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Zwei Schicksalswege

Fünfzehntes Kapitel

Das Hindernis überwindet mich

Wie lange habe ich im Wagen vor Frau van Brandts Wohnung gewartet? Meinem Gefühl nach war es ein halbes Menschenalter, meiner Uhr nach nur eine halbe Stunde.

Ehe meine Mutter die Lippen öffnete, war meine Hoffnung auf einen glücklichen Erfolg ihres Zwiegesprächs mit Frau van Brandt erloschen, denn ich sah ihr bei ihrer Umkehr auf den ersten Blick an, dass das Hindernis, das zwischen mir und dem heißesten Wunsche meines Lebens stand, für meine Kraft unüberwindlich war.

»Sage mir das Schlimmste und sage es gleich,« sagte ich, als wir von dem Hause abfuhren.

»Sie bat mich selbst, dass ich es Dir in derselben Weise sagen möchte, George,« sagte meine Mutter traurig, »wie sie es mir gesagt hat. »Wir müssen ihn enttäuschen,« sagte sie, »aber nicht wahr, wir wollen es so sanft als möglich tun.« Nach dieser Einleitung erzählte sie mir die schmerzliche Geschichte, die Du schon kennst - die Geschichte ihrer Verheiratung und ging dann auf Euer Zusammentreffen in Edinburgh und die Umstände über, die sie veranlassen ihr jetziges Leben zu führen. Diesen letzten Teil ihrer Geschichte bat sie mich Dir besonders zu wiederholen, fühlst Du Dich augenblicklich fähig mich anzuhören oder willst Du warten?«

»Lass es mich gleich hören, Mutter, und bediene Dich so viel als möglich ihrer eigenen Worte.«

»Ich will Dir Alles, was sie mir sagte, so getreu als möglich wiederholen, lieber Sohn. Nachdem sie von ihres Vaters Tode gesprochen hatte, sagte sie, dass sie nur noch zwei Verwandte besaß: »Ich habe eine verheiratete Tante in Glasgow und eine verheiratete Tante in London,« das waren ihre Worte. »Als ich Edinburg verließ, ging ich zu der Tante nach London, die leider mit meinem Vater nicht in freundschaftlichen Beziehungen gestanden hatte, da sie sich von meinem Vater zurückgesetzt glaubte. Sein Tod hatte sie gegen ihn, wie gegen mich milder gemacht, so dass sie mich freundlich empfing und mir eine Stelle in einem Laden verschaffte, die ich drei Monate lang behielt, dann aber aufgeben musste.«

Meine Mutter schwieg. Mir fiel gleich die seltsame Nachschrift ein, die ich auf Frau van Brandts Wunsch jenem Empehlungsbrief hinzufügen musste, den ich in dem Gasthause in Edinburgh für sie schrieb. Damals wollte sie auch nur für drei Monate eine Versorgung.

»Weshalb musste sie ihre Stellung verlassen?« fragte ich.

»Dieselbe Frage legte ich ihr vor,« erwiderte meine Mutter, »sie hat sie mir aber nicht beantwortet, sondern wechselte die Farbe und sah verlegen aus. »Das will ich Ihnen nachher sagen, Madame,« sagte sie, »lassen Sie mich jetzt erst fortfahren. Meine Tante zürnte mir, dass ich die Stellung aufgegeben hatte und zürnte noch mehr, als sie meinen Grund dafür hörte, weil sie meinte, dass ich die Pflicht gehabt hätte, gleich ganz aufrichtig gegen sie zu sein. Wir schieden kalt von einander. Zum Glück hatte ich etwas Geld von meinem Gehalt erspart und so lange das reichte, ging es mir ganz gut, als es aber aufgezehrt war und ich mich nach einer neuen Stellung umsah, gelang es mir nicht, eine zu finden. Meine Tante versicherte mich, und sie sprach die Wahrheit, dass meines Onkels Einkommen grade nur ausreicht, um seine Familie zu erhalten, dass sie also nichts für mich tun könne und ich selbst war unfähig für mich zu sorgen. Den Brief, den ich an meine Tante nach Glasgow schrieb, ließ diese unbeantwortet. Ich stand dem Hungertode gegenüber, als ich eines Tages in einer Zeitung einen Aufruf fand, den Herr van Brandt an mich richtete. Er beschwor mich, ihm zu schreiben, da sein Leben ohne mich zu öde und leer wäre und gelobte mir feierlich, dass nichts wieder meine Ruhe stören sollte, wenn ich zu ihm zurückkehrte. Hätte ich nur an mich zu denken brauchen, so hätte ich lieber mein Brot auf den Straßen erbettelt, als dass ich zu ihm zurückgekehrt wäre -«

Hier unterbrach ich die Erzählung, indem ich sagte:

»Aber für wen sonst musste sie Rücksicht nehmen?«

»Ahnst Du in der Tat nicht, George, worauf sie hindeutete, als sie diese Worte sprach?« erwiderte meine Mutter.

Ich beachtete diese Frage nicht, denn meine Gedanken weilten mit großer Bitterkeit bei van Brandt und seinem Aufruf. »Natürlich beantwortete sie also den Aufruf?« fragte ich.

»Sie sah Herrn van Brandt wieder,« fuhr meine Mutter fort, »beschrieb mir aber das Begegnen mit ihm nicht näher. »Er rief mir ins Gedächtnis,« sagte sie, »dass die Frau, die ihn zu jener Heirat verleitet hatte, unheilbar dem Trunke ergeben war und er also unmöglich je wieder mit ihr zusammen leben konnte. Aber sie lebte noch und hatte das Recht sich seine Frau zu nennen. Ich will mich nicht entschuldigen, dass ich unter diesen Umständen zu ihm zurückkehrte, aber ich wusste in meiner damaligen Lage keinen andern Ausweg und will Sie nicht unnütz durch meine Schilderung dessen, was ich damals litt und noch leide, aufregen. Ich bin verloren. Machen Sie sich keine Sorge um ihres Sohnes willen, Madame, bis an mein Lebensende werde ich stolz darauf sein, dass er mir die Ehre und das Glück antrug, sein Weib zu werden - aber ich werde auch nie vergessen, was ich ihm und was ich Ihnen schuldig bin. Ich werde Ihren Sohn nicht wiedersehn, aber Eines bleibt mir noch zu tun: ich muss ihn überzeugen, dass unsere Heirat unmöglich ist. Sie sind Mutter und werden begreifen, weshalb ich lieber Ihnen als Ihrem Sohne enthülle, welches Hindernis unsere Verbindung unmöglich macht.« Sie erhob sich bei diesen Worten und öffnete die Flügeltüren, die von dem Empfangszimmer in ein Hinterzimmer führten. Nach wenigen Augenblicken kehrte sie zurück.«

Auf dem Gipfel ihrer Erzählung angelangt, hielt meine Mutter inne. Fürchtete sie sich, weiter zu sprechen oder hielt sie es für überflüssig mehr zu sagen?

»Nun,« sagte ich.

»Muss ich es Dir wirklich sagen, George? Errätst Du selbst jetzt nicht, wie es endete?«

Ich hatte aus doppelten Gründen wirklich nichts erraten, einmal, weil ich als Mann eine schwerfällige Auffassungsgabe hatte und andrerseits, weil ich halb wahnsinnig vor Erwartung war. So unglaublich es klingen mag, ich war zu benommen, um selbst jetzt die Wahrheit zu begreifen.

»Als sie zu mir zurückkam,« fuhr meine Mutter fort, »war sie nicht allein, mit ihr kam ein liebliches, kleines Mädchen, das eben erst an der Hand der Mutter zu gehn versuchte. Sie küsste das Kind zärtlich und setzte es auf meinen Schoß. »Hier sehn Sie den einzigen Trost meines Lebens,« sagte sie einfach, »aber zugleich auch das Hindernis, weshalb ich nie Mr. Germaines Weib werden kann.«

Van Brandts Kind! Van Brandts Kind!

Mit einem Male war Alles erklärt, Alles entschuldigt - deshalb die Nachschrift, die ich dem Briefe zufügen musste und der unbegreifliche Rücktritt aus der Stellung, die ihr doch zuzusagen schien, deshalb die entsetzlichen Schwierigkeiten, die sie an den Rand des Hungertodes führten und endlich deshalb die Rückkehr zu dem Manne, der sie grausam hintergangen hatte! Wie konnte sie eine neue Stellung annehmen, da sie ein Kind an der Brust hatte? Was konnte die freundlose Frau dem Hungertode gegenüber Anderes tun, als zu dem Vater ihres Kindes zurückzukehren? Im Vergleich zu ihm, welch ein Anrecht hatte ich an sie? Wenn das arme Geschöpf meine Liebe auch im Geheimen erwiderte, was galt die jetzt? Ihr Kind stand zwischen uns, das war es was sie an ihn fesselte, da sie einmal zurückgekehrt war! Welch Anrecht hatte ich auf sie? Die Sitte und das Gesetz beantworten diese Frage gleich sicher mit: - keines!

Ich ließ den Kopf sinken und empfing schweigend den furchtbaren Schlag.

Meine gute Mutter reichte mir die Hand und sagte traurig: »Nun verstehst Du Alles, George, nicht wahr?«

»Ja, Mutter, Alles, Alles!«

»Eines habe ich noch unerwähnt gelassen, mein lieber Sohn, was ich Dir auf ihren Wunsch sagen sollte. Sie beschwört Dich nicht zu glauben, dass sie die geringste Kenntnis von ihrer Lage hatte, als sie sich das Leben nehmen wollte. Durch ein Gespräch mit ihrer Tante in Edinburgh, kam sie zuerst auf die Vermutung, dass sie vielleicht Mutter werden sollte. Man muss mit dieser unglücklichen Frau Mitleid haben, George, denn so bedauernswürdig ihre Lage auch ist, trägt sie durchaus keine Schuld daran. Sie war das unschuldige Opfer eines niedrigen Verrats, als dieser Mann sie heiratete, seitdem hat sie unverdienterweise gelitten und gegen uns hat sie sehr edel gehandelt. Ich muss ihr alle Gerechtigkeit widerfahren lassen, und erkennen, dass man unter Tausenden nicht eine solche Frau findet und dass sie unter glücklichen Umständen wert wäre, meine Tochter und Dein Weib zu sein. Glaube mir, mein lieber Sohn, dass ich aus tiefstem Herzen für Dich und mit Dir fühle.«

So war allem Anscheine nach der Vorhang vor diesem Teil meines Lebens gefallen. Wie die Liebe meiner Knabenzeit geendet hatte, so auch begrub ich nun die Liebe reiferer Jahre.

Als ich im Laufe des Tages meine Selbstbeherrschung einigermaßen wiedererlangt hatte, schrieb ich Herrn van Brandt, wie sie vorausgesehen hatte, dass es geschehen würde, und bedauerte seiner Einladung für morgen nicht folgen zu können.

Durfte ich mein letztes Lebewohl an die Frau, die ich geliebt und verloren hatte, auch einem Briefe anvertrauen? Nein! Es war für uns Beide besser, wenn ich nicht schrieb und doch konnte ich den Gedanken, sie schweigend aufzugeben, unmöglich ertragen. In den letzten Worten mit denen sie sich von meiner Mutter verabschiedete, sprach sie, wie mir diese sagte, noch die Hoffnung aus, dass ich sie nicht hart beurteilen würde. Auf welche Weise konnte ich sie nun versichern, dass ich bis an mein Lebensende in Liebe ihrer gedenken würde? Der feine Takt und die aufrichtige Teilnahme meiner Mutter halfen mir den Ausweg finden.

»Schicke dem Kinde, dem armen, kleinen Kinde, gegen das Du doch sicher keinen Groll hegst, ein unbedeutendes Geschenk, George,« sagte sie. Gott weiß es, dass ich dem Kinde nicht grollte! Ich ging selbst aus, um ein Spielzeug für sie zu kaufen, brachte es gleich mit nach Hause und befestigte, ehe ich es abschickte, ein Zettelchen daran, worauf ich folgende Worte schrieb: »Ihrem Töchterchen von George Germaine«. Entschieden liegt nichts besonders Rührendes in diesen Worten und doch brach ich in Tränen aus, als ich sie niedergeschrieben hatte.

Am nächsten Morgen reisten meine Mutter und ich nach unserem Landsitz in Pertshire ab, denn London war mir nun unerträglich geworden. Das Ausland hatte ich schon als Heilmittel versucht, mir blieb also nichts übrig als in die Hochlande zurückzukehren und zu sehen, wie sich das Leben ertrug, wenn ich es ganz meiner Mutter widmete.


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