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Gesetz und Frau



Fünftes Kapitel.

Gleninch.

Ich fand Benjamin im Hotel, eine illustrirte Zeitung in der Hand, und bemüht einen Rebus zu rathen.

Mein alter Freund war nämlich ein großer Liebhaber von diesen Bilderräthseln und oft so in dieselben vertieft daß es, bei gewöhnlichen Gelegenheiten, zu den größten Schwierigkeiten gehörte, seine Aufmerksamkeit davon abzulenken.

In diesem Falle aber überwog das Interesse, das Resultat der Unterredung mit dem Advocaten zu hören, seine alte Gewohnheit.

Er legte die Zeitung schnell aus der Hand und fragte mich, was es Neues gäbe.

Ich erzählte es ihm, indem ich selbstverständlich das Vertrauen, welches Mr. Playmore in mich gesetzt, in keiner Weise mißbrauchte. Der entsetzliche Verdacht gegen Miserrimus Dexter kam nicht über meine Lippen.

»Aha!« sagte Benjamin schmunzelnd.

»Der Advocat hat also dieselbe Ansicht wie ich. Wenn Sie mir nicht geglaubt haben, werden Sie hoffentlich ihm glauben.«

»Es thut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen,« antwortete ich. »Leider ist es mir nicht gegeben, von meinen Freunden Rath annehmen zu können. Ich möchte so gern ein leicht lenkbares, vernünftiges Frauenzimmer sein. Aber es lebt etwas in mir, das sich nicht belehren lassen will. Ich fürchte, daß ich noch einmal, Mr. Dexter gehen werde.«

Jetzt verlor selbst Benjamin seine Geduld mit mir.

»Ja, ja,« sagte der alte Mann. »Sie waren schon als Kind nicht zu regieren, und mit den zunehmenden Jahren wird man nicht weicher. Wenn wir doch lieber in London geblieben wären.«

»Ich bereue die Fahrt nicht,« entgegnete ich. »Da wir nun einmal hier sind, wollen wir auch in Augenschein nehmen, was ich sonst wohl nie zu sehen bekommen hätte. Meines Gatten Landhaus ist nur wenige Meilen entfernt, morgen wollen wir nach Gleninch fahren.«

»Wo die arme Lady vergiftet wurde?« fragte Benjamin mit einem mißbilligenden Blick.

»Ja, ich muß das Zimmer sehen, in dem sie gestorben ist. Ich Muß das ganze Haus in Augenschein nehmen.«

Benjamin ließ die Hände resignirt in den Schooß sinken.

»Ich verstehe die neue Generation nicht mehr,« sagte er traurig, »aber in das Unvermeidliche muß der Mensch sich fügen.«

Ich theilte Mr. Playmore meinen beabsichtigten Besuch in Gleninch brieflich mit. Das Haus, in welchem sich die entsetzliche Tragödie abgespielt, welche meines Mannes Leben vergiftet, flößte mir das größte, wenn auch entsetzliche Interesse ein.

Auf meinen Brief an Mr. Playmore erhielt ich die freundlichste Antwort: Wenn ich bis Nachmittag warten könnte, wollte er sein Bureau schließen und mich in seiner eigenen Equipage hinausfahren.

Die Halsstarrigkeit, welche mir Benjamin sonst immer zum Vorwurf machte, zeigte sich jetzt ebenfalls bei dem sonst so ruhigen Mann. Er hatte sich schon im Stillen vorgenommen, nicht mit nach Gleninch zu gehen. Er verlor aber kein Wort über die Angelegenheit. Erst, als Mr. Playmore's Wagen vor der Thüre hielt, erinnerte sich Benjamin eines alten Freundes, den er besuchen müsse, und bat mich, ihn für den Nachmittag entschuldigen zu wollen.

So fuhren wir also ohne ihn ab. Der Weg bis zu unserem Ziele bot wenig des Interessanten. Der Park von Gleninch war, von einem englischen Auge beurtheilt, wild und schlecht gehalten. Das Haus war in den letzten 70 oder 80 Jahren gebaut. Von außen machte es den Eindruck eines Gefängnisses. Die inneren Raume drückten das Gemüth, wie es alle Zimmer thun, die lange nicht bewohnt gewesen. Seit der Beendigung des Prozesses, also seit beinahe Jahren, hatte das Haus leer gestanden. Nur ein einziges Zimmer war von einem alten Ehepaar bewohnt, welches die Schlüssel hatte. Der Mann schüttelte schweigend den Kopf, als Mr. Playmore ihm befahl, die Thüren auszuschließen und das Tageslicht in die dunklen Räume fließen zu lassen. In der Bibliothek und der Gemälde-Gallerie brannte Kaminfeuer damit Bücher und Bilder nicht durch die Feuchtigkeit leiden sollten. Zu dem oberen Stockwerke emporsteigend, sah ich die Zimmer, welche mir schon durch die Lesung des Prozesses bekannt geworden waren. Ich besah das kleine Studirzimmer, welches mit dem Schlafgemache in Verbindung stand. Ich warf einen Blick in das Zimmer, in welchem die unglückliche Herrin von Gleninch gestorben war. Das Bett stand noch an seinem Platz, ebenso das Sopha, auf dem die Wärterin geschlafen. Da war auch der Tisch, auf welchem Mrs. Macallan’s einfaches Mahl gestanden und auf dem sie ihre Gedichte niedergeschrieben. Die dicke, dumpfige Luft fiel mir schwer auf die Brust, als wenn sie noch das Entsetzen jenen längst vergangenen Tage athmete. Da war auch das Schlafzimmer, an dessen Thüre Mr. Dexter gehorcht, dort war der Corridor, den er entlang gekrochen, um der vermeintlichen Mrs. Beanly zu folgen. Wohin ich auch blickte, schien mir eine Stimme entgegen zu rufen: »Wir kennen das Geheimniß des Giftmordes, aber wir verrathen es nicht.«

Ich konnte den Aufenthalt in dem traurigen Hause nicht länger aushalten und sehnte mich wieder nach frischer Luft. Mein Begleiter verstand mich und führte mich hinaus.

Im grauen Abenddunkel schlenderten wir nach dem verlassenen Garten und bahnten uns den Weg durch das verwilderte Gebüsch. Hinter dem Kuchengarten, in welchem nur ein kleiner Fleck für das alte Ehepaar bebaut war, kamen wir auf einen unbebauten Platz, der auf drei Seiten mit Bäumen bepflanzt war. In einer entfernten Ecke dieses Platzes bemerkten wir einen Gegenstand, den man an jedem anderen Orte eher vermutet hatte, denn hier. Es war ein Staub- und Schutthaufen. Der große Umfang desselben und die seltsame Stelle, die man ihm angewiesen, erregten flüchtig meine Neugier. Ich blieb stehen und blickte auf Staub und Asche, auf zerbrochenes Geschirr und altes Eisen. Dort lag ein zerrissener Hut und hier die halb verrotteten Fragmente alter Stiefel, dazwischen Papierstücke und Lumpen.

Mr. Playmore bemerkte das Interesse, welches ich dem Schutthaufen zuwandte.

»Ja dem sauberen England,« sagte er, würde man diese Augenbeleidigung längst hinweggeräumt haben. Wir Schotten sagen aber, so lange der Schmutz so weit entfernt ist, daß er nicht bis zum Hause riecht, braucht man seine Ruhe nicht zu stören. Alles, was Sie hier in Gleninch sehen, meine liebe Mrs. Macallan, ruft nach einer neuen Herrin. Wer weiß, wie bald Sie hier als Königin einziehen werden.«

»Ich werde diesen Ort nie wiedersehen,« entgegnete ich.

Niemals ist ein langer Tag,« sagte mein Begleiter, »und die Zeit birgt für jeden von uns Ueberraschungen in ihrem Schooße.«

Wir gingen schweigend durch den Park zurück und bestiegen den Wagen. Auf unserer Heimfahrt nach Edinburgh vermied Mr. Playmore jede fernere Unterhaltung über Gleninch. Er sah, daß mein Gemüth bedrückt war und versuchte mich zu erheitern.

Als wir kurz vor der Stadt waren, fragte er mich, wann ich nach London zurückkehren wolle.

»Morgen mit dem Frühzuge,« antwortete ich.

»Und ihre Pläne? Sind sie dieselben geblieben?«

»Ich fürchte, ja, Mr. Playmore. Ich bin vielleicht noch zu jung, um klug sein zu können, und so vermag ich denn nur, Um Ihre Nachsicht zu bitten.«

Er lächelte und streichelte meine Hand, dann wurde er plötzlich wieder sehr ernst:

»Dies ist also das letzte Mal, daß ich vor Ihrer Abreise mit Ihnen spreche,« sagte er. »Darf ich ganz offen sein?«

»Ich bitte darum, Mr. Playmore.«

»Es ist nur wenig, was ich zu sagen habe, und dieses Wenige beginnt mit einem Worte der Vorsicht. Gehen Sie nie wieder allein zu Mr. Dexter, sondern nehmen Sie Jemand zur Begleitung mit.«

»Halten Sie die Besuche denn für gefährlich?«

»Nicht gerade im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Ich denke nur, daß ein männlicher Begleiter besser geeignet sei, Miserrimus in seinen Schranken zu erhalten. Ferner, wenn ein unbedachtes Wort seinen Lippen entschlüpfen sollte, haben Sie gleich einen Zeugen bei sich. Der Umstand ist nicht zu unterschätzen. Schließlich seien Sie auf Ihrer Hut, wenn er die Unterhaltung wieder auf Mrs. Beanly lenkt.«

»Auf meiner Hut — gegen wen?«

»Die Praxis, meine liebe Mrs. Macallan, hat mir ein Auge für kleine menschliche Schwachheiten gegeben. Sie besitzen einen stark ausgeprägten Hang, auf Mrs. Beanly eifersüchtig zu sein. Wie leicht können Sie Sich also etwas vergeben, wie leicht können Sie in Ihren Beobachtungen beeinträchtigt werden, wenn Mr. Dexter jene Dame benutzt, um Sie irre zu führen. Spreche ich auch nicht zu frei?«

»Gewiß nicht. Es ist sehr entwürdigend für mich, auf Mrs. Beanly eifersüchtig zu sein. Meine Eitelkeit leidet bitter darunter Sie haben vollständig Recht.«

»Es freut mich, daß wir wenigstens in einem Punkte übereinstimmen,« entgegnete er trocken. »Deshalb verzweifle ich auch noch nicht, Sie in jener ernsten Sache überzeugen zu können.«

»Und, wenn Sie mir keine Hindernisse in den Weg legen, sehe ich mich sogar nach Dexter als einen Bundesgenossen um.«

Diese Aeußerung erregte meine Neugier, weil sie ein Räthsel in sich verschloß.

»Sie äußerten vorhin den Vorsatz, Mr. Dexter Alles wiederholen zu wollen, was Ihnen Lady Clarinda über Mrs. Beanly gesagt,« fuhr er fort. »Und Sie gaben Sich dem Glauben hin, daß er darüber ebenso in Erstaunen gerathen würde, als es bei Ihnen selbst der Fall war. Ich möchte Ihnen eine Prophezeihnng aussprechen, indem ich Ihnen sage, daß Dexter Sie enttäuschen wird. Weit entfernt davon, Ihnen sein Staunen auszudrücken, wird er Ihnen mit frecher Stirn erzählen, daß Sie durch Angabe falscher Thatsachen dupirt worden seien, welche von Mrs. Beanly selbst, im Interesse der Verdeckung ihrer Schuld, in Umlauf gesetzt wären. Nun, antworten Sie mir, wenn er in dieser Weise wirklich den Versuch macht, unbegründeten Verdacht auf eine schuldlose Dame zu werfen, wird das Ihre Ansicht über ihn erschüttern?«

»Es wird das Vertrauen in meine eigene Meinung gänzlich zerstören, Mr. Playmore.«

»Sehr schön. Ich sehe einer Benachrichtigung Ihrerseits entgegen und glaube, daß wir bereits am Ende der Woche vollständig mit einander einverstanden sein werden. Vor allen Dingen reinen Mund gehalten. Mein Name muß ihm gegenüber ungenannt bleiben. Und damit Gott befohlen. Reisen Sie glücklich!«

Mit diesen Abschiedsworten brachte er mich vor mein Hotel. Dann rollte sein Wagen davon.

Mir schauderte noch die Haut, wenn ich daran dachte, welch’ entsetzliche Meinung mir dieser sonst so liebenswürdige Mann beibringen wollte.


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