Zwei Schicksalswege

Neunundzwanzigstes Kapitel

Äußere Schicksale trennen uns

Unten auf dem Hausflur angelangt, ließ ich mir die Wirtin auf einen Augenblick rufen. Ich musste noch ermitteln, in welchem der Londoner Gefängnisse van Brandt sich befand und sie war die einzige Person, an die ich eine Frage darüber richten konnte.

Nachdem die Frau meine Frage beantwortet hatte, legte sie sich in ihrer eigenen, schmutzigen Weise die Gründe zurecht, die mich veranlassen konnten, van Brandt aufzusuchen.

»Ist das Geld, das Sie oben ließen, auch schon wieder in seinen gierigen Taschen verschwunden?« fragte sie. »Wäre ich so reich wie Sie, so würde ich das ruhig geschehen lassen, aber ihn würde ich an Ihrer Stelle nicht mit einer Zange anfassen.«

Ich zog wirklich Nutzen aus der rohen Warnung der Frau - ein neuer Gedanke stieg mir auf! Bis ich sie sprach, war ich zu verstimmt oder zu benommen gewesen, um mir klar zu machen, wie überflüssig es sei, dass ich mich bis zu einem persönlichen Verkehr mit van Brandt in seinem Gefängnisse erniedrigte. Jetzt erst sah ich ein, dass, selbstredend, meine Rechtsbeistände meine geeignetsten Vertreter in dieser Angelegenheit waren, und dass mir daraus noch der Vorteil erwuchs, selbst van Brandt meinen Anteil an dieser Veränderung zu verschweigen. Ich fuhr sogleich zu meinen Anwälten. Der Älteste von ihnen, der erprobte Freund und Ratgeber meiner Familie, empfing mich.

Mein Auftrag setzte ihn natürlich in Erstaunen Er sollte sofort auf meine Anweisung die Gläubiger des Gefangenen befriedigen, ohne zu irgendjemand meinen Namen zu nennen und sollte in allem Ernst als Bürgschaft für die Rückzahlung Herrn van Brandts bloße Unterschrift annehmen!

»Ich glaubte mit allen den verschiedenen Wegen vertraut zu sein, auf denen ein Ehrenmann sein Geld wegwerfen kann,« bemerkte der alte Herr. »Ich muss Sie beglückwünschen, Mr. Germaine, dass Sie eine ganz neue Weise, Ihre Börse zu leeren, erfunden haben. Eine Zeitung zu gründen, ein Theater zu pachten, Rennpferde zu halten, in Monaco zu spielen - das Alles sind sehr wirksame Mittel um Geld los zu werden, aber sie Alle müssen vor dem Einen, Herrn van Brandts Schulden zu bezahlen, die Segel streichen!«

Ich verließ ihn und kehrte nach Hause zurück.

Der Diener, der mir die Tür öffnete, brachte mir eine Bestellung von meiner Mutter. Sie wünschte mich sobald als irgend möglich zu sprechen.

Ich ging sofort zu ihr in ihr Wohnzimmer.

»Nun, George ?« sagte sie, ohne ein Wort der Vorbereitung auf das was folgen sollte. »Wie hast Du Frau van Brandt verlassen?«

Mir stand der Verstand völlig still.

»Wer sagte dir, dass ich bei Frau van Brandt war?« fragte ich.

»Lieber Sohn! Dein Gesicht hat es mir verraten. Sollte ich noch nicht wissen, wie Du aussiehst, und wie Du sprichst, wenn Frau van Brandt Dir im Sinn liegt? Setze Dich zu mir. Ich weiß nicht warum, aber ich kam heute Morgen nicht dazu, Dir etwas zu sagen, wie ich es vorhatte, mir fehlte der Mut. Jetzt bin ich beherzter und kann es aussprechen. Du liebst Frau van Brandt immer noch, mein Sohn! Ich gebe meine Einwilligung, dass Du sie heiratest.«

Das waren ihre Worte! Vor kaum einer Stunde hatte ich von Frau van Brandts eigenen Lippen gehört, dass unsere Verbindung eine Unmöglichkeit sei. Eine halbe Stunde war noch kaum verflossen seit ich Anordnungen getroffen hatte, um den Mann in Freiheit zu setzen, der ein großes Hindernis für unsere Verheiratung war. Diese Zeit grade hatte meine Mutter, ahnungslos, gewählt, um darein zu willigen,· dass ich ihr Frau van Brandt als Schwiegertochter zuführte!

»Ich sehe, dass ich Dich überrasche,« fuhr sie fort. »Ich will dir meine Gründe so klar als möglich auseinandersetzen. Es würde unwahr sein, George, wenn ich Dir sagen wollte, dass die Einwürfe, die gegen Deine Verbindung mit dieser Dame zu machen sind, für mich nicht mehr vorhanden wären. Meine Denkweise hat sich nur in sofern geändert, als ich jetzt, um Deines Glückes willen, bereit bin, alle meine Einwendungen bei Seite zu setzen. Ich bin eine alte Frau, mein lieber Sohn. Nach den Naturgesetzen kann ich nicht annehmen, dass ich noch lange bei Dir bin. Wen aber soll ich zurück lassen, um für Dich zu sorgen und Dich zu lieben, wie ich es getan, wenn ich von Dir gehe? Ich weiß niemand außer Frau van Brandt. Dein Glück ist meine vornehmlichste Sorge und die Frau, die Du liebst, wie schrecklich sie auch irre geführt ist, verdient ein besseres Los. Heirate sie.«

Ich wagte nicht zu sprechen. Ich kniete zu den Füßen meiner Mutter und verbarg meinen Kopf in ihrem Schoß, als wäre ich wieder ein-Knabe geworden.

»Überlege es Dir, George,« sagte sie, »und komme wieder zu mir, wenn Du ruhig genug geworden bist, um über die Zukunft zu sprechen, wie ich es tue.«

Sie hob meinen Kopf hoch und küsste mich. Als ich aufstand um sie zu verlassen, erfüllte mich ein gewisses Etwas in diesen alten, lieben Augen, die mich so zärtlich anblickten, mit einer plötzlichen Furcht, die mich scharf und schneidend, wie ein Messerstich durchzuckte.

So wie ich die Tür geschlossen hatte, ging ich die Treppe hinab zu dem Portier nach dem Flur.

»Ist meine Mutter während ich fort war, ausgewesen?« fragte ich.

»Nein, Herr.«

»Waren Besuche bei ihr?«

»Ein Herr war hier, mein Herr.«

»Kannten Sie ihn?«

Der Portier nannte den Namen eines berühmten Arztes, eines Mannes, der damals als einer der Ersten in seinem Fache galt. Ich nahm sofort meinen Hut und ging zu ihm.

Er war eben von seinen Besuchen zurückgekehrt. Meine Karte wurde ihm übergeben, worauf er mich sofort in sein Sprechzimmer führen ließ.

»Sie haben heute früh meine Mutter besucht," sagte ich. »Finden Sie sie bedenklich krank, und konnten Sie ihr das nicht verschweigen? Sagen Sie mir um Gotteswillen die Wahrheit, ich bin auf Alles gefasst.«

Der berühmte Mann nahm mich freundlich bei der Hand.

»Ihre Mutter bedarf keiner Vorbereitung, sie ist sich ihres bedenklichen Gesundheitszustandes vollkommen bewusst,« sagte er. »Sie ließ mich rufen, damit ich ihre Ansicht bestätigen sollte. Ich konnte, ich durfte ihr nicht verhehlen, dass ihre Lebenskräfte im Abnehmen sind. In einem milderen Klima kann sie sich einige Monate länger erhalten, als hier in der Luft von London. Das ist Alles was ich sagen kann. In ihrem Alter sind ihre Tage gezählt.«

Er ließ mir Zeit mich von dem Schlage zu erholen, dann stellte er mir seine reiche Erfahrung, sein gereiftes und vollkommenes Wissen zur Verfügung. Nach seiner Anleitung schrieb ich die nötigen Verordnungen nieder, nach denen ich nun über meinem vergänglichsten Besitze, dem Leben meiner Mutter, wachen wollte.

»Ein Wort lassen Sie mich noch zu Ihrer Beachtung hinzufügen«, sagte er, als ich mich verabschiedete. »Ihre Mutter ist besonders darauf bedacht, dass Sie nichts von ihrem bedenklichen Gesundheitszustande erfahren sollen. Ihre einzige Sorge ist, Sie glücklich zu sehen. Wenn Sie erfährt, dass Sie mich aufsuchten, kann ich nicht für die Folgen stehen. Ersinnen Sie einen möglichst triftigen Grund, um sie sofort von London zu entfernen und, wie schmerzlich Ihr Inneres auch bewegt sein mag, zeigen Sie ihr immer eine heitere Außenseite.«

Noch an demselben Abend suchte ich den gewünschten Vorwand und er war leicht gefunden. Ich brauchte meiner armen Mutter nur mitzuteilen, dass Frau van Brandt meinen Heiratsantrag abgelehnt hatte und damit war ein augenscheinlicher Grund gefunden, weshalb es mir erwünscht sein musste London zu verlassen. Gleichzeitig schrieb ich an Frau van Brandt und teilte ihr das traurige Ereignis mit, das meine plötzliche Abreise veranlasse; auch benachrichtigte ich sie, dass es durchaus nicht mehr notwendig sei, ihr Leben zu versichern. »Meine Anwälte,« so schrieb ich , »haben es übernommen, Herrn van Brandts Angelegenheiten sofort zu ordnen. In wenigen Stunden wird er frei sein und kann dann die Stellung annehmen, die ihm angeboten ist.« Die letzten Zeilen meines Briefes versicherten sie meiner unwandelbaren Liebe und beschworen sie mir zu schreiben, ehe sie England verließe.

Damit war nun Alles getan. Wunderbarerweise war ich in dieser traurigsten Zeit meines Lebens mir keines wirklich empfindlichen Schmerzes bewusst. Unsere Fähigkeit zu leiden, hat leiblich, wie geistig, eine Grenze. Ich kann den Zustand, in dem ich mich, unter der Last der Sorgen, die über mich hereingebrochen waren, befand, nur in der einen Weise beschreiben - ich hatte das Gefühl eines Menschen, dessen Fähigkeiten zu empfinden ganz betäubt waren. Am nächsten Morgen brachen meine Mutter und ich zu unserer ersten Tagereise nach der Südküste von Devonshire auf.


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