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In der Dämmerstunde

Die Erzählung des Professors von der gelben Maske



Drittes Kapitel

Aus dem Atelier begab sich Pater Rocco in seine Wohnung, die dicht bei der Kirche war. Dort angekommen nahm er aus seinem Schranke etwas kleines Silbergeld, prüfte dann eine Liste, auf welcher Namen verzeichnet standen, und steckte dann das Geld, ein kleines Tintenfässchen, Papier und Federn in die Tasche und ging wieder fort.

Er richtete seine Schritte zu dem ärmsten Teil in seiner Nachbarschaft und trat dann in verschiedene elende Hütten, wo ihn die Bewohner ehrfurchtsvoll empfingen. Die Weiber küssten seine Hände mit mehr Ehrfurcht, als wie sie die des größten Herrschers von Europa geküsst haben würden. Der Priester setzte sich an das schmutzige Lager ekelhafter Kranker und spendete sein Geld den Armen, Alten und Dürftigen, begleitet von freundlichen Worten.

Den Kranken verschrieb er Heilmittel und ließ das Geld für dieselben zurück.

Als er die Stätten des Elends verließ, folgten ihm seine dankbaren Pfarrkinder, bis er ihnen freundlich umzukehren riet.

Von dort begab er sich nach Campo Santo und als er zu dem Hause kam, wo Nanina wohnte, stand er gedankenvoll still. Er stieg die Treppen hinan und sah durch die Türspalte, wie die kleine Biondella ihr Abendbrot, bestehend in Brot und Trauben, verzehrte. Scarammucia lag nicht weit davon mit geöffneter Schnauze und erwartete die Bissen Brot, welche die Kleine ihm zuwarf.

Was die ältere Schwester machte, sah der Priester nicht, denn der Hund fing an zu bellen und er durfte nicht länger lauschen.

Nanina ging schnell zu sehen, wer es sei, der zu ihnen wollte, konnte aber nicht sprechen, und Biondella sprang auf und rief:

»Ich danke, Pater Rocco, dass Sie mir soviel Geld geschickt haben! Dort stehen schon die fertigen Decken in der Ecke. Nanina behauptet, Sie dürften sie nicht selbst nach Hause tragen; ich weiß, wo Sie wohnen, darf ich sie Ihnen nicht nach Hause tragen? Sehen Sie nur, Pater Rocco, wie leicht die Decken sind,« sagte das Kind, »ich könnte noch einmal so viel tragen.«

»Kann die Kleine allein so weit gehen?« fragte der Priester. »Ich möchte Dich gern allein sprechen, Nanina, und hätte dazu Gelegenheit, wenn sie fort sein wird.«

»Ja, Pater Rocco,« sagte Nanina mit zitternder Stimme, »das Kind geht oft noch weiter.«

»So gehe denn, mein Kind,« sagte der Priester zu Biondella, »aber komme gleich zurück.«

Das Kind hatte die leichte Bürde auf den Kopf geworfen und ging nun, von Scarammucia begleitet, mit freudeglänzenden Augen fort.

Pater Rocco schloss die Tür und setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer, während Nanina auf Biondellas Holzbänkchen Platz nahm.

»Glaubst Du, mein Kind,« fing der Priester an, »dass ich stets Dein Freund gewesen bin und es nur gut mit Dir meine?«

»Mein bester und einziger Freund!« erwiderte Nanina.

»So höre mich an, und wenn ich Dich auch betrüben sollte, so denke, es geschieht zu Deinem Besten. So beantworte mir die Frage, war der Schüler meines Bruders, der Signor Fabio, heute bei Dir?«

Nanina sprang bei dieser Frage erschrocken empor. »Bleibe sitzen, mein Kind, ich tadele Dich nicht, ich bin nur gekommen, Dir zu sagen, was Du in der Zukunft zu tun hast.«

Er ergriff ihre zitternden Hände. —

»Ich frage Dich nicht, was er mit Dir sprach,« fuhr der Priester fort, »weil Du mir das gewiss nicht gern anvertrauen möchtest, aber ich weiß, dass Deine Jugend und Schönheit einen mächtigen Eindruck auf ihn ausgeübt haben. Ich gehe darüber fort und teile Dir nur mit, warum ich gekommen bin. Doch, Nanina, mein Kind, waffne Dich mit Deinem ganzen Mute und versprich mir, dass Du Fabio nicht mehr wiedersehen willst.«

Nanina drehte sich plötzlich zu ihm und fragte: »Nie mehr?«

»Du bist jung und unschuldig,« fuhr Rocco fort, »Hast Du nie an den Unterschied gedacht, der zwischen Dir und Signor Fabio besteht? Sicher sagtest Du Dir schon, dass er zu den Reichen und Mächtigen dieser Erde gehöre, Du aber zu den Geringen und Armen gehörst?«

Naninas Hand fiel auf die Knie des Priesters und ihr Kopf senkte sich darauf und sie weinte bitterlich.

»Dachtest Du schon daran, Nanina?«

»Oft, sehr oft! Ich durch-weinte deshalb manche Nacht, und wenn er über meine geisterbleiche Farbe sprach, so sagte ich ihm, dass ich trauere und weine. —«

»Was sagte er Dir darauf?«

Nanina zögerte.

Der Priester nahm ihren Kopf in seine Hände und sagte: »Vertraue Dich mir an, mein Kind. Betrachte mich als Vater und Freund. Sprich doch! Sprich!«

»Er sagte, ich sei eine gebotene Dame, und was mir fehle, könnte ich noch erlernen, wenn ich geduldig sein würde. Wenn alle adligen Damen Pisas sich an der einen Seite aufstellten, damit er eine von ihnen erwähle, an der anderen aber nur die kleine Nanina, so würde er auf diese zeigen und sprechen »Du sollst mein Weib werden!« Er sagte, Liebe frage nicht nach Rang. Er ist so gut, dass ich stets glaube, das Herz wird mir zerspringen, wenn er so spricht. Meine kleine Schwester liebt ihn auch herzlich und sitzt oft auf seinem Schoße, selbst unser treuer Pudel liebt ihn, so oft er kommt, läuft er ihm freudig entgegen. O Pater Rocco!«

Mit diesen Worten weinte das junge Mädchen, auf die Knie des Priesters mit ihrem Kopfe gestützt weiter.

Rocco lächelte und fragte: »Glaubst Du, dass das Alles wahr ist, was er zu Dir sagt?«

Nanina sah den Priester verwundert an. — Dann sagte sie:

»Eher wollte ich hier auf der Stelle sterben, als eines seiner Worte bezweifeln.«

»Ich hielt das Mädchen für weniger energisch,« sagte Rocco zu sich selbst. —

»Nun, ich zweifle ja auch nicht an der Wahrheit seiner Worte,« fuhr der Priester fort. »Nehmen wir einmal an, Du hättest Dir nun Alles Dasjenige angeeignet, was eine Dame wissen muss, die Fabios Frau werden will; nehmen wir an, er hätte Dich schon geheiratet. Würdest Du und er dann glücklich sein?«

»Er hat zwar weder Vater noch Mutter, die seine Handlungen tadeln könnten, aber er hat Freunde, Nanina, die Deinen Wert nicht zu schätzen wissen, diese würden Deinen Mann mit seiner Wahl necken. Er würde gewiss nicht die Geduld besitzen, diese Neckereien ohne Unwillen anzuhören und würde sich unglücklich fühlen. Du, mein Kind, würdest von den Frauen aus dem Adel verächtlich behandelt werden. Alles dieses würdet ihr zu tragen bekommen. Er hat mit der Welt verkehrt seit seiner Geburt, weil er mitten in Glanz und Reichtum geboren wurde, er muss auch weiter leben mit dieser schnöden Welt! Schade! Ich weiß, Du liebst ihn!«

Sie weinte und sagte: »Ja, ja, über Alles!«

»Du liebst ihn, aber Deine Liebe würde ihn nicht für das entschädigen, was er Deinetwegen aufgeben müsste. Denke, Nanina, an den ersten Tag, an welchem er seine Heirat bereuen würde! — Wir sind ja nicht stets Herr unserer Gefühle. Mein Kind, mein armes, unwissendes Kind, Du kennst diese böse, strenge Welt noch nichts Lass Dich warnen!«

Nanina streckte ihre Hände verzweiflungsvoll nach dem Priester aus.

»O, Pater Rocco, warum sagen Sie mir das Alles!« rief sie aus.

»Weil ich es Dir lieber zu früh, als zu spät sagen wollte. Bringe das Opfer der Entsagung, aus Liebe zu Fabio.«

»Ich würde für sein Wohl sterben!« sagte das Mädchen.

»So bringe ein kleines Opfer und verlasse morgen früh Pisa!«

»Pisa verlassen?« rief Nanina aus.

»Höre auf mich! Man sagt mir, Du wüsstest nicht gut mit dem Nähen beschied. Du sollst es jetzt erlernen. Ich selbst will Dich und Biondella morgen nach Florenz führen.«

»Ich versprach aber Fabio, dass ich um zehn Uhr im Atelier sein wollte, wie kann ich? —«

Sie fühlte, dass sie nicht weiter zu sprechen vermochte.

»Ich will Dich und Deine Schwester selbst nach Florenz bringen,« fuhr der Priester fort, ohne aus das zu achten, was Nanina gesprochen hatte. »Ich werde Dich zu einer Dame bringen, die Dir und Deiner Schwester Mutter sein wird. Sie wird Euch so viel lehren, dass Ihr beide bald unabhängig werdet leben können. Nach drei Monaten wirst Du dann nach Pisa zurückkehren. Drei Monate sind ja keine lange Verbannung.«

»Fabio! Fabio!« rief das weinende Mädchen.

»Es geschieht ja zu seinem Glück,« antwortete der Priester.

»O, was wird er denken, wenn ich so fort gehe. Könnte ich doch nur schreiben, ich wollte Fabio einen Brief senden.«

»Ich werde ihm das Alles erklären,« besänftigte Pater Rocco.

»Ach, ich kann ihn nicht verlassen! Ich kann es nicht!«

»Du sollst auch noch bis morgen um neun Uhr Bedenkzeit haben, Nanina,« sagte der Priester, »dann gib mir ein Zeichen mit Deiner weißen Mantille von Deinem Fenster aus, ich weiß dann dass Du entschlossen bist, Fabio durch Deine Entsagung zu nützen, und Dich selbst vor Kummer zu bewahren.«

Der Priester ging. —

Nicht weit von dem Hause begegneten ihm Biondella und der Hund. Das kleine Mädchen blieb stehen und berichtete, dass sie die Decken abgegeben habe. Der Priester nickte ihr freundlich zu und ging weiter.

Gegen neun Uhr am andern Morgen, war Pater Rocco schon in der Straße, wo die Schwestern wohnten. Aus seinem Wege war ihm ein Hund begegnet, der auf eine elegant gekleidete Dame zu lief und ihr heulend die Zähne zeigte. Die Dame ging indes mutig an dem Tiere vorbei. Pater Rocco betrachtete sie neugierig als sie an ihm vorüber kam. Sie war hübsch; er bewunderte ihren Mut.

»Ich kenne das Tier,« sagte er, »aber wer mag die Dame sein?«

Der Hund war Scarammucia, der von seinem Morgenstreifzuge heimkehrte; die Dame, Brigitta, die sich zu Luca Lomi begab. —

Der Priester blicke urverwandt nach Nanina’s kleinem Fenster, dasselbe war geöffnet, aber weder die eine noch die andere Schwester zeigte sich. Es schlug neun. Noch immer kein Zeichen! — So vergingen noch einige Minuten. Sie zögert lange, sagte der Priester. Als diese Worte ausgesprochen waren, flatterte die weiße Mantilla aus dem Fenster.


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