.«

Ich verharrte dabei, sie zu vertheidigen.

»Das that sie aus Sympathie für mich«, sagte ich.

Zu meiner Ueberraschung ließ er auch diese meine Auffassung gelten, ohne auch nur den Versuch zu machen, sie zu bestreiten.

»Gut«, fuhr er fort, »nehmen wir an, sie habe es aus Sympathie für Dich gethan. Was aber auch ihre Motive gewesen sein mögen, das Resultat war dasselbe. Unsere Heirath wurde auf unbestimmte Zeit verschoben und Madame Pratolungo hatte für diesen Aufschub gestimmt.«

»Und Dein Bruder«, fügte ich hinzu, »war anderer Ansicht und versuchte mich zu überreden, Dich vor der Operation zu heirathen. Wie kannst Du das mit dem, was Du mir gesagt hast, in Einklang bringen?«

Er unterbrach mich, bevor ich fortfahren konnte. »Laß meinen Bruder aus dem Spiel«, sagte er. »Mein Bruder konnte um jene Zeit noch wie ein Ehrenmann handeln und seine Wünsche seiner Pflicht gegen mich zum Opfer bringen. Laß uns für jetzt wenigstens uns strenge auf das beschränken, was Madame Pratolungo gesagt und gethan hat. Und laß uns zu einem wenige Minuten späteren Zeitpunkt vorgehen, wo unsere kleine häusliche Debatte zu Ende war. Mein Bruder ging zuerst fort; dann begabst Du Dich auf Dein Zimmer und ließest Madame Pratolungo und mich allein zurück. Erinnerst Du Dich dessen?«

»Ganz genau! Du hattest mich bitter enttäuscht«, sagte ich. »Du hattest keine Sympathie für mein sehnliches Verlangen gezeigt, meine Sehkraft wieder hergestellt zu sehen. Du machtest Einwendungen und erhobst Schwierigkeiten. Ich erinnere mich, mich mit einiger Bitterkeit gegen Dich geäußert zu haben. Ich tadelte Dich dafür, daß Du meinen Glauben an meine Zukunft und meine Hoffnungen nicht theilen wolltest und verließ Dich dann und schloß mich in mein Zimmer ein.«

Durch diese Worte überzeugte ich ihn, daß meine Erinnerung an die Ereignisse jenes Tages so klar sei, wie seine eigene. Er hörte mir zu, ohne irgend eine Bemerkung zu machen und fuhr dann, als ich fertig war, wieder fort:

»Madame Pratolungo theilte bei jener Gelegenheit Dein hartes Urtheil über mich und sprach es in unendlich viel stärkeren Ausdrücken aus. Sie verrieth sich Dir gegenüber im Pfarrhausgarten. «Gegen mich aber verrieth sie sich, nachdem Du uns im Wohnzimmer allein gelassen hattest. Daran war ohne Zweifel wieder ihre Heftigkeit Schuld, darin bin ich ganz mit Dir einverstanden. Was sie mir in Deiner Abwesenheit sagte, würde sie gewiß nicht gesagt haben, wenn sie ihrer selbst mächtig gewesen wäre.«

Ich fing an, etwas betroffen zu werden. »Wie kommt es, daß Du mir jetzt zum ersten Male davon erzählst?« sagte ich. »Fürchtetest Du, mich zu betrüben?«

»Ich fürchtete, Dich zu verlieren«, antwortete er.

Bis dahin hatte ich meinen Arm in den seinigen gelegt. Jetzt zog ich denselben zurück. Seine Worte konnten keinen andern Sinn haben, als den, daß er mich einmal fähig gehalten habe, ihm die Treue zu brechen. Er sah, daß ich verletzt war.

»Erinnere Dich, daß ich Dich an jenem Tage unglücklicherweise beleidigt hatte und daß Du noch nicht gehört hast, was Madame Pratolungo mir unter diesen Umständen zu sagen wagte.«

»Und was hat sie Dir gesagt?«

»Folgendes: Lucilla würde einer glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn sie Ihren Bruder statt Ihrer geheirathet hätte. Das waren buchstäblich ihre Worte.«

Ich konnte das so wenig von ihr glauben, wie ich es von mir selbst geglaubt hätte.

»Bist Du Deiner Sache wirklich ganz gewiß?« fragte ich. »Ist es möglich, daß sie eine so grausame Aeußerung gegen Dich gethan hat?«

Statt jeder Antwort zog er seine Brieftasche aus der Brusttasche seines Rocks, suchte in derselben nach etwas und zog ein gefaltetes und zerknittertes Stück Papier hervor, öffnete dasselbe und zeigte mir einige darauf geschriebene Zeilen.

»Ist dass meine Handschrift?« fragte er.

Es war seine Handschrift. Ich hatte, seit ich wieder sehen konnte, Briefe genug von ihm in Händen gehabt, nur dessen gewiß zu sein.

»Lies es«; sagte er, »und urtheile selbst.«

(Anm. Der Leser hat diesen Brief schon in dem dreizehnten Kapitel des zweiten Bandes kennen gelernt. Ich hatte, wie man es in meinem dortigen Bericht finden wird, jene thörichten Worte in einer begreiflichen Entrüstung, wie sie jede andere Frau mit einem Funken von Geist auch empfunden haben würde, zu Oscar gesagt. Statt auf der Stelle dagegen zu remonstriren, war Oscar wie gewöhnlich nach Hause gegangen und hatte mir einen Brief voll von Vorwürfen geschrieben. Unmittelbar nach Empfang des Briefes war ich, nachdem ich inzwischen Zeit gehabt hatte, mich abzukühlen, und da ich es absurd fand, daß wir Briefe mit einander wechselten, während wir in einigen Minuten zu einander gelangen konnten, direct nach Browndown gegangen, hatte aber zuvor den Brief zerknittert und wie ich meinte, ins Feuer geworfen. Nachdem ich mich mit Oscar ausgesprochen hatte, war ich in’s Pfarrhaus zurückgekehrt und hatte hier erfahren, daß Nugent in meiner Abwesenheit gekommen sei, mich zu besuchen, daß er im Wohnzimmer ein wenig auf mich gewartet habe und dann wieder fortgegangen sei. Wenn ich sage, daß der Brief, den Nugent jetzt Lucilla zeigte, derselbe Brief Oscar’s war, den ich vernichtet zu haben glaubte, so wird man begreifen, daß ich den Brief anstatt in’s Feuer in den Fender geworfen hatte und daß ich ihn bei meiner Rückkehr nicht mehr im Fender fand, einfach, weil Nugent ihn früher als ich gefunden und zu sich genommen hatte. Diese Einzelheiten sind ausführlicher in dem erwähnten Kapitel erzählt und der Brief selbst ist dort wörtlich mitgetheilt. Ich will aber dem Leser die Mühe des Nachschlagens ersparen und wörtlich abschreiben, was im Tagebuch steht. Der Brief selbst ist in das Tagebuch eingeklebt; ich will ihn zum zweiten Mal mittheilen. P.)

»Ich nahm ihm den Brief ab und las ihn; auf meine Bitte hat er mir erlaubt, ihn zu behalten. Der Brief dient mir zur Rechtfertigung für meine jetzige Meinung von Madame Pratolungo. Ich will ihn hier einfügen, bevor ich ein Wort weiter in mein Tagebuch schreibe.

»Madame Pratolungo. Sie haben mich tiefer betrübt, als ich es sagen kann. Ich weiß, daß mich sehr ernste Vorwürfe treffen und bitte Sie von Herzen um Verzeihung, wenn ich Sie durch meine Worte oder Handlungen beleidigt habe; aber ich kann Ihr hartes Urtheil über mich nicht als gerecht anerkennen. Wenn Sie wüßten, wie ich Lucilla anbete, würden Sie Nachsicht mit mir haben, würden Sie mich besser verstehen. Ihre letzten grausamen Worte klingen mir noch immer fort in den Ohren. Ich kann Sie nicht wiedersehen, ehe Sie sich über diese Worte näher gegen mich erklärt haben. Sie haben mich in’s tiefste Herz getroffen, als Sie diesen Abend sagten, Lucilla würde einer glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn sie meinen Bruder anstatt meiner heirathete. Ich hoffe, daß das nicht Ihr Ernst war, und bitte Sie, mir in einer Zeile zu sagen, ob ich zu dieser Annahme berechtigt bin oder nicht. Oscar.«

Das Erste, was ich that, nachdem ich diese Zeilen gelesen hatte, war natürlich, daß ich meinen Arm wieder in den seinigen legte und ihn so dicht wie möglich an mich heranzog. Demnächst fragte ich natürlich nach Madame Pratolungo’s Antwort auf diesen so zärtlichen und rührenden Brief.«

»Ich kann Dir keine Antwort zeigen«, sagte er.

»Hast Du sie verloren?« fragte ich.

»Ich habe nie eine gehabt.«

»Was willst Du damit sagen?«

»Madame Pratolungo hat mir auf meinen Brief nie eine Antwort gegeben.«

Er mußte mir das zwei Mal wiederholen. War es nicht unglaublich, daß eine nicht ganz verderbte Frau von einem solchen Appell nicht die geringste Notiz genommen haben sollte? Zweimal wiederholte er dieselbe Antwort, zweimal versicherte er mir auf sein Ehrenwort, daß ihm keine Zeile der Erwiderung zu Theil geworden sei. War sie dann also wirklich ganz verderbt? Nein, es gab noch eine letzte Entschuldigung, welche Gerechtigkeit und Freundschaft für sie anführen konnten. Ich sprach dieselbe aus.

»Es giebt nur eine Erklärung für ihr Benehmen«, sagte ich. »Sie hat den Brief nie bekommen. Wohin hast Du ihn geschickt?«

»Nach dem Pfarrhause.«

»Wer brachte ihn hin?«

»Mein Diener.«

»Vielleicht hat er ihn unterwegs verloren und hat sich gefürchtet, Dir das zu sagen. Oder vielleicht hat die Magd im Pfarrhause vergessen den Brief abzugeben.«

Oscar schüttelte den Kopf. »Ganz unmöglich. Ich weiß, daß Madame Pratolungo den Brief bekommen hat.«

»Wie das?«

»Ich fand denselben in Deinem Wohnzimmer im Pfarrhause zerknittert, in einer Ecke des Kaminfenders.«

»War er offen?«

»Allerdings. Sie hat ihn erhalten, hat ihn gelesen und hätte ihn in’s Feuer geworfen, wenn sie nicht zufällig ihr Ziel verfehlt hätte. Jetzt frage ich Dich, Lucilla, ist Madame Pratolungo Unrecht geschehen und habe ich sie verleumdet?«

Wenige Schritte von uns stand wieder eine Bank.Ich konnte nicht länger stehen, ich ging allein nach der Bank und setzte mich nieder. Ich war wie betäubt, ich konnte weder reden noch weinen. Schweigend saß ich da und rang die Hände auf meinem Schooß; ich fühlte wie die letzten Bande, die mich noch an die innig geliebte Freundin geknüpft hatten, sich lösten. Er folgte mir und stellte sich vor mich hin, in ruhigen strengen Worten zählte er ihre Vergehen auf und überzeugte mich so völlig, daß ich mich schämte, mich je nach ihr zurückgesehnt zu haben.

»Vergegenwärtige Dir zum letzten Male, Lucilla, was dieses Weib gesagt und gethan hat. Du wirst finden, daß die Idee einer Verheirathung Nugent’s mit Dir sie immer in einer oder der anderen Gestalt beschäftigt — gleichviel ob sie sich vergißt und sich unvorsichtig äußert, oder ob sie mit Ueberlegung und zu einem bestimmten Zwecke handelt. Einmal sagt sie zu Dir, Du würdest Dich in meinen Bruder verliebt haben, wenn Du ihn zuerst gesehen hättest; ein anderes Mal steht sie dabei, während mein Bruder sich Dir gegenüber für mich ausgiebt und legt sich nicht in’s Mittel. Ein drittes Mal sieht sie, daß Du Dich von mir beleidigt fühlst und empfindet bei diesem Anblick eine so grausamer Freude, daß sie mir in’s Gesicht sagt, Du würdest einer viel glücklicheren Zukunft entgegengehen, wenn Du Dich mit meinem Bruder statt mit mit yerlobt hättest. Ich bitte sie schriftlich in einer höflichen und freundlichen Form, mir zu erklären, was sie mit diesen schrecklichen Worten habe sagen wollen. Sie hat Zeit gehabt, sich die Worte zu überlegen, seit sie sie ausgesprochen hat und was thut sie? Antwortet sie mir? Nein! Sie schleudert meinen Brief verächtlich in’s Feuer. Nimm zu diesen klaren Thatsachen hinzu, was Du selbst beobachtet hast. Nugent ist der Gegenstand ihrer Bewunderung, Nugent ist ihr Liebling, mich aber hat sie vom ersten Augenblick an nicht leiden können, mir hat sie immer Unrecht gethan. Nimm ferner hinzu, daß Nugent, wie ich gewiß weiß, ihr im Vertrauen gestanden hat, daß er Dich liebe, vergegenwärtige Dir alle diese Umstände und — frage Dich, was sich unwiderleglich daraus ergiebt. Ich frage Dich noch einmal, ist Madame Pratolungo eine verleumdete Frau? Oder habe ich Recht, Dich vor ihr zu warnen?«

Was konnte ich anders thun, als zugeben, daß er Recht habe. Ich war es ihm und mir selbst schuldig, von diesem Augenblick an mein Herz gegen sie zu verschließen. Oscar setzte sich zu mir und ergriff meine Hand.

»Kann es Dich«, fuhr er sanft fort, »nach diesen meinen Erfahrungen mit ihr überraschen, daß ich mich vor dem, was sie etwa noch thun möchte, fürchte? Wäre es etwa das erste Mal, daß treu Liebende durch Verrätherei, die ihr Vertrauen zu einander untergrub, voneinander getrennt worden sind? Ist Madame Pratolungo nicht klug und gewissenlos genug, um auch unser gegenseitiges Vertrauen zu untergraben und den Einfluss, den sie im Pfarrhause bereits besitzt, zu den schlechtesten Zwecken gegen uns zu mißbrauchen? Wie können wir wissen, ob sie nicht in diesem Augenblick mit meinem Bruder in Verbindung steht?«

Ich unterbrach ihn; ich konnte es nicht ertragen. »Du hast ja Deinen Bruder gesprochen«, sagte ich. »Du hast mir gesagt, daß Ihr Euch verständigt habt. Was hast Du nun noch zu fürchten?«

»Ich habe Madame Pratolungo’s Einfluß und meines Bruders thörichte Liebe für Dich zu fürchten«, antwortete er. »Ich kann mich auf seine ehrlichen Versprechungen nicht mehr verlassen, sobald ich den Rücken gekehrt habe und ich fürchten muß, daß Madame Pratolungo in meiner Abwesenheit bei ihm ist. Schon jetzt geht im Geheimen etwas vor! Der geheimnißvolle Brief, der Dir unter gewissen Bedingungen gezeigt werden soll, gefällt mir so wenig wie das Schweigen Deines Vaters. Er hätte Zeit genug gehabt, Deinen Brief zu beantworten. Hat er es etwa gethan? Er hätte Zeit genug gehabt, auch mein Postskriptum zu beantworten. Hat er das etwa gethan?«

Das waren unbequeme Fragen. Allerdings hatte mein Vater bis jetzt meine beiden Briefe unbeanwortet gelassen. Aber die nächste Post konnte ja noch seine Antwort bringen. Ich beharrte dabei, die Sache so anzusehen und sagte das Oscar. Er aber beharrte eben so eigensinnig bei seiner Ansicht.

»Laß uns das Ende der Woche abwarten«, sagte er, »ob bis dahin ein Brief Deines Vaters für Dich oder für mich eintrifft; wenn aber keiner kommt, wirst Du dann zugeben, daß sein Schweigen verdächtig ist?«

»Ich will in diesem Fall zugeben, daß sein Schweigen einen traurigen Mangel an Rücksicht für Dich beweist«, erwiderte ich.

»Und dabei willst Du es bewenden lassen? Du willst nicht sehen, wie ich es sehe, daß der Einfluß Madame Pratolungo’s sich im Pfarrhause geltend macht und die Gesinnungen Deines Vaters in Bezug auf unsere Verheirathung vergiftet?«

Auf diese Weise trieb er mich sehr in die Enge. Ich bot gleichwohl Alles auf, ihm ehrlich zu sagen, was in meinem Innern vorging.

»Ich sehe» sagte ich« »daß Madame Pratolungo’s Benehmen gegen Dich sehr grausam gewesen ist. Und ich glaube nach dem, was Du mir mitgetheilt hast, daß sie sich freuen würde, wenn ich mein Dir gegebenes Wort bräche und Dritten Bruder heirathete. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß sie wahnsinnig genug sein sollte, jetzt zu complottiren, um mich zu einem solchen Wortbruch zu treiben. Niemand weiß besser als sie, wie treu ich Dich liebe und wie hoffnungslos der Versuch sein würde, mich dahin zu bringen, einen anderen Mann zu heirathen. Würde man wohl der dümmsten Frau auf der Welt, die Euch Brüder beide gesehen hätte, und wüßte, was sie weiß, die Dummheit zutrauen, das zu thun, was zu thun Du Madame Pratolungo im Verdacht hast?«

Ich hielt das für unwiderleglich. Er aber war um eine Antwort nicht verlegen.

»Wenn Du mehr von der Welt gesehen hättest, Lucilla«, sagte er, »so würdest Du wissen, daß eine echte Liebe, wie die Deinige, für eine Frau wie Madame Pratolungo ein Geheimniß ist. Sie glaubt nicht an eine solche Liebe — und sie versteht sie nicht. Sie weiß, daß sie selbst fähig wäre, jede eingegangene Verpflichtung zu brechen, wenn die Umstände darnach angethan wären, und sie bemißt Deine Treue nach ihrer eigenen Natur. Weder in dem, was sie von Dir weiß, noch in der Entstellung meines Bruders liegt für eine solche Frau irgend etwas, was sie davon abschrecken könnte, an unserer Veruneinigung zu arbeiten. Sie hat erlebt, daß Du, wie Du mir bereits gesagt hast, Deinen ersten Widerwillen gegen ihn überwunden hast. Sie weiß, daß so reizende Mädchen wie Du, schon oft persönlich viel, abstoßendere Männer als meinen Bruder geheirathet haben. Lucilla, ein Gefühl, das sich nicht wegstreiten und nicht widerlegen läßt, sagt mir, daß ihre Rückkehr nach England uns verhängnißvoll werden wird, wenn uns bei dieser Rückkehr noch kein engeres Band, als das jetzt zwischen uns bestehende, verknüpft. Ist diese nervöse Angst eines Mannes würdig? Würdig, oder nicht, Du solltest Nachsicht damit haben, Geliebte. Es ist meine Liebe zu Dir, die mir diese Angst einflößt!«

Gewiß hatte er unter den obwaltenden Umständen den größten Anspruch auf meine Nachsicht, und das sagte ich ihm. Er trat näher an mich heran und umschlang mich mit seinem Arm.

»Haben wir uns nicht das Wort gegeben« Mann und Weib zu werden?« flüsterte er.

»Ja!«

»Sind wir nicht Beide mündig, Beide frei, zu thun, was wir wollen?«

»Ja.«

»Würdest Du mich, wenn Du könntest, von der Angst, unter der ich leide, befreien?«

»Das weißt Du ja!«

»Du kannst mich davon befreien«

»Wie das?«

»Indem Du Dich bereit erklärst, Lucilla, mich in vierzehn Tagen in London zu heirathen und mir dadurch die Ansprüche eines Ehegatten einräumst.«

Ich fuhr zurück und sah ihn in stummen Erstaunen an. Im ersten Augenblick war ich unfähig, ihm irgend eine Antwort zu geben.

»Ich verlange nichts Deiner Unwürdiges von Dir«, sagte er. »Ich habe schon mit einer in der Nähe von London lebenden Verwandten von mir gesprochen, einer verheiratheten Dame, deren Haus Dir während der Zeit bis zu unserem Hochzeitstage offen steht. Vierzehn Tage, nachdem ich die Erlaubniß zu unserer Heirath erwirkt haben werde, können wir Hochzeit machen. Schreibe auf alle Fälle nach Hause, um sie über Dich zu beruhigen. Sage ihnen, Du seiest wohl und glücklich und unter einer respektablen Obhut, aber sage nichts weiter. So lange es für Madame Pratolungo möglich ist, Unheil anzustiften, mußt Du Deinen Aufenthaltsort verheimlichen. Sobald wir verheirathet sind, kannst Du Alles mittheilen. Dann laß alle Deine Verwandten, laß die ganze Welt wissen, daß wir Mann und Weib sind!«

Sein Arm, der mich umschlungen hielt, zitterte; sein Gesicht überflog ein tiefes Roth, seine Blicke verschlangen mich. Einige Frauen an meiner Stelle würden sich vielleicht verletzt, andere würden sich geschmeichelt gefühlt haben. Ich, diesen Blättern kann ich es anvertrauen, ich war erschrocken.

»Du schlägst mir also vor, mit Dir davon zu laufen?« fragte ich.

»Davonzulaufen?« wiederholte er.

Wie kann bei zwei Verlobten, die nur auf sich Rücksicht zu nehmen haben, von Davonlaufen die Rede sein?«

»Ich muß aus meinen Vater und auf meine Tante Rücksicht nehmen«, sagte ich, »Du schlägst mir vor, davonzulaufen und mich vor ihnen zu verbergen.«

»Ich bitte Dich«, antwortete er, »eine verheirathete Dame auf vierzehn Tage zu besuchen und diesen Besuch vor Deiner schlimmsten Feindin so lange geheim zu halten, bis Du meine Frau geworden bist. Was ist denn so schreckliches an dieser Bitte, daß Du erbleichst und mich so entsetzt ansiehst? Habe ich nicht mit Bewilligung Deines Vaters um Deine Hand geworben? Bin ich nicht Dein Verlobter? Können wir nicht selbstständig unsere Entschlüsse fassen? Ich sehe absolut keinen Grund, warum wir uns nicht, wenn es möglich wäre, morgen verheirathen sollten. Und Du zauderst noch? Lucilla! Lucilla! Du zwingst mich, einen Zweifel auszusprechen, der mich, seit ich hier bin, verfolgt hat. Bist Du wirklich in Deinen Gesinnungen für mich so verändert, wie es den Anschein hat? Liebst Du mich wirklich nicht mehr so, wie Du mich einst in vergangenen Tagen liebtest?«

Er stand auf,« trat an die Brustwehr und lehnte sich, den Kopf in die Hände gestützt, über dieselbe hin.

Ich blieb allein sitzen und wußte nicht, was ich sagen oder thun sollte. Wie sehr ich mich auch bemühen mochte, das unbehagliche Gefühl, daß er Recht habe, sich über mein kaltes Benehmen zu beklagen, los zu werden, es wollte mir nicht gelingen. Er hatte kein Recht, zu erwarten, daß ich den mir von ihm zugemutheten Schritt thun werde; jedes Mädchen an meiner Stelle würde dieselben Bedenken dagegen erhoben haben. So sehr ich aber auch davon durchdrungen war, redete doch ein bestimmtes Etwas in mir ihm das Wort. Es war gewiß nicht die Stimme meines Gewissens, die mir zuflüsterte: Es gab eine Zeit, wo seine Bitten Alles über dich vermocht haben würden, wo du nicht wie jetzt gezaudert haben würdest!

Was es aber auch sein mochte, was sich in mir regte, es trieb mich, aufzustehen und an die Brustwehr zu Oscar heranzutreten.

»Du kannst nicht von mir verlangen«, sagte ich, »daß ich auf der Stelle einen so wichtigen Entschluß fasse. Willst Du mir eine kleine Bedenkzeit geben?«

»Du bist Dein eigener Herr!« erwiderte er bitter. »Wozu brauchst Du Dir von mir Bedenkzeit zu erbitten? Du kannst Dir so viel Zeit nehmen, wie Du willst, Du kannst thun, was Du Lust hast.«

»Gieb mir Zeit bis Ende der Woche» fuhr ich fort. »Laß mich Gewißheit darüber erlangen, daß mein Vater dabei beharrt, weder Deinen noch meinen Brief zu beantworten. Wenn ich auch mein eigener Herr bin, so kann doch nur sein Schweigen es rechtfertigen, daß ich im Geheimen fortgehe und mich von einem Fremden trauen lasse. Dränge mich nicht, Oscar, es ist nicht mehr lange hin bis zum Ende der Woche.«

Etwas schien ihn zu erschrecken. Vielleicht etwas in meiner Stimme, was ihm zeigte, daß ich mich wirklich unglücklich fühlte. Er warf mir einen raschen Blick zu und sah Thränen in meinen Augen.

»Um Gotteswillen, weine nicht; es soll ja geschehen, was Du wünschtest«, sagte er. »Nimm Dir Zeit. Laß uns vor Ende der Woche nicht weiter darüber reden.«

Er küßte mich in einer hastig aufgeregten Weise und gab mir den Arm, mich wieder nach Hause zu führen.

»Grosse kommt heute«, fuhr er fort, »er darf Dich nicht in Deinem jetzigen Zustande sehen. Du mußt ruhen und wieder Fassung gewinnen. Komm nach Hause!«

Ich ging mit ihm nach Hause und fühlte mich noch so traurig und unglücklich. Meine letzte schwache Hoffnung auf eine Wiederherstellung meines schönen Freundschaftsverhältnisses zu Madame Pratolungo war dahin. Ich kannte sie jetzt in ihrem wahren Wesen als eine Frau, die ich nie hätte kennen lernen sollen und mit der ich nie wieder ein freundliches Wort würde wechseln können. Ich hatte die Freundin verloren, mit der ich einst so glücklich gewesen war und hatte Oscar betrübt und enttäuscht. Noch nie war mir mein Leben so elend und unwürdig erschienen, wie es mir heute auf dem Hafendamm in Ramsgate erschien.

Er verließ mich vor der Thür des Hauses mit einem sanften ermuthigenden Händedruck.

»Ich werde später wieder vorsprechen, sagte er, »und hören, was Grosse von Dir sagt, bevor er nach London zurückkehrt. Jetzt ruhe Dich aus Lucilla, ruhe Dich aus und fasse Dich.«

Plötzlich ertönten hinter uns schwere Fußtritte. Wir kehrten uns Beide um. Die Zeit war rascher verflossen, als wir gedacht hatten. Da stand Herr Grosse, der eben zu Fuß von der Eisenbahnstation kam.

Sein erster Blick auf mich schien ihn zu erschrecken. Seine Augen starrten mich durch seine Brillengläser mit einem Ausdruck der Ueberraschung und der Angst an, den ich früher nie an ihnen bemerkt hatte. Dann wandte er sich mit einem plötzlich verändertem Ausdruck, nach Oscar um, einen Ausdruck, der wie es mir vorkam« Zorn oder Mißtrauen bedeutete. Er sprach kein Wort. Oscar mußte das unheimliche Schweigen brechen und sagte zu Herrn Grosse:

»Ich will Sie und Ihre Patientin jetzt nicht länger stören. Ich werde in einer Stunde wiederkommen.«

»Nein, kommen Sie gefälligst mit mir hinein« junger Herr. Ich habe Ihnen vielleicht etwas zu sagen.« Dabei zog er die Augenbrauen zusammen und deutete mit einer sehr peremtorischen Geberde auf die Hausthür.

Oscar klingelte In demselben Augenblick erschien meine Tante, die unsere Stimmen vor dem Hause gehört hatte, auf dem Balkon über der Thür.

»Guten Morgen« Herr Grosse» sagte sie, »ich hoffe, Sie sind mit Lucilla’s Aussehen zufrieden. Gerade gestern habe ich mich noch dahin ausgesprochen, daß sie ganz wieder hergestellt sei.«

Verdrossen zog Grosse den Hut vor meiner Tante, und sah mich dann wieder so lange und so scharf an, daß es anfing, mich verwirrt zu machen.

»Ich bin nicht der Ansicht Ihrer Tante!« brummte er, aber so, daß ich es deutlich hören konnte, vor sich hin. »Ihre Augen gefallen mir nicht mein Fräulein. Gehen Sie hinein.«

Der Diener stand, unserer wartend, in der geöffneten Thür. Ich ging hinein, ohne ein Wort zu antworten. Grosse wartete, bis auch Oscar vor ihm ins Haus getreten war. Oscar’s Gesicht hatte sich verfinstert. Er sah halb zornig, halb verwirrt aus. Grosse schob ihn mit einer derben Bewegung vor sich her und gab mir den Arm. Ich ging mit ihm hinauf, ohne recht zu wissen, was ich aus dem Allen machen solle.



Viertes Kapitel - Schluß von Lucilla’s Tagebuch.

4. September (Fortsetzung). — Sobald wir im Wohnzimmer waren, setzte mich Grosse auf einen am Fenster stehenden Stuhl. Er beugte sich über mich hin und betrachtete meine Augen in der Nähe, trat dann etwas zurück und sah mich aus einiger Entfernung an, zog darauf seine Vergrößerungslinse aus der Tasche und betrachtete meine Augen lange durch dieselbe, fühlte mir dann den Puls und ließ mein Handgelenk mit einer unwilligen Geberde wieder los, stellte sich endlich an’s Fenster und blickte in finsterem Schweigen hinaus, ohne von irgend Jemand im Zimmer die mindeste Notiz zu nehmen.

Meine Tante war die erste, die es wagte, das unheimliche Schweigen zu brechen. »Herr Grosse« sagte sie im scharfen Ton, »haben Sie mir heute nichts von Ihrer Patientin zu sagen? Finden Sie Lucilla —«

Plötzlich wandte er sich um und unterbrach meine Tante ohne alle Umstände, indem er vor sich hin brummte: »Ich finde, daß sie Rückschritte gemacht hat, Rückschritte, Rilckschritte«, und bei jedem Worte erhob er die Stimme mehr und mehr. »Als ich sie hierher schickte, habe ich zu Ihnen gesagt, halten Sie sie in Einer gleichmäßig behaglichen Stimmung«, das haben Sie nicht gethan. Ihr steckt etwas im Kopf, was sie ganz aus dem Häuschen gebracht hat. Was ist das? Wer ist das?«

Er ließ seine zornigen Blicke rück- und vorwärts zwischen Oscar und meiner Tante hin- und herschweifen,« wandte sich dann zu mir, legte seine schweren Hände auf meine Schultern, sah mit einem komischen Ausdruck ergrimmten Mitleids aufs mich herab und sagte: »Mein armes Kind ist melancholisch, mein armes Kind ist krankt Wo ist unsere liebe gute Pratolungo? Was haben Sie von ihr gesagt, als ich zuletzt sah? Sie sagten mir, sie sei fortgereist, um ihren Papa zu besuchen. Schicken Sie ihr ein Teilegsrum und sagen Sie ihr, ich brauche meine Pratolungo hier.«

Bei der wiederholten Nennung von Mad. Pratolungo’s Namen erhob sich meine Tante in ihrer ganzen Majestät.

»Habe ich Ihre Aeußerung dahin zu verstehen, Herr Grosse«, fragte die alte Dame, »daß Sie mit Ihrer auffallenden Art, sich auszudrücken, einen Tadel über mein Benehmen gegen meine Nichte aussprechen wollen?«

»Was Sie zu verstehen haben, Madame, ist, daß Ihr Fräulein Nichte in dieser schönen Seeluft vor Aufregung sich verzehrt. Ich habe sie hierhergeschickt, damit sie sich ein rosiges Gesicht und festes Fleisch anschaffen solle. Und wie finde ich sie? Sie hat sich nichts von alledem angeschafft. Ihr Gesicht ist blaß und ihr Fleisch ist weich. Das kann bei dieser schönen Luft aber nur einen Grund haben. Sie verzehrt sich vor Aufregung, ich weiß nicht über was. Glauben Sie aber, das dieses Sich verzehren gut für ihre Augen ist? Zum Teufel, es ist das Allerschlimmste, was ihren Augen begegnen kann. Wenn Sie es nicht besser machen können, so bringen Sie sie lieber wieder fort. Sie verschwenden nur Ihr Geld hier.«

Jetzt wandte sich meine Tante an mich in ihrer vornehmsten Weise.

»Du wirft begreifen, Lucilla, daß ich unmöglich von einer solchen Sprache eine andere Notiz nehmen kann, als indem ich das Zimmer verlasse. Wenn Du Herrn Grosse zur Besinnung bringen kannst, theile ihm mit, daß ich bereit bin, seine Erklärungen und Entschuldigungen schriftlich entgegen zu nehmen.«

Bei diesen mit der schärfsten Betonung ausgesprochenen stolzen Worten richtete sich meine Tante wo möglich noch höher auf und rauschte dann majästätisch zum Zimmer hinaus.

Grosse nahm von dem beleidigten Stolz meiner Tante keine Notiz, er steckte nur seine Hände in die Taschen und blickte wieder zum Fenster hinaus. Sobald meine Tante zum Zimmer hinausgegangen war, verließ Oscar die Ecke, in die er sich, als wir das Zimmer betraten, nicht eben mit besonders guter Grazie gesetzt hatte.

»Bin ich hier nöthig? fragte er.

Grosse war im Begriff, die Frage noch unliebenswürdiger zu beantworten als sie gestellt war, als ich ihn durch einen Blick zurück hielt. »Ich muß Sie sprechen«, flüsterte ich ihm in’s Ohr. Er winkte mir zu, wandte sich dann rasch nach Oscar um und fragte ihn:

»Wohnen Sie hier im Hause?

»Ich wohne im Hotel drüben an der Ecke.«

»Gehen Sie nach Ihrem Hotel und erwarten Sie mich dort.«

Zu meiner großen Ueberraschung ließ Oscar sich dieses peremtorische Geheiß ruhig gefallen. Er verabschiedete sich schweigend von mir und verließ das Zimmer. Grosse rückte einen Stuhl nahe an den meinigen heran und setzte sich in zutraulich väterlicher Weise zu mir.

»Nun, mein liebes Kind, erzählen Sie mir einmal, worüber haben Sie sich abgehärmt, seit ich zuletzt hier war. Seien Sie, bitte, ganz offen gegen Papa Grosse. Kommen Sie, fangen Sie an, fangen Sie an!

Ich glaube, er hatte seine schlechte Laune an meiner Tante und Oscar ausgelassen. Er sagte jene Worte in einem mehr als freundlichen in einem fast zärtlichen Ton. Seine wildblickenden Augen schienen hinter ihren Brillengläsern einen sanften Ausdruck anzunehmen. Er ergriff meine Hand und streichelte sie, um mich zu ermuthigen.

Manches, was in diesem Tagebuche steht, konnte ich ihm natürlich nicht anvertrauen. Mit diesen nothwendigen Ausnahmen und ohne auf die peinliche Angelegenheit meines veränderten Verhältnisses zu Madame Pratolungo näher einzugehen, bekannte ich ihm ganz offen, wie traurig ich meine Empfindungen Oscar gegenüber verändert finde und wie viel weniger glücklich ich mich in Folge dessen mit ihm fühle. »Ich bin nicht krank, wie sie glauben«, erklärte ich ihm. »Ich bin nur unzufrieden mir mir selbst und ein wenig kleinmüthig, wenn ich an die Zukunft denke.« Nachdem ich mich so offen gegen ihn ausgesprochen hatte, hielt ich den Augenblick für gekommen, die Frage zu stellen, die ich an ihn zu richten beschlossen hatte, sobald ich ihn wiedersehen würde.

»Die Wiederherstellung meiner Sehkraft«, sagte ich, »hat ein neues Wesen aus mir gemacht. Habe ich denn nun aber durch den Gewinn des Gesichtssinn den Gefühlssinn, den ich während meiner Blindheit hatte, ganz verloren? Ich möchte wissen, ob ich diesen Sinn wieder erlangen werde, wenn ich mich erst an die Neuheit meiner Lage gewöhnt haben werde. Ich möchte wissen, ob ich mich jemals wieder Oscar’s Gesellschaft erfreuen werde, wie ich mich ihrer in früheren Tagen zu erfreuen pflegte, bevor Sie mich geheilt hatten, in jenen glücklichen Tagen, Papa Grosse, wo ich ein Gegenstand des Mitleids war, und wo alle Leute mich das »arme Fräulein Finch« nannten?«

Ich hatte noch mehr zu sagen, aber bei diesen Worten that mir Grosse, sicher unabsichtlich, plötzlich Einhalt. Zu meinem größten Erstaunen ließ er meine Hand los und wandte sich plötzlich ab, wie wenn es ihm peinlich wäre, daß ich ihn ansähe. Er ließ seinen schweren Kopf auf die Brust sinken, erhob seine großen behaarten Hände, schüttelte sie traurig und ließ sie auf seine Knie fallen. Dieses sonderbare Benehmen und das noch sonderbarere Schweigen, von welchem dasselbe begleitet war, machten mich so unbehaglich, daß ich in ihn drang, sich zu erklären.

»Was haben Sie?« fragte ich. »Warum antworten Sie mir nicht?«

Er raffte sich plötzlich auf und schlang seinen Arm so sanft um mich, wie man es bei einem zu andern Zeiten so rauhen Mann kaum hätte möglich halten sollen.

»Es ist nichts, mein liebes Kind sagte er, »ich bin nur ein wenig verstimmt. In Eurem englischen Klima bekommen auch Fremde bisweilen Euren englischen Spleen und an diesem Spleen leide ich jetzt, ich will ihn mir aber vergehen lassen und dann munter und vergnügt wieder zu Ihnen zurückkommen.«

Nach dieser sonderbaren Erklärung stand er auf und versuchte es, mir eine Art von Antwort, eine sehr sonderbare Antwort auf meine Frage zu geben: »Was das Andere betrifft, jawohl Sie haben den Nagel aus den Kopf getroffen. Es ists wie Sie sagen, Ihr Gesichtssinn, der an die Stelle Ihres Gefühlssinns getreten ist. Wenn sich Ihr Gesichts- und Gefühlssinn erst an einander gewöhnt haben werden, so wird Ihr Gesichtssinn seinen Platz behaupten und Ihr Gefühlssinn wird wieder seinen früheren Platz einnehmen; der eine wird dem anderen das Gleichgewicht halten, Sie werden wieder fühlen, wie Sie es früher es gethan haben und Sie werden sehen, wie Sie es früher nicht gethan haben, beides zu gleicher Zeit und beides in schönerem Einklang als früher. Da haben Sie meine Ansicht. Jetzt lassen Sie mich mir meinen Spleen vergheen. Ich schwöre Ihnen, als ein anderer Mensch wiederzukommen, bis dahin leben Sie wohl, mein liebes Kind.«

Nachdem er das Alles in leidenschaftlicher Hast herausgepoltert hatte, wie wenn er so rasch wie möglich fort wolle, küßte er mich auf die Stirn, griff nach seinem schäbigen Hut und eilte zum Zimmer hinaus

Was hatte das zu bedeuten?

Hält er mich noch immer für ernsthaft krank? Ich bin zu angegriffen, um mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was mein lieber alter Doktor gemeint hat. Es ist ein Uhr Morgens und ich habe noch Alles das niedergeschrieben, was sich im Laufe des Tages zutrug. Meine Augen fangen an, mir weh zu thun und, sonderbar genug, ich habe die letzten zwei oder drei Zeilen, die ich geschrieben habe, kaum sehen können. Sie sehen aus, als wenn die Tinte ganz blaß geworden wäre. Wenn Grosse wüßte, was ich jetzt thue! Die letzten Worte, die er zu mir sagte, bevor er wieder zu seinen Patienten nach London abreiste, waren:

»Sie dürfen nicht mehr lesen und nicht mehr schreiben, bevor ich wiederkomme.«

Das ist leicht gesagt. Ich habe mich so an mein Tagebuch gewöhnt, daß ich gar nicht mehr ohne dasselbe fertig werden kann. Aber doch muß ich jetzt aufhören und zwar aus dem allertriftigsten Grunde. Obgleich ich drei brennende Kerzen vor mir auf dem Tisch habe, kann ich doch nicht mehr genug sehen, um zu schreiben. Zu Bett! zu Bett!«

(Anmerk: Ich habe mich absichtlich jeder Unterbrechung von Lucilla’s Bericht bis zu dieser Stelle enthalten. Hier, wo die Schreiberin inne hält, muß ich gewisser Dinge Erwähnung thun, von welchen sie selbst zur Zeit nichts wußte.

Der Leser hat gesehen, wie ihr treuer Instinkt, daran arbeitete, dem geliebten Kinde den grausamen Betrug zu enthüllen, der an ihr verübt wird und wie er vergebens arbeitet. Ein Gefühl, das sie nicht niederzukämpfen vermag, läßt, sie vor dem Manne zurückscheuen, der sie verleiten möchte, mit ihr fortzugehen, obgleich er ihr als ihr vermeintlicher Verlobter entgegentritt. Eine innere Stimme zeigte ihr die schwachen Stellen an den von Nugent gegen mich erhabenen Anklagen den Mangel genügender Motive für das Benehmen, dessen er mich beschuldigt und die außerordentliche Unwahrscheinlichkeit meines Complottirens und Intriguirens ohne jeden Vortheil für mich, nur zu dem Zwecke, sie dahin zu bringen, den Mann zu heirathen, den sie nicht liebte. Sie fühlt diese Schwankungen und Schwierigkeiten, was denselben aber wirklich zu Grunde liegt, das zu errathen ist ihr unmöglich.

Unzweifelhaft hat der Leser bisher eine klare Vorstellung von ihrer sonderbaren und rührenden Lage erhalten. Kann ich aber sicher darauf rechnen, daß der Leser ganz begreift, wie sehr sie von der Angst der Enttäuschung und der Ungewißheit leidet, welche sich vereinigt haben, sie in dieser kritischen Periode ihres Lebens zu peinigen?

Ich bezweifle es und zwar aus dem triftigen Grunde, daß der Leser sich nur aus ihrem Tagebuche hat unterrichten können, aus welchem deutlich hervorgeht, daß sie selbst es nicht ganz begreift. Wie die Dinge stehen, scheint mir der Augenblick gekommen, selbst die Bühne wieder zu betreten, dem Leser klar zu machen, was ihr Arzt wirklich von ihrem Zustande dachte, indem ich erzähle, was zwischen Grosse und Nugent vorging, als der Erstere im Hotel erschien.

Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich jetzt, wo ich dieses schreibe, im Besitz von Mittheilungen bin, welche mir die betreffenden Personen selbst später gemacht haben. In Einzelheiten weichen die Berichte wohl von einander ab. Die Resultate stimmen aber völlig mit einander überein.

Nugent’s Anwesenheit in Ramsgate war für Grosse natürlich eine Ueberraschung.

Bei seiner Kenntniß von dem früheren Zustande der Dinge in Dimchurch konnte er jedoch nicht einen Augenblick zweifelhaft darüber sein, in welcher Eigenschaft Nugent sich Lucilla präsentirt habe und es konnte ihm, nach dem, was er gesehen und was sie selbst ihm mitgetheilt hatte, nicht einen Augenblick entgehen, daß der Betrug unter den obwaltenden Umständen den denkbar schlechtesten Einfluß auf ihren Gemüthszustand übe. Er war nicht der Mann, einer solchen Erkenntniß gegenüber vor der Erfüllung seiner ihm klar vorgezeichneten Pflicht zurückzuschrecken. Als er das Zimmer im Hotel betrat, in welchem Nugent ihn erwartete, gab er den Zweck seines Besuchs ohne weiteres bündig durch die Worte zu erkennen: »Sie müssen auf der Stelle fort von hier.« Nugent bot ihm ganz ruhig einen Stuhl an und fragte ihn, was er damit sagen wolle.

Grosse dankte für den Stuhls erfüllte aber die Bitte um eine Erklärung in Ausdrücken, die von beiden Theilen verschieden berichtet werden. Aus einer Combination beider Angaben ergiebt sich für mich, daß Grosse sich etwa folgendermaßen ausgesprochen haben muß:

»In meiner Eigenschaft als Arzt, Herr Nugent, mische ich mich nie in die häuslichen Angelegenheiten meiner Patienten, die mich nichts angehen. In dem Fall von Fräulein Finch habe ich mit ihren Familienangelegenheiten nichts zu thun. Meines Amtes aber ist es, Alles was in meiner Macht steht für die Wiederherstellung der Sehkraft der jungen Dame zu thun. Wenn ich ihren Zustand gebessert finde, so frage ich nicht weiter wie und warum. Gleichviel was für Täuschungen Sie sich gegen sie erlauben mögen, ich kümmere mich darum nicht, noch mehr, ich mache mir dieselben zu Nutze, so lange dieselben einen wohlthuenden Einfluß auf ihre physische und geistige Verfassung üben. In dem Augenblick aber, wo ich finde, daß Ihr Betrug, Ihr Auftreten als Ihr Bruder, welches früher beruhigend und tröstend auf sie wirkte, aus ihre körperliche Gesundheit und ihren Seelenfrieden einen störenden Einfluß übt, stelle ich mich Ihnen in meiner Eigenschaft als ihr Arzt entgegen und thue Ihnen aus ärztlichen Gründen Einhalt. Sie rufen bei meiner Patientin einen Conflict von Gefühlen hervor, welcher bei ihrem nervösen Temperament nicht ohne schwere Beeinträchtigung ihrer Gesundheit andauern kann. Und eine schwere Beeinträchtigung ihrer Gesundheit ist gleichbedeutend mit einer schweren Beeinträchtigung ihrer Sehkraft. Das will ich nicht dulden, ich erkläre Ihnen kurz, packen Sie ein und gehen Sie fort, alles Andere geht mich nichts an. Nach dem, was Sie selbst gesehen haben, überlasse ich es Ihnen, ob Sie Fräulein Finch Ihren Bruder wieder zuführen wollen oder nicht. Ich sage nur, gehen Sie! Brauchen Sie irgend einen beliebigen Vorwand, aber gehen Sie, bevor Sie größeres Unheil angerichtet haben. Sie schütteln den Kopf. Heißt das, daß Sie sich weigern? Ich lasse Ihnen einen Tag Bedenkzeit, um sich zu entschließen. Ich habe Patienten in London, zu denen ich zurück muß. Aber übermorgen komme ich wieder her. Wenn ich Sie dann noch hier finde, so werde ich Fräulein Finch sagen, daß Sie so wenig Oscar Dubourg sind, wie ich es bin. In ihrem gegenwärtigen Zustande sehe ich eine geringere Gefahr darin, ihr selbst diese erschütternde Enthüllung zu machen, als sie der langsamen Seelenqual zu überlassen, welche Sie ihr durch Ihre fortgesetzte Anwesenheit bereiten. Das ist mein letztes Wort. In einer Stunde reife ich nach London zurück. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Nugent. Wenn Sie klug sind, so folgen Sie mir an die Eisenbahnstation.«

Von hier an gehen die Berichte aus einander. Nugent behauptet, daß er Grosse bis an das Haus von Fräulein Batchford zurückbegleitet, die Sache unterwegs mit ihm erörtert und ihn erst vor der Hausthüre verlassen habe. Grosse’s Bericht dagegen enthält davon nichts. Indessen kommt auf diese Abweichung hier nichts an. Beide stimmen in Betreff des Resultates ihrer Zusammenkunft überein. Als Grosse mit dem Zug nach London abfuhr, war Nugent nicht auf der Station. Die nächste Aufzeichnung des Tagebuches ergiebt, daß er wenigstens noch diesen ganzen Tag und die folgende Nacht in Ramsgate blieb. Der Leser weiß jetzt aus meinem Bericht über das Verfahren des Arztes, wie ernst er den Fall seiner Patientin ansah und wie gewissenhaft er seine Pflicht als Ehrenmann erfüllte. Nach diesen unerläßlichen Mittheilungen ziehe ich mich wieder zurück und überlasse es Lucilla, den nächsten Ring in der Kette der Ereignisse zu melden. P.)

»Den 5. September. Sechs Uhr Morgens Ich habe nur wenige Stunden eines unruhigen, fortwährend durch schreckliche Träume gestörten Schlafes genossen — unablässig schreckten mich nervöse Zuckungen, die meinen ganzen Körper aufs Tiefste zu erschüttern schienen. Ich kann es nicht länger ertragen. Die Sonne geht auf. Ich bin aufgestanden und hier sitze ich an meinem Schreibtisch und versuche es, den noch unvollständigen Bericht der gestrigen Ereignisse in meinem Tagebuch zu ergänzen.

Ich habe eben zum Fenster hinausgesehen — und da hat mich etwas merkwürdig frappirt. Ich habe hier noch nicht einen so dicken Nebel gesehen wie diesen Morgen. Von der See ist fast nichts zu sehen. Alles ist so trübe und dunkel. Selbst die Gegenstände hier in meinem Zimmer sehe ich nicht entfernt so deutlich wie gewöhnlich. Offenbar dringt der Nebel durch das geöffnete Fenster ins Zimmer. Er drängt sich zwischen mir und mein Papier und zwingt mich, mich dicht über die Blätter hinzubeugen, um zu sehen, was ich schreibe. Wenn die Sonne erst höher am Himmel steht, werden, die Gegenstände schon wieder klarer werden. Inzwischen muß ich es so gut machen wie ich kann.

Grosse kam nach seinem Spaziergang wieder; war aber in seinem Wesen noch ganz ebenso geheimnißvoll wie vorher. Er befahl mir ganz peremtorisch, meine Augen nicht zu sehr anzustrengen, und verbot mir, wie ich bereits erwähnt habe, alles Lesen und Schreiben. Als ich ihn aber nach seinen Gründen fragte, wußte er mir zum ersten Male, seit ich ihn kenne, keine Gründe anzugeben. Ich mache mir deshalb auch kein Gewissen daraus, ihm nicht zu gehorchen. Aber doch macht es mich, offen gestanden, etwas unbehaglich, wenn ich an sein gestriges sonderbares Benehmen denke. Er sah mich mit einem höchst sonderbaren Blick an, wie wenn er etwas in meinem Gesichte finde, was er früher noch nie gesehen habe. Zweimal verabschiedete er sich von mir und zweimal kam er wieder, und schwankte, ob er nicht lieber in Ramsgate bleiben und seine Patienten in London für sich selber sorgen lassen wolle. Seiner merkwürdigen Unentschlossenheit machte schließlich ein von London an ihn abgeschicktes Telegramm ein Ende, vermuthlich die dringende Aufforderung eines seiner Patienten, zurückzukommen. In schlechtester Laune ging er eiligst davon und sagte mir nur noch, daß ich ihn am sechsten dieses Monats wieder erwarten solle.

Als dann später Oscar kam, harrte meiner noch eine Ueberraschung.

Wie Grosse war auch Oscar wie umgewandelt und benahm sich auch ganz sonderbar. Zuerst war er so kalt und schweigsam, daß ich glaubte, er sei beleidigt; dann aber verfiel er plötzlich in das entgegengesetzte Extrem, sprach so viel und so laut und wurde so ausgelassen heiter, daß meine Tante mich leise fragte, ob ich nicht, wie sie, glaube, daß er zu viel getrunken habe. Schließlich sang er zu meiner Begleitung am Clavier und brach dann plötzlich ab. Ohne ein Wort der Erklärung oder Entschuldigung ging er plötzlich in die andere Ecke des Zimmers. Als ich einige Augenblicke später dahin folgte, sah er mich mit einem Blick an, der mich unbeschreiblich unglücklich machte, einem Blick, wie wenn er geweint hätte. Spät am Abend schlief meine Tante über ihrem Buch ein, so daß wir nun in einem kleinen Nebenzimmer miteinander sprechen konnten. Ich war es, die die Gelegenheit ergriff, nicht er. Er war so unbegreiflich wenig bereit, mit mir in’s Nebenzimmer zu gehen, daß ich etwas sehr unweibliches thun, ich meine, seinen Arm ergreifen, ihn selbst hineinführen und ihn flüsternd bitten mußte, mir zu sagen, was er habe.

»Nichts als mein altes Leiden«, antwortete er.

Ich nöthigte ihn, sich aus ein altmodisches Kanapee, auf welchem gerade zwei Personen Platz hatten, zu mir zu setzen.

»Was verstehst Du unter Deinem alten Leidens? fragte ich.

»O, Du weißt ja!«

»Ich weiß nichts«

»Du würdest es wissen, wenn Du mich wirklich liebtest.«

»Oscar, Du solltest Dich schämen, das zu sagen, Dich schämen, an meiner Liebe zu zweifeln.«

»Wirklich? So lange ich hier bin, zweier ich, ob Du mich liebst. Es fängt nachgerade an, bei mir ein altes Leiden zu werden. Nimm keine Notiz davon, ich leide bisweilen noch ein wenig.«

Er war so grausam und so ungerecht, daß ich aufstand, um fortzugehen, ohne ein Wort weiter zu sagen. Aber ach, er sah so verlassen und so ergeben aus, wie er mit gesenktem Kopf und die Hände nachlässig über die Kniee gekreuzt dasaß, daß ich es nicht über mich gewinnen konnte, hart gegen ihn zu sein. Hatte ich Unrecht? ich weiß es nicht. Ich verstehe mich nicht darauf, Männer zu behandeln, und habe jetzt keine Madame Pratolungo, um mich in dieser Kunst zu unterweisen, Recht oder Unrecht, das Ende war, daß ich mich wieder zu ihm setzte.

»Du müßtest mich um Verzeihung dafür bitten«, sagte ich, »daß Du so von mir denkst und so von mir sprichst, wie Du es thust.«

»Ich bitte Dich um Verzeihung«, antwortete er demüthig. »Es thut mir leid, wenn ich Dich gekränkt habe.«

Wie konnte ich da widerstehen? Ich legte meine Hand aus seine Schulter und versuchte es, ihn zu bewegen, den Kopf zu erheben und mich anzusehen.

»Willst Du in Zukunft immer an mich glauben? Versprich mir das.«

»Ich kann nur versprechen, es zu versuchen, Lucilla; mehr kann ich wie die Dinge jetzt liegen, nicht versprechen.«

»Wie die Dinge jetzt liegen? Du sprichst ja heute Abend in Räthseln; erkläre Dich näher.«

»Ich habe mich schon heute Morgen auf dem Hafendamm erklärt.«

Das war hart, nachdem er mir Bedenkzeit bis zum Ende der Woche gegeben, mir seinen Vorschlag zu überlegen. Ich zog meine Hand von seiner Schulter herab. Er, der so lange ich blind war, nie etwas gethan hatte, was mich unangenehm berühren oder mich betrüben konnte, hatte mich jetzt in wenigen Minuten zum zweiten Mal unangenehm berührt und betrübt.

»Willst Du mich zwingen?« fragte ich, »nachdem Du mir heute Morgen Bedenkzeit gegeben hast?«

Jetzt stand er seinerseits auf, matt und mechanisch, wie ein Mensch, der nicht weiß, was er thut.

,Dich zwingen?« wiederholte er. »Habe ich das gesagt? Ich weiß selbst nicht, was ich sage und was ich thue. Du hast Recht und ich habe Unrecht. Ich bin ein elender Mensch, Lucilla; ich bin Deiner gänzlich unwürdig. Es wäre besser für Dich, Du sähest mich nie wieder.« Er hielt inne, ergriff meine beiden Hände und sah mich mit einem tieftraurigen Blick an. Dann ließ er plötzlich meine Hände los, sagte: »Gute Nacht, liebes Kind!« und schickte sich an, fortzugehen.

Ich hielt ihn zurück. »Willst Du schon fort?« fragte ich. »Es ist noch nicht spät.«

»Es ist besser für mich, wenn ich gehe.«

»Warum denn das?

»Ich bin in einer trüben Stimmung, es ist besser für mich, wenn ich allein bin.

»Sage das nicht, das klingt wie ein Vorwurf gegen mich.«

»Im Gegentheil; es ist nur meine Schuld. Gute Nacht.«

Ich wollte ihm nicht Gute Nacht sagen; ich wollte ihn nicht fortlassen. Die bloße Thatsache, daß er fortgehen wollte, enthielt einen Vorwurf für mich. Das hatte er noch nie gethan. Ich bat ihn, sich wieder zu setzen.

Er schüttelte den Kopf.

»Bleibe noch zehn Minuten.«

Wieder schüttelte er den Kopf.

»Bleibe fünf Minuten.«

Statt mir zu antworten, nahm er sanft eine lange Locke meines Haars in die Hand, die mir auf den Hals herabhing. Ich hatte mir diesen Abend zufällig meiner Tante zu Gefallen von ihrer Kammerjungfer mein Haar altmodisch frisiren lassen.

»Wenn ich noch fünf Minuten länger bleibe«, sagte er, »so muß ich Dich um etwas bitten.«

»Um was denn?«

»Du hast so schönes Haar, Lucilla«

»Du willst doch nicht etwa eine Locke von meinem Haar haben?«

»Warum denn nicht?«

»Ich habe Dir ja schon vor Jahren ein solches Andenken gegeben, hast Du das vergessen?«

(Anmerk. Das Andenken hatte natürlich der wahre Oscar bekommen und befand sich damals wie noch jetzt in seinem Besitz. Man beachte, wie rasch der falsche Oscar, sobald er zur Besinnung kommt, das begreift und wie geschickt er seine Entschuldigung daran gründet. P.)

»Er erröthete tief und senkte die Augen zu Boden. Ich sah deutlich, daß er sich schämte, und mußte schließen, daß er das Andenken wirklich vergessen habe. Eine Locke von seinem Haar befand sich in jenem Augenblick in einem Medaillon, daß ich um den Hals trug. Ich hatte, glaube ich, mehr Grund an ihm zu zweifeln, als er an mir. Ich fühlte mich so gekränkt, daß ich bei Seite trat und für ihn Platz machte, fortzugehen.«

»Du willst fortgehen«, sagte ich, »ich will Dich nicht länger aufhalten.«

Jetzt war die Reihe an ihm, mich zu bitten.

»Und wenn mir nun Dein Andenken geraubt wäre?« sagte er.

»Wie, wenn Jemand, den ich lieber nicht nennen möchte, es mir so genommen hätte?«

Ich verstand ihn auf der Stelle.

Sein unglücklicher Bruder hatte es ihm weggenommen. Mein Arbeitskorb stand dicht neben mir. Ich schnitt mir eine Haarlocke ab und band die beiden Enden derselben mit einem Stückchen blauen Bandes zusammen.

»Wollen wir wieder gute Freunde sein, Oscar?« war Alles, was ich sagte, als ich ihm die Haarlocke in die Hand druckte.

Wie von Wahnsinn ergriffen schlang er seine Arme um mich, drückte mich so heftig an sich, daß er mir wehe that, und küßte mich so leidenschaftlich, daß er mich erschreckte. Noch ehe ich wieder so weit zu Athem gekommen war, um mit ihm reden zu können, hatte er mich losgelassen und war in so jäher Eile davongegangen, daß er im Hinausgehen einen kleinen Tisch, auf welchem Bücher lagen, umstieß und meine Tante aufweckte.

Die alte Dame rief nach mir mit ihrer gewaltigsten Donnerstimme und präsentirte sich mir in der allersauersten Laune. Grosse war nach London abgereist, ohne sich im Mindesten bei ihr zu entschuldigen und Oscar hatte ihren Tisch mit Büchern umgeworfen. Die durch diese beiden groben Insulten erweckte Entrüstung verlangte laut ein Opfer und ersah, da im Augenblick niemand Anderes in der Nähe war, mich zu demselben. Meine Tante fand zum ersten Mal, daß sie zu viel unternommen habe, als sie sich die alleinige Obhut ihrer Nichte in Ramsgate aufgebürdet.

»Ich kann unmöglich die ganze Verantwortlichkeit tragen«, sagte sie, »es ist in meinem Alter zu viel für mich. Ich werde Deinem Vater schreiben, Lucilla. Du weißt, ich habe ihn immer gehaßt und werde ihn immer hassen. Seine politischen und religiösen Ansichten sind bei einem Geistlichen geradezu verabscheuungswürdig. Aber er ist doch einmal Dein Vater und es ist nach dem, was der grobe Deutsche über Deine Gesundheit gesagt hat, meine Pflicht, ihm anzubieten, Dich wieder zu ihm zu bringen oder wenigstens seine ausdrückliche Genehmigung dazu einzuholen, daß Du noch länger unter meiner Obhut hierbleibst. Beides würde mich, wie Du siehst, meiner Verantwortlichkeit entheben. Meiner Stellung vergebe ich dadurch nichts. Meine Stellung ist mir ganz klar. Ich würde die Einladung Deines Vaters zu Deiner Hochzeit in aller Form angenommen haben, wenn die Hochzeit stattgefunden hätte. Daraus ergiebt es sich als selbstverständlich, daß ich Deinem Vater in aller Form berichten kann, wie der ärztliche Ausspruch über Deinen Gesundheitszustand lautet. Wie brutal derselbe auch geäußert worden sein mag, es war doch immer ein ärztlicher Ausspruch, den ich verpflichtet bin, Deinem Vater mitzutheilen.«

Da ich nur zu gut wußte, wie lebhaft mein Vater die Abneigung meiner Tante gegen ihn erwiderte, bot ich Alles auf, den Entschluß meiner Tante zu bekämpfen, ohne die Sache noch schlimmer zu machen, daß ich ihr meine wahren Motive mittheilte. Nicht ohne Schwierigkeit gelang es mir endlich, sie zu bewegen, mit dem beabsichtigten Bericht über mich noch ein paar Tage zu warten und wir schieden von einander, nachdem der Anfall von schlechter Laune bei meiner Tante wie gewöhnlich rasch vorüber gegangen war, wieder als gute Freunde.

Diese kleine Episode in der Geschichte des Abends lenkte meine Gedanken im Augenblick von Oscar’s sonderbarem Benehmen ab. Aber von dem Augenblick an, wo ich hier in meinem Zimmer allein war, habe ich bis jetzt fast unaufhörlich daran denken müssen und davon geträumt, so schreckliche Träume, daß meine Feder sich sträubt, sie niederzuschreiben. Wenn wir uns heute wiedersehen, wie wird er aussehen? was wird er sagen?

Er hatte gestern Recht. Ich bin wirklich kalt gegen ihn; mit meinen Gefühlen für ihn ist eine Veränderung vorgegangen, die ich selbst nicht verstehe. Mein Gewissen klagt mich jetzt, wo ich allein bin, an, und doch ist es, Gott weiß es, nicht meine Schuld. Wie beklage ich Oscar, wie beklage ich mich selbst.

Noch nie, so lange wir hier vereint sind, habe ich mich so nach ihm gesehnt, wie in diesem Augenblick. Er kommt bisweilen zum ersten Frühstück; wird er es heute thun?

O, wie mich meine Augen schmerzen, und wie der Nebel nicht aus dem Zimmer weichen will. Wle wäre es, wenn ich das Fenster schlösse und mich noch eine Weile wieder in’s Bett legte?

Neun Uhr Morgens. Vor einer halben Stunde, kam die Jungfer in’s Zimmer und weckte mich. Sie wollte wie gewöhnlich das Fenster öffnen. Ich hielt sie zurück.

»Ist der Nebel fort?« fragte ich.

Das Mädchen sah mich erstaunt an. »Was für ein Nebel, Fräulein?«

»Haben Sie ihn nicht gesehen?«

»Nein, Fräulein.«

»Wann sind Sie denn aufgestanden?«

»Um sieben Uhr, Fräulein.« .

Um sieben Uhr schrieb ich noch an meinen Tagebuch und der Nebel lag noch auf allen Gegenständen im Zimmer. Personen niedrigen Standes achten meistens merkwürdig wenig auf die sie umgebende Natur. In den Tagen meiner Blindheit konnte ich von Dienstboten und Arbeitern nie eine befriedigende Auskunft über die Aussichten um Dimchurch erhalten. Sie schienen für nichts, was außerhalb ihrer Küche oder ihres sonstigen Arbeitsfeldes lag, ein Auge zu haben. Ich stand auf, führte das Mädchen selbe an’s Fenster und öffnete dasselbe.

»Da sehen Sie«, sagte ich. »Der Nebel ist nicht ganz so dick mehr wie vor einigen Stunden. Aber er liegt doch immer noch deutlich da.«

Das Mädchen blickte ganz erstaunt hin und her zwischen mir und der Aussicht vor uns.

»Nebel?« wiederholte sie. »Bitte um Vergebung, Fräulein, aber so viel ich sehen kann, ist es ein schöner klarer Morgen.

»Klar?« wiederholte ich meinerseits.

»Ja, Fräulein.«

»Wollen Sie damit sagen, die Aussicht auf die See sei klar?«

»Die See ist schön blau, Fräulein und die Aussicht ganz frei; man kann ja die Schiffe sehen.«

»Wo sind Deine Schiffe?

Sie deutete zum Fenster hinaus auf einen bestimmten Fleck.

»Da sind zwei, Fräulein. Ein großes Schiff mit drei Marien und dicht dahinter ein kleines Schiff mit einem Mast.«

Ich sah ihrem Finger nach und strengte meine Augen an. Alles was ich an der von dem Mädchen als den Platz der Schiffe bezeichneten Stelle entdecken konnte, war ein trüber grauer Nebel, mit etwas wie einem kleinen blauen Fleck darauf.

Zum ersten Mal fuhr mir der Gedanke durch den Kopf, daß die Trübung, die ich dem Nebel zugeschrieben, wohl in Wahrheit in meinen Augen liegen möge. Im ersten Augenblick war ich ein wenig erschrocken. Ich trat vom Fenster zurück und erklärte dem Mädchen meinen Irrthum so gut ich konnte. Ich schickte sie dann, sobald ich konnte, fort, wusch meine Augen mit einem von Grosse verordneten Augenwasser und versuchte es wieder, an meinem Tagebuch weiter zu arbeiten. Zu meinem Trost geht es jetzt besser als vorhin. Aber doch will ich mir diese Erfahrung zur Warnung dienen lassen, Grosse’s Vorschriften etwas strenger zu beobachten, als ich es bisher gethan habe.Sollte er an meinen Augen etwas bemerkt haben, was er mir zu sagen Anstand genommen hätte? Unsinn! Grosse ist nicht der Mann, sich vor einem offenen Ausspruch zu scheuen. Ich habe meine Augen nur ein wenig zu sehr angestrengt, das ist das Ganze. Ich will mein Tagebuch schließen und zum Frühstück hinuntergehen.

Zehn Uhr Vormittags. Ich muß mein Tagebuch noch einen Augenblick wieder öffnen.

Es hat sich etwas ereignet, was ich nothwendig in diese Erzählung der Geschichte meines Lebens eintragen muß. Ich bin so verdrießlich und so aufgebracht. Die Jungfer, diese dumme Schwatzliese, hat meiner Tante erzählt, was heute morgen zwischen ihr und mir an meinem Fenster Vorgegangen ist. Meine Tante hat das sofort beunruhigt und sie bestand darauf, nicht nur an Grosse, sondern auch an meinen Vater zu schreiben. Bei seiner gereizten Stimmung gegen meine Tante wird mein Vater ihren Brief entweder unbeantwortet lassen oder sie durch eine unartige Antwort beleidigen. In beiden Fällen werde ich der leidende Theil sein; meine Tante wird sich für die Beleidigung meines Vaters, den sie nicht erreichen kann, an mir rächen. Nervös und verstimmt, wie ich es bereits bin, macht mich die Aussicht, mich in einen neuen Familienstreit verwickelt zu sehen, ganz elend. Wenn ich daran denke, ergreift mich die Lust, meiner Tante undankbarer Weise zu entlaufen.

Noch immer keine Spur und keine Nachrichten von Oscar.

Mittags zwölf Uhr. — Es bedurfte nur noch einer Prüfung, um mein Leben hier ganz unerträglich zu machen, und diese Prüfung ist jetzt gekommen.

Eben übergab mir ein Bote aus dem Hotel einen Brief von Oscar. Er theilt mir darin mit, daß er beschlossen habe, Ramsgate mit dem nächsten Zuge zu verlassen. Der nächste Zug geht in vierzehn Minuten ab. Guter Gott! Was soll ich thun!

Meine Augen brennen. — Ich weiß, es schadet ihnen, wenn ich weine. Aber wie kann ich umhin, zu weinen? Wenn ich Oscar fortgehen lasse, so ist es zwischen uns vorbei, das sagt mir sein Brief deutlich genug.« Warum bin ich so kalt gegen ihn gewesen? Es wäre nicht zu viel, wenn ich ihm meine ängstlichen Rücksichten zum Opfer brächte, um das wieder gut zu machen. Und doch schreckt etwas in mir beharrlich davor zurück. Was soll ich thun? Was soll ich thun?

Ich muß die Feder hinlegen und versuchen, ob ich denken kann. Meine Augen versagen mir völlig ihren Dienst. Ich kann nicht mehr schreiben.«

(Anmerk. Ich will hier eine Abschrift des Briefes hersetzen, von welchem Lucilla spricht.

Nugent selbst behauptet, er habe denselben in einem Augenblick der Reue geschrieben, um ihr eine Gelegenheit zu geben, das Wort zu brechen, durch welches sie sich unschuldiger weise gegen ihn verpflichtet glaubte. Er erklärt, er habe, als er den Brief schrieb, aufrichtig geglaubt, sie werde sich durch denselben beleidigt fühlen. Eine andere Erklärung des Briefes ist die, daß Nugent, als er sich genöthigt sah, Ramsgate zu verlassen, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, von Grosse bei dessen Rückkehr am nächsten Tage als Betrüger bloßgestellt zu werden, die Gelegenheit ergriff und seine Abwesenheit als Mittel benutzte, um Lucilla zu bewegen, ihn nach London zu begleiten. Man frage mich nicht, welche von diesen beiden Auffassungen ich mir zu eigen mache. Aus Gründen, die der Leser verstehen wird, wenn er meine Erzählung zu Ende gelesen haben wird, möchte ich meine Ansicht hier lieber noch nicht aussprechen.

Man lese den Brief und entscheide selbst:

»Meine theuerste Lucilla. Nach einer schlaflosen Nacht habe ich beschlossen, Ramsgate mit dem nächsten Zuge zu verlassen, der unmittelbar, nachdem Du diesen Brief erhalten haben wirft, abgeht. Der gestrige Abend hat mich überzeugt, daß meine Gegenwart hier Dich, nach dem, was ich Dir aus dem Hafendamme gesagt habe, unglücklich macht. Irgend ein geheimer Einfluß, der zu mächtig ist, als daß Du ihm widerstehen könntest, hat mir Dein Herz abwendig gemacht. Wenn die Zeit gekommen sein wird, wo Du Dich zu entscheiden haben wirst, ob Du unter den von mir proponirten Bedingungen mein Weib werden willst, so wirst Du, das sehe ich nur zu deutlich voraus, »Nein« sagen. Laß mich Dir die Sache weniger schwer machen, mein geliebtes Kind, indem ich es Dir überlasse, das entscheidende Wort zu schreiben, anstatt es gegen mich auszusprechen. Wenn Du Deine Freiheit wieder zu erhalten wünschest, so will ich Dich, es koste mich, was es wolle, von Deinem Worte entbinden. Ich liebe Dich zu innig, um Dich deshalb zu tadeln. Meine Adresse in London steht auf der Rückseite. Lebe wohl!

Oscar.«

Die auf der nächsten Seite stehende Adresse ist die eines Hotels.

In dem Tagebuch folgen auf die letzten eben mitgetheilten Zeilen noch einige weitere. Aber bis auf einige vereinzelte Worte ist es unmöglich, die Schrift zu entziffern. Die nachtheilige Wirkung auf ihre Augen, welche ihr unvorsichtiger Gebrauch derselben, ihr krampfhaftes Weinen, ihre unruhigen Nächte und die fortwährende durch Aufregung und Ungewißheit hervorgerufene Spannung geübt haben, hat offenbar die schlimmste jener unausgesprochenen Befürchtungen, welche Grosse bei ihrem Anblick hegte, gerechtfertigt. Die Handschrift, in welcher ihre letzten Zeilen geschrieben, ist positiv schlechter, als ihr schlechtestes Schreiben in den Tagen ihrer Blindheit.

Indessen ist der Entschluß, den sie nach Empfang, des vorstehenden Briefes faßte, hinreichend ersichtlich aus einem Billet von Nugent’s Hand, welches ein Gepäckträger der Eisenbahn in Fräulein Batchsord’s Wohnung abgab. Spätere Ereignisse machen es nothwendig, dem Leser auch dieses Billet mitzutheilen. Es lautet wie folgt:

»Gnädige Frau! Ich schreibe Ihnen auf Lucilla’s Wunsch, um Sie zu bitten, sich nicht zu ängstigen, Wenn Sie finden, daß Ihre Nichte Ramsgate verlassen hat. Sie begleitet mich auf meine ausdrückliche Bitte nach dem Hause einer Verwandten von mir, einer verheiratheten Frau, unter deren Obhut sie bis zu unserer Verheirathung bleiben wird. Die Gründe, welche sie zu diesem Schritt veranlaßt haben und welche sie nöthigen, ihren neuen Aufenthaltsort für jetzt geheim zu halten, werden wir Ihnen und ihrem Vater am Tage unserer Hochzeit offen mittheilen. Inzwischen bittet Lucilla Sie, ihre plötzliche Abreise zu entschuldigen und diesen Brief an ihren Vater zu befördern. Sie beide werden sich hoffentlich erinnern, daß sie mündig ist und daß sie nur ihre Heirath mit einem Manne beschleunigt, mit dem sie mit Genehmigung ihrer Familie schon lange verlobt ist.

Ihr ganz ergebener

Oscar Dubourg«

Dieser Brief wurde Fräulein Batchford beim zweiten Frühstück fast in demselben Augenblick übergeben, wo die Magd ihrer Herrin gemeldet hat, daß das Fräulein nirgends zu finden sei und daß ihr Reisesack aus ihrem Zimmer verschwunden sei. Der Zug nach London war bereits um diese Zeit fort. Fräulein Batchford, die kein Recht hatte, einzuschreiten, beschloß nach einer Berathung mit einem Freunde sofort nach Dimchurch zu reisen und die Sache in Herrn Finch’s Hände zu legen.



Fünftes Kapitel - Das italiensche Dampfboot.

Lucilla’s Tagebuch hat dem Leser alles das mitgetheilt, was Lucilla mitzutheilen im Stande war. Der Leser gestatte mir nun, meine Erzählung selbst wieder aufzunehmen. Soll ich, wie der beliebte englische Clown, der alljährlich in Eurer barbarischen englischen Pantomine wieder erscheint, sagen: »Da bin ich wieder! Wie geht es Euch?« Nein, das will ich lieber bleiben lassen. Euer Clown ist einer Eurer nationalen Institutionen und mit dieser geheimnißvollen Quelle englischer Belustigung soll kein Fremder sich einfallen lassen zu spaßen.

Ich kam in Marseille, wenn ich nicht irre, am 15. August an.

»Ich darf nicht auf die Sympathie des Lesers für meinen guten Papa rechnen. Ich will über Alles, was dieses ehrwürdige Opfer der liebenswürdigen Täuschungen des Herzens betrifft, so rasch hinweggehen, wie mein kindlicher Respect und meine Liebe es irgend gestatten. Das Duell, dessen der Leser sich hoffentlich noch erinnert, war ein Pistolenduell gewesen, und die Kugel, die meinen Vater getroffen hatte, war noch nicht herausgezogen, als ich an seinem Krankenbette eintraf. Er lag im Fieber und erkannte mich nicht. Zwei Tage später zog der behandelnde Arzt die Kugel heraus. Eine Weile befand sich mein Vater in Folge dessen besser, — dann trat ein Rückfall ein. Am 1. September durften wir wieder hoffen, ihn noch am Leben erhalten zu sehen. Erst an diesem Tage war ich endlich ruhig genug, um wieder an Lucilla zu denken und mich der freundlichen Bitte Frau Finch’s zu erinnern, ihr von Marseille aus zu schreiben.

Ich schrieb kurz und erzählte der feuchten Pfarrersfrau, nur etwas ausführlichen was ich hier eben mitgetheilt habe. Mein Hauptzweck dabei war, wie ich bekenne, durch Frau Finch Nachrichten von Lucilla zu erhalten. Nachdem ich den Brief auf die Post gebracht, ging ich an die Erfüllung einer anderen Pflicht, welche ich vernachlässigt hatte, so lange mein Vater in Lebensgefahr schwebte. Ich ging zu dem Mann, an welchen mein Advocat mich empfohlen hatte, um die Nachforschungen nach Oscar ins Werk zu setzen, welche ich anstellen zu lassen beschlossen hatte, als ich London verließ. Der Mann stand in Verbindung mit der Polizei in der Eigenschaft eines nicht officiell anerkannten, aber gleichwohl mit wichtigen Aufträgen betrauten geheimen Agenten.

Als er von mir hörte, wie viel Zeit verflossen sei, ohne daß die leiseste Spur des Entflohenen aufgefunden sei, machte er ein sehr bedenkliches Gesicht und erklärte mir geradeheraus, er zweifle, ob er mein in ihn gesetztes Vertrauen rechtfertigen und mir von dem geringsten Nutzen werde sein können. Als er aber sah, daß ich ernstlich entschlossen sei, keine Anstrengung zu scheuen richtete er eine letzte Frage in folgenden Ausdrücken an mich:

»Sie haben mir den Herrn noch nicht beschrieben. Will es vielleicht ein glücklicher Zufall, daß seine persönliche Erscheinung etwas Auffallendes hat?«

»Etwas sehr Auffallendes antwortete ich.

»Beschreiben Sie es mir gefälligst genau, Madame.«

Ich beschrieb Oscars Hautfarbe. Mein vortrefflicher geheimer Agent legte, während er mir zuhörte, ein ermuthigendes Interesse an den Tag. Er trug die ausgesuchteste Toilette und hatte die Manieren eines Prinzen. Es war eine besondere Gunst, wenn man zu einer persönlichen Besprechung zu ihm zugelassen wurde.

»Wenn der Vermißte mit einem so auffallenden Gesicht durch Frankreich gereist ist«, sagte er, »so haben wir alle Aussicht, seine Spur aufzufinden. Ich will vorläufige Nachforschungen an der Eisenbahnstation auf dem Bureau des Dampfschiffes und am Hafen anstellen lassen. Sie sollen morgen das Ergebniß hören.«

Ich kehrte vorläufig befriedigt an das Krankenbett meines guten Vaters zurück.

An dem nächsten Tage beehrte mich mein geheimer Agent mit einem Besuch.

»Bringen Sie mir Nachrichten?« fragte ich.

»Allerdings, Madame. Der Commis auf dem Bureau des Dampfboots erinnert sich sehr gut, ein Billet an einen Fremden mit einem schrecklichen blauen Gesicht verkauft zu haben. Unglücklicherweise erinnert er sich anderer Umstände nicht mehr. Er kann sich weder auf den genauen Namen des Fremden noch auf den Ort, wohin sich derselbe einschiffte, besinnen. Wir können nur soviel sagen, daß er sich nach einem italienischen oder nach einem orientalischen Hafen eingeschifft haben muß. Weiter wissen wir bis jetzt nichts.«

»Und was gedenken Sie demnächst zu thun?« fragte ich.

»Ich möchte, wenn Sie damit einverstanden sind, zunächst Telegramme mit einer personellen Beschreibung des Herrn nach den verschiedenen italienischen Hafenorten abschicken. Wenn uns das zu keiner Auskunft verhilft, müssen wir es demnächst mit den orientalischen Hafenorten versuchen. Das sind die Vorschläge, die ich Ihrer Erwägung zu unterbreiten die Ehre habe. Sind Sie damit einverstanden?«

Ich stimmte von ganzem Herzen zu, und wartete das Ergebniß mit aller mir zu Gebote stehenden Geduld ab.

Der nächste Tag ging vorüber, ohne daß sich irgend etwas ereignete. Mit meinem armen Vater ging es sehr langsam vorwärts. Das elende Weib, die das Unglück herbeigeführt hatte, und die mit seinem Gegner davon gelaufen war, beschäftigte seine Gedanken fortwährend, regte ihn auf und verzögerte seine Genesung. Warum darf ein nichtswürdiges Wesen dieser Art, ein erbarmungsloses, verrätherisches, gieriges Ungeheuer in weiblicher Gestalt frei in der Welt umher laufen. Man sperrt eine arme Tigerin die uns nur frißt, wenn sie hungrig ist und keine Nahrung für ihre Jungen hat, in einen Käfig und man läßt jene anderen viel gefährlicheren Bestien unter dem Schutz des Gesetzes frei umherlaufen. Das kommt auch davon, daß Männer die Gesetze machen. Aber einerlei, die Frauen brechen sich Bahn. Wartet nur ein wenig; die zweitbeinigen Tigerinnen werden schlimme Tage bekommen wenn wir erst im Parlament sitzen.

Am 4. September schrieb mir der geheime Agent. Er konnte schon weitere Nachrichten über Oscar mittheilen. Der Mann mit dem blauen Gesicht war in Genua gelandet, wo man seine Spur bis nach dem Bahnhof der Turiner Eisenbahn verfolgt hatte. In Folge dessen waren in Turin weitere Nachforschungen auf telegraphischem Wege angestellt worden. Inzwischen sollten für den möglichen Fall, daß der Vermißte über Marseille nach England zurückkehren würde, erfahrene mit seiner Personalbeschreibung desselben versehene Männer an verschiedenen öffentlichen Plätzen postirt und beauftragt werden alle zu Lande oder zu Wasser ankommenden Reisenden genau anzusehen und mir, falls der Betreffende ihnen vorkäme, sofort Bericht erstatten. Abermals unterbreitete mein geheimer Agent mit den vornehmen Manieren dieses Verfahren meiner Erwägung und Genehmigung, und erhielt dieselbe, und meine Bewunderung noch in den Kauf.

Die Tage vergingen und der Zustand unseres guten Papa war noch immer schwankend, bald besser, bald schlimmer.

Meine armen Schwestern vermochten die Angst und Sorge nicht zu ertragen. Die ganze Last fiel wie gewöhnlich mir zu. Tag für Tag schien meine Aussicht, nach England zurückzukehren, weiter in die Ferne gerückt zu werden. Keine Zeile Antwort erhielt ich von Frau Finch. Das machte mich schon an und für sich nervös und aufgeregt. Lucilla kam mir jetzt fast nie aus den Gedanken. Wieder und wieder fühlte ich mich durch meine Besorgniß gedrängt, es darauf zu wagen und ihr zu schreiben. Aber immer stellte sich mir dabei dasselbe Hinderniß in den Weg. Nach dem, was zwischen ans vorgefallen, war es unmöglich für mich, ihr direct zu schreiben, ohne mir vorher ihre Achtung wieder verschafft zu haben. Das aber konnte ich nur, wenn ich auf Einzelheiten einging, deren Enthüllung ich noch immer für grausam und gefährlich halten mußte.

An Fräulein Batchford mochte ich nicht wieder schreiben, nachdem ich schon vor meiner Abreise von England die Geduld der alten Dante durch einen Brief auf die Probe gestellt hatte. Wenn ich das jetzt noch einmal that, ohne bessere Entschuldigungen, als die mir meine Besorgnisse an die Hand gaben, so mußte ich fürchten, daß diese Royalistin vom reinsten Wasser meinen Brief in’s Feuer werfen, und die republikanische Briefstellerin durch verächtliches Schweigen für ihre Gesinnung strafen würde. Grosse war die dritte und letzte Person, von der ich hoffen durfte, Nachrichten zu erhalten. Aber — soll ich es bekennen? — ich konnte nicht wissen, was Lucilla ihm über unsere Entfremdung mitgetheilt haben mochte und mein Stolz — man vergesse nicht, daß ich eine blutarme Fremde bin — sträubte sich dagegen, mich einer möglichen Zurückweisung auszusetzen.

Gegen den zwölften September fing ich an, meine Ungewißheit so peinlich zu empfinden und von Zweifeln über dass was Nugent in meiner Abwesenheit unternehmen möchte, so entsetzlich gequält zu werden, daß ich beschloß, auf alle Gefahr hin an Grosse zu schreiben. Es war doch möglich und das Tagebuch zeigt, daß ich doch richtig vermuthete, daß Lucilla ihm nur von meiner traurigen Reise nach Marseille und nichts weiter erzählt hatte.

Ich hatte eben meinen Schreibtisch geöffnet, als der Arzt meines Vaters in’s Zimmer trat und mir die frohe Botschaft brachte, daß er jetzt endlich für die Herstellung unseres guten Papa einstehen könne.

»Kann ich nach England zurückreisen?« fragte ich eifrig.

»Noch nicht, Sie sind seine Lieblingswärterin; Sie müssen ihn allmählig an den Gedanken Ihres Fortgehens gewöhnen. Ihre plötzliche Abreise könnte einen Rückfall bewirken.«

»Ich werde nicht plötzlich abreisen. Nur sagen Sie mir, bitte, sobald ich beruhigt, vollkommen beruhigt fortgehen kann.«

»Nun, ich denke in acht Tagen.«

»Am achtzehnten?«

»Gewiß.«

Ich schloß meinen Schreibtisch. Ich durfte jetzt hoffen, in wenigen Tagen, so rasch wie ich Grosse’s Antwort in Marseille hätte erhalten können, wieder in England zu sein. Unter diesen Umständen erschien es mir richtiger, zu warten, bis ich meine Nachforschungen sicher und persönlich würde anstellen können. Eine Vergleichung der Daten zeigt, daß es, auch wenn ich an den deutschen Arzt geschrieben hätte, zu spät gewesen wäre. Wir schrieben den elften und Lucilla hatte Ramsgate mit Nugent am fünften verlassen.

Während dieser ganzen Zeit wurden unsere Nachforschungen nach Oscar nur durch eine sehr dürftige Nachricht belohnt und selbst diese dürftige Nachricht schien mir unglaubwürdig.

Es wurde behauptet, daß er in einem Milltärhospital, dem Alexanderhospital in Piemont gesehen worden sei, und zwar, hieß es glaube ich, als Krankenpfleger bei den in dem italienisch-französischen Feldzuge gegen Oesterreich Verwundeten. (Meine Erzählung spielt, wie man sich erinnern wird, im Jahre 1859. Die Beschäftigung als Krankenwärter in einem Hospital schien mir so durchaus nicht zu Oscar’s Wesen und Neigungen zu stimmen, daß ich diese Nachricht für entschieden falsch hielt.)

Am siebenzehnten September hatte ich meinen Paß in Ordnung bringen lassen, und hatte bereits den größten Theil meiner Sachen für die Reise nach England, die ich am nächsten Tage antreten wollte, gepackt.

Trotz meiner sorgfältigsten Bemühungen, meinen armen Vater an die Idee meiner Abreise zu gewöhnen, wollte er doch so durchaus nichts davon hören, mich von sich zu lassen, daß ich mich genöthigt sah, in eine Art Compromiß zu willigen. Ich versprach ihm, wenn mein Geschäft in England erledigt sein würde, wieder nach Marseille zu kommen und ihn dann, sobald er im Stande sein würde, die Reise zu unternehmen, nach Paris zurückzubringen. Unter dieser Bedingung erwirkte ich mir von ihm Erlaubniß abzureisen. Arm wie ich war, wollte ich mir doch unendlich viel lieber die Kosten der doppelten Reise machen, als noch länger ohne Nachrichten von dem sein, was je nach Umständen in Ramsgate oder in Dimchurch vorgehe. Ich weiß nicht, was mich jetzt, nachdem ich der Sorge für meinen Vater überhoben war, mehr quälte, mein Verlangen, mich mit meiner schwesterlichen Freundin wieder zu versöhnen, oder meine unbestimmte Furcht vor dem Unheil, das Nugent in meiner Abwesenheit angerichtet haben würde. Wieder und wieder fragte ich mich, ob Fräulein Batchford wohl meinen Brief Lucilla gezeigt habe. Wieder und wieder beschäftigte mich der Gedanke, ob es mir vergönnt gewesen sein werde, Nugent in seiner wahren Gestalt zu zeigen und Oscar doch schließlich für Lucilla zu erhalten.

Am siebenzehnten Nachmittags ging ich allein aus, um ein wenig frische Luft zu schöpfen und mir · die Läden in der Stadt anzusehen. Für eine Frau, gleichviel wer oder was sie ist, hoch oder niedrig, schön oder häßlich, jung oder alt, ist es immer eine Herzerquickung, in die Schaufenster der Läden zu sehen.

Ich war noch nicht fünf Minuten auf der Straße, als ich meinem vornehmen geheimen Agenten begegnete.

»Haben Sie etwas Neues für mich?« fragte ich.

»Noch nicht.«

»Noch nicht?« wiederholte ich. »Erwarten Sie denn Nachrichten?«

»Wir erwarten diesen Nachmittag die Ankunft eines italienischen Dampfers«, erwiderte der geheime Agent. »Wer weiß, was passirt.«

Er verneigte sich gegen mich und ging fort. Die durch seine Mittheilung eröffnete Aussicht gewährte mir nicht viel Trost. So viele Dampfer waren in Marseille eingetroffen, ohne irgend eine Nachricht von dem Vermißten zu überbringen, daß ich auf die Ankunft des italienischen Schiffes nicht sehr viel Werth legte. Indessen hatte ich nichts zu thun, wollte nur spazieren gehen und dachte, ich könne ebenso gut nach dem Hafen hinunterschlendern und das Schiff ankommen sehen. Das Schiff lief eben in den Hafen ein, als ich am Landungsplatz anlangte.

Ich fand den von mir angestellten Mann auf seinem Posten und damit beschäftigt, die ankommenden Reisenden genau in Augenschein zu nehmen. Seinem Einflusse gelang es, mir, allen Vorschriften des peinlichen französischen Reglements, welches alle Freiheit der Bewegung untersagt, zum Trotz einen Platz in dem Raum im Zollhause zu verschaffen, durch welches die mit dem Dampfboot ankommenden Reisenden passiren mußten. Ich nahm sein höfliches Anerbieten dankbar an, nur weil ich froh war, nach meinem Spaziergang sitzen und mich an einem ruhigen Platz ausruhen zu können, ohne es auch nur im Mindesten für möglich zu halten, daß mein Gang nach dem Hafen zu irgend etwas führen könne.

Nach einer langen Pause fingen die Passagiere an in den Raum zu strömen. Nachdem ich mir das erste halbe Dutzend Fremde, die kamen, gleichgültig angesehen hatte, fühlte ich mich plötzlich hinten an der Schulter berührt. Da stand unser Mann in einem Zustande unbeschreiblicher Aufregung und bat mich, mich zu beruhigen.

Da ich schon vollkommen beruhigt war, so sah ich ihn erstaunt an und fragte:

»Warum?«

»Er ist da, rief der Mann, »sehen Sie nur!’

Er deutete auf die noch massenweise in’s Zimmer eindringenden Fremden. Ich sah hin, verlor aber alsbald den Kopf und fuhr mit einem Schrei auf, der die Augen aller Anwesenden auf mich lenkte. Ja! da war das liebe, arme, entstellte Gesicht, da war Qscar selbst, auch seinerseits bei meinem Anblick wie vom Blitz getroffen.

Ich riß ihm die Schlüssel seines Koffers aus der Hand und gab dieselben unserm Mann, der es übernahm, den Koffer auf dem Zoll revidiren zu lassen und ihn nachher nach meiner Wohnung zu bringen. Ich ergriff Oscar’s Arm, bahnte mir mit ihm einen Weg durch die Menge, trat hinaus und rief einen am Hafengitter haltenden Fiaker an. Die Leute, die meine Aufregung bemerkten, flüsterten einander mitleidig zu: »Das ist die Mutter des blauen Mannes!’ Das dumme Volk! Sie hätten doch wohl sehen können, daß ich nach meinem Alter nur seine Schwester sein könne.

Als wir endlich im Wagen saßen, konnte ich wieder Athem schöpfen und Oscar für alle die Angst, die er mir bereitet hatte, durch einen Kuß belohnen. Ich hätte ihm tausend Küsse geben können. Von Staunen überwältigt, war er ein willenloses Geschöpf in meinen Händen. Er wiederholte nur mit schwacher Stimme immer wieder: »Was hat das zu bedeuten? Was hat das zu bedeuten?«

»Es hat zu bedeuten, Sie böser Mensch, daß Sie Freunde haben, die thöricht genug sind, Sie zu lieb zu haben, um Sie aufzugeben«, sagte ich. »Sie werden morgen mit mir nach England reisen, und selbst sehen, ob Lucilla nicht eine Andere geworden ist.«

Die Erwähnung Lucilla’s brachte ihn wieder zur Besinnung. Er fing an, die Fragen zu thun, die sich ihm unter den obwaltenden Umständen naturgemäß aufdrängen mußten. Da ich auch meinerseits eine Menge von Fragen an ihn zu richten hatte, erzählte ich ihm ganz kurz, was mich nach Marseille geführt und was ich während meines Aufenthalte in dieser Stadt gethan habe, um seinen Zufluchtsort zu ermitteln.

Als er mich dann nach einem Moment inneren Kampfes fragte. was ich ihm über Nugent und Lucilla mittheilen könne, zauderte ich, wie ich bekennen muß, mit der Antwort. Ein Moment der Erwägung genügte jedoch, mich für eine offene Erklärung zu entscheiden, aus dem einfachen Grunde, daß die kurze Erwägung mir die Sorgen und Unannehmlichkeiten vor die Seele führte, welche wir bereits dem Verheimlichen der Wahrheit zu verdanken hatten. Ich erzählte Oscar rückhaltslos Alles, was ich hier berichtet habe, von meiner abendlichen Zusammenkunft mit Nugent in Browndown bis zu den Vorsichtsmaßregelm die ich zum Schutz Lucilla’s für die Zeit, die sie unter der Obhut ihrer Tante leben würde, ergriffen hatte.

Es interessirte mich lebhaft, den Eindruck zu beobachten, den diese Euthüllungen auf Oscar hervorbrachten. Ich kam zu zwei Schlüssen: Erstens, daß Zeit und Abwesenheit an der Liebe des armen Jungen zu Lucilla nicht das mindeste geändert hatten, und zweitens, daß nur die bündigsten Beweise ihn von der Richtigkeit meines ungünstigen Urtheils über den Charakter seines Bruders überzeugen würden. Vergebens erklärte ich ihm, daß Nugent England mit dem feierlichen Versprechen verlassen habe, ihn aufzusuchen, und daß er es; wie der Verlauf der Dinge bewiesen, mir überlassen habe, ihn zu finden. Er gestand zu, daß er nichts von Nugent weder gesehen noch gehört habe. Nichtsdestoweniger ließ er sich in seinem Vertrauen zu seinem Bruder nicht erschüttern. »Nugent ist die Ehrenhaftigkeit selber«, wiederholte er immer wieder und warf mir dabei einen Blick zu, der mir zeigte, daß ich ihn durch meine offen ausgesprochene Ansicht über seinen Bruder verletzt und beleidigt habe.

Aber kaum hatte ich das bemerkt, als wir auch schon vor meiner Wohnung angelangt waren. Er schien keine Lust zu haben, mir in’s Haus zu folgen.

»Vermuthlich können Sie das von Nugent behauptete beweisen«, nahm er auf dem Hof vor dem Hotel stillschweigend wieder auf. »Haben Sie, seit Sie hier sind, nach England geschrieben und haben Sie eine Antwort erhalten?«

»Ich habe an Frau Finch geschrieben«, erwiderte ich, »und habe kein Wort Antwort erhalten.« »Haben Sie sonst an Niemanden geschrieben?«

Ich erklärte ihm mein Verhältniß zu Fräulein Batchford und warum ich gezögert hatte, an Grosse zu schreiben.

Der Unwille gegen mich, der von dem Augenblick an, wo ich von seinem Bruder und Lucilla gesprochen, in ihm gekommen hatte, loderte endlich auf.

»Ich bin durchaus nicht Ihrer Meinung«, brach er zornig aus. »Sie thun Lucilla und Nugent gleich Unrecht. Lucilla ist unfähig, etwas gegen Sie zu Grosse zu sagen, und Nugent ist ebenso unfähig, Lucilla in der Weise, wie Sie es annehmen, zu mißleiten. Welche entsetzliche Undankbarkeit geben Sie ihr Schuld und welcher niedrigen Gesinnung halten Sie ihn für fähig! Ich habe Ihnen so geduldig wie möglich zugehört und ich fühle mich Ihnen für das Interesse, das Sie mir bewiesen haben, zu aufrichtigem Danke verpflichtet; aber ich kann nicht länger in Ihrer Gesellschaft verweilen. Madame Pratolungo, Ihr Verdacht ist unmenschlich! Sie haben auch nicht den Schatten eines Beweises zur Begründung Ihres Verdachtes beigebracht. Ich werde, wenn Sie es erlauben, mein Gepäck von Ihnen abholen lassen, und will mit dem nächsten Zuge nach England abreisen. Nach dem, was Sie mir gesagt haben, läßt es mir keine Ruhe, bis ich selbst die Wahrheit herausgefunden habe.«

Das war mein Lohn für alle Mühe, die ich mir gegeben hatte, um Oscar wieder aufzufinden! Ich rede nicht von dem Gelde, das ich dafür ausgegeben hatte, ich bin nicht reich genug, um mir aus Geld etwas zu machen, ich rede nur von den damit verbundenen Beschwerlichkeiten. Ich glaube wahrhaftig, wenn ich ein Mann gewesen wäre, ich hätte ihn zu Boden geschlagen. Da ich nur eine Frau war, machte ich ihm nur einen leichten Knix und ließ ihn meine scharfe Zunge fühlen.

»Wie es Ihnen gefällig ist, Herr Dubourg«, sagte ich. »Ich habe mein Bestes gethan, um Ihnen zu dienen, und zum Dank dafür machen Sie mir Vorwürfe und verlassen mich. Gehen Sie, Sie sind nicht der erste Narr, der sich mit seinem besten Freunde überworfen hätte.

Entweder die Worte oder der Knix oder beides zusammen brachten ihn wieder zur Besinnung. Er entschuldigte sich bei mir und ich nahm seine Entschuldigung an. Dabei machte er eine sehr lächerliche Miene und brachte mich dadurch wieder in die beste Laune.

»Sie alberner Junge«, sagte ich, indem ich seinen Arm ergriff und ihn nach der Treppe führte. »Haben Sie bei unserer ersten Begegnung in Dimchurch in mir eine dumme oder eine unmenschliche Frau gefunden? Antworten Sie mir darauf!«

Seine Antwort lautete offen genug.

»Ich fand damals in Ihnen die beste und liebenswürdigste Frau. Und doch werden Sie es ganz natürlich finden, wenn ich wünsche, einige Bestätigung — —«.

Plötzlich hielt er inne und fing wieder von meinem Brief an Frau Finch an. Das Schweigen der Frau Pfarrerin beunruhigte ihn offenbar.

»Wie lange ist es her; daß Sie geschrieben haben?«

»Es war am ersten dieses Monats«, antwortete ich.

Er wurde nachdenklich. Schweigend gingen wir die nächste Treppe des Hotels zusammen hinauf. Auf dem Vorplatz hielt er mich zurück und fing wieder an. Mein unbeantworteter Brief lag ihm noch immer zumeist im Kopf.

»Frau Finch verliert, wie Sie wissen, fortwährend Alles«, sagte er. »Ist es nicht bei dieser ihrer Gewohnheit sehr wahrscheinlich, daß, nachdem sie ihre Antwort geschrieben hatte und sich nun nach Ihrem Brief umfah, um Ihre Adresse daraus zu ersehen, Ihr Brief und ihr Schnupftuch oder ihr Roman oder sonst etwas nicht zu finden war?«

Das war bei Frau Finch’s Art und Weise unleugbar sehr möglich, das mußte ich zugeben; aber ich war zu präoccupirt, um den sich daraus ergebenden Schluß zu ziehen. Erst bei Oscar’s folgenden Worten ging mir ein neues Licht auf.

»Haben Sie sich aus der Post erkundigt, ob nicht vielleicht ein Brief poste restante für Sie da ist?« fragte er.

Wie konnte mir das nicht eingefallen sein? Natürlich hatte sie meinen Brief verloren, war das ganze Haus in Bewegung gesetzt worden, um denselben zu suchen und hatte der Pfarrer dadurch den Aufruhr beschwichtigt, daß er seine Frau anwies, poste restante zu schreiben. Wie sonderbar hatten wir die Rollen vertauscht! Anstatt daß ich wie sonst mit meinem klaren Kopf für Oscar dachte, hatte dieses Mal Oscar’s Kopf für mich gedacht. Wenn aber dem Leser meine Dummheit ganz unglaublich scheinen sollte, so möge er doch geneigtest bedenken, welche Last von Sorgen und Angst ich zu tragen gehabt hatte, seit ich in Marseille war! Kann man an Alles denken, wenn man so traurig in Anspruch genommen ist, wie ich es war? Wenn nach Horaz selbst Homer bisweilen schläft, warum nicht auch Madame Pratolungo?

»Dann habe ich nie gedacht«, sagte ich zu Oscar.

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir wieder umkehren und uns gleich erkundigen?«

Er war ganz bereit. Wir gingen die Treppe wieder hinunter und auf die Straße. Auf unserem Wege nach der Post benutzte ich die erste sich darbieteude Gelegenheit, mir von Oscar einen Bericht über seine Erlebnisse geben zu lassen.

»Ich habe Ihre Neugierde so gut ich konnte befriedigt«, sagte ich, als wir Arm in Arm über die Straße gingen. »Wie wäre es, wenn Sie jetzt mir ein wenig erzählten. Die Nachricht, daß man Sie in einem italienischen Militärhospital gesehen habe, ist die einzige, die mir hier über Sie zu Ohren gekommen ist. Natürlich ist das nicht wahr?«

»Gewiß ist es wahr.«

»Sie als Krankenwärter verwundeter Soldaten in einem Hospital?«

»Allerdings.«

Mir fehlten die Worte für mein Erstaunen. Ich konnte nur stillstehen und ihn ansehen.

»War das die Beschäftigung, an die Sie dachten, als sie England verließen?« fragte ich.

»Ich hatte, als ich England verließ, keinen anderen Zweck im Auge, als den ich gegen Sie in meinem Briefe erwähnt habe. Nach dem was vorgefallen, war ich es Nugent und Lucilla schuldig, fortzugehen. Ich verließ England ohne irgend ein bestimmtes Ziel. Der Zug nach Lyon war zufällig der erste, der nach meiner Ankunft in Paris abging. In Lyon fiel mir zufällig eine französische Zeitung mit einem Bericht über die Leiden einiger der in der Schlacht bei Solferino schwerverwundeten, noch unverpflegten Soldaten in die Hände. Mein eigenes Elend trieb mich, diesen anderen Duldern in ihrem Elende zu Hilfe zu eilen. In jeder anderen Hinsicht war mein Leben ein verlorenes. Der einzig würdige Gebrauch, den ich noch davon machen konnte, war, Gutes zu thun. Und hier bot sich mir die Gelegenheit dazu. Ich verschaffte mir die nöthigen Empfehlungsbriefe für Turin. Mit diesen ausgerüstet konnte ich mich unter der Leitung der ordentlichen Aerzte und Heilgehilfen durch die Pflege der armen Verstümmelten nützlich machen, und bin später behilflich gewesen, denselben durch Geldspenden eine behagliche Existenz zu verschaffen.«

In diesen männlichen und einfachen Worten erzählte er mir seine Erlebnisse. Wieder sah ich, was ich schon früher erkannt hatte, daß der Charakter dieses jungen Menschen Kräfte barg, welche meiner oberflächlichen Beobachtung seines Wesens früher völlig entgangen waren. Bei der Wahl seiner Beschäftigung war er unzweifelhaft nur dem in solchen Fällen in unseren Tagen Gebräuchlichem gefolgt. Die Verzweiflung hat ihre Moden so gut wie die Toilette. Ehemals pflegten Verzweifelte, namentlich von der Art Oscar’s, Soldaten zu werden, oder in ein Kloster zu gehen. In unseren Tagen werden Verzweifelte Krankenwärter, verbinden Wunden, geben Medizin und werden je nach Umständen auf diesem häßlichen, aber nützlichen Wege von ihrer Verzweiflung geheilt oder nicht. Oscar hatte, wie gesagt, durchaus keinen neuen Weg betreten, sondern war nur der Mode gefolgt. Und dies bewies meines Erachtens die Art, wie er die Schwierigkeiten, die sich ihm in den Weg gestellt haben mußten, überwunden und wie er auf dem einmal betretenen Wege ausgeharrt hatte, Muth und Entschlossenheit. Nachdem ich damit angefangen hatte, mich mit ihm zu zanken, war ich jetzt auf dem besten Wege, Hochachtung für ihn zu empfinden. Wahrhaftig, dieser Mensch verdiente es, für Lucilla erhalten zu werden.

»Darf ich fragen, wohin Sie gehen wollten, als wir uns am Hafen begegneten«, fuhr ich fort. »Haben Sie Italien verlassen, weil es dort keine Verwundete mehr zu pflegen gab?

»In dem Hospitah dem ich attachirt war, gab es nichts mehr für mich zu thun«, sagte er. »Und einer Wirksamkeit bei der armen Bevölkerung außerhalb des Hospitals stellten sich für mich als Fremden und Protestanten gewisse Schwierigkeiten in den Weg. Ich hätte zwar diese Schwierigkeiten einer so von Grund aus gutmüthigen und liebenswürdigen Bevölkerung gegenüber, wie es die italienische ist, wenn ich gewollt hätte, gewiß ohne Mühe überwinden können. Aber es fiel mir ein, daß es doch meine Pflicht sei, mich vor allem meinen eigenen Landsleuten zu widmen. Das Elend in London ist größer, als in irgend einer Stadt Italiens. Als Sie mir begegneten, war ich im Begriff, nach London zu gehen, um dort meine geringen Dienste irgend einem Geistlichen in einer armen Gegend der Stadt anzubieten.« Er hielt einen Augenblick inne, zögerte und fügte dann im leiserem Ton hinzu: »Das war einer der Zwecke, die ich bei meiner Rückkehr nach England im Auge hatte. Wenn ich aufrichtig sein will, muß ich Ihnen bekennen, daß mich noch ein anderes Motiv leitete.«

»Ein Motiv, daß sich auf Lucilla und Ihren Bruder bezieht?« fragte ich.

»Ja! Aber mißverstehen Sie mich nicht! Ich kehre nicht nach England zurück; um mein Nugent gegebenes Wort zurückzunehmen. Ich überlasse es ihm auch jetzt noch, seine Sache persönlich bei Lucilla zu vertreten. Ich bin noch immer entschlossen, mich und sie nicht durch meine Rückkehr nach Dimchurch unglücklich zu machen. Aber ein unwiderstehliches Verlangen treibt mich, zu erfahren, wie die Sache mit den Beiden geendet hat. Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen noch mehr sagen soll! Trotz der langen Zeit, die nun schon verflossen ist, bricht es mir noch immer das Herz, von Lucilla zu reden. Ich hatte auf eine Begegnung mit Ihnen in London gerechnet, und gehofft, das, was ich mich zu erfahren sehne, aus Ihrem Munde zu vernehmen. Jetzt urtheilen Sie selbst, welche Hoffnungen mich belebten, als ich zuerst Ihrer ansichtig wurde und verzeihen Sie mir, wenn ich mich bitter enttäuscht fühlte, als ich fand, daß Sie mir in der That nichts Neues mitzutheilen hätten, und als Sie sich über Nugent äußerten, wie Sie es gethan haben.« Er stand still und drückte meinen Arm an sich und fügte dann hinzu: »Wie, wenn ich mit Frau Finch’s Briefe Recht hätte? Wie, wenn derselbe wirklich für Sie auf der Post läge?«

»Nun?«

»Der Brief kann möglicherweise die Nachricht enthalten, nach der ich das größte Verlangen trage.«

Ich unterbrach ihn. »Ich verstehe Sie nicht recht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, nach welcher Nachricht Sie das größte Verlangen tragen.«

Ich sagte das absichtlich. Was konnte das für eine Nachricht sein, nach der es ihn verlangte? Trotz allem, was er gesagt hatte, antwortete mein weiblicher Instinkt: Die Nachricht, daß Lucilla noch unverheirathet ist. Der Zweck meiner Aeußerung war, ihn zu einer Antwort zu reizen, die mich in meiner Ansicht bestärken möchte. Er aber umging die Antwort. Bedurfte es einer weiteren Bestätigung? Ich glaube nicht.

»Wollen Sie mir sagen, was in dem Briefe steht?« fragte er, ohne von meiner Bemerkung weiter Notiz zu nehmen.

»Wenn Sie es wünschen, ja«, antwortete ich, nicht allzu angenehm von seinem Mangel an Vertrauen zu mir berührt.

»Was auch immer in dem Briefe stehen möge?« fragte er weiter und traute mir offenbar nicht recht.

Ich sagte noch einmal »Ja«, fügte aber diesem einen Wort nichts weiter hinzu.

»Es wäre wohl zu viel verlangt«, beharrte er, »wenn ich Sie bäte, mich den Brief selbst lesen zu lassen?« .

Mein Temperament ist, wie dem Leser jetzt wohl bekannt sein wird, nicht gerade das einer Heiligen.

Ich zog meinen Arm heftig aus dem seinigen und maß ihn mit einem Blick, den mein armer Pratolungo »meinen römischen Blick« zu nennen pflegte.

»Herr Oscar Dubourg, sagen Sie es doch gerade heraus, daß Sie mir mißtrauen.«

Er protestirte natürlich nachdrücklichst dagegen, ohne mir jedoch damit den mindesten Eindruck zu machen. Man vergegenwärtige sich nur einen Augenblick die Insulten, Beschwerden und Aengste, welche ich als Lohn für mein freundschaftliches Interesse an dem Wohlergehen dieses Mannes mir hatte gefallen lassen müssen. Oder wenn das dem Leser zu viel zumuthen heißt, so wolle er sich nur erinnern, daß auf den von Lucilla in Dimchurch für mich zurückgelassenen Abschiedsbrief jetzt der ebenso unfreundliche Ausdruck von Oscar’s Mißtrauen folgte, und das zu einer Zeit, wo ich selbst schwere Prüfungen am Krankenbett meines Vater zu bestehen hatte. Ich denke, man wird zugeben, daß unter solchen Umständen selbst ein sanfteres Temperament als das meinige wohl leicht etwas aus der Fassung hätte gebracht werden können.

Ich antwortete kein Wort auf Oscar’s Protest; ich suchte nur in leidenschaftlicher Ungeduld nach etwas in der Tasche meines Kleides.

»Hier«, sagte ich, indem ich mein Kartenetui öffnete, »ist meine Adresse in der Stadt, und hier«, fuhr ich fort, indem ich das Papier hervorzog, »ist mein Paß, wenn man ihn verlangen sollte.«

Ich zwang ihm Karte und Paß auf und er ließ sich Beides in sprachlosem Erstaunen aufdrängen.

»Was soll ich damit?« fragte er.

»Gehen Sie damit auf die Post. Wenn da ein Brief mit dem Dimchurcher Poststempel für mich ist, so autorisire ich Sie, denselben für mich zu öffnen. Lesen Sie ihn, bevor er in meine Hände gelangt, dann werden Sie sich vielleicht beruhigt fühlen.«

Er lehnte das entschieden ab und versuchte es, mir Karte und Paß wieder aufzudrängen.

»Thun Sie, was Sie wollen«, sagte ich. »Ich bin mit Ihnen und Ihren Angelegenheiten fertig. Frau Finch’s Brief ist mir völlig gleichgültig. Ich werde nicht einmal nachfragen, ob er etwa auf der Post für mich liegt. Was gehen mich Nachrichten über Lucilla an? Was liegt mir daran, ob sie verheirathet ist oder nicht? Ich kehre zu meinem Vater und meinen Schwestern zurück. Es steht also ganz bei Ihnen, ob Sie Frau Finch’s Briefe haben wollen oder nicht.«

Das gab den Ausschlag. Er ging mit meinen Papieren nach der Post und ich kehrte nach meiner Wohnung zurück. Auf meinem Zimmer angelangt, hielt ich noch an dem Entschluß fest, den ich gegen Oscar auf der Straße ausgesprochen hatte. Warum sollte ich meinen alten Vater verlassen, um nach England zurückzukehren und mich in Lucilla’s Angelegenheiten zu mischen? Hatte ich nach der Art, wie sie von mir Abschied genommen hatte, irgendwelche Aussicht, höflich empfangen zu werden? Oscar war im Begriff, nach England zurückzukehren, mochte er doch selbst für seine Angelegenheiten sorgen. Mochten sie alle Drei, Oscar, Nugent und Lucilla, die Sache mit einander abmachen. Was gingen mich, Pratolungo’s Wittwe, diese elenden Familiengeschichten an? Nichts. Es war für die Jahreszeit ein warmer Tag. Pratolungo’s Wittwe beschloß als eine kluge Frau, es sich bequem zu machen. Sie schloß ihren Koffer auf, sie zog ihren Schlafrock an und ging im Zimmer auf und ab, und ich hätte Niemanden rathen mögen, ihr in jenem Augenblick in die Quere zu kommen.

Aber was wird man von meiner Inconsequenz denken? Wie oft habe ich jetzt schon meine Meinung in Betreff Lucillais und Oscar’s geändert; von dem Moment an gerechnet, wo ich Dimchurch verließ, welches Bild von Widersprüchen bietet mein Verfahren dar! und wie unwahrscheinlich erscheint es, daß ich so unlogisch gehandelt habe. Ach, geneigter Leser, Du wechselst gewiß niemals in Deinen Meinungen und Beschlüssen. Nein, Du bist ein sogenannter consequenter Charakter. Und ich, o, ich bin nur ein Mensch, und ich bin mir schmerzlich bewußt, daß ich keinen Platz in meinem Buche verdiene.

Nach Verlauf etwa einer halben Stunde erschien die Magd mit einem kleinen in Papier gewickelten Paquet für mich. Dasselbe war von einem Fremden mit einem englischen Accent und einem schrecklichen Gesicht für mich abgegeben worden. Er hatte gesagt, er werde nachher selbst zu mir kommen. Die Magd, eine von Fett triefende Person, richtete ihre Botschoft zitternd aus und fragte mich, ob ich mit dem Mann mit dem schrecklichen Gesicht etwas vorgehabt habe.

Ich öffnete das Packet; es enthielt meinen Paß und — weiß Gott« Frau Finch’s Brief.

Hatte er denselben geöffnet? Ja, er hatte der Versuchung, ihn zu lesen, nicht widerstehen können. Noch mehr; er hatte folgende Zeilen mit Bleistift darauf geschrieben: »Sobald ich mich fähig fühle, Sie zu sehen, werde ich Sie um Verzeihung bitten. Ich darf es jetzt noch nicht wagen, Ihnen vor die Augen zu treten. Lesen Sie den Brief und Sie werden begreifen warum.«

Ich öffnete den Brief.

Er trug das Datum des fünften September.

Ich überflog sorglos die ersten Sätze. Dank für meinen Brief, Glückwünsche zu der beginnenden Genesung meines Vaters, Mittheilungen über Babys Zähne und die letzte Predigt des Pfarrers, fernere Mittheilungen über Jemand, die mich, wie Frau Finch schrieb, sicherlich im höchsten Grade interessiren und erfreuen würden Was!!! »Herr Oscar Dubourg ist wieder da und ist jetzt bei Lucilla in Ramsgate.«

Ich knitterte den Brief in meiner Hand zusammen, Nugent hatte meine schlimmsten Befürchtungen von dem, was er in meiner Abwesenheit thun würde, gerechtfertigt. Was dachte der wahre Oscar Dubourg jetzt, nachdem er diese Zeilen in Marseille gelesen hatte? Wir sind Alle sterblich und Alle boshaften Regungen unterworfen. Es ist furchtbar, aber es ist wahr, ich triumphirte einen Augenblick.

Als aber dieser Moment der Schadenfreude vorüber war, war ich wieder gut, das heißt, ich schämte mich meiner.

Ich glättete den Brief wieder und suchte eifrig nach Nachrichten über Lucilla’s Gesundheit. Wenn diese Nachrichten günstig lauteten, so mußte Fräulein Batchford meinen ihr anvertrauten Brief in diesem Augenblick schon Lucilla gezeigt haben, mußte dadurch Nugentts abscheulicher Versuch, sich für seinen Bruder auszugeben, enthüllt und mußte Lucilla Oscar erhalten sein. In diesem Fall würde, Dank meinen Bemühungen, wie meine liebe Lucilla selbst eingestehen müsse, Alles wieder gut sein.

Nach der Mittheilung dieser Nachricht aus Ramsgate kam Frau Finch in’s Schwatzen Sie hatte, gerade wie Oscar es vermuthete, eben entdeckt, daß sie meinen Brief verloren habe. Sie wolle in der Hoffnung, ihn noch wieder zu finden, ihren Brief bis zum nächsten Tage zurückhalten. Wenn es ihr nicht gelingen sollte, würde sie es versuchen, den Brief poste restante zu adressiren, nach dem Rath, nicht des Herrn Finch, darin hatte ich mich geirrt, sondern Zillahs, welche Verwandte im Auslande habe und auch wiederholt poste restante geschrieben habe. So rieselte Frau Finch in ihrer großen zerfahrenen Handschrift sachte bis an das Ende der dritten Seite fort. Ich drehete die Seite um. Die Handschrift wurde plötzlich noch immer zerfahrener; zwei große Tintenflecken verunzieren das Papier; der Styl wurde etwas hysterisch Guter Gott! was mußte ich da lesen, als ich die Schriftzüge endlich entzifferte Der Leser urtheile selbst: »Es ist einige Stunden her, seit ich die letzten Worte schrieb, es ist eben Theezeit, liebe Freundin; ich kann kaum die Feder halten, so zittere ich. Werden Sie es glauben?! Fräulein Batchford ist hier im Pfarrhause eingetroffen, sie bringt uns die schreckliche Nachricht, daß Lucilla mit Oscar davongelaufen ist. Wir wissen nicht warum, wir wissen nicht wohin; wir wissen nur, daß sie sich im Geheimen zusammen entfernt haben, so viel, aber nicht mehr, ergiebt sieh ans einem Briefe Oscar’s an Fräulein Batchford. O, bitte, kommen Sie so bald wie möglich zurück; mein Mann wäscht seine Hände in Unschuld und Fräulein Batchford hat das Haus in einem heftigen Wortwechsel mit ihm wieder verlassen. Ich bin in einer furchtbaren Aufregung und ich habe dieselbe, wie mein Mann sagt, Baby mitgetheilt, das sich schon ganz blau geschrieen hat.

Ihre treu ergebene

Amelie Finch.«

Alle Zornaufwallungen, die mich je in meinem Leben befallen hatten, waren nichts im Vergleich mit der rasenden Wuth, die mich ergriff, als ich diese vierte Seite von Frau Finch’s Brief gelesen hatte. Nugent war es gelungen, mich trotz meiner Vorsichtsmaßregeln zu überlisten! Nugent hatte völlig straflos in der schmählichsten Weise Lucilla seinem Bruder geraubt! Ich warf alle weiblichen Rücksichten weit von mir. Ich warf mich mit den Geberden eines Mannes in einen Stuhl, drängte die Hände tief in die Taschen meines Schlafrocks und weinte nicht etwa — nein, ganz unter uns sei es gesagt, ich fluchte!

Wie lange dieser Anfall dauerte, weiß ich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich durch ein Klopfen an meine Thür aufgeschreckt wurde.

Wüthend stieß ich die Thür auf und stand Oscar gegenüber.

In seinem Blick lag etwas, das mich auf der Stelle beruhigte. Und der Ton seiner Stimme entlockte mir plötzlich Thränen.

»Ich muß in zwei Stunden nach England abreisen«, sagte er. »Wollen Sie mir verzeihen und mich begleiten?«

Das war Alles, was er sagte, und wenn Ihr ihn dabei gesehen und gehört hättet, Ihr würdet wie ich bereit gewesen sein, mit ihm bis an’s Ende der Welt zu gehen und würdet es ihm, wie ich es that, gesagt haben.

Zwei Stunden später saßen wir auf der Eisenbahn, auf dem Wege nach England.



Sechstes Kapitel - Auf dem Wege zum Ende

Der Leser wird von mir vielleicht eine Mittheilung darüber erwarten, wie Oscar die Entdeckung von dem Benehmen seines Bruders ertrug. Aber es wird mir durchaus nicht leicht, dieser Erwartung zu entsprechen. Oscar sprach anfänglich gar nicht über die Sache. Die erste Aeußerung von einigem Belang, die er that, geschah auf unserm Wege nach der Eisenbahn. Aus dem Nachdenken, in das er versunken schien, raffte er sich plötzlich auf und sagte in sehr dringendem Ton:

»Ich möchte wissen, welchen Schluß Sie aus Frau Finch’s Brief gezogen haben?«

Unter den obwaltenden Umständen war es gewiß sehr natürlich, daß ich einer Beantwortung seiner Frage aus dem Wege zu gehen suchte. Aber so ließ er sich nicht abspeisen.

»Sie thun mir einen Gefallen,« fuhr er fort, »wenn Sie meine Frage beantworten. Der Brief hat einen so furchtbaren Argwohn gegen meinen lieben guten Bruder, der mich noch nie in seinem Leben betrogen hat, erweckt, daß ich lieber glauben möchte, ich sei von Sinnen, als meine Auffassung sei richtig. Folgern Sie aus dem, was Frau Finch schreibt, daß sich Nugent Lucilla gegenüber für mich ausgegeben hat? Glauben Sie, daß er sich unter der Vorspiegelung, sie habe meinen Bitten nachgegeben und sich meiner Obhut anvertraut, überredet hat, ihre Familie zu verlassen?«

Da war kein Ausweichen möglich. Ich antwortete kurz und bündig: »Das hat Ihr Bruder gethan.«

»Das hat mein Bruder gethan,« wiederholte er, »nach Allem, was ich ihm geopfert, was ich seiner Ehre anvertraut habe, als ich England verließ!« Er hielt inne und dachte einen Augenblick nach. »Was verdient ein solcher Mensch?« fuhr er, mit sich selbst redend, in einem leisen drohenden Ton, der mich erschreckte, fort.

»Er verdient,« sagte ich, »was ihn, wenn wir nach England kommen, treffen wird. Sie brauchen sich nur zu zeigen, um ihn seine Nichtswürdigkeit bis an’s Ende seines Lebens bitter bereuen zu machen. Ist es nicht Strafe genug für einen Menschen wie Nugent, sich so bloßgestellt zu sehen und eine solche — Niederlage zu erleiden?« Ich hielt inne und wartete auf seine Antwort.

Er wandte sein Gesicht von mir ab und sagte nichts weiter, bis wir aus der Station ankamen. Hier nahm er mich einen Augenblick bei Seite, so daß Niemand uns hören konnte, und fragte mich plötzlich: »Warum soll ich Sie eigentlich Ihrem Vater entziehen. Mein Benehmen ist sehr egoistisch, das wird mir erst in diesem Augenblicke klar.«

»Beruhigen Sie sich,« sagte ich. »Wenn ich Sie heute nicht gefunden hätte, würde ich doch morgen um Lucilla’s willen nach England gegangen sein«

»Aber jetzt haben Sie mich ja gefunden«, fuhr er fort, »warum sollte ich Ihnen die Reise nicht ersparen? Ich könnte Ihnen Alles schriftlich mittheilen. ohne daß Sie sich die Anstrengung und die Kosten einer solchen Reise zu machen brauchten.«

»Wenn Sie noch ein Wort sagen,« antwortete ich, »so werde ich glauben, daß Sie aus besonderen Gründen wünschen, allein nach England zu gehen.«

Er warf mir einen raschen argwöhnischen Blick zu und kehrte dann mit mir nach dem Billetbüreau zurück, ohne ein Wort weiter zu sagen. Ich war durchaus nicht zufrieden mit ihm; ich fand sein Benehmen sehr sonderbar.

Schweigend nahmen wir unsere Billete und schweigend stiegen wir in den Waggon. Ich versuchte etwas Ermuthigendes zu sagen, als wir abfuhren.

»Nehmen Sie keine Notiz von mir,« war Alles was er erwiderte. »Sie werden mich zu Dank verpflichten, wenn Sie mich mein Schicksal allein tragen lassen wollen.«

Früher hatte er sich immer bei jeder ihm widerfahrenen Unannehmlichkeit rückhaltlos ausgesprochen, hatte immer ungestüm den Ausdruck meiner Sympathie für ihn verlangt. Jetzt, bei dem größten ihm in seinem Leben widerfahrenen Ungemach war er wie umgewandelt. Ich erkannte ihn kaum wieder. Waren die verborgenen Kräfte seines Wesens durch einen erneuerten Appel an sie abermals aufgeregt und machten sie sich wieder geltend, wie sie sich schon einmal an jenem verhängnißvollen Tage geltend gemacht hatten, wo Lucilla zum ersten Mal ihre Sehkraft erprobt hatte? In dieser Weise hatte ich mir damals die rein äußerliche Veränderung seines Wesens erklärt. Was jetzt unter der Oberfläche in ihm vorging, war selbst meinem Scharfsinne zu errathen unmöglich. Ich kann die unbestimmte Furcht, die er durch sein Benehmen auf der Station in mir erweckte, wohl nicht besser bezeichnen, als wenn ich sage, daß ich ihn um Alles nicht allein England hätte reisen lassen mögen.

So meinen eigenen Gedanken überlassen, beschäftigte ich mich während der ersten Stunden unserer Reise damit, nur zu überlegen, was das Sicherste und Beste sei, das wir nach unserer Ankunft in England zu thun haben würden.

Ich entschied mich anfänglich dafür, daß wir direct nach Dimchurch gehen müßten. Wenn überhaupt Nachrichten vorhanden seien, so würde man sie sicherlich im Pfarrhause erfahren haben. Wir müßten unsern Weg daher von Paris aus über Dieppe nehmen; von hier über den Canal nach Newhaven, in der Nähe von Brighton, und so nach Dimchurch gehen.

Dann aber überlegte ich mir, daß wir doch möglicherweise Lucilla im Pfarrhause treffen könnten und daß es für diesen Fall sehr gewagt sein würde, ihr den wahren Oscar in leibhaftiger Gestalt plötzlich vor die Augen zu führen. Um uns dieser Verantwortlichkeit zu entheben, schien es mir räthlich, Grosse von unserer bevorstehenden Ankunft zu benachrichtigen und ihn so in den Stand zu setzen, wenn er es im Interesse von Lucilla’s Gesundheit für nothwendig halten sollte, anwesend zu sein. Ich legte diese meine Ansicht, sowie meinen Plan, über Dieppe zu reisen, Oscar vor. Er erklärte sich kurz mit Allem einverstanden, und überließ mir in wenig verbindlicher Weise, alles zu bestimmen, was mir gut scheine.

Demgemäß telegraphirte ich in Lyon, wo wir etwas längern Aufenthalt hatten, an Herrn Finch im Pfarrhause und an Grosse in London, daß wir, Oscar und ich, nach meiner Berechnung, wenn wir keinen Zug und kein Dampfschiff verfehltem zeitig am nächsten Abend, des d.h. am Abend des Achtzehnten, in Dimchurch eintreffen würden. Auf alle Fälle sollten sie uns so früh, wie wir möglicherweise ankommen könnten, erwarten.

Nachdem ich das besorgt und einen kleinen Vorrath von Erfrischungen für die Nacht in meine Reisetasche gesteckt hatte, bestiegen wir wieder den Wagen, um die lange Fahrt nach Paris anzutreten. Unter den neuen Passagieren, die in Lyon eingestiegen waren, befand sich ein Herr, der nach seiner Physiognomie ein Engländer und nach seiner Tracht ein Geistlicher sein mußte. Zum ersten Male in meinem Leben begrüßte, ich die Erscheinung eines Geistlichen mit einem freudigen Gefühl und zwar aus folgendem Grunde. Von dem Augenblicke an, wo ich Frau Finch’s Brief gelesen hatte, lastete mit seiner ganzen Schwere auf meinem, und ich glaube sicher, auch auf Oscar’s Gemüth ein furchtbarer Zweifel, den zu lösen der Geistliche gerade der rechte Mann war. War die Zeit, seit Lucilla Ramsgate verlassen hatte, lang genug gewesen« um es gesetzlich möglich zu machen, daß Nugent sie geheirathet habe?

Als der Zug sich in Bewegung setzte, fing ich, die Feindin der Pfaffen, an, mich, diesem Pfaffen angenehm zu machen. Er war jung und schüchtern« aber ich wußte ihn zu gewinnen. Gerade in dem Augenblick, wo die andern Reisenden, mit Ausnahme Oscar’s, anfingen, es sich für die Nacht bequem zu machen, legte ich dem Geistlichen meinen Fall vor:

»A und B, ein Herr und eine Dame, Beide mündig, haben am fünften dieses Monats eine englische Stadt verlassen und sich nach einer anderen begeben; dürfte ich Sie bitten, mir zu sagen, wie bald nach diesem Tage das Paar rechtmäßig getraut werden kann?«

»Sie reden doch von einer kirchlichen Trauung?« bemerkte der junge Geistliche.

»Gewiß!« erwiderte ich, überzeugt, daß ich in dieser Beziehung für Lucilla einstehen könne.

»Sie können, vorausgesetzt, daß Einer von Beiden seinen dauernden Aufenthalt in der Stadt hat, nach welcher sie sich am fünften begeben haben, am einundzwanzigsten oder möglicherweise schon am zwanzigsten d. M. getraut werden.

»Nicht früher?«

»Ganz gewiß nicht früher.«

Es war eben der Abend des siebzehnten. Ich stieß Oscar im Dunklen an. Das war doch ein Hoffnungsstrahl, der uns während der Reise aufrecht erhalten konnte. Bevor die Trauung möglicherweise stattfinden konnte, würden wir in England sein. »Wir haben Zeit«, flüsterte ich Oscar zu. »Wir werden Lucilla noch retten.«

»Werden wir Lucilla finden?« war, was er mir leise erwiderte.

Diesen bedenklichen Umstand hatte ich ganz vergessen. Unmöglich konnte ich vor unserer Ankunft im Pfarrhause Oscar’s Frage beantworten. Bis dahin blieb nichts übrig, als geduldig abzuwarten und zu hoffen. Ich lasse hier alle die kleinen, bald glücklichen, bald unglücklichen Streitigkeiten weiche unsere Reise? abwechselnd beschleunigten oder verzögerten, unerwähnt. Ich erzähle nur, daß Oscar und ich am achtzehnten vor Mitternacht vor dem Pfarrhause anlangten.

Herr Finch selbst kam uns mit einer Lampe in der Hand entgegen. Mit dem Ausdruck frommer Ergebung erhob er seine Blicke und seine Lampe zum Himmel, als er Oscar’s ansichtig wurde. Seine beiden ersten Worte lauteten:

»Unerforschliche Vorsehung.«

»Haben Sie Lucilla gefunden?« fragte ich.

Herr Finch drückte mir, während er Oscar mit gespanntester Aufmerksamkeit beobachtete, die Hand, sagte, ich sei ein »gutes Geschöpf« etwa in einem Ton, wie er einen in Oscar’s Gesellschaft angetroffenen Hund geliebkost haben würde. Ich hätte in jenem Augenblick fast gewünscht, ein solcher Hund zu sein, dann hätte ich doch das Recht gehabt, Herrn Finch zu beißen. Oscar wiederholte ungeduldig meine Frage, während der Pfarrer ihm sehr beflissen behilflich war, aus dem Wagen zu steigen und es mir überließ, allein herauszukommen so gut ich konnte.

»Haben Sie Madame Pratolungo’s Frage nicht gehört?« fragte Oscar. »Ist Lucilla gefunden?«

»Lieber Oscar, jetzt wo Sie wieder da sind, hoffen wir sie zu finden.«

Diese Antwort erklärte mir Herrn Finch’s außerordentliche Höflichkeit gegen seinen jungen Freund. Oscar’s Ankunft in England vor Lucilla’s Trauung bot, wie die Dinge lagen, die einzige noch mögliche Aussicht, ihre Verheirathung mit einem Manne zu verhindern, der sein Vermögen bis auf den letzten Heller durchgebracht hatte. Oscar’s Vermögen war jetzt in buchstäblicherem Sinn als je zuvor das Maß für die Werthschätzung Oscars von Seiten des Herrn Finch.

Während wir in’s Haus gingen, fragte ich nach Nachrichten von Grosse. Der Pfarrer gab seinem maßlosen Erstaunen über meine Kühnheit, ihn anzureden, durch einige hohe Töne seiner riesigen Stimme Ausdruck.

»O, du lieber Himmel l« rief Herr Finch, indem er mir ungeduldig während eines kostbaren Augenblickes seine Aufmerksamkeit zuwandte. »Quälen Sie mich nicht mit Grosse, Grosse liegt krank in London. Da ist ein Billet für Sie von Grosse. Nehmen Sie sich in Acht mit den Stufen vor der Thür, lieber Oscar«, fuhr er in seinen tiefsten und feierlichsten Baßtönen fort. »Meine Frau freut sich so sehr darauf, Sie wiederzusehen. Wir haben Beide Ihre Ankunft mit so sehnsüchtiger Hoffnung, wenn ich so sagen darf, mit zärtlicher Ungeduld entgegengesehen. Geben Sie mir doch Ihren Hut. O, wie Sie gelitten haben müssen. Theilen Sie meine Zuversicht auf eine allweise Vorsehung und nehmen Sie diese Prüfung, wie ich es thue, mit heiterer Ergebung auf. Es ist noch nicht Alles verloren. Seien Sie guten Muths!« mit diesen Worten riß er die Thür des Wohnzimmers auf. »Liebe Frau, beruhige Dich. Hier ist unser lieber Adoptivsohn, unser armer Oscar!«

Brauche ich zu sagen, womit Frau Finch beschäftigt war und wie sie aussah?

Da waren noch immer die drei unerschütterlich festen Institutionen: Der Roman, das Baby und das verlorene Schnupftuch. Noch immer trug sie die bunte Jacke über dem langen schleppenden Schlafrock und war selbst feucht wie immer. Nachdem sie Oscar mit herabgezogenen Mundwinkeln und melancholischem Kopfschütteln empfangen hatte, veränderte sich ihr Gesicht plötzlich ganz wunderbar, als sie sich nach mir umwandte. Zu meiner Ueberraschung funkelten ihre sonst so matten Augen, und an die Stelle des trübseligen Ausdrucks, mit welchem sie Oscar begrüßt hatte, trat jetzt mir gegenüber ein heiteres Lächeln vollster Zufriedenheit. Triumphirend hielt sie das Baby in die Höhe und flüsterte mir ins Ohr:

»Was glauben Sie wohl« was er gethan hat, seit Sie fort sind?«

»Das weiß ich wirklich nicht«, antwortete ich.

»Er hat zwei Zähne bekommen, fühlen Sie ihm doch selbst einmal mit dem Finger in den Mund.«

Mochten doch Andere das Familienunglück beweinen. Frau Finch’s Seele erfüllte das Familienglück so ganz, daß darin für andere irdische Erwägungen kein Raum mehr übrig blieb. Ich steckte den Finger in den Mund, wie mir geheißen war, und wurde auch sofort von dem wüthenden Baby gebissen. Hätte nicht ein neuer Ausbruch des Pfarrers sie daran verhindert, Frau Finch würde, — oder ich müßte mich schlecht auf Physiognomien verstehen —, ihrem Entzücken durch einen Schrei Ausdruck gegeben haben. Jetzt öffnete sie nur den Mund und zog sich, da sie, wie bereits gemeldet, ihr Schnupftuch verloren hatte, in eine Ecke zurück und machte sich mit dem Baby zu schaffen.

Inzwischen hatte Herr Finch aus einem in der Nähe des Kamins stehenden Schrank zwei Briefe genommen, den einen warf er ungeduldig auf den Tisch. »O, du lieber Gott! wozu brauchen Einem noch die Briefe andrer Leute in die Quere zu kommen;« den anderen aber handhabte er mit äußerster Sorgfalt und reichte denselben Oscar mit einem tiefen Seufzer und indem er die Blicke wie ein Märtyrer zur Decke aufschlug. »Raffen Sie sich auf und lesen Sie«, sagte Herr Finch in seinem pathetischen Kanzelton.

»Ich würde Ihnen das gerne erspart haben, Oscar, wenn ich es gekannt hätte. Alle unsere Hoffnungen hängen von dem ab, was Sie, mein theurer Sohn, nachdem Sie diese Zeilen gelesen haben, zu unserer Führung werden sagen können.«

Oscar nahm den Brief aus dem Couvert, überflog die ersten Zeiten, warf einen Blick auf die Unterschrift und warf den, Brief mit einem Blick, in welchem sich Wuth und Schrecken spiegelten, zu Boden.

»Verlangen Sie nicht von mir, daß ich den Brief lesen soll!« rief er, zum ersten Mal leidenschaftlich ausbrechend. »Wenn ich den Brief lese, so muß ich ihn umbringen, sobald wir uns begegnen.« Er sank in seinen Stuhl und verbarg sein Gesicht in seinen beiden Händen. »O, Nugent! Nugent! Nugent!« murmelte er in einem wehklagenden Ton, der schrecklich anzuhören war.

Es war keine Zeit, Umstände zu machen. Ich nahm den Brief vom Boden auf und sah hinein, ohne um Erlaubniß zu bitten. Es war der bereits am Schluß von Lucilla’s Tagebuch mitgetheilte, »Oscar« unterzeichnete Brief Nugent’s, in welchem er Fräulein Batchford die Flucht ihrer Nichte aus Ramsgate anzeigt. Die einzigen Worte, die hier zu wiederholen nöthig, sind folgende:

»Sie begleitet mich auf meine ausdrückliche Bitte nach dem Hause einer Verwandten von mir, einer verheiratheten Frau, unter deren Obhut sie bis zu unserer Verheirathung bleiben wird.«

Diese Zeilen befreiten mich auf der Stelle von der schweren Sorge, die mich während der Reise gequält hatte. Nugent’s verheirathete Verwandte war ja auch Oscar’s Verwandte. Oscar brauchte uns nur zu sagen, wo diese Dame wohne und wir würden Lucilla finden!

Ich fiel Herrn Finch, der eben im Begriff war, Oscar durch seinen geistlichen Trost zur Verzweiflung zu bringen, in die Rede.

»Ueberlassen Sie es mir sagte ich, indem ich ihm den Brief zeigte, »ich weiß was Sie wollen.«

Der Pfarrer starrte mich entrüstet an. Ich aber fuhr, zu Frau Finch gewandt, fort:

»Wir haben eine sehr anstrengende Reise gehabt. Oscar ist nicht so an Reisen gewöhnt, wie ich. Wo ist sein Zimmer?«

Frau Finch stand auf, um uns nach Oscar’s Zimmer zu führen. Jhr·Gatte öffnete die Lippen, um sich in’s Mittel zu legen. Aber ich wiederholte: »Ueberlassen Sie es mir; ich kenne ihn besser, als Sie.«

Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben sah sich der Papst von Dimchurch zum Schweigen verdammt. Sein Erstaunen über meine Kühnheit machte selbst ihn sprachlos. Ich ergriff Oscar’s Arm und sagte: »Sie sind erschöpft. Gehen Sie auf Ihr Zimmer. Ich will Ihnen etwas Warmes bereiten und es Ihnen selbst in einigen Minuten hinaufbringen.«

Er antwortete mir nicht und sah mich auch nicht an, aber er that schweigend, wozu ich ihn aufforderte und folgte Frau Finch. Ich nahm von dem Buffet, auf welchem das Abendessen bereit stand, was ich brauchte, machte kochendes Wasser, bereitete meinen belebenden Trank und ging damit nach der Thür, vom ersten bis zum letzten Augenblick bei jeder meiner Bewegungen von den starren entrüsteten Blicken des Pfarrers verfolgt. Erst in dem Augenblick, wo ich die Thür öffnete, gewann er seine Fassung wieder.

»Erlauben Sie mir die Frage, Madame Pratolungo«, sagte er mit seinem gewaltigsten Pathos; »in welcher Eigenschaft sind Sie hier?«

»In der Eigenschaft von Oscars Freundin«, antwortete ich, »Sie werden uns Beide morgen los werden.«

Ich schlug die Thür hinter mir zu und ging die Treppe hinauf. Ich glaube, wenn ich seine Frau gewesen wåre, es wäre mir am Ende gelungen, einen ganz angenehmen Mann ans dem Ehrwürdigen Finch zu machen.

Frau Finch kam mir ans dem Vorplatz des ersten Stockes entgegen und zeigte mir Oscar’s Zimmer. Ich fand ihn ruhelos auf- und abgehen. Gleich seine ersten Worte bezogen sich auf den Brief seines Bruders. Ich hatte mir vorgenommen, dieses peinlichen und aufregenden Gegenstandes vor dem nächsten Morgen keine Erwähnung zu thun und ich versuchte es auch jetzt noch, einen andern Gegenstand aufs Tapet zu bringen. Umsonst. Ihn erfüllte eine Angst, die sich nicht beliebig abschütteln ließ. Er bestand daraus, daß ich ihn auf der Stelle von dieser Angst befreie.

»Ich will den Brief gar nicht sehen«, sagte er. »Aber ich will Alles wissen, was er über Lucilla sagt.«

»Alles, was er enthält, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Lucilla ist vollkommen gut aufgehoben.«

Er ergriff meinen Arm und sah mich mit einem forschenden Blick an.

»Wo?« fragte er. »Bei ihm?«

»Bei einer verheiratheten Dame, die mit ihm verwandt ist.«

Er ließ meinen Arm wieder los und dachte einen Augenblick nach.

»Meine Cousine in Sydenham!«

»Kennen Sie das Haus?«

»Ja wohl.«

»Wir wollen uns morgen dahin begeben. Lassen Sie sich für heute genügen und jetzt begeben Sie sich zur Ruhe.«

Ich reichte ihm meine Hand, die er in Gedanken vertieft mechanisch ergriff; dann fragte er ganz plötzlich, indem er mich mit einem sonderbar argwöhnischen Blick ansah:

»Habe ich nicht vorhin unten eine sehr thörichte Aenßerung gethan?«

»Sie waren ja ganz erschöpft«, sagte ich in einem beschwichtigenden Ton, »Niemand hat davon Notiz genommen«

»Sind Sie dessen gewiß?«

»Vollkommen gewiß. Gute Nacht.«

Als ich das Zimmer verließ, war mir ähnlich zu Muthe, wie auf dem Bahnhof in Marseille. Ich war nicht zufrieden mit ihm. Ich fand sein Benehmen sehr sonderbar.

Als ich in’s Wohnzimmer zurückkehrte, fand ich dort Niemand als Frau Finch. Dem Pfarrer war in seiner verletzten Würde nichts übrig geblieben, als sich auf sein Zimmer zurückzuziehen. In ungestörter Ruhe verzehrte ich mein Abendbrot und Frau Finch schwatzte, während sie mit dem Fuß die Wiege schaukelte, nach Herzenslust über Alles, was sich während meiner Abwesenheit zugetragen hatte.

Unter dem Vielerlei fand sich hier und da etwas, das erwähnt zu werden verdient. Die Veranlassung des neuen Zerwürfnisses zwischen Herrn Finch und Fräulein Batchford, welches die alte Dame, nachdem sie kaum das Pfarrhaus betreten, alsbald wieder aus demselben vertrieben hatte, war die empörende Ruhe gewesen, mit welcher Herr Finch die Nachricht von der Flucht seiner Tochter aufgenommen hatte. Er glaubte natürlich, Lucilla habe Ramsgate mit Oscar verlassen, dessen Verschreibung einer beträchtlichen Summe für seine künftige Frau Herr Finch sicher in Händen hatte. Erst nachdem Fräulein Batchford sich mit Grosse in Verbindung gesetzt hatte und nachdem es herausgekommen war, daß der blutarme Nugent mit Lucilla davongelaufen sei, war die väterliche Sorge des Ehrwürdigen Finch, der hier keinerlei Aussicht auf Geld erblickte, rege geworden und hatte ihn zum Handeln getrieben. Er, Fräulein Batchford und Grosse hatten ein Jeder auf seine Weise Alles aufgeboten, den Flüchtigen auf die Spur zu kommen und waren alle mit ihren Bemühungen an der Unmöglichkeit, die Wohnung der in Nugent’s Brief erwähnten Dame aufzufinden, gescheitert.

Mein Telegramm, in welchem ich meine Rückkehr mach England in Begleitung von Oscar meldete, hatte ihnen die erste Hoffnung gegeben, daß es doch noch möglich sein könnte, einzuschreiten, bevor es zu spät sein möchte, Einhalt zu thun.

Das Vorkommen von Grosse’s Namen in Frau Finchs abgerissenen Mittheilungen erinnerte mich an das, was mir der Pfarrer an der Gartenpforte gesagt hatte. Ich hatte mir den Brief noch nicht geben lassen, den Grosse für mich nach Dimchurch geschickt hatte. Nach kurzem Suchen fanden wir denselben, wo der »Ehrwürdige« Finch ihn verächtlich hingeworfen hatte, auf dem Tisch des Wohnzimmers.

Der ganze Brief bestand aus wenigen Zeilen, Grosse benachrichtigte mich, daß sein Gram über Lucilla ihm einen Gichtanfall zugezogen habe. Er könne die Füße nicht bewegen, ohne sofort wahrhaft höllische Schmerzen zu bekommen.

»Wenn Sie, meine Liebe, es unternehmen sollten, sie aufzusuchen«, schloß er, »so sprechen Sie doch vorher bei mir in London vor. Ich habe Ihnen etwas, höchst Trauriges in Betreff der Augen unserer kleinen Finch mitzutheilen.«

Keine Worte vermögen auszudrücken, wie mich diese letzte Aeußerung erschreckte und betrübte. Frau Finch vermehrte nur noch meine Angst und Sorge durch die Wiederholung dessen, was sie Fräulein Batchford während ihres kurzen Aufenthalts im Pfarrhause über Lucillais Augen sagen gehört hatte. Grosse war, als er Lucilla am vierten dieses Monats besuchte, mit dem Zustande ihrer Augen sehr unzufrieden und am Morgen des nächsten Tages hatte das Kammermädchen berichtet, daß Lucilla kaum im Stande sei, die vom Fenster ihres Zimmers aus sichtbaren Gegenstände zu unterscheiden. Im Laufe desselben Tages hatte sie Ramsgate verlassen und Grosse’s Brief bewies, daß sie seitdem nicht bei ihrem Augenarzt gewesen sei.

Trotz meiner Erschöpfung von der Reise hielt mich diese traurige Nachricht noch lange, nachdem ich mich zur Ruhe begeben hatte, wach. Am nächsten Morgen stand ich zugleich mit den Dienstboten auf, um mit dem nächsten Zuge nach London zu gehen.



Siebentes Kapitel - Auf dem Wege zum Ende - Zweites Stadium.

So früh ich auch ausgestanden war, war mir Oscar doch noch zuvorgekommen. Er war ausgegangen und hatte Herrn Gootheridge in seinem Morgenschlaf gestört, um sieh den Schlüssel von Browndown von ihm zu erbitten.«

Bei seiner Rückkehr in’s Pfarrhaus sagte er nur, daß er nach dem leeren Hause gegangen sei, um nach verschiedenen feiner dort noch befindlichen Sachen zu sehen. Sein Aussehen und sein Wesen bei dieser Erklärung mißfielen mir mehr, als je. Ich sagte nichts und knöpfte ihm seinen leichten Reiserock, der über der Brust schief zugeknöpft war, wieder zurecht. Bei dieser Gelegenheit berührte meine Hand seine Brusttasche. Er fuhr plötzlich zusammen als ob er etwas in der Tasche habe, wovon er nicht wünschte, daß ich es merke. War es etwas, das er von Browndown mitgebracht hatte.

Wir reisten nachdem sich uns der »Ehrwürdige« Finch, der darauf bestand, Oscar zu begleiten angeschlossen hatte, mit dem ersten Schnellzuge direkt nach London. Ein Blick auf den Fahrplan bei unserer Ankunft zeigte mir, daß ich bis zur Wiederabfahrt des Zuges nach Sydenham Zeit genug haben werde, Grosse einen kurzen Besuch zu machen. Da ich Oscar von den schlimmen Nachrichten über Lucilla’s Augen nichts sagen wollte, bis ich Grosse gesprochen haben würde, fuhr ich unter einem möglichst plausiblen Vorwand davon und ließ die beiden Herren im Wartezimmer des Bahnhofsgebäudes.

Ich fand Grosse auf seinem Lehnstuhl, seinen gichtischen Fuß in kalte Kohlblätter gewickelt. Seine Schmerzen und seine Sorge um Lucilla machten seine Augen nur noch wilder und seine eigenthümliche Redeweise nur noch komischer als gewöhnlich. Als ich mich an seiner Schwelle blicken ließ und ihm guten Morgen sagte, ballte er in seiner wahnsinnigen Ungeduld die Faust gegen mich.

»Zum Teufel noch Mal, guten Morgen«, brüllte er mir entgegen. »Wo, wo, wo ist die kleine Finch?«

Ich theilte ihm mit, wo wir glaubten daß Lucilla sich aufhalte. Jetzt drehte er den Kopf nach einer auf dem Kaminsims stehenden Flasche um, und ballte die Faust gegen diese.

»Nehmen Sie die Flasche da vom Kamin und das daneben stehende Augenbad. Halten Sie sich mit Ihrem müßigen Geschwätz hier nicht auf. Gehen Sie, retten Sie ihre Augen. Sehen Sie her, was Sie zu thun haben. Sie legen ihr den Kopf hintenüber, so!« Er machte mir die Stellung mit seinem eigenen Kopf so deutlich vor, daß sein gichtischer Fuß aus seiner Ruhe gebracht wurde und er vor Schmerz aufschrie. Aber er ließ sich dadurch nicht irre machen. Durch seine Brillengläser hindurch glotzte er mich furchtbar an, knirschte wüthend mit dem Schnurrbart zwischen seinen Zähnen: »Legen Sie ihr den Kopf hintenüber. Füllen Sie das Augenbad;gießen Sie dasselbe ganz über ihre Augen aus. Ertränken Sie sie förmlich in meinem Wasser. Ertränken Sie sie, sag’ ich, und wenn sie kreischt, kehren Sie sich nicht daran. Dann bringen Sie sie zu mir. Und wenn Sie ihr Hände und Füße binden müßten bringen Sie sie zu mir. Nun was stehen Sie noch da? Gehen Sie, fort mit Ihnen!«

»Ich möchte Sie gern noch etwas in Betreff Oscar’s fragen«, sagte ich.

Er ergriff das Kissen das er unter dem Kopfe hatte, offenbar in der Absicht, damit nach mir zu werfen und mein Fortgehen dadurch zu beschleunigen. Ich zog den Fahrplan als die beste mir zu Gebote stehende Waffe hervor.

»Sehen Sie selbst«, sagte ich, »und überzeugen Sie sich, daß ich auf dem Bahnhofe warten muß, wenn ich hier nicht warten darf.«

Nicht ohne Schwierigkeit überzeugte ich ihn daß es unmöglich sei, vor einer bestimmten Stunde nach Sydenham zu fahren und daß ich wenigstens noch zehn Minuten Zeit habe, die ich ebensogut damit zubringen könne, ihn zu consultiren. Ganz erschöpft durch seinen leidenschaftlichen Ausbruch, schloß er seine Glotzaugen und lehnte seinen Kopf zurück. »Das weiß man ja schon, die Frauen müssen schwatzen mag geschehen was da wolle. Meinetwegen schwatzen Sie.«

»Ich befinde mich in einer sehr schwierigen Lage«, fing ich an. »Oscar begiebt sich mit mir zu Lucilla. Ich werde natürlich zunächst dafür sorgen, daß er und Nugent nicht anders als in meiner Gegenwart zusammentreffen. Nicht ganz so sicher aber fühle ich mich in Betreff dessen, was ich Lucilla gegenüber zuthun habe? Soll ich sie getrennt halten bis ich Lucilla erst auf das Wiedersehen mit Oscar vorbereitet habe?«

»Lassen Sie sie meinetwegen den Teufel sehe«, brummte Grosse, »wenn Sie sie nur unmittelbar darauf zu mir herbringen Sie thun ganz genug, wenn Sie Oscar vorbereiten. Sie bedarf keiner Vorbereitungen Sie ist schon hinreichend über ihn enttäuscht.«

»Uber ihn enttäuscht?« wiederholte ich. »Ich verstehe Sie nicht.«

Matt rückte er sich in seinem Lehnstuhl zurecht und berichtete mir in einem sanften traurigen Ton über die Unterhaltung, die er mit Lucilla in Ramsgate gehabt und von der bereits im Tagebuch die Rede gewesen ist. Zum ersten Mal erfuhr ich hier etwas von jenen Veränderungen in ihren Empfindungen und Anschauungen durch welche sie sich so viele Sorgen gemacht hatte; zum ersten Mal hörte ich, wie schmerzlich sie ihr früheres Entzücken bei der Berührung ihrer Hand durch Nugent vermißt habe, wie bitter enttäuscht sie sich gefühlt habe, bei genauer Betrachtung seiner Züge und seiner ganzen Erscheinung im Vergleiche mit dem reizenden Ideal ihres Geliebten wie es ihr in den Tagen ihrer Blindheit, jenen glücklicheren Tagen wie sie sie nannte, wo sie noch das »arme Fräulein Finch« hieß, vorgeschwebt hatte.

»Glauben Sie nicht auch«, fragte ich, »daß sich alle ihre alten Empfindungen wieder bei ihr einstellen werden wenn sie Oscar wiedersieht?«

»Nein diese Gefühle werden sich nie wieder bei ihr einstellen und wenn sie fünfzig Oscars zu sehen bekäme.«

Er fing an, mich, ich weiß nicht, soll ich sagen zu erschrecken oder zu reizen. Ich weiß nur, daß ich meine Ansicht hartnäckig gegen ihn vertrat. »Meinen Sie«, fing ich an, »sie werde beim Anblicke des rechten Mannes dieselbe Enttäuschung empfinden?«

Ich konnte nicht weiter reden, er unterbrach mich ohne Umstände mit den Worten: »Sie Närrin sie wird eine noch viel größere Enttäuschung empfinden. Ich habe Ihnen ja schon gesagt, wie ungeheuer ihre Enttäuschung bei dem Anblicke des hübschen Bruders mit dem schönen Teint war. Und nun fragen Sie sich selbst, was sie bei dem Anblicke des häßlichen Bruders mit dem blauen Gesicht empfinden wird. Ich sage Ihnen im Voraus, sie wird den rechten Mann für den schlimmeren Betrüger halten.«

Dem widersprach ich mit Entrüstung »Sein Gesicht wird ihr vielleicht eine Enttäuschung bereiten«, sagte ich, »das gebe ich zu. Aber das wird auch Alles sein. An dem Drucke seiner Hand wird sie erkennen daß kein Betrüger vor ihr steht.«

»An seinem Händedruck wird sie nichts erkennen. Ich konnte es nicht über das Herz bringen es ihr selbst zu sagen als sie mich fragte; aber Ihnen kann ich es sagen. Schweigen Sie und hören Sie zu. Alle die entzückenden Empfindungen die sie einst bei seiner Berührung durchrieselten gehören einer anderen Zeit an, jener vergangenen Zeit, wo sie mit den Fingern und nicht mit den Augen sah. Diese feinen, überfeinen Empfindungen der Zeit ihrer Blindheit sind der Preis, mit dem sie das große neue Recht, die Welt mit ihren Augen zu betrachten erkaufen mußte. Und das ist kein verächtlicher Preis! Verstehen Sie mich? Es handelt sich hier um eine Art von Tauschhandel zwischen der Natur und unserem armen Kinde. Die Natur sagt: Ich nehme Dir Deine Augen und gebe Dir dafür Deinen feinen Tastsinn. Das ist doch klar, nicht wahr?«

Ich fühlte mich zu unglücklich, um ihm zu antworten. Bei allen unseren Widerwärtigkeiten hatte ich dem Wiedererscheinen Oscars als der einzigen für die Wiederherstellung von Lucilla’s Glück nöthigen Bedingung so vertrauensvoll entgegengesehen. Wie stand es aber jetzt um diese meine Hoffnung? Schweigend saß ich da und starrte in dumpfer Niedergeschlagenheit das Teppichmuster an. Grosse zog seine Uhr aus der Tasche.

»Zehn Minuten sind verflossen«, sagte er.

Ich hörte nicht auf ihn und rührte mich nicht. Seine wilden Augen fingen wieder an, hinter den ungeheuren Brillengläfern zu funkeln.

»Fort mit Ihnen!« schrie er mir entgegen als ob ich taub wäre, »ihre Augen, ihre Augen! Während Sie hier Ihre Zeit verschwatzen sind ihre Augen in Gefahr. Mit ihrem Grämen und ihrem Weinen und ihrer verfluchten dummen Liebe war ihre Sehkraft — das schwöre ich Ihnen — schon vor vierzehn Tagen, als ich sie zuletzt sah, in Gefahr. Soll ich Ihnen mein großes Kissen da an den Kopf werfen? Nein? So machen Sie, daß Sie fortkommen sonst fliegt es Ihnen eins, zwei, drei an den Kopf! Fort mit Ihnen und bringen Sie sie mir noch vor Abend her!«

Ich ging wieder nach der Eisenbahn. Schwerlich hatte wohl von all’ den Frauen die mir auf den gedrängt vollen Straßen begegneten eine einzige an jenem Morgen ein schwereres Herz als ich.

Um die Sache noch schlimmer zu machen nahmen meine beiden Reisegefährten von denen der eine sich in der Restauration aufhielt, und der andere auf dem Perron auf- und abging, meinen Bericht über meine Zusammenkunft mit Grosse in einer Weise auf, die mich ernsthaft desappointirte und entmuthigte. Herr Finch in seiner unglaublichen Eitelkeit betrachtete meinen traurigen Bericht über den Zustand der Augen seiner Tochter nur als eine Art von schmeichelhafter, Anerkennung seiner Voraussicht.

»Sie erinnern sich, Madame Pratolungo, daß ich von Anfang an diese ganze Angelegenheit aus einem höheren Gesichtspunkte betrachtete. Ich protestirte gegen das Verfahren dieses Grosse, als eine rein weltiche Einmischung in die Wege einer unerforschlichen Vorsehung. Aber was erreichte ich damit? Meinem väterlichen Bedenken wurde kein Einfluß gestattet; mein moralisches Gewicht wurde, so zu sagen, bei Seite geschoben. Und jetzt sehen Sie die Folgen. Lassen Sie sich gesagt sein, lassen Sie es sich eine Warnung sein, liebe Freundin.« Er seufzte mit gewichtiger Selbstgefälligkeit und wandte sich von mir zu der Schenkmamsell hinter dem Buffet. »Geben Sie mir noch eine Tasse Three.«

Auch die Art, wie Oscar aus dem Perron meine Mittheilung über Lucilla’s kritischen Zustand aufnahm, war mehr als entmuthigend. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß sein Benehmen geradezu beunruhigend war.

»Ein neuer Posten in Nugent’s »Schuldregister«, sagte er. Dieser Ausdruck der Rachsucht war Alles, was er sagte: Kein Wort der Sympathie oder des Kummers kam über seine Lippen.

Wir fuhren nach Sydenham.

Von Zeit zu Zeit sah ich Oscar, der mir gegenüber saß, darauf an, ob wohl, während wir dem Orte, wo Lucilla wohnte, immer näher kamen, eine Veränderung an ihm bemerklich werde. Nein! Noch immer beobachtete er dasselbe bedeutungsvolle Schweigen, verharrte er in derselben unnatürlichen, gezwungenen Ruhe. Mit einziger Ausnahme des kurzen Ausbruchs am vorigen Abend, als Herr Finch ihm Nugent’s Brief überreicht hatte, war ihm, seit wir Marseille verlassen hatten, nicht das leisestes Zeichen dessen, was wirklich, in seinem Innern vorging, entfahren. Er, der sonst über jede ihm widerfahrene Unbill weinen konnte wie ein Weib, hatte seit jenem verhängnißvollen Tage, wo er entdeckt hatte, daß sein Bruder, dieser Bruder, der sein angebeteter Gott, der geheiligte Gegenstand seiner Dankbarkeit und seiner Liebe gewesen war, ihn betrogen habe, keine Thräne vergessen. Wenn ein Mann von Oscar’s Temperament sich Tage lang nur mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und sich in ein unheimliches Schweigen hüllt, wenn er keine Theilnahme verlangt und kein Wort der Klage äußert, so ist das ein bedenkliches Symptom. Geheime Gewalten, die er in sich verschlossen hält, müssen dann unwiderstehlich, sei es zum Guten, sei es zum Bösen losbrechen. Wie ich Oscar so hinter meinem Schleier beobachtete, gewann ich die feste Ueberzeugung, daß er in dem schrecklichen Drama, das unserer harrte, eine entscheidende Rolle spielen würde.

Wir langten in Sydenham an und gingen in das nächste Hotel. Auf der Eisenbahn mit anderen Reisenden im Waggon war es unmöglich gewesen, über die sicherste Art, zu Lucilla zu gelangen, Rath zu pflegen Diese ernste Frage drängte jetzt zu sofortiger Entscheidung. Wir schritten in dem Zimmer, das wir uns im Hotel hatten geben lassen, sofort darüber zu einer Berathung.



Achtes Kapitel - Auf dem Wege zum Ende - Drittes Stadium.

Sonst war es immer Oscar’s Gewohnheit gewesen, in zweifelhaften und schwierigen Fällen den Ansichten Anderer zu folgen. Bei dieser Gelegenheit aber war er es, der zuerst sprach und eine eigene Ansicht entwickelte.

»Es scheint mir unnöthig daß wir hier unsere Zeit mit der Erörterung unserer verschiedenen Ansichten verlieren«, sagte er. »Hier kann nur eines geschehen. Ich bin der bei dieser Gelegenheit am meisten Interessierte. Warten Sie hier auf mich, während ich nach dem Hause gehe.«

Er sprach ohne jede Spur der ihm sonst eigenen Schüchternheit, und nahm seinen,Hut, ohne weder Herrn Finch noch mich anzusehen. Ich überzeugte mich immer mehr, daß Nugent’s nichtswürdiger Vertrauensbruch Oscar zu einem gefährlichen Menschen gemacht habe. Entschlossen, sein Fortgehen zu verhindern, bestand ich darauf, daß er seinen Platz wieder einnehme und mich anhöre.

In demselben Augenblick stand Herr Finch auf und stellte sich zwischen Oscar und die Thür. Als ich das sah, schien es mir gerathen, mir meine Einmischung vorzubehalten und den Pfarrer erst reden zu lassen.

Warten Sie einen Augenblick, Oscar«, sagte der Pfarrer feierlich, »Sie vergessen mich.«

Oscar wartete, den Hut in der Hand, mit verdrossener Miene.

Herr Finch hielt inne, offenbar in Ueberlegung, wie er das, was er jetzt sagen wollte, ausdrücken solle. Seine Hochachtung vor Oscar’s Vermögen war groß; aber seine Selbstachtung war, besonders im gegenwärtigen kritischen Augenblick womöglich noch größer. Die erstere Rücksicht ließ ihn so höflich und die zweite so positiv wie möglich die Worte, in welche er seine Vorstellungen faßte, wählen.

»Erlauben Sie mir, lieber Oscar, Sie daran zu erinnern, daß mein Recht, als Lucilla’s Vater einzuschreiten, mindestens so gut begründet ist, wie Ihr Recht!«, hob der Pfarrer an. »Wenn meine Tochter in Noth ist, so ist es meine Pflicht, ihr zu Hilfe zu eilen. Wenn Sie nach dem Hause Ihrer Cousine gehen, so erfordert meine Stellung gebieterisch, daß ich mit gehe.«

Die Art, wie Oscar diesen Vorschlag aufnahm, bestärkte mich nur in den schweren Besorgnissen, die sein Wesen bei mir erweckt hatte. Er lehnte es rund heraus ab, sich von Herrn Finch begleiten zu lassen.

»Entschuldigen Sie mich«, antwortete er kurz, »ich möchte allein hingehen.«

»Darf ich nach Ihren Gründen fragen?« sagte der Pfarrer noch in versöhnlichem Ton.

»Ich möchte meinen Bruder allein sprechen«, erwiderte Oscar, die Blicke zu Boden geheftet.

Herr Finch, der noch immer an sich hielt, aber nicht von seinem Platz an der Thür wich, sah mich an. Ich beeilte mich, mich in’s Mittel zu legen, bevor es zu einer Seene zwischen den beiden Männern käme.

»Ich wage zu behaupten«, sagte ich, »daß Sie beide Unrecht haben. Ob einer von Ihnen geht oder ob Sie beide gehen, wird ziemlich aus dasselbe hinauslaufen. Ich möchte Hundert gegen Eins wetten, daß Sie gar nicht in’s Haus gelassen werden.«

Beide zugleich wandten sich gegen mich und fragten, was ich damit sagen wolle.

»Sie können doch nicht gewaltsam eindringen«, sagte ich. Wenn Sie dem Diener entweder beim Betreten des Hauses Ihre Namen nennen, wird Nugent daraus ersehen, was ihm bevorsteht, und er ist nicht der Mann, Sie unter diesen Umständen ins Haus zu lassen. Wenn Sie Ihre Namen verschweigen, so präsentiren Sie sich als Fremde. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß Nugent für Fremde zugänglich sein wird? Würde Lucilla sich in ihrer jetzigen Lage dazu entschließen, zwei ihr unbekannte Männer zu empfangen? Glauben Sie mir, wenn Sie jetzt hingehen, werden Sie nicht nur nichts erreichen, sondern Sie werden es nur noch schwieriger machen, als es schon ist, mit Lucilla in Verbindung zu treten.«

Es entstand eine kurze Pause. Beide Männer fühlten, daß es nicht leicht sei, etwas auf meine Einwendungen zu erwidern. Oscar ergriff wieder zuerst das Wort.

»Wollen Sie denn hingehen?« fragte er.

»Nein antwortete ich. »Ich würde vorschlagen, Lucilla zu schreiben. Ein Brief wird in ihre Hände gelangen.«

Auch das schien ihnen nicht einzuleuchten. Oscar fragte, was denn dieser Brief enthalten solle. Ich erwiderte, ich würde sie bitten, sie allein sprechen zu dürfen, weiter nichts.

»Und wenn Lucilla Ihnen das verweigert?« fragte Herr Finch.

»Sie wird es nicht verweigern«, erwiderte ich. »Ich gebe zu, daß ein kleines Mißverständniß zwischen uns obwaltete, als ich ins Ausland reiste Ich werde dieses Mißverständniß offen als den Grund meines Schreibens bezeichnen. Ich werde es Ihrer Tochter zur Ehrensache machen, mir eine Gelegenheit zu geben, mich mit ihr zu verständigen. Ich werde von Lucilla einen Akt der Gerechtigkeit fordern, ich glaube, sie wird mir denselben nicht verweigern.«

Das war beiläufig bemerkt der Aktionsplan, wie ich ihn mir auf der Fahrt nach Sydenham ausgedacht hatte. Ich hatte mit seiner Erwähnung nur gewartet, bis ich zuvor gehört haben würde, was die beiden Männer proponirten.

Oscar, der noch immer mit dem Hut in der Hand stand, blickte nach Herrn Finch hinüber, der gleichfalls den Hut in der Hand hielt und beharrlich seinen Platz an der Thür behauptete. In dem Gesicht und dem ganzen Wesen des Pfarrers sprach sich neben der größten Höflichkeit die entschiedene Absicht aus, Oscar, wenn er dabei beharren sollte, seinen Plan, allein zu gehen, zur Ausführung zu bringen, zu begleiten. Oscar sah sich zwischen einen Geistlichen und eine Frau gestellt, die beide fest entschlossen waren, ihren Willen durchzusetzen. Unter diesen Umständen blieb ihm nichts übrig, als Einem oder dem Andern von uns wirklich oder scheinbar nachzugehen. Er entschied sich für meinen Vorschlag.

»Und wenn es Ihnen gelingen sollte, sie zu sehen«, fragte er, »was denken Sie dann zu thun?«

»Ich denke sie entweder hierher zu ihrem Vater und zu Ihnen zu bringen, oder eine Zeit mit ihr zu verabreden, wo sie Sie beide in ihrer jetzigen Wohnung empfangen will«, erwiderte ich.

Nach einem abermaligen Blick auf den unbeweglichen Pfarrer klingelte Oscar und beorderte Schreibmaterial.

»Noch eine Frage«, sagte er, »wenn Lucilla Sie in Ihrer Wohnung empfangen sollte, beabsichtigen Sie —?« Er hielt inne, seine Blicke wichen den meinigen aus. — »Beabsichtigen Sie, noch Jemand Andern zu sehen?« nahm er wieder auf, indem er es noch immer vermied, — den Namen seines Bruders auszusprechen.

»Ich beabsichtige Niemand zu sehen, als Lucilla«, sagte ich. »Es ist nicht meine Sache, mich in Ihre Angelegenheit mit Ihrem Bruder zu mischen.« Der Himmel mag es mir vergeben, daß ich so mit ihm sprach, während ich doch die ganze Zeit über fest entschlossen war, mich in ihre Angelegenheit zu mischen.

»Meinetwegen schreiben Sie Ihren Brief«, sagte er, »aber Sie müssen mir ihre Antwort zeigen.«

»Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich denselben Anspruch erhebe«, fügte der Pfarrer hinzu. »In meiner Eigenschaft als Vater —«

Ich beeilte mich, seine Eigenschaft als Vater anzuerkennen, noch ehe er ein Wort weiter sagen konnte. »Sie sollen beide die Antwort sehen«, sagte ich und setzte mich hin, um meinen Brief zu schreiben; ich schrieb nur, was ich schreiben zu wollen erklärt hatte.

»Liebe Lucilla, ich kehre soeben vom Continent zurück. Um der Gerechtigkeit willen und im Angedenken an vergangene glückliche Tage bitte ich Sie, mich sofort empfangen zu wollen, ohne unserer Verabredung gegen irgend Jemand Erwähnung zu thun. Ich verpfände mein Wort, daß ich Sie in fünf Minuten überzeugt haben werde, daß ich mich niemals Ihrer Liebe und Ihres Vertrauens unwürdig gemacht habe. Der Ueberbringer wartet auf Antwort.«

Ich gab den Brief den beiden Herren zum Lesen. Herr Finch machte keine Bemerkung; er war sichtlich unzufrieden mit der untergeordneten Stellung, die er hier einzunehmen verurtheilt war. Oscar sagte: »Ich habe nichts gegen den Brief einzuwenden und werde nichts thun, bis ich die Antwort gelesen habe.«

Darauf dictirte er mir die Adresse seiner Cousine Ich übergab den Brief selbst einem zum Hotel gehörenden Boten.

»Ist es weit von hier?« fragte ich.

»Kaum zehn Minuten zu gehen, Madame.«

»Sie haben mich verstanden, daß Sie auf Antwort warten sollen?«

»Ja wohl, Madame.«

Damit ging er fort.

Soviel ich mich erinnere, verfloß wenigstens eine halbe Stunde, bevor er zurück kam. Man wird sich eine Vorstellung von der schrecklichen Ungewißheit machen können, die jetzt auf uns allen Dreien lastete, wenn ich sage, daß keiner von uns, von dem Augenblick, wo der Bote fortging, bis zu dem Augenblick, wo er wiederkam, ein einziges Wort sprach.

Der Bote kam mit einem Brief in der Hand zurück.

Meine Finger zitterten so, daß ich den Brief kaum öffnen konnte. Noch bevor ich ein Wort gelesen hatte, erfüllte mich der Anblick der Handschrift mit Entsetzen. Der Brief selbst war von einer fremden Hand geschrieben und die Ueberschrift am Schluß war in jenen großen unruhigen Zügen geschrieben, deren ich mich von der Zeit her, wo Lucilla in ihrer Blindheit ihren ersten Brief an Oscar geschrieben hatte, so wohl erinnerte.

Der sonderbare Wortlaut des Schreibens war folgender:

»Ich kann Sie hier nicht empfangen, aber ich kann und will in Ihrem Hotel zu Ihnen kommen, wenn Sie mich erwarten wollen. Ich kann die Zeit nicht genau angeben. Ich kann nur versprechen, die erste sich mir darbietende Gelegenheit, um Ihrer und um meinetwillen wahrzunehmen.«

Eine solche Sprache ließ nur eine einzige Auslegung zu. Lucilla war nicht frei in ihren Handlungen. Beide, der Pfarrer und Oscar mußten jetzt zugeben, daß ich Recht gehabt hatte. Wenn es für mich unmöglich war, in dem Hause empfangen zu werden, wie doppelt unmöglich würde es nicht für die Männer gewesen sein, sich Zutritt zu verschaffen Oscar ging, nachdem er den Brief gelesen hatte, in den entferntesten Winkel des Zimmers, ohne sich weiter zu äußern. Herr Finch entschloß sich, seine untergeordnete Stellung aufzugeben, indem er sofort selbstständig zu agiren anfing.

»Muß ich schließen«, fing er an, »daß es vergeblich wäre, wenn ich versuchen wollte, mein eigenes Kind zu sehen?«

»Ihr Brief spricht für sich selbst«, erwiderte ich. »Wenn Sie den Versuch machen, sie in Ihrer Wohnung zu sehen, so werden Sie wahrscheinlich damit nur Ihre Tochter verhindern, herzukommen.«

»Ja meiner Eigenschaft als Vater«, fuhr Herr Finch fort, »ist es mir unmöglich, passiv zu bleiben. Als geistlicher Bruder habe ich, denke ich, ein begründetes Recht auf den Beistand des Pfarrers dieses Kirchspiels. Sehr wahrscheinlich ist diese betrügerische Heirath bereits angemeldet worden. In diesem Fall ist es meine Pflicht, nicht nur gegen mich selbst und mein Kind, sondern auch gegen die Kirche, mit meinem ehrwürdigen Collegen zu conferiren. Ich will mich zu diesem Zweck zu ihm begeben.« Er stolzirte aus die Thür zu und fuhr fort. »Sollte Lucilla in meiner Abwesenheit erscheinen, so autorisire ich Sie, Madame Pratolungo, sie bis zu meiner Rückkehr zurückzuhalten.« Mit diesem Abschiedsauftrag verließ er das Zimmer.

Ich sah Oscar an. Er kam langsam vom anderen Ende des Zimmers her auf mich zu.

»Sie werden doch natürlich hier warten?« sagte er.

»Natürlich. Und Sie?«

»Ich werde etwas ausgehen.«

»Haben Sie einen besonderen Zweck dabei?«

»Nein, keinen anderen, als die Zeit hinzubringen. Ich habe das Warten satt.«

Nach der Art, wie er mir antwortete, war ich· fest überzeugt, daß er jetzt, nachdem er Herrn Finch losgeworden war, direct nach dem Hause seiner Cousine gehen werde.

»Sie vergessen, sagte ich, »daß Lucilla herkommen kann, während Sie fort sind. Ihre Anwesenheit in diesem oder dem anstoßenden Zimmer kann, wenn ich ihr mittheile, was Ihr Bruder gethan hat, von der größten Wichtigkeit sein. Wie, wenn sie mir nicht glaubt? Was soll ich dann anfangen, wenn ich mich dann nicht auf Sie berufen kann? Ich bitte Sie in Ihrem eigenen und in Lucilla’s Interesse, hier bei mir zu bleiben, bis sie kommt.«

Ich gab vorläufig nur diesen Grund an und wartete ab, was er thun werde. Nach einigem Zaudern antwortete er im Tone verdrossener Gleichgültigkeit, »Sie wünschen«, und ging wieder nach dem andern Ende des Zimmers. Als er mir den Rücken kehrte, hörte ich ihn für sich hin murmeln. »So muß ich noch ein bischen länger warten.«

»Auf was?« fragte ich.

Er wandte den Kopf nach mir um.

»Für jetzt muß ich Geduld haben. Sie werden bald genug von mir hören.«

Im Augenblick sagte ich nichts weiter zu ihm. Der Ton, in welchem er mir geantwortet hatte, zeigte mir, daß es nutzlos sein werde. Nach einiger Zeit, ich kann nicht sagen wie lange, hörte ich das Geräusch weiblicher Kleider draußen auf dem Vorplatz.

Im nächsten Augenblick wurde an die Thür geklopft.

« Ich gab Oscar ein Zeichen, eine andere dicht neben ihm am andern Ende des Zimmers befindliche Thür zu öffnen und sich wenigstens für den Augenblick dahin zurückzuziehen. Dann antwortete ich mit möglichst fester Stimme: »Herein.«.

Ein mir unbekanntes, als respektables Dienstmädchen gekleidetes Frauenzimmer trat ein. Sie führte Lucilla an der Hand. Mein erster Blick auf das geliebte Kind offenbarte mir die schreckliche Wahrheit. Gerade so, wie ich sie auf dem Corridor im Pfarrhause am ersten Tage gesehen hatte, sah ich sie jetzt wieder. Wieder wandte sie sich mit ihren blinden Augen, die das Licht das auf sie fiel, unempfindlich widerspiegelten, nach mir und blind! o Gott, nach wenigen Wochen, während deren sie sich des Augenlichts erfreut hatte, wieder blind!

Ueber dieser jammervollen Entdeckung vergaß ich alles Andere. Ich flog ihr entgegen und umschlang sie mit meinen Armen. Nach einem einzigen Blick auf ihr bleiches abgezehrtes Gesicht sank ich weinend an ihre Brust.

Sie stützte meinen Kopf sanft mit der Hand und wartete mit Engelsgeduld, bis dieser erste Ausbruch meines Kummers sich gelegt hatte. »Weinen Sie nicht über meine Blindheit«, sagte sie mit ihrer mir so wohlbekannten, sanften, weichen Stimme. Die Tage, wo ich sehen konnte, waren die unglücklichsten meines Lebens. Wenn ich aussehe, als hätte ich mich gegrämt, denken Sie nicht, es sei über meine Augen.« Sie hielt inne und seufzte tief auf. »Ihnen kann ich es ja sagen«, fuhr sie flüsternd fort, — »es ist mir eine wahre Erleichterung, ein Trost, es Ihnen zu sagen. — Ich gräme mich über meine Heirath.«

Diese Worte brachten mich wieder zu mir. Ich richtete mich auf und küßte sie. »Ich bin hergekommen, Sie zu trösten«, sagte ich, »und ich benehme mich wie eine Thörin.«

Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen. »Diese Aeußerung sieht Ihnen recht ähnlich«, sagte sie. Sie klopfte mir in der alten vertraulichen Weise mit der Hand auf die Wange. Diese kleine Vertraulichkeit brach mir mit den Erinnerungen, die sich daran knüpften, fast das Herz. Ich erstickte fast an der Anstrengung, die dummen, unnützen, feigen Thränen, die sich wieder Luft machen wollten, zurückzudrängen. »Kommen Sieh sagte sie, »weinen Sie nicht mehr. Lassen Sie uns niedersetzen und miteinander plaudern, als waren wir in Dimchurch.«

Ich führte sie nach dem Sopha, auf dem wir nebeneinander Platz nahmen. Sie schlang ihren Arm um mich und legte ihren Kopf an meine Schulter. Wieder flatterte das schwache Lächeln wie ein verlöschendes Licht auf ihrem lieblichen Gesichte auf; auf diesem Gesicht, das jetzt bleich und abgezehrt, aber doch noch immer schön war, noch immer dem Antlitz der Sixtinischen Madonna glich. »Wir sind ein sonderbares Paar«, sagte sie in Einem momentanen Ausbruch ihres alten unwiderstehlichen Humors. »Sie sind meine bitterste Feindin und Sie brechen in dein Augenblick, wo wir uns wiedersehen, in Thränen aus. Sie haben mich abscheulich behandelt und ich halte Sie umschlungen und lehne meinen Kopf an Ihre Schulter und möchte Sie um Alles in der Welt nicht von mir lassen!« Ihr Gesicht nahm wieder einen traurigen Ausdruck an, der Ton ihrer Stimme veränderte sich plötzlich. »Sagen Sie mir«, fuhr sie fort, »wir kommt es, daß der Schein so entsetzlich gegen Sie sprach? Oscar überzeugte mich in Ramsgate, daß ich Sie aufgeben, daß ich Sie nie wiedersehen müßte. Ich theilte seine Auffassung, das kann ich nicht leugnen, liebste Frau; eine Zeitlang verabscheute ich Sie ebenso sehr wie er. Aber als ich wieder blind wurde, konnte ich es nicht länger ertragen. Ganz allmählig, in dem Maße wie mein Augenlicht verlosch, wandte sich mein Herz mit unwiderstehlicher Gewalt wieder Ihnen zu. Als man mir Ihren Brief vorlas, als ich erfuhr, daß Sie in meiner Nähe seien, da war es wieder ganz wie in der alten Zeit, ich konnte es vor Sehnsucht nach Ihnen nicht länger aushalten. Und da bin ich, noch ehe Sie mir eine Erklärung gegeben haben, überzeugt, daß ein trauriges Mißverständniß zwischen uns sein Wesen trieb.«

Ich wollte es in dankbarer Erkenntlichkeit für diese großmüthigen Worte versuchen, mich auf der Stelle zu rechtfertigen; aber es war mir unmöglich; ich konnte an nichts denken, von nichts reden, als von der schrecklichen Wiederkehr ihrer Blindheit.

»Lassen Sie mir ein paar Minuten Zeit«, sagte ich, »und Sie sollen Alles hören. Ich kann noch nicht von mir reden, ich kann nur von Ihnen reden. O, Lucilla, warum haben Sie sich von Grosse fern gehalten? Kommen Sie noch heute mit mir zu ihm. Lassen Sie ihn versuchen, was er für Sie thun kann, und zwar gleich, mein geliebtes Kind, ehe es zu spat ist.«

»Es ist zu spät«, sagte sie. »Ich bin bei einem anderen Augenarzt gewesen, einem Fremden. Er sagte dasselbe, was Herr Sebright gesagt hatte: er zweifelte, daß jemals die Möglichkeit meiner Heilung vorhanden gewesen sei; nach seiner Ansicht hätte die Operation nie vorgenommen werden müssen.«

»Warum sind Sie zu einem Fremden gegangen?« fragte ich, »warum haben Sie Grosse ausgegeben?«

»Darnach müssen Sie Oscar fragen«, antwortete sie, »auf seinen Wunsch habe ich mich von Grosse ferngehalten.«

Als ich das hörte, errieth ich alsbald das Motiv, welches Nugent dabei geleitet hatte, wie ich es später in dem Tagebuch bestätigt fand. Wenn er Lucilla zu Grosse hätte gehen lassen, so würde unser guter Deutscher Vielleicht bemerkt haben, daß ihr Verhältniß zu Nugent ihr Gemüth bedrücke, und würde es vielleicht für nöthig gehalten haben, ihr den Betrug Nugent’s zu entdecken. Uebrigens aber beharrte ich noch dabei, Lucilla dringend zu bitten, mit mir wieder zu unserem alten Freunde zu gehen.

»Erinnern Sie sich unserer Unterhaltung über diesen Gegenstand«, erwiderte sie mit entschiedenem Kopfschütteln. »Ich meine jene Unterhaltung, als die Operation nahe bevorstand. Ich sagte Ihnen, ich habe mich an meine Blindheit gewöhnt, ich wolle meine Sehkraft nur wieder erlangen, um Oscar sehen zu können. Und als ich ihn wiedersah, was geschah da? Meine Enttäuschung war so furchtbar, daß ich wieder blind zu werden wünschte. Fuhren Sie nicht auf, schreien Sie nicht, als wollten Sie ersticken. Ich meine, was ich sage. Ihr sehenden Menschen legt einen so albernen Werth auf Eure Augen. Erinnern Sie sich nicht, daß ich Ihnen das schon sagte, als wir uns zuletzt darüber unterhielten?«

Ich erinnerte mich dessen ganz genau. Sie hatte das wirklich gesagt. Sie hatte gesagt, daß sie niemals einen von uns ernstlich um seine Augen beneidet habe.Sie hatte unsere Augen geschmäht, hatte dieselben geringschätzig mit ihrem Tastsinn verglichen und sie als Betrüger, die uns beständig irreleiteten, lächerlich zu machen gesucht. Ich gab das Alles zu, ohne mich jedoch dadurch im Mindesten mit der eingetretenen Katastrophe ausgesöhnt zu fühlen. Wenn sie mir nur hätte zuhören wollen, würde ich sie noch weiter zu überreden gesucht haben. Aber sie weigerte sich rundheraus.

»Wir haben sehr wenig Zeit«, sagte sie. »Lassen Sie uns von etwas Interessanterem reden, ehe ich wieder fort muß.«

»Wieder fort muß?« wiederholte ich. »Sind Sie nicht Ihre eigene Herrin?«

Ihr Gesicht verdüsterte sich, ihr Wesen wurde verlegen.

»Ich kann nicht gerade sagen, daß ich eine Gefangene bin«, antwortete sie. »Ich kann nur sagen: ich werde beobachtet. Sobald Oscar fort ist, weiß es Oscar’s Consine, eine lauernde, argwöhnische, falsche Person, immer so einzurichten, daß sie bei mir ist. Ich habe sie zu ihrem Manne sagen gehört, sie glaube, ich würde mein Heirathsversprechen brechen; wenn man mir nicht scharf aufpasse. Ich weiß nicht, was ich anfangen sollte, wenn nicht eines der Dienstmädchen da wäre, eine vortreffliche Person, die sich für mich interessirt und mir beisteht.« Sie hielt inne und richtete den Kopf forschend auf. »Wo ist das Mädchen?«

Ich hatte das Mädchen, das sie in’s Zimmer gebracht hatte, ganz vergessen. Sie mußte uns taktvoller Weise ganz allein gelassen haben, nachdem sie Lucilla hereingeführt hatte. Als ich mich nach ihr umsah, war sie nicht da.

»Das Mädchen wartet ohne Zweifel unten sagte ich, »fahren Sie fort.«

»Ohne diese gute Person«, nahm Lucilla das Gespräch wieder auf; »wäre ich nie hergekommen Sie brachte mir Ihren Brief, las ihn mir vor und schrieb meine Antwort. Ich verabredete mit ihr, daß sie bei der ersten Gelegenheit mit mir davon schlüpfen solle. Die Chancen standen in einer Beziehung günstig für uns, außer der Cousine war Niemand da, der auf uns aufpaßte. Oscar war nicht im Hause.«

Bei dem letzten Wort hielt sie plötzlich inne. Ein leises Geräusch am andern Ende des Zimmers, welches ich gar nicht bemerkt hatte, war ihrem Ohr nicht entgangen. »Was ist das für ein Geräusch?« fragte sie. »Ist noch Jemand im Zimmer?«

Ich sah wieder auf.

Während sie von dem falschen Oscar sprach, stand der echte Oscar am andern Ende des Zimmers und hörte zu. Als er bemerkte, daß ich ihn sehe, bat er mich mit einer flehenden Geberde, seine Anwesenheit nicht zu verrathen. Er hatte offenbar, noch ehe ich ihn bemerkt hatte, gehört, was wir miteinander gesprochen hatten; denn er berührte seine Augen und erhob seine Hände mit dem Ausdruck tiefen Mitleids. Was er auch im Schilde führen mochte, diese traurige Entdeckung mußte ihn tief ergriffen haben. Lucilla’s Einfluß konnte jetzt nicht anders als gut auf ihn wirken. gab ihm ein Zeichen, sich ruhig zu verhalten und sagte Lucilla daß keine Veranlassung für sie sei, sich zu beunruhigen. Sie fuhr fort:

»Qscar ist diesen Morgen nach London gegangen. Können Sie rathen, zu welchem Zweck? Er will sich die Heirathserlaubniß für uns erwirken, er hat unsere Heirath bei der Kirche angemeldet. Ich setze meine letzte Hoffnung in Sie: Trotz Allem, was ich dagegen einwandte, hat er unsere Hochzeit auf den Einundzwanzigsten festgesetzt, auf übermorgen! Ich habe Alles aufgeboten um einen Aufschub zu erwirken. O, wenn Sie wüßten!« — Ihre wachsende Aufregung machte sie für den Augenblick sprachlos. Dann aber, als sie sich wieder etwas erholt hatte, fuhr sie fort: »Ich darf die kostbaren Minuten nicht vergeuden, ich muß zurück sein, bevor, Oscar wiederkommt. O, meine alte Freundin, Sie sind ja nie um eine Auskunft verlegen; Sie wissen ja immer was zu thun ist. Ersinnen Sie etwas, wie ich meine Heirath aufschieben kann. Rathen Sie mir etwas, womit ich sie überraschen und · sie zwingen kann, mir Zeit zu lassen!«

Ich blickte wieder zu Oscar hinüber. In athemloser Spannung zuhörend, war Oscar geräuschlos bis in die Mitte des Zimmers vorgeschritten. Auf ein Zeichen von mir blieb er stehen und ging nicht weiter.

»Ist es Ihre wahre Meinung, Lucilla, daß Sie ihn nicht mehr lieben?« fragte ich.

»Ich kann Ihnen nichts darüber sagen«, antwortete sie »außer daß eine schreckliche Veränderung mit mir vorgegangen ist. So lange ich sehen konnte, glaubte ich mir die Sache theilweise erklären zu können; ich glaubte der neue Sinn habe ein neues Wesen aus mir gemacht. Aber jetzt, nachdem ich meine Sehkraft wieder verloren habe, jetzt wo ich wieder bin, was ich mein ganzes Leben gewesen war, will die schreckliche Unempfindlichkeit noch immer nicht von mir weichen. Ich empfinde so wenig für ihn, daß es mir bisweilen schwer wird, mich zu überreden, daß er wirklich Oscar ist. Sie wissen, wie ich ihn anzubeten pflegte. Sie wissen, mit welchem Entzücken ich ihn einst geheirathet haben würde. Und nun stellen Sie sich vor, was ich bei der Art, wie ich jetzt für ihn fühle, leiden muß!

Ich sah wieder auf. Oscar hatte sich näher herangeschlichen; ich konnte sein Gesicht deutlich sehen. Der gute Einfluß Lucilla’s fing an, sich bei ihm geltend zu machen. Ich sah, wie die Thränen ihm in die Augen traten; ich sah Liebe und Mitleid an die Stelle von Haß und Rache treten. Der alte Oscar, wie er in meiner Erinnerung lebte, stand wieder vor mir.

»Ich will ihn ja nicht verlassen, fuhr Lucilla fort; »Alles, was ich verlange, ist, daß er mir etwas Zeit läßt. Die Zeit muß mir helfen, mir mein altes Selbst wiederzugewinnen. Ich bin ja mein Lebelang blind gewesen. Können die wenigen Wochen, wo ich sehen konnte, mich der Gefühle beraubt haben, die sich jahrelang in mir entwickelt haben? Ich kann es nicht glauben. Ich kann mich im Hause wieder zurechtfinden, kann die Dinge nach der Berührung erkennen; kurz, ich kann jetzt, wo ich wieder blind bin, wieder alles das, was ich früher im Zustande meiner Blindheit konnte, das Gefühl für ihn wird sich also auch, wie alles Uebrige, wieder einstellen, nur muß man mir Zeit lassen!«

Bei den letzten Worten sprang sie plötzlich unruhig auf. »Es ist doch Jemand hier im Zimmer«, sagte sie, »Jemand, der da weint. Wer ist es?«

Oscar stand dicht bei uns. Die Thränen rannen ihm über die Wangen. Auch ich hatte, wie Lucilla, den einen schwachen schluchzenden Athemzug der ihm entfahren war, gehört.

Ich ergriff seine Hand mit meiner einen und Lucilla’s mit meiner anderen Hand. Ob es zum Guten oder zum Schlimmen war, das stand in Gottes Hand. Die Zeit war gekommen.

»Wer ist das?« wiederholte Lucilla ungeduldig.

»Versuchen Sie es doch, bestes Kind, ob Sie es nicht sagen können, ohne mich zu fragen.« Mit diesen Worten legte ich ihre in Oscar’s Hand und beobachtete dabei ihr Gesicht scharf.

Im ersten Augenblick, als sie die ihr vertraute Berührung wieder fühlte, wurde sie todtenbleich. Ihre blinden Augen erweiterten sich schrecklich. Wie versteinert stand sie da. Dann aber stieß sie einen langen, leisen Schrei aus, einen Schrei athemlosen Entzückens, und umschlang ihn leidenschaftlich mit ihren Armen. Das Leben kehrte auf ihre Wangen zurück; ihr liebliches Lächeln umspielte zitternd ihre geöffneten Lippen; ihr Busen wallte von raschen, schwachen Athemzügen unruhig hin und her. In sanften Tönen des Entzückens murmelte sie mit den Lippen auf seiner Wange glückselig:

»O, Oscar, ich kenne Dich wieder!«



Neuntes Kapitel - Das Ende

Eine kleine Zeit war verflossen.

Ihr erstes Entzücken über das Wiedererkennen durch den Tastsinn hatte sich gelegt. Sie hatte sich wieder beruhigt. Sie ließ Oscar los und wandte sich zu mir mit der Frage, die, wie ich vorausgesehen hatte, der Vereinigung ihrer Hände folgen mußte:

»Was hat das zu bedeuten?«

Die Antwort auf diese Frage mußte die Bloßstellung Nugent’s, die Enthüllung des verhängnißvollen Geheimnisses von Oscar’s Gesicht und endlich, nicht zum wenigsten, die Vertheidigung meines Benehmens gegen sie umfassen. So vorsichtig, so delikat und so rücksichtsvoll wie ich konnte, enthüllte ich ihr die ganze Wahrheit. Wie die Erschütterung auf sie wirkte, hat sie mir weder damals noch später gesagt. Ihre Hand in Oscar’s Hand gelegt, ihren Kopf an Oscar’s Brust gelehnt, hörte sie mir zu, ohne mich durch ein einziges Wort zu unterbrechen. Dann und wann sah ich sie zittern, hörte ich sie tief seufzen. Das war Alles. Erst als ich mit meiner Antwort zu Ende war — erst nach einer langen Pause, während deren Oscar und ich sie in sprachloser Angst beobachteten, richtete sie sich langsam auf und brach ihr Schweigen.

»Gott sei Dank!« hörten wir sie im inbrünstigen Tone sagen, »Gott sei Dank, daß ich blind bin!«

Das waren ihre ersten Worte. Sie erfüllten mich mit Entsetzen und ich flehte sie an, sie zurückzunehmen.

Ruhig lehnte sie ihren Kopf wieder an Oscar’s Brust und sagte:

»Warum sollte ich die Worte zurücknehmen? Denken Sie, ich möchte ihn entstellt, wie er jetzt ist, sehen? Nein! Ich möchte ihn sehen, und ich sehe ihn, so wie meine Einbildungskraft mir sein Gesicht in den ersten Tagen seiner Liebe vormalte. Meine Blindheit ist ein Segen für mich; sie hat mir das alte Gefühl des Entzückens bei seiner Berührung wiedergegeben, sie erhält mir mein geliebtes Bild von ihm, das einzige Bild an dem mir etwas gelegen ist, unverändert und unwandelbar. Sie beharren dabei, zu glauben, daß mein Glück von dem Besitz meiner Sehkraft abhängt; ich aber denke mit Schrecken an das, was ich während der kurzen Zeit, wo ich sehen konnte, gelitten habe, ich, biete Alles auf, um diese Zeit zu vergessen. O, wie wenig kennen Sie mich doch! Welcher Verlust würde es für mich sein, wenn ich ihn sehen müßte, wie Sie ihn sehen! Versuchen Sie es, mich zu verstehen, und Sie werden nicht mehr von meinem Verlust, Sie werden nur noch von meinem Gewinn reden.«

»Ihr Gewinn?« wiederholte ich. »Was haben Sie denn gewonnen?«

»Glück«, antwortete sie. »Ich lebe nur wahrhaft in meiner Liebe und die Lebenslust meiner Liebe ist meine Blindheit.«

Das war in wenigen Worten eine ganze Lebensgeschichte!

Wer, wie ich, gesehen hätte, wie sie in der Aufregung des Redens ihr strahlendes Gesicht wieder aufrichtete; wer sich, wie ich, dabei dessen erinnert hätte, was der Augenarzt in Betreff des Preises erklärt hatte, mit welchem sie unbedingt die Wiedererlangung ihrer Sehkraft erkaufen müsse, der würde wohl auch, wie ich, bescheidentlich zugegeben haben, daß sie besser die Bedingungen ihres Glückes kennen müsse, und würde ihr nicht widersprochen haben!

Ich überließ Lucilla und Oscar ihrer Unterhaltung und ging im Zimmer auf und ab, um mir zu überlegen was wir zunächst zu thun haben würden.

Das war nicht leicht zu sagen. Wußte ich doch über die in Betracht kommenden Verhältnisse nichts als das Wenige, was mir das theure Kind darüber mitgethetlt hatte. Nugent hatte nicht davor zurückgeschreckt, seinen grausamen Betrug bis an’s Ende fortzuspielen. Er hatte im Namen seines Bruders seine Heirath fälschlich bei der Kirche angemeldet. Und er war jetzt in London, um sich wieder fälschlich im Namen seines Bruders den Heirathserlaubnißschein aushändigen zu lassen. Das war Alles, was ich von seinem Vorgehen wußte.

Während ich noch mit mir zu Rathe ging, zerschnitt Lucilla den gordischen Knoten.

»Warum halten wir uns hier auf?« fragte sie. »Laßt uns fortgehen und nie wieder an diesen verhaßten Ort zurückkehren.«

In dem Augenblicks wo sie aufstand, ließ sich ein leises Klopfen an der Thür vernehmen.

Ich rief herein; das Mädchen welches Lucilla nach dem Hotel gebracht hatte, trat wieder ein. Sie schien sich zu scheuen sich weit von der Thür zu entfernen. Sie blieb dicht vor derselben stehen, sah ängstlich nach Lucilla hin und sagte:

»Kann ich Sie sprechen, Fräulein?«

»Sie können vor dieser Dame und diesem Herrn Alles sagen«, antwortete Lucilla. »Was giebt’s?«

»Ich fürchte, man ist uns nachgegangen, Fräulein!«

»Nachgegangen? Wer?«

»Die Kammerjungfer. Ich sah sie vor einer kleinen Weile, wies sie nach dem Hotel hinaufblickte und dann rasch wieder umkehrte, und das ist noch nicht das Schlimmste, Fräulein!«

»Was ist denn sonst noch geschehen?«

»Wir haben uns mit der Eisenbahn geirrt«, antwortete das Mädchen. »Es giebt einen Zug von London, den wir im Fahrplan übersehen haben und dieser Zug ist, wie ich eben unten im Hotel höre, schon vor länger als einer Viertelstunde angekommen. Bitte, lassen Sie uns wieder nach Hause gehen, sonst fürchte ich, finden sie uns nicht zu Hause.«

»Gehen Sie nur allein nach Hause, Jane«, sagte Lucilla.

»Allein?«

»Ja, ich danke Ihnen, daß Sie mich hergebracht haben; ich bleibe hier.«

Kaum hatte sie sich wieder zwischen mich und Oscar hingesetzt, als die Thür leise von außen geöffnet wurde.

Eine lange, dünne, nervöse Hand langte durch die Oeffnung hinein; ergriff das Mädchen am Arm und zog sie den Vorplatz hinaus. Statt ihrer trat ein Mann mit dem Hut auf dem Kopfe in’s Zimmer. Es war Nugent Dubourg.

Er blieb an derselben Stelle, wo das Mädchen gestanden hatte, stehen. Er sah nach der Reihe Lucilla, seinen Bruder und mich an.

Stumm stand er da, der Freundin, die er verleumdet, und dem Bruder, den er verrathen hatte, gegenüber. Da stand er — die Augen fest auf die zwischen uns sitzende Lucilla geheftet — mit dem Bewußtsein, daß Alles vorbei sei, daß das Weib, um dessentwillen er sich entwürdigt hatte, für immer für ihn verloren sei. Da stand er, von seinen selbstbereiteten Qualen verzehrt.

Bei dem Erscheinen seines Bruders war Oscar aufgestanden und hatte seinen Arm um Lucilla geschlungen. Jetzt trat er mit Lucilla Nugent einen Schritt entgegen. Ich folgte ihm, indem ich sein Gesicht mit gespannter Aufmerksamkeit betrachtete. Ich fürchtete mich jetzt nicht mehr vor dem was er thun möchte. Lucilla’s segensreicher Einfluß hatte den bösen Dämon, der versteckt in ihm gelauert hatte, ausgetrieben. Ich erwartete also mit Spannung, aber ohne Besorgniß, wie er sich jetzt benehmen würde.

»Nugent«, sagte er sehr ruhig.

Nugent ließ den Kopf schweigend auf die Brust sinken.

Sobald Lucilla Oscar den Namen aussprechen hörte, wußte sie sofort, was geschehen war. Sie schauerte entsetzt zusammen. Oscar legte sie sanft in meine Arme und trat nun allein noch näher auf seinen Bruder zu. Auf seinem Gesichte malte sich ein innerer Kampf verschiedenartiger Gefühle von Liebe und Angst, von Kummer und Scham. Er erinnerte mich auf die sonderbarste Weise an den Eindruck, den er auf mich gemacht hatte, als er mir zuerst die Geschichte seines Prozesses anvertraute und mir sagte, daß Nugent sein guter Engel sei.

Jetzt trat er dicht an seinen Bruder heran und legte in der einfachen, kindlichen Weise, die mir von früher her so wohlbekannt an ihm war, seine Hand auf Nugent’s Arm.

»Nugent!« sagte er. »Bist Du derselbe liebe gute Bruder, der mich vom Tode auf dem Schaffot rettete und der mir mein schweres Leben nachher erträglich machte? Bist Du derselbe gescheidte und noble Mensch, den ich immer so sehr liebte und auf den ich immer so stolz war?«

Er hielt inne, nahm seinem Bruder den Hut ab und strich ihm zärtlich das herabhängende Haar aus der Stirn. Nugent tieß den Kopf noch tiefer herabsinken. Unter der Last der furchtbar schmerzlichen Erinnerungen, welche Oscar’s zärtliche Stimme und die Berührung seiner sanften Hand in ihm wachriefen, verzerrte sich sein Gesicht und ballten sich seine Hände krampfhaft zusammen. Oscar ließ ihm Zeit; sich wieder zu fassen und wandte sich zunächst an mich.

»Sie kennen Nugent«, sagte er. »Erinnern Sie sich, wie ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung sagte, Nugent sei ein Engel? Und als er dann nach Dimchurch kam, sahen Sie da nicht selbst, wie gütig er mir zur Seite stand, wie streng er mein Geheimniß bewahrte? Ein wie treuer Freund er mir war? Sehen Sie ihn an und Sie werden überzeugt sein, wie ich es bin, daß wir auf eine wahrhaft ungeheuerliche Weise ihn mißverstanden, seine Absichten mißdeutet haben müssen.« Dann wandte er sich wieder an Nugent. »Ich wage Dir nicht zu sagen«, fuhr er fort, »was ich von Dir gehört, was ich von Dir geglaubt und mit welchen niedrigen unbrüderlichen Rachegedanken ich mich getragen habe. Jetzt weiß ich, Gott sei Dank! nichts mehr von dem Allen. Jetzt, wo ich Dich wiedersehe, mein alter Junge, erscheinen sie mir nur noch wie ein böser Traum.

Wie könnte ich Dich sehen, Nugent, und glauben, daß Du falsch gegen mich gewesen seiest? Du solltest ein Schurke gewesen sein und es versucht haben, mir Armen das einzige Weib in der Welt zu rauben, das sich etwas aus mir macht? Du, der Du so schön und so beliebt bist und jedes Mädchen, das Du haben willst, heirathen kannst! Das kann nicht sein. Du bist unschuldigerweise und ohne es zu wissen in eine falsche Stellung hineingerathen. Vertheidige Dich! Nein, laß mich Dich vertheidigen, Du sollst Dich vor Niemand demüthigen. Sage mir, wie Du in Wahrheit gegen mich und Lucilla gehandelt hast und überlasse Deinem Bruder Deine Rechtfertigung bei Jedermann. Komm, Nugent, richte Dich auf und sage mir, was ich den Leuten sagen soll?«

Nugent richtete sich auf und sah Oscar an.

Trotz des unheimlichen Ausdrucks seines Gesichts beobachtete ich in seinen Augen, als er sie zuerst auf seinen Bruder heftete, etwas, was mich wieder an vergangene Zeiten, an die Tage erinnerte, wo er zuerst nach Dimchurch kam und in jener zärtlichen, leichten Weise, die mich anfänglich so sehr für ihn eingenommen hatte, von dem »armen Oscar« sprach. Ich mußte wieder an jene denkwürdige Zusammenkunft mit ihm in Browndown, an dem Abend des Tages, wo Oscar England verlassen hatte, denken. Wieder erinnerte ich mich der Anzeichen, welche für seine edlere Natur gesprochen hatten. Und wieder dachte ich der Gewissensbisse, die ihm Thränen entlockt hatten — der Anstrengungen, die er in meiner Gegenwart gemacht hatte, frühere Vergehen wieder gut zu machen und den letzten Kampf gegen die schuldvolle Leidenschaft, die ihn beherrschte, zu kämpfen. Konnte die Natur eines Menschen, in welchem sich das Gewissen so geregt hatte, ganz verderbt sein? Konnte der Mann, der sich nach vielen vorangegangenen noch zu einer solchen letzten Anstrengung aufgerafft hatte, grundschlecht sein?

»Warten Sie«, flüsterte ich Lucilla zu, die in meinen Armen zitterte und weinte. »Er wird sich noch unserer Theilnahme würdig zeigen; er wird noch unsere Verzeihung und unser Mitleid gewinnen!«

»Komm!« wiederholte Oscar, »sage mir, was ich sagen soll.«

Nugent zog ein beschriebenes Blatt Papier aus der Tasche.

»Sage«, antwortete er, »daß ich Deine Heirath bei der Kirche hier angemeldet habe und daß ich nach London gegangen bin, um Dir diesen Schein zu verschaffen.«

Mit diesen Worten reichte er seinem Bruder das beschriebene Blatt Papier. Es war die auf den Namen seines Bruders lautende Heirathserlaubniß.

»Sei glücklich, Oscar«, fügte er hinzu, »Du verdienst es.«

Mit diesen Worten schlang er den Arm in seiner alten protegirenden Weise um Oscar. Dabei berührte seine Hand Oscar’s Brusttasche. Noch ehe es möglich war, ihm Einhalt zu thun, hatten seine geschickten Finger die Tasche geöffnet und aus derselben eine kleine Pistole mit einem von Oscar selbst verfertigtem Griff von getriebener Arbeit gezogen.

»War: das für mich bestimmt?« fragte er mit einem matten Lächeln. »Mein armer Junge, das hättest Du doch nie gethan, nicht wahr?«

Er küßte Oscar’s dunkle Wange und steckte die Pistole in seine eigene Tasche. »Der Griff ist Deine Arbeit«, sagte er, »ich will sie als Geschenk von Dir behalten. Kehre nach Browndown zurück, wenn Du verheirathet bist. Ich werde wieder reisen. Du sollst von mir hören, bevor ich England verlasse.«

Mit fester und sanfter Hand schob er seinen Bruder von sich. Ich versuchte es mit Lucilla, auf ihn zuzugehen und mit ihm zu reden. Aber ein Ausdruck übermenschlicher, in sein Schicksal ergebener finsterer Ruhe die mir aus seinen Augen entgegenblickte, hielt mich von ihm zurück und erfüllte mich mit der Ahnung, daß ich ihn nie wiedersehen werde. Er ging nach der Thür und öffnete sie, wandte sich dann wieder um, und grüßte uns, indem er Lucilla einen langen Abschiedsblick zuwarf, schweigend mit einer Neigung des Kopfes. Sanft schloß sich die Thür hinter ihm. Nur wenige Minuten, nachdem er das Zimmer betreten, hatte er uns für immer verlassen. Wir sahen einander an, wir vermochten nicht zu reden. Er hatte eine traurige und schreckliche Leere zurückgelassen. Ich war die Erste, die sich wieder rührte. Schweigend führte ich Lucilla an ihren Platz auf dem Sopha zurück und winkte Oscar, an meiner Stelle zu ihr zu treten. Dann verließ ich sie und ging fort, um Lucilla’s Vater bei seiner Rückkehr aus dem Hotel entgegenzugehen. Ich wünschte ihn zu verhindern, sie zu stören. Nach dem Vorgefallenen schien es mir, gut, sie eine Weile allein zu lassen.



Epilog - Madame Pratolungo’s letztes Wort.

Zwölf Jahre waren vergangen seit den Ereignissen, die in diesen Blättern erzählt worden sind. Ich sitze an meinem Schreibtisch, blicke müßig auf alle die Blätter, welche meine Feder beschrieben hat — und frage mich, ob ich noch etwas hinzuzufügen habe, ehe ich schließe.

Noch etwas habe ich zu berichten, aber nicht viel.

Zuerst muß ich von Oscar und Lucilla reden. Zwei Tage, nachdem sie einander in Sydenham wiedergegeben waren, wurden sie in der Kirche dieses Ortes getraut. Es war eine trübselige Hochzeit. Niemand war in guter Laune, als Herr Finch. Wir trennten uns in London. Die jungen Eheleute kehrten nach Browndown zurück. Der Pfarrer blieb ein paar Tage in London, um einige Freunde aufzusuchen. Ich kehrte zu meinem Vater zurück, um ihn, meinem Versprechen gemäß, auf seiner Reise von Marseille nach Paris zu begleiten. Soviel ich mich erinnere, blieb ich etwa eine Woche auf dem Continent. Während dieser Zeit erhielt ich freundliche Briefe aus Browndown. Einer derselben meldete mir, daß Oscar von seinem Bruder gehört habe.

Nugent’s Brief war nicht lang. Er war von Liverpool datirt und meldete seine in zwei Stunden bevorstehende Einschiffung nach Amerika. Er habe von der neuen Nordpol-Expedition gehört, die eben in den Vereinigten Staaten zu dem Zweck ausgerüstet werde, das muthmaßlich zwischen Spitzbergen und Nowaja-Semlja gelegene offene Polarmeer zu entdecken, es sei ihm sofort klar geworden, daß diese Expedition einem Landschaftsmaler, der sich die Darstellung der Natur in ihren Erscheinungen zur Aufgabe gemacht habe, ein ganz neues Feld für seine Studien darbiete. Er habe beschlossen, sich dieser Expedition als Freiwilliger anzuschließen und habe sich bereits das zu seiner Ausrüstung nöthige Geld durch den Verkauf der einzigen in seinem Besitz sich befindlichen Werthgegenstände, seiner Juwelen und seiner Bücher, verschafft. Sollte er mehr brauchen, so verspreche er, sich an Oscar wenden zu wollen. Auf alle Fälle werde er noch einmal schreiben, bevor die Expedition vom Stapel laufe. Und so sage er seinem Bruder und seiner Schwester, nur für jetzt ein zärtliches Lebewohl.

Als ich später den Brief selbst sah, fand ich in demselben auch nicht die leiseste Anspielung auf die Vergangenheit und keinerlei Erwähnung des Gesundheits- und Gemüthszustandes des Schreibers.

Von Marseille kehrte ich nach unserem entfernten Dorf zurück und bewohnte das Zimmer, welches Lucilla selbst in Browndown für mich hergerichtet hatte. Ich fand das junge Paar in ihrer Ehe so glücklich, wie Mann und Frau es nur mit einander sein können.

Nur, glaube ich, lastete Nugent’s Abwesenheit bisweilen auf ihren Gemüthern, wie auf dem meinigen. Vielleicht war das der Grund, daß Lucilla mir ruhiger erschien, als sie in ihren Mädchentagen zu sein pflegte. Indessen trug meine Gegenwart etwas dazu bei, ihr ihre alte Laune wiederzugeben und Grosse’s baldige Ankunft that wieder das ihrige dazu, mich munter zu erhalten.

Sobald sein Gichtanfall wieder beseitigt war, erschien er mit seinen Instrumenten in Browndown, um womöglich eine zweite Operation mit Lucilla’s Augen vorzunehmen.

»Wenn meine Operation fehlgeschlagen wäre«, sagte er, »so würde ich Sie nicht weiter geplagt haben. Aber sie ist nicht fehl geschlagen; Sie haben die schönen neuen Augen, die ich Ihnen gegeben habe, nicht gehörig in Acht genommen.« Mit diesen Worten versuchte er es, sie zu überreden, ihn eine zweite Operation bei ihr vornehmen zu lassen, aber sie weigerte sich standhaft, sich der Operation zu unterwerfen, und die darauf folgende Discussion versetzte sie in die beste Laune.

Mehr als einmal versuchte Grosse es noch später auch, sie anderen Sinnes zu machen. Aber vergebens. Die Zänkereien zwischen den Beiden ließen das Haus wieder von heiterem Lachen erschallen. Lucilla fand bei der Widerlegung der komischen Argumente und Ueberredungen unseres würdigen deutschen Arztes ihre ganze frühere Heiterkeit wieder. Anders lautete die Antwort, die sie mir gab, als ich es ein- oder zweimal versuchte, sie in ihrem Entschluß wankend zu machen. Heiter wiederholte sie die Worte, die sie mir in Sydenham gesagt hatte: »Ich lebe nur wahrhaft in meiner Liebe und die Lebenslust meiner Liebe ist meine Blindheit.« Die Gerechtigkeit gebietet mir, zu bemerken, daß Herr Sebright und eine andere zugleich mit ihm consultirte Autorität ohne Zaudern erklärten, daß sie Recht habe. Nach Sebright’s Ansicht hätte der Erfolg von Grosse’s Operation unter allen Umständen nur ein vorübergehender sein können. Und sein College, der Lucilla’s Augen später untersucht hatte, stimmte ihm völlig bei. Wer Recht hatte, diese Beiden oder Grosse, — wer kann es sagen? Als die blinde Lucilla hat der Leser sie kennen gelernt, als blinde Lucilla sieht er sie jetzt zum letzten Mal. Wer geneigt sein sollte, das zu beklagen, den erinnere ich daran, daß sie das Einzige, worauf es wirklich ankommt, besaß. Ihr Leben war ein glückliches und wir dürfen nicht vergessen, daß unsere Bedingungen des Glückes nicht nothwendig auch die ihrigen zu sein brauchen.

Um die Zeit, von der ich jetzt schreibe, traf ein zweiter Brief von Nugent ein. Er war an dem Abend vor seiner Abfahrt nach dem Polarmeer geschrieben. Ein Satz in demselben rührte uns tief: »Wer weiß, ob ich England je wiedersehen werde? Wenn Dir ein Sohn geboren wird, Oscar, gieb ihm meinen Namen, um meinetwillen.«

Eingelegt in diesen Brief war ein besonderes Schreiben von Nugent an mich. Es war das Bekenntniß, auf welches ich bereits in meinen Anmerkungen zu Lucilla’s Tagebuch angespielt habe. Hinzugefügt waren nur folgende Worte am Schluß: »Jetzt wissen Sie Alles. Vergehen Sie mir, wenn Sie können. Ich bin nicht ohne schwere Leiden davongekommen, vergessen Sie das nicht.« Nachdem ich von dem Selbstbekenntniß den dem Leser bereits bekannten Gebrauch gemacht hatte, habe ich den Brief bis auf die vorstehenden letzten Zeilen verbrannt.

In großen Zwischenräumen hörten wir zweimal durch Wallfischfänger von dem Expeditionsschiff. Dann kam eine lange traurige Zeit ohne irgend welche Nachricht. Endlich kam die Nachricht von dem Untergang des Schiffes. Und abermals verging ein ganzes Jahr ohne jede Nachricht über die vermißte Mannschaft.

Man wußte, daß sie mit Vorräthen aller Art gut versehen seien und man hoffte allgemein, daß sie vielleicht würden aushalten können. Eine neue Expedition wurde zu ihrer Aufsuchung ausgesandt, aber vergebens, Wallfischfängern wurden für ihre Auffindung Belohnungen versprochen, die sie niemals erhielten. Wir trauerten äußerlich und innerlich um Nugent.

Wieder verflossen zwei Jahre, bevor man über das Schicksal der Expedition völlig aufgeklärt wurde. Ein verschlagener Wallfischfänger stieß auf ein im Eise gescheitertes und entmastetes Schiff. Ich will die Geschichte mit den Worten des Capitains berichten:

»Das Wrack trieb längs einer Rinne offenen Wassers, als wir seiner zuerst ansichtig wurden. Nicht lange, und es kam von einem Eisberg geschoben ganz in unsere Nähe. Ich stieg mit einigen meiner Matrosen in ein Boot und wir ruderten nach dem Schiffe hin.

Keine menschliche Gestalt war auf dem mit Schnee bedeckten Verdeck zu erblicken. Wir riefen an, erhielten aber keine Antwort. Ich blickte durch eine der glasbedeckten Luken am Hintertheil des Schiffes hinein und sah undeutlich die Gestalt eines an einem Tische sitzenden Mannes. Ich klopfte an das dicke Glas, aber er rührte sich nicht. Wir stiegen aufs Deck, öffneten die Luke nach der Kajüte und gingen hinunter. Der Mann, den ich gesehen hatte, saß vor uns im Hintergrunde der Kajüte. Ich ging aus ihn zu und redete ihn an. Er gab keine Antwort. Ich sah näher zu und berührte eine seiner Hände, die auf dem Tische lag. Zu meinem Schrecken und Erstaunen erkannte ich, daß es eine erfrorene Leiche war.

Auf dem Tische vor ihm lag die letzte Auszeichnung in’s Schiffs-Journal:

»Heute sind es siebzehn Tage, seit wir im Eise eingeschlossen liegen! Unser Feuer erlosch gestern; der Capitätn versuchte es wieder anzuzünden, aber vergebens. Der Arzt und zwei Matrosen starben diesen Morgen vor Kälte. Wir Uebrigen müssen ihnen bald folgen. Sollten wir jemals aufgefunden werden, so bitte ich Denjenigen, der mich findet, dies —« Bei diesen Worten war die Hand, welche die Feder hielt, dem Schreiber in den Schooß gefallen. Die linke Hand lag noch auf dem Tisch. In ihren erfrorenen Fingern hielt sie eine lange, an den beiden Enden mit blauem Bande zusammengebundene Haarlocke. Die offenen Augen der Leiche waren noch fest auf die Locke geheftet.

Der Name des Mannes fand sich in feinem Taschentuch. Er hieß Nugent Dubourg. Ich theile den Namen hier in meinem Bericht mit, für den Fall, daß derselbe seinen Verwandten zu Gesicht kommen sollte.

Eine genauere Untersuchung des Schiffes und eine Vergleichung von Daten mit den Daten des Schiffsjournals ergab, daß die Officiere und die Mannschaft seit länger als zwei Jahren todt waren. Die Lage, welcher wir die Erfrorenen fanden und die Namen, soweit es möglich war, sie ausfindig zu machen, ergaben sich ans Folgendem: . . .«

Jene »weibliche Haarllocke« befindet sich jetzt in Lucillas Besitz. Sie wird ihrem Verlangen gemäß mit ihr begraben werden. O, armer Nugent! Sind wir nicht alle Sünder? Bleiben wir des Guten an ihm eingedenk und vergessen wir das Schlimme.

Ich sitze noch immer vor meinem Schreibtisch und kann mich, offen gestanden, nur schwer von demselben trennen. Aber was soll ich noch weiter sagen? Ich höre Oscar bei seiner Ciselirarbeit hämmern und vergnüglich bei seiner Arbeit pfeifen. In einem andern Zimmer giebt Lucilla ihrer kleinen Tochter Clavierunterricht. Auf meinem Tisch liegt ein Brief von Frau Finch, er ist datirt aus einer unserer entfernten Colonien, in welcher Herr Finch, der es weit in der Welt gebracht hat, als Bischof residirt. Er kann die Eingebornen nach Herzenslust haranguiren, und die wunderlichen Eingebornen finden Gefallen daran. Jicks ist in ihrem Elemente unter den engeborenen Mitgliedern der Gemeinde ihres Vaters, und es steht zu fürchten, daß die wandernde Zigeunerin der Finchschen Familie schließlich einen Häuptling heirathen werde. Frau Finch sieht, der Leser mag es nun glauben oder nicht, wieder ihrer Niederkunft entgegen.

Lucilla’s ältester Junge ist eben hereingekommen, und steht neben meinem Schreibtisch. Er schaut mit seinen hellen blauen Augen zu mir auf, und in seinem runden rosigen Gesicht malt sich große Unzufriedenheit mit dem, was ich thue.

»Tante«, sagte er, »Du hast genug geschrieben, komm jetzt und spiele mit mir.«

Der Junge hat Recht. Ich muß mein Manuskript bei Seite legen und von dem Leser Abschied nehmen. Meine vortreffliche Laune ist durch den Gedanken an diesen Abschied etwas getrübt. Ob auch der Leser es bedauert? Das werde ich wohl nie erfahren. Nun, es fehlt mir nicht an Trost bei diesem Abbruch meiner Beziehungen zu dem Leser. Ich bin von guten Menschen umgeben, die mich lieben, und, wohlgemerkt, ich halte an meinen politischen Principien so fest wie je. Die Welt bekehrt sich immer mehr zu meinen Anschauungen, das Pratolungo-Programm, meine Freunde, nähert sich mit Riesenschritten seiner Verwirklichung. Hoch lebe die Republik! Lebt wohl!


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