Zwei Schicksalswege

Achtunddreißigstes Kapitel

Die beiden Schicksale

Ich rührte mich nicht, um das Zimmer zu verlassen, ich äußerte auch kein Zeichen der Trauer. Mein Herz verhärtete sich gegen die Frau, die mich so beharrlich abgewiesen hatte. Ich stand und sah so mitleidslos und zornig auf sie herab, dass die bloße Erinnerung daran mich noch heutigen Tages mit einem Entsetzen vor mir selbst erfüllt. Ich habe nur eine Entschuldigung für mich. Der Zusammensturz meiner letzten Lebenshoffnung war ein so harter Schlag für mich, dass mein Verstand nicht die Kraft hatte, ihn zu ertragen. In jener Nacht war ich, dessen bin ich mir selbst bewusst, ein Wahnsinniger, wie weit ich auch zu anderen Zeiten davon entfernt sein mochte.

Ich brach zuerst das Schweigen.

»Stehen Sie auf,« sagte ich kalt.

Sie erhob ihr Gesicht vom Boden und blickte im Zweifel, ob sie recht gehört hatte, zu mir auf.

»Nehmen Sie Ihren Hut und Mantel,« fuhr ich fort. »Ich muss Sie ersuchen, mit mir bis zu dem Boot zu gehen.«

Sie stand langsam auf. Ihre Augen ruhten mit einem trüben, erstaunten Blick auf mir.

»Warum soll ich mit Ihnen bis zu dem Boote gehen?« fragte sie.

Das Kind hörte sie und kam mit ihrem Hütchen in der einen, dem Schlüssel der Kajüte in der anderen Hand, zu uns gelaufen.

»Ich bin bereit!« sagte sie. »Ich werde die Kajütentür aufschließen.«

Ihre Mutter wies sie in das Schlafzimmer zurück. Sie ging bis zu der Hoftür und stand dort lauschend still. Ich wendete mich kalt zu Frau van Brandt, um die Frage, die sie an mich gerichtet hatte, zu beantworten.

»Sie haben keine Mittel, um diesen Ort zu verlassen,« sagte ich. »In zwei Stunden wird die Flut mir günstig sein und dann werde ich sofort meine Rückreise antreten. Dieses Mal trennen wir uns, um uns nie wiederzusehen. Ehe ich aber gehe, ist es mein Vorsatz, Sie wohlversorgt zurückzulassen. Mein Geld befindet sich in der Kajüte in meiner Reisetasche und aus diesem Grunde muss ich Sie bitten, mich zu dem Boote zu begleiten.«

»Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Güte,« sagte sie, »ich bin aber nicht in so hilfloser Lage, wie Sie es voraussetzen.«

»Sie bemühen sich vergeblich, mich zu täuschen,« fuhr ich fort. »Ich habe mit dem Chef des Hauses van Brandt in Amsterdam gesprochen und kenne Ihre Lage ganz genau. Ihr Stolz muss sich wirklich so tief beugen, um aus meiner Hand die Mittel für Ihre und Ihres Kindes Existenz anzunehmen. Wäre ich in England gestorben -«

Ich hielt inne. Der unausgesprochene Gedanke, der mir durch den Kopf ging, war, ihr zu sagen, dass ich in meinem Testament ein Legat für sie ausgesetzt habe und dass sie ebenso gut während meiner Lebenszeit Geld von mir annehmen könne, wie sie es später nach meinem Tode aus den Händen meiner Testamentsvollstrecker tun musste. Während ich diesem Gedanken Worte eben wollte, erinnerten mich die Beziehungen, die er natürlich wach rief, an meinen beabsichtigten Selbstmord im See. Durch das Gemisch von Erinnerungen, die in mir aufstiegen, trat ungerufen eine Versuchung an mich heran, die, so unaussprechlich böse sie auch war, dennoch in meinem augenblicklichen Gemütszustande so unwiderstehlich an mich heran trat, dass ich bis tief in die Seele erschüttert wurde. »Jetzt hast du niemand mehr, für den Du leben musst, nun sie es abgeschlagen hat, die Deine zu werden,« flüsterte der böse Feind in mir. »Wage den Sprung in eine andere Welt und nimm die Frau, die Du liebst, mit Dir!« Während ich sie noch immer anschaute, - während die letzten Worte, die ich zu ihr sprach, noch auf meinen Lippen schwebten, - enthüllte meinen Blicken die furchtbare Leichtigkeit voller Reiz, mit der dieses entsetzliche Doppelverbrechen ausgeführt werden konnte. Mein Boot lag an dem Teile des verfallenen Hafens vor Anker, wo tiefes Wasser den Quai bespülte. Ich durfte sie nur veranlassen, mir zu folgen, wenn ich das Deck bestieg, sie dann in meine Arme nehmen und mit ihr über Bord springen, bevor sie einen Hilfeschrei ausstoßen konnte. Meine verschlafenen Seeleute waren, wie ich aus Erfahrung wusste, schwer zu erwecken und selbst wenn sie wach waren, nur sehr langsam vom Fleck zu bringen. Wir wären längst beide ertrunken gewesen, ehe der Jüngste und Rascheste von ihnen aus dem Bett und auf Deck zu bringen war. Ja! Wir mussten beide im selben Augenblick aus den Reihen der Lebenden ausgelöscht werden! Und warum nicht? Sollte ich sie, die sich wieder und wieder geweigert hatte, mein Weib zu werden, freigeben, damit sie vielleicht zum zweiten Male zu van Brandt zurückkehrte? An jenem Abend, als ich sie aus den Wassern des schottischen Flusses errettet hatte, hatte ich mich zum Herrn ihres Schicksals gemacht. Sie hatte versucht, ihrem Leben durch Ertrinken ein Ende zu machen, sie sollte nun in den Armen des Mannes ertrinken, der sich einst zwischen sie und den Tod gestellt hatte!

Versunken in so wilde Betrachtungen, wie diese, stand ich ihr gegenüber und kam ruhig und überlegt auf meinen angefangenen Satz zurück. »Wäre ich in England gestorben, so wäre durch mein Testament für sie gesorgt gewesen. Sie können jetzt auch von mir annehmen, was Sie dann von mir angenommen hätten. Kommen Sie nach dem Boot.«

Ihr Gesicht veränderte sich, während ich sprach, ihre Augen drückten einen leisen Zweifel an mir aus. Sie trat ein Wenig zurück, ohne irgend etwas zu erwidern.

»Kommen Sie nach dem Boote,« wiederholte ich.

»Es ist zu spät.« Bei diesen Worten sah sie nach dem Kinde am andern Ende des Zimmers, das an der Tür wartete. »Komm, Elfie!« sagte sie, indem sie das Kind bei einem ihrer Lieblingsnamen nannte. »Komm zu Bett!«

Auch ich sah nach Elfie. War sie nicht als unschuldiges Werkzeug zu benutzen, fragte ich mich, durch das ich die Mutter veranlassen konnte, das Haus zu verlassen? Im Vertrauen auf den furchtlosen Charakter des Kindes und ihr Verlangen, das Boot zu besehen, öffnete ich die Tür. Wie ich voraussah, lief sie sofort hinaus. Die zweite Tür, die nach dem viereckigen Platze führte, hatte ich nicht geschlossen, als ich in den Hof eintrat. Im nächsten Augenblick war Elfie draußen auf dem Platze und triumphierte über ihre Freiheit. Die schrille kleine Stimme durchbrach die Totenstille des Ortes und der Stunde, indem sie mich wieder und wieder rief, um sie nach dem Boote zu führen.

Ich wendete mich zu Frau van Brandt. Die Kriegslist hatte gewirkt. Elfies Mutter zögerte nicht zu folgen, wo Elfie den Weg wies.

»Wollen Sie mit uns gehen?« fragte ich, »oder soll ich das Geld durch das Kind schicken?«

Ihre Augen ruhten einen Augenblick mit dem steigenden Ausdruck des Misstrauens auf mir - dann wandte sie sich ab. Sie erblasste. »Sie sind heute Abend ganz anders als sonst,« sagte sie. Ohne ein weiteres Wort nahm sie Hut und Mantel und trat auf den Platz hinaus. Ich folgte ihr und schloss die Türen hinter mir. Sie versuchte das Kind an sich heran zu locken. »Komm, mein Liebling,« sagte sie schmeichelnd, »komm und gib mir die Hand.«

Aber Elfie ließ sich nicht einfangen: sie begann zu laufen und antwortete erst aus einer sicheren Entfernung. »Nein,« rief das Kind, »Du willst mich zurücktragen und zu Bett bringen.« Sie ging noch ein wenig weiter zurück und zeigte den Schlüssel. »Erst muss ich gehen,« sagte sie, »und die Tür öffnen.«

Sie ging in der Richtung des Hafens voraus und wartete an der Ecke der Straße auf uns. Ihre Mutter drehte sich plötzlich um und sah mich im Sternenschein fest an.

»Sind die Seeleute an Bord des Schiffes?« fragte sie.

Die Frage setzte mich in Erstaunen. Beargwohnte sie meine Absichten irgendwie? Hatte mein Gesicht sie vor einer lauernden Gefahr gewarnt, wenn sie das Boot beträte? Das war unmöglich! Der wahrscheinlichste Grund zu ihrer Frage war wohl, dass sie eine neue Entschuldigung suchte, um mir nicht zum Hafen zu folgen. Wenn ich ihr sagte, dass die Leute an Bord waren, so konnte sie mir einwenden: »Warum schicken Sie mir nicht das Geld durch einen der Seeleute ins Haus?« Diesen Einwand sah ich voraus, als ich ihr antwortete.

»Sie mögen ehrliche Leute sein,« sagte ich, indem ich sie sorgsam beobachtete, »aber ich kenne sie nicht genau genug, um ihnen Geld anzuvertrauen.«

Zu meinem Erstaunen beobachtete sie mich mit derselben Genauigkeit, wie ich es getan und wiederholte dann geflissentlich ihre Frage.

»Sind die Seeleute an Bord des Bootes?«

Ich hielt es für weise nachzugeben und antwortete: »Ja,« dann schwieg ich, um zu sehen, was sie nun tun würde. Meine Antwort schien ihren Entschluss zu befestigen. Nachdem sie einen Augenblick überlegt hatte, wendete sie sich nach der Stelle, wo das Kind uns erwartete. »Da Sie darauf bestehen, so lassen Sie uns gehen,« sagte sie ruhig. Ich erwiderte nichts. Stumm nebeneinander hergehend, folgten wir Elfie auf dem Wege nach dem Boot. In den Straßen begegnete uns kein lebendes Wesen, kein Licht schien aus den düsteren, unfreundlichen Häusern auf uns hernieder. Zweimal blieb das Kind stehen und kam in schlau berechneter Entfernung von ihrer Mutter zu mir gelaufen, um mich über mein Schweigen zu befragen: »Warum sprichst Du nicht?« sagte sie. »Hast Du Dich mit Mama gezankt?«

Ich vermochte ihr nicht zu antworten. Ich dachte an nichts, als an das Verbrechen, das ich ausführen wollte. Weder Furcht noch Gewissensbisse beunruhigten mich. Es schien, als wäre jeder bessere Instinkt, jedes edlere Gefühl, das ich einst besaß, in mir erstorben und vernichtet. Selbst der Gedanke an des Kindes Zukunft bewegte mich nicht. Mir fehlte die Kraft an irgend etwas Anderes, als an meinen Sprung von dem Boote zu denken, darüber hinaus war nichts für mich vorhanden. Ich kann es nur wiederholen, dass in jenen Augenblicken mein moralisches Gefühl ganz umnachtet und meine geistigen Kräfte ganz aus ihrem Gleichgewicht gehoben waren. Mein tierisches Sein lebte und bewegte sich, wie immer, die niedrigeren, tierischen Instinkte in mir planten und grübelten - das war Alles. Wer mich darauf hin angesehen hätte, würde nichts an mir entdeckt haben, als eine dumpfe Ruhe auf meinem Gesichte und eine vollkommene Gelassenheit in meinen Bewegungen, und dennoch war kein Irrsinniger je reifer für die Zwangsjacke oder weniger zurechnungsfähig bei seinen eigenen Handlungen, als ich es in jenen Augenblicken war.

Der Nachtwind wehte uns schärfer ins Gesicht. Wir waren, immer von dem Kinde geführt, durch die letzte Straße gegangen, und befanden uns nun auf dem leeren, offenen Raum, der landwärts den Hafen begrenzte. Noch eine Minute mehr und wir standen an dem Quai, einen Schritt weit von dem Orte, wo das Boot ankerte.

Ich bemerkte eine Veränderung in dem Aussehn des Hafens, seit ich ihn zuletzt gesehen hatte. Einige Fischerboote waren während meiner Abwesenheit eingelaufen. Sie hatten teils am oberen, teils am unteren Ende, dicht an meinem Schiffe angelegt. Ich sah mich ängstlich um, ob einer der Schiffer an Bord und wach war. Ich bemerkte aber kein lebendes Wesen ringsumher. Die Leute waren mit ihren Frauen und Familien am Lande.

Elfie hob die Arme hoch, um auf mein Boot getragen zu werden. Frau van Brandt trat zwischen uns, als ich mich niederbeugte, um sie aufzuheben. »Wir werden hier warten,« sagte sie, »während Sie in die Kajüte gehen und das Geld holen.«

Diese Worte machten es ganz klar, das sie irgend einen Verdacht gegen mich hegte, - einen Verdacht, der sie nicht für ihr Leben, aber für ihre Freiheit fürchten ließ. Vielleicht dachte sie, dass ich sie auf meinem Boot gefangen halten und gegen ihren Willen fortführen wollte. Mehr als das konnte sie unmöglich voraussetzen. Das Kind ersparte mir die Mühe irgend einer Gegenvorstellung. Sie beschloss mit zu gehen. »Ich muss die Kajüte sehen!« rief sie und hielt den Schlüssel in die Höhe. »Ich muss die Tür selbst aufschließen!«

Sie entwand sich den Händen ihrer Mutter und lief auf die andere Seite zu mir. Ich hob sie in einem Augenblick über Bord des Bootes. Ehe ich mich umwenden konnte, war ihre Mutter mir gefolgt und stand auf dem Deck.

Wie sie eben jetzt stand, lag die Tür der Kajüte zu ihrer Linken. Das Kind war dicht hinter ihr. Ich stand rechts. Vor uns lag das offene Deck und der niedrige Rand des Bootes überragte das Wasser. In einem Nu konnten wir es überschreiten, in einem Nu war der verhängnisvolle Sprung ausgeführt. Der bloße Gedanke daran brachte meine wahnsinnige Verruchtheit auf den Gipfel. Ich war unfähig mich länger zu beherrschen. Mit einem lauten Lachen schlang ich meinen Arm um ihre Taille. »Kommen Sie!« sagte ich und versuchte sie über das Deck zu ziehen. »Kommen Sie und sehen Sie in das Wasser.«

Sie machte sich mit einer plötzlichen Anstrengung, die mich in Erstaunen setzte, los. Mit einem leisen Schrei des Entsetzens wendete sie sich um, nahm das Kind an die Hand, um den Quai wieder zu erreichen. Ich stellte mich zwischen sie und den Rand des Bootes und schnitt ihr so diesen Rückzug ab. Noch immer lachend fragte ich, was sie so erschreckt habe. Sie trat zurück und entwand den Schlüssel zur Kajütentür der Hand des Kindes. Die Kajüte war der einzige Zufluchtsort, der ihr nun blieb, zu dem sie von dem Deck des Bootes gelangen konnte. Sie zögerte auch nicht, im augenblicklichen Schrecken, ihn aufzusuchen. Sie schloss die Tür auf und flog die zwei oder drei Stufen hinab in die Kajüte, das Kind mit sich führend. Ich folgte ihnen. Obgleich ich mir wohl bewusst war, dass ich mich verraten hatte, beharrte ich widerspenstiger, törichter, wahnsinnigerweise darauf mein Vorhaben auszuführen. »Wenn ich jetzt nur ganz ruhig erscheine,« dachte ich bei mir selbst, »so werde ich sie doch wieder bewegen, das Deck zu betreten.«

Meine Lampe brannte noch, wie ich sie verlassen hatte, meine Reisetasche lag auf dem Tische. Mit ihrem Kinde an der Hand stand sie bleich wie der Tod da und erwartete mich. Elfies verwunderte Augen ruhten fragend auf meinem Gesicht, als ich eintrat. Sie war im Begriff zu weinen, so sehr hatten die heftigen Bewegungen ihrer Mutter sie erschreckt. Ich bemühte mich sie zu beruhigen, ehe ich zu der Mutter sprach, indem ich ihr verschiedene Gegenstände in der Kajüte zeigte, die sie interessieren konnten.

»Geh und besieh sie Dir,« sagte ich. »Geh und amüsiere Dich, Elfie.«

Das Kind zögerte aber. »Bist Du böse auf mich?« fragte sie.

»Nein, nein!«

»Bist Du böse auf Mama?«

»Gewiss nicht!« Ich wendete mich an Frau van Brandt. »Sagen Sie Elfie, ob ich Ihnen zürne,« sagte ich.

Sie war sich wohl bewusst, dass ihre peinliche Lage ihr die Notwendigkeit auferlegte, mir zu willfahren. Es gelang uns beiden gemeinschaftlich das Kind zu beruhigen. Sie machte sich mit höchstem Vergnügen daran, die neuen und fremden Gegenstände um sich her in Augenschein zu nehmen. Ihre Mutter und ich standen inzwischen beisammen und betrachteten uns bei dem Schein der Lampe mit einer angenommenen Ruhe, die uns unsere wahren Gesichter wie eine Maske verbarg. Das Wunderliche und Entsetzliche, wie es in diesem seltsamen Leben immer bei einander liegt, streifte sich auch hier in dieser fürchterlichen Lage. Der einzige Laut, der die düstere, drohende Stille um uns her unterbrach, war zu beiden Seiten das schwerfällige Schnarchen des Kapitäns und seiner Leute.

Sie sprach zuerst.

»Wenn Sie mir das Geld geben wollen,« sagte sie und versuchte mich auf diese Weise zu besänftigen, »so bin ich jetzt bereit es anzunehmen.«

Ich schloss meine Reisetasche auf. Als ich hinein sah, um den Lederkasten mit meinem Gelde zu suchen, erwachte wiederum mein bewältigender Wunsch sie auf das Deck zu locken, meine wahnsinnige Ungeduld die verhängnisvolle Tat zu begehen, mit unbezwinglicher Gewalt in mir.

»Es würde uns kühler auf dem Deck sein,« sagte ich, »lassen Sie uns die Tasche dort mit hinauf nehmen.«

Sie zeigte großen Mut. Ich sah, wie der Hilfeschrei ihr auf den Lippen lag, sie unterdrückte ihn. Sie hatte Geistesgegenwart genug, um sich zu sagen, was Alles geschehen konnte, ehe es ihr gelang, die schlafenden Leute zu erwecken.

»Hier ist ja ein Licht, um das Geld dabei zu zählen,« antwortete sie. »Mir ist es in der Kajüte durchaus nicht zu warm. Lassen Sie uns noch ein wenig hier bleiben. Sehen Sie, wie Elfie sich amüsiert!«

Ihre Augen ruhten auf mir, während sie sprach. In ihrem Ausdruck lag etwas, was mich für den Augenblick beruhigte. Ich war im Stande auszuruhen und nachzudenken. Meiner überlegenen Kraft musste es gelingen, sie auf das Deck zu führen, ehe die Leute mich hindern konnten, aber ihre Hilferufe mussten sie erwecken, sie mussten das Aufspritzen des Wassers hören und konnten schnell genug bei der Hand sein, um uns zu retten. Es war geratener ein Wenig zu warten und in geschickter Weise zu versuchen, sie aus freiem Antriebe auf das Deck zu locken. Ich stellte die Reisetasche wieder auf den Tisch und begann von Neuem nach dem ledernen Geldkasten zu suchen. Meine Hände waren wunderbar ungeschickt und hilflos. Es gelang mir erst den Kasten zu finden, nachdem ich den halben Inhalt der Tasche auf den Tisch geworfen hatte. Das Kind stand gerade nahe bei mir und bemerkte, was ich tat.

»O, wie ungeschickt bist Du!« rief sie in ihrer offenen, furchtlosen Weise aus. »Bitte, lass mich die Reisetasche wieder ausräumen! Bitte, bitte!«

Ich bewilligte ihren Wunsch ungeduldig. Elfies ruheloses Verlangen sich fortwährend zu beschäftigen, statt mich, wie sie es sonst tat, zu unterhalten, verdross mich. Alles Interesse, das ich sonst für dieses reizende Geschöpf fühlte, war verschwunden. In jener Nacht war unschuldige Liebe ein Gefühl, das in der vergifteten Atmosphäre meines Herzens erstarrte.

Das Geld, das ich bei mir hatte, bestand meist aus englischen Banknoten. Ich legte die Summe bei Seite, die für die Rückreise nach London ungefähr erforderlich war und legte Alles, was übrig blieb, in Frau van Brandts Hände. Konnte sie danach noch glauben, dass ich ihr nach dem Leben trachtete?

»Ich kann für die Zukunft durch die Herren van Brandt in Amsterdam mit Ihnen in Verbindung treten.«

Sie nahm mechanisch das Geld. Ihre Hand zitterte, ihre Augen suchten die meinen mit einem flehendem Ausdruck. Sie versuchte meine alte Zärtlichkeit für sie wieder zu erwecken, - sie wendete sich zum letzten Male an meine Geduld und Rücksicht für sie.

»Wollen wir nicht als Freunde scheiden,« sagte sie in leisem zitterndem Tone. »Und als Freunde wollen wir uns wiedersehen, wenn Sie allmälig nachsichtiger beurteilen werden, was heute Abend zwischen uns vorgefallen ist!«

Sie reichte mir die Hand, ich aber sah sie an, ohne ihre Hand zu erfassen. Ich durchschaute ihre Gründe vollständig, da sie immer noch Verdacht gegen mich hegte, hatte sie das Möglichste versucht, um sicher das Ufer zu erreichen.

»Je weniger wir über das Vorgefallene sprechen, je besser,« antwortete ich mit ironischer Höflichkeit. »Es wird spät und Sie werden mir zugeben, dass Elfie zu Bett gehen muss.« Ich sah mich nach dem Kinde um, das noch immer mit beiden Händchen in der Reisetasche beschäftigt war, um alles darin zu ordnen.« »Beeile Dich, Elfie, Deine Mama will nach Hause gehen.« Ich öffnete die Tür der Kajüte und bot Frau van Brandt meinen Arm. »Augenblicklich ist dieses Boot mein Haus,« sagte ich. »Wenn Damen mir einen Besuch hier machen, geleite ich sie zum Abschiede bis auf das Deck. Bitte nehmen Sie meinen Arm!«

Sie schrak zurück. Zum zweiten Male war sie im Begriff nach Hilfe zu rufen - und doch behielt sie sich dieses letzte Rettungsmittel wiederum noch vor.

»Ich habe aber Ihre Kajüte noch gar nicht besehen,« sagte sie; aus ihren Augen sprachen Furcht und Schrecken, auf ihre Lippen trat ein erzwungenes Lächeln, während sie sprach. »Ich sehe hier einige Gegenstände, die mich interessieren und möchte gern noch einige Augenblicke verweilen, um sie genauer zu betrachten.«

Unter dem Vorwande sich in der Kajüte umzusehen, wendete sie sich um und versuchte sich dem Kinde zu nähern. Ich hielt die Wache an der offenen Tür und beobachtete sie. Sie machte einen anderen Versuch, indem sie nämlich mit vielem Geräusch einen Stuhl, wie aus Zufall, umwarf und dann lauschte, ob es ihrer List gelungen war, die Leute zu erwecken. Sie schnarchten aber ruhig weiter, und man hörte von keiner Seite irgend einen Laut, der auf Erwachen der Leute gedeutet hätte.

»Meine Leute schlafen sehr fest!« sagte ich, bedeutungsvoll lächelnd. »Seien Sie außer Sorge! Sie haben sie nicht gestört. Wenn die holländischen Seeleute sich im Hafen befinden, vermag nichts sie zu erwecken.«

Sie erwiderte nichts. Meine Geduld war erschöpft. Ich ging von der Tür auf sie zu. Sie zog sich in sprachlosem Entsetzen zurück und stellte sich am Ende der Kajüte hinter den Tisch. Ich folgte ihr bis sie das Ende des Zimmers erreicht hatte und nicht weiter konnte. Sie begegnete dem Blicke, den ich auf sie richtete - floh in eine Ecke und rief nach Hilfe, aber in der tödlichen Angst, die sie befallen hatte, versagte ihr die Stimme. Es kam nichts als ein leises, heiseres Stöhnen, das nicht lauter als ein Geflüster war über ihre Lippen. Im Geiste stand ich schon mit ihr am Rande des Bootes und fühlte die kalte Berührung des Wassers - als ich hinter mir einen Schrei vernahm. Ich sah mich um. Der Schrei kam von Elfie. Wahrscheinlich hatte sie wieder einen Gegenstand in meiner Tasche entdeckt, den sie eben voller Bewunderung über ihren Kopf hielt. »Mama! Mama!« rief das Kind erregt, »sieh nur diese schöne Sache! Bitte, bitte, bitte, sage ihm, dass er sie mir schenken soll!«

Ihre Mutter ergriff hastig diese Gelegenheit, um von mir loszukommen und lief zu ihr. Ich folgte und streckte die Hand nach ihr aus, um sie festzuhalten. Plötzlich drehte sie sich als ein ganz verändertes Wesen zu mir um! Ein freudiges Erröten färbte ihre Wangen, lebhafte Verwunderung strahlte aus ihren Augen. Sie nahm Elfie den begehrenswerten Gegenstand aus der Hand und hielt ihn mir vor. Ich erkannte ihn beim Lichte der Lampe. Es war der kleine, vergessene Talisman - die grüne Flagge.

»Wie kamen Sie hierzu?« fragte sie in atemloser Spannung, meine Antwort voraussehend. Ihre Züge trugen keine Spur mehr von dem Entsetzen, das sie vor kaum einer Minute noch krampfhaft verzogen hatte. »Wie kamen Sie hierzu?« wiederholte sie und ergriff mich beim Arm, indem sie mich in der unbezwinglichen Ungeduld, die sie erfasst hatte, heftig schüttelte.

Mir schwindelte der Kopf, mein Herz pochte stürmisch in dem Widerstreit der Gefühle, die sie in mir erweckt hatte. Meine Augen waren auf die grüne Flagge geheftet. Mir versagten die Worte, um auszudrücken, was ich zu sagen hatte und so antwortete ich mechanisch: »Ich besaß sie seit ich ein Knabe war.«

Sie ließ mich los und erhob ihre Hände mit dem Ausdruck begeisterten Dankgefühls. Eine liebliche, engelhafte Freude floss wie Himmelslicht über ihr Antlitz. Einen Augenblick lang stand sie wie verzückt, im nächsten aber schloss sie mich leidenschaftlich in ihre Arme und flüsterte mir ins Ohr: »Ich bin Mary Dermody - dieses arbeitete ich für Dich!«

Die Erregung dieser Entdeckung folgte zu schnell auf Alles, was ich vorher gelitten hatte, als dass ich sie ertragen konnte. Ich brach zusammen und fiel ohnmächtig in ihre Arme.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf meinem Bett in der Kajüte. Elfie spielte mit der grünen Flagge, Mary aber saß bei mir und hielt meine Hand in der ihren.

Wir wechselten einen langen, innigen Blick, in dem die verwandten Geister sich wieder vereinigten, unsere beiden Schicksale waren nun erfüllt.


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