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In der Dämmerstunde

Die Erzählung der französischen Gouvernante von Schwester Rose



Zweites Kapitel

Da Rosa nicht wusste, dass ihr Gatte früher nach Paris zurückkommen würde, als er bestimmt hatte, war sie von ihrer einsamen Wohnung zu ihrem Bruder gegangen, um den Abend mit ihm zuzubringen. Sie saßen noch lange eng bei einander, über Familienangelegenheiten plaudernd, als die Sonne schon lange untergegangen war und in dem Augenblick, als Lomaque sein Licht in dem Dienstzimmer auslöschte, zündete Rosa erst die Lampe in dem Zimmer ihres Bruders an. —

Die fünf traurigen Jahre, die an Rosa vorübergegangen waren, hatten ihr Äußeres stark verändert.« Ihr Gesicht hatte nicht mehr jene rundliche Form, die den Kinderwangen eigen ist, es war dünner und länger geworden und selbst die zarte Röte war geschwunden. Ihr Gang hatte die ehemalige Elastizität verloren und wenn sie ging, machte sich eine gewisse Schwäche sichtbar, die sie nötigte, oft stehen zu bleiben, um auszuruhen. Ihre mädchenhafte Schüchternheit war in unnatürliche Ängstlichkeit übergegangen. Von alle dem entschwundenen Zauber ihrer Persönlichkeit war nur ihre süße, zu Herzen dringende Stimme übrig geblieben, nur schien auch diese von einer gewissen Traurigkeit behaftet zu sein.

Ihren Bruder hatte die Zeit viel weniger verändert, wenngleich sein Gesicht auch Spuren des Grams trug.

Wir wissen es ja aus Erfahrung, die Schönheit, das Ideal der Welt, verweilt nicht lange in ein und demselben Tempel. — Als Rosa die Lampe nieder stellte und sie mit dem Schirme bedeckt hatte, fragte sie ihren Bruder: »Du glaubst also, mein guter Louis, dass unsere gefährliche Unternehmung einen guten Ausgang haben wird? Welche Erleichterung ist es für mich, wenn Du sagst, wir werden zu unserem Ziele gelangen!«

»Ich sagte nur, ich hoffe!« erwiderte ihr Bruder.

»Eben, Hoffnung ist ein großes Wort, von Dir ausgesprochen, in dieser entsetzlichen Zeit und dieser schrecklichen Stadt,« erwiderte Rosa. Sie hielt plötzlich inne, denn ihr Bruder hatte seine Hand warnend erhoben. Sie lauschten Beide mit verhaltenem Atem. Die Töne der Fußtritte, welche sie durch das geöffnete Fenster gehört hatten, waren nun schon vorüber; Alles war still und ruhig, ähnlich der Stille des Todes, der seine Fackel nun schon seit Monaten über das unglückliche Paris schwang. Es war ein Zeichen der Zeit, dass sogar das Hören von Fußtritten dazu geeignet schien, die Menschen in ihren friedlichen Familienunterhaltungen zu stören.

»Wann glaubst Du, Louis, dass ich meinem Mann unser Vorhaben mitteilen kann?« fragte Rosa mit flüsternder Stimme.

»Nicht jetzt, jetzt keine Silbe!« warnte Trudaine ernstlich, »sage ihm nichts früher davon, bis ich es Dir erlauben werde.«

»Ich werde unser Geheimnis heilig halten, mein Bruder,« antwortete die junge Frau.

»Wenn Du es mir sagst, so glaube ich Dir,« sagte Trudaine, »aber ich bitte Dich, sprechen wir jetzt von etwas Anderem. Diese Mauern könnten Ohren haben und die verschlossene Tür dort unten schützt uns vielleicht auch nicht vor Verrat« Bei diesen Worten blickte er scheu um sich. »Nach und nach komme ich aus Deine Idee, Rosa; ich glaube, dass mein neuer Diener ein sehr falsches Gesicht hat. Ich wünschte, ich wäre so vorsichtig gewesen, wie Du es mir geraten hast.«

»Hast Du bemerkt, dass er Deine Handlungen belauscht? Hat er überhaupt etwas Verdächtiges getan? « Ich bitte Dich, sage es mir, Louis!« bat Rosa.

»Still, still, meine Liebe, sprich nicht so laut, rege Dich nicht so auf! Nein, er hat nichts Verdächtiges sehen lassen.«

»Entferne ihn! Ich bitte Dich, entferne ihn, bevor es zu spät ist!« bat die Schwester.

»Um von ihm sofort denunziert zu sein!« ergänzte Louis Trudaine. »Du vergisst, dass Diener und Herren jetzt gleich sind. Ich darf nicht einmal sagen, dass er mein Diener ist; ich habe nur einen Bürger, den ich für seine Mühen und Arbeiten bezahle. — Alles was ich tun kann, ist, dass ich ihn abfasse, wenn er mir Warnungen überbringt. Doch, da haben wir wieder einen recht unangenehmen Gesprächsstoff, wechseln wir ihn wieder! Bitte, öffne dort einmal den Schubkasten! es liegt ein Buch darin, über welches ich Deine Ansicht hören möchte.«

Rosa nahm es heraus, es war eine Kopie von Corneille’s Cid, in blaues Leder gebunden. Rosa war entzückt, als sie hörte, ihr Bruder habe das Buch für sie gekauft, weil Corneille einer der Schriftsteller sei, der Niemand, selbst in dieser schrecklichen Zeit, kompromittieren könnte. »Du äußertest neulich, Rosa, dass Du nur wenig von unserem größten Dramatiker weißt,« sagte ihr Bruder. Ein frohes Lächeln, wie in früheren Tagen, zog Über das Gesicht der Schwester.

»Sieh nur,« fuhr Trudaine fort, »am Anfange eines jeden Actes sind hübsche Kupferstiche!« Als er seine Schwester so beschäftigt hatte, stand er auf, ging zum Fenster und hab den Vorhang in die Höhe. Er blickte auf die Straße. »Es ist nichts zu sehen, ich muss mich doch geirrt haben,« sagte er zu sich selbst und ging dann wieder zu dem Tische.

»Ich bin neugierig, ob mein Mann mich wird ins Theater gehen lassen, wenn der Cid gegeben wird?« sagte Rosa, noch immer in das Buch blickend.

»Nein!« schrie eine raue Stimme an der Tür, »nicht einmal, wenn Du mich auf den Knien darum bätest?«

Rosa blickte sich erschrocken um und sah ihren Mann auf der Türschwelle, welcher sie mit finsteren Blicken ansah. Er hatte seinen Hut aufbehalten und hielt seine Hände in den Taschen.

Der Diener Trudaine’s meldete ihn mit einem tückischen Lächeln und den Worten: »Bürger Danville besucht seine Frau, die Bürgerin Danville.«

Rosa sah ihren Bruder an, der einige Schritte zur Türe getan hatte. »Das ist wirklich eine Überraschung!« sagte sie. »Ist denn Etwas geschehen? Wir erwarteten Dich später.«

»Wie darfst Du es wagen, hierher zu gehen, nach dem was ich Dir gesagt habe?« fragte Danville in strengem Tone. Die arme Frau war so erschrocken, als wenn ihr Mann sie geschlagen hätte. — Trudaine war bleich geworden bei der Szene und ergriff fast unwillkürlich den Arm feiner zitternden Schwester, um sie zu einem Stuhl zu führen.

»Ich verbiete es Dir, Dich hier in diesem Hause aufzuhalten! Ich befehle, dass Du mit mir gehst! Hörst Du? Ich befehle es!«

Er näherte sich ihr, als er aber sah, mit welchen Blicken Trudaine ihn ansah, blieb er stehen. Rosa stellte sich schnell zwischen beide Männer.

»O Charles, Charles, ich bitte Dich, sei freundlich mit meinem Bruder, sei freundlich gegen mich! Ich habe Dir so Vieles mitzuteilen,« bat Rosa. Er wandte sich höhnisch lachend ab. — Als Rosa noch einmal zu sprechen versuchte, gab ihr der Bruder ein Zeichen, dass sie schweigen möge.

Danville hatte es gesehen und rief wütend: »Was, Ihr verständigt Euch in meiner Gegenwart durch Signale?« Mit diesen Worten blickte er sein unglückliches Weib wütend an, und als er das Buch in ihrer Hand erblickte, fragte er in demselben Tone: »Was ist das für ein Buch?«

» Eines der Corneille’schen Dramen,« antwortete Rosa, »Louis hat es mir geschenkt.«

»Gib es ihm zurück!« schrie er wütend, »Du darfst kein Geschenk von ihm annehmen. Das Gift des Spions dieses Hauses haftet daran! Gib es ihm zurück!« Da sie zögerte, riss er ihr das Buch aus der Hand, warf es an den Boden und trat mit den Füßen darauf.

»O Louis, Louis! bedenke doch!« bat Rosa. Trudaine war auf Danville zugeschritten, als dieser das Buch auf die Erde geworfen hatte, aber die junge Frau hielt ihn mit ihren Armen zurück. Sie hatte die brennende Röte auf dem Gesicht ihres Bruders richtig gedeutet.

»Nein, nein,« sagte sie und umfasste ihn enger,»tue jetzt nichts, nach den fünf Jahren ruhigen Ausharrens!«

Er machte sich sanft von ihr los.

»Du hast Recht, Liebe, ich habe mich wieder gefunden,« antwortete Trudaine und hob das Buch von dem Boden auf.

»Du hast einen sonderbaren Charakter,« sagte Danville mit nichtswürdigem Lächeln; »jeder andere Mann würde mich nach einer solchen Behandlung gefordert haben.«

Trudaine reinigte das Buch mit seinem Taschentuche und antwortete mit furchtbarem Ernst: »Wenn ich Dein Blut so leicht von meinem Gewissen tilgen könnte, wie die Flecke von diesem Buche, so solltest Du die nächste Stunde nicht mehr erleben! Rosa, Dir werde ich das Buch aufheben bis zu einer anderen Zeit,« setzte er hinzu.

»Ha! hat« lachte Danville, »sehr nicht so mutig Hoffnung auf die Zukunft, — und hüte Deine Zunge in meiner Gegenwart. Es wird eine Zeit kommen, wo Du mich um Hilfe bitten wirst. Verstehst Du mich?«

»Der Mann, welcher mir in diesen Tagen auf Tritt und Schritt folgte, war gewiss Danville’s Spion,« sagte sich Trudaine traurig, dann lauschte er, es ließen sich schnelle Schritte hören, die unter dem Fenster anhielten.

Danville blickte ängstlich um sich und dachte: »ich habe meine Rückkehr absichtlich beschleunigt, denn diese Verhaftung hätte ich um keinen Preis versäumen mögen,« und er blickte auf die Straße hinunter.

Die Sterne waren am Firmament, aber das Mondlicht fehlte, und so konnte er die Personen, die untere standen, nicht unterscheiden, und er zog den Kopf in das Zimmer zurück. Seine Frau saß auf einem Stuhle, noch von dem Schreck gefesselt; Trudaine trug eben das Buch in ein anderes Zimmer. Tiefstes Schweigen herrschte, als man Personen auf der Treppe hörte. Die Tür wurde leise geöffnet.

Lomaque erschien mit seinen Agenten in der Tür

»Gesundheit und Brüderlichkeit, Bürger Danville,« sagte Lomaque. »Wo ist Bürger Louis Trudaine?«

Rosa wollte sprechen, aber Trudaine’s Hand schloss ihr den Mund.

»Mein Name ist Trudaine,« antwortete er.

»Charles,« rief Rosa, »wer ist der Mann? Was will er?«

Er gab ihr keine Antwort.

»Louis Trudaine,« sagte Lomaque und zog dabei ein Papier aus seiner Tasche, »im Namen der Republik verhafte ich Sie!«

»Rette meinen Bruder, Charles,« rief Rosa, »rette ihn! Du bist der Vorgesetzte dieses Mannes hier, befehle ihm, das Zimmer zu verlassen.«

Danville machte ihre Hand lieblos von seinem Arme los.

»Lomaque tut nur seine Pflicht,« sagte er mit boshaftem Lächeln zu Trudaine gewendet. »Ja, er erfüllt nur seine Pflicht, nichts weiter! Sieh mich nur an, Trudaine, Du denkst, ich denunzierte Dich, ja, ich tat es, und ich bin stolz darauf, ich habe mich selbst von einem Feinde, den Staat aber von einem schlechten Bürger befreit. Du erinnerst Dich doch der geheimen Besuche in der Straße von Clery?«

Sein Weib war vor Entsetzen fast erstarrt, aber sie sagte doch: »komm, ich muss Dich sprechen,« und mit fast männlicher Kraft zog sie ihren Mann in die Ecke des Zimmers und mit totenbleichen Wangen hob sie sich auf die Fußspitzen und wollte ihm eben Etwas zuflüstern, als Trudaine rief: »Rosa, wenn Du ein Wort sprichst, bin ich verloren!« Sie verließ ihren Mann und blickte ihren Bruder entsetzt an.

»Rosa,« fuhr Trudaine fort, »wenn Du mich liebst, so schweige.«

Sie warf sich an den Hals ihres Bruders und weinte laut.

Danville wandte sich kalt zu dem Polizei-Agenten und sagte: »Führen Sie den Gefangenen ab! Sie haben Ihre Schuldigkeit getan«

»Nur erst halb,« entgegnete Lomaque, ihn aufmerksam ansehend. »Rosa Danville ——«

»Mein Weib? Was wollen Sie mit ihr?« rief Danville.

»Rosa Danville,« fuhr Lomaque höchst kaltblütig fort, »Sie sind mit Louis Trudaine gleichzeitig verhaftet!«

Rosa hob ihren Kopf von der Brust ihres Bruders empor und dieser flüsterte ihr zu:

»Auch Du, Rosa, o mein Gott, darauf war ich nicht vorbereitet.«

»Sie hörte diese Worte, trocknete ihre Tränen, küsste ihn und sagte:

»Ich bin erfreut darüber, Louis, wir bleiben zusammen. Ich bin erfreut!«

Danville sah Lomaque ungläubig an und sagte: »Unmöglich! Hier muss ein Missverständnis obwalten, denn ich habe ja mein Weib nicht denunziert?«

»Still,« antwortete Lomaque, »still, Bürger, achtet die Gesetze der Republik!« —

»Sie gemeiner Kerl! zeigen Sie mir doch erst den Verhaftbefehl,« sagte Danville. »Wer hat es gewagt, mein eigenes Weib zu denunzieren?«

»Sie selbst,« entgegnete Lomaque, »Sie, dem ich den gemeinen Kerl zurückgebe. Sie verdächtigten Ihren Schwager, aber auch mit ihm gleichzeitig Ihre eigene Frau. Ist Trudaine schuldig, so ist Ihre Frau es ebenfalls. Wir wissen das, darum wird sie verhaftet.«

»Ich widersetze mich diesem Befehl,« sagte Danville, »denn ich bin hier der Vorgesetzte! Wer wagt es, mir zu widersprechen?«

Der Chef der Agenten antwortete nicht, sondern ging an das Fenster, wo sich neues Geräusch Vernehmen ließ.

»Hören Sie?« rief Lomaque aus und zeigte auf die Straße.

Viele menschliche Tritte ließen sich hören und man vernahm den Gesang der Marseillaise, dann nahten sich Fackeln.

»Hören und sehen Sie dies Alles?« fragte Lomaque, »nun, so Respektieren Sie auch die Befehle des Mannes, der das Schicksal von ganz Frankreich in seinen mächtigen Händen hält. Hut ab, Bürger Danville! Robespierre ist auf der Straße, man leuchtet ihm bis zu dem Jakobiner-Club voran! Sie fragen, wer sich Ihnen zu widersetzen wagt? Ihr Vorgesetzter und der meinige, der Mann, von dem ein Federzug genügt, um unsere beiden Köpfe unter die Guillotine zu bringen. Soll ich ihn rufen, wenn er hier vorüber kommt? Soll ich ihm sagen, der Oberaufseher Danville widersetze sich seinen Befehlen? Soll ich? Soll ich?« Mit diesen Worten breitete Lomaque den Verhaftbefehl vor den Augen Danville’s aus und zeigte ihm die Unterschrift mit dem Knopf seines Stockes. Die Erinnerung an die Guillotine hatte Danville bescheidener gemacht. — Er sah die Unterschrift an, während Trudaine mit verschränkten Armen zugehört hatte und seiner Schwester fortwährend Mut einflößte. Dann sagte er zu Lomaque: »Bürger, wir sind bereit, tut Eure Pflicht!«

Die Musik auf der Straße wurde immer lauter, das Fackellicht immer heller, die Menschenmenge war gerade unter den Fenstern des Hauses. Diesen Lärm benutzte Lomaque und flüsterte Trudaine zu: »Ich habe den Hochzeitabend und die Bank am Seine-Ufer nicht vergessen!« Noch ehe Trudaine antworten konnte, hatte der alte Mann Rosa’s Hut und Mantel genommen, um es ihr zu geben.

Danville stand stumm und zitternd da, als er die Zurüstungen zu dem Abführen sah; er hatte nur ein oder zwei Worte leise, sehr leise zu seiner Frau gesprochen.

»Die Möbel und Bettstücke sind alle fest versiegelt,« meldete Magloire an Lomaque, welcher ihm zuwinkte und befahl, dass die Agenten sich in Bereitschaft halten möchten.

»Alles in Ordnung!« meldete der Agent zum zweiten Male; diesmal musste er fast schreien, sonst wäre er nicht verstanden worden, so tobte die Menge, welche Robespierre begleitete, und die nun gerade an dem Hause vorüberzog. Das Fackellicht erleuchtete hell das Zimmer, als Lomaque eben den Befehl aussprach:

»In das Gefängnis von Sankt Lazarus!«


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