Wilkie Collins - Ein biographisch-kritischer Versuch

von Ernst Freiherr von Wolzogen (1855-1934)

Kapitel 4



Der nächste Roman unseres Autors „Hide and Seek“ (Verstecken und Suchen) trägt die Widmung „Meinem lieben Freund Charles Dickens“. Es ist eine Freude, an diesem Werk zu sehen, wie der Umgang mit dem großen Humoristen auf den jungen Heißsporn wohltätig, beruhigend und zugleich zu Höherem anspornend gewirkt hat. Das Bestreben nach Dickens Vorbild seine eigenen Fehler zu korrigieren und die Auswüchse seiner wilden Phantasie zu beschneiden ist in diesem Werk deutlich wahrnehmbar und der Erfolg dieses Bestrebens ist ein ungemein erfreulicher.

Während wir in Antonina und Basil noch die leidige Vorliebe des jungen Romanciers für das Gräßliche, ästhetisch Abstoßende und das sittlich Empörende bedauern mußten, finden wir hier einen äußerst interessanten, aber nicht ungesund pikanten Stoff mit behaglicher Breite ausgeführt. Scharfe Satire, edles Pathos und ein glänzender Humor machen Hide and Seek zu einem der besten Werke Collins, ja, wir möchten fast bedauern, daß ihn der spätere ungeheuere Erfolg der „Frau in Weiß“ zu sehr nach der Richtung des rein Sensationellen hindrängte. Wäre er in der Sphäre von „Hide and Seek“ geblieben, so würde er vielleicht seinem Vorbilde Dickens sehr nahe gekommen sein. Doch will ich hier gleich darauf hinweisen, daß Wilkie Collins in seinem neuesten Roman „Heart and Science“ wieder den Ton jenes früheren Werkes angeschlagen hat. Beide Romane behandeln das Thema der Erziehung und führen scharfe satirische Hiebe gegen herrschende Vorurteile; beide setzen der Satire und dem Pathos der Entrüstung einen köstlichen Humor und ein liebevolles Versenken in das Detail entgegen.

Der Inhalt läßt sich diesmal kurz wiedergeben, und das ist ein gutes Zeichen!

Der herzensgute Maler Valentine Blyth hat in einem Zirkus ein schwärmerisches Interesse für ein taubstummes Mädchen gefaßt, welches von der Frau eines Clowns der sterbenden Mutter auf der Landstraße abgenommen, und von ihr aufgezogen wurde. Blyth überredet die brave Pflegemutter Mrs. Beckover, ihm das Mädchen zur weiteren Erziehung zu überlassen. Er bringt es in Triumph seiner gelähmten, kinderlosen Frau nach Hause und die kleine Taubstumme, des eigentümlichen Charakters ihrer Schönheit wegen Madonna genannt, ist fortan die Quelle reinsten Glückes für die Adoptiveltern. Sie wächst zu einer herrlichen Jungfrau heran, ohne daß über das Dunkel ihrer Herkunft das geringste Licht verbreitet würde. In dem Hause des Malers verkehrt auch der Sohn eines jener rigorosen, freudlosen, bigotten Engländer, der trotz der strengen Erziehung nach den Prinzipien seines Vaters ein recht jugendtoller, leichtsinniger junger Mann geworden ist und der sich bei dem gutmütigen Blyth und seinen Damen Rat und Trost erholt, so oft er durch seinen Leichtsinn in die Tinte gerät. Dieser verunglückte Musterknabe, Jack Thorpe genannt, erwirbt sich durch seinen pugilistischen Beistand bei Gelegenheit einer großartigen Schlägerei die Freundschaft eines höchst wunderlichen Originals, das sich vorläufig nur Mat nennt. Dies ist ein Deserteur der Marine, welcher nach langen abenteuerlichen Wanderungen durch Amerika, auf welchen er seinen Skalp eingebüßt hat, wieder „to the old country“ zurückkehrt, um sich nach seinen Verwandten umzusehen. Durch sein Zusammentreffen mit Madonna und allerlei andere Umstände bringt Mat heraus, daß jene das uneheliche Kind seiner verstorbenen Schwester ist, die einzig Lebende seiner ganzen Familie. Er schwört dem Verführer der einst von ihm sehr geliebten Schwester fürchterliche Rache. Als ihm aber der Zufall entdeckt, daß niemand anders als der alte sittenstrenge Thorpe der Verführer gewesen sei, begnügte er sich aus Liebe zu Jack mit dem offenen Geständnis und der aufrichtigen Reue des Schuldigen und alles endet in schönster Harmonie.

Die Charakteristik in diesem Werke ist durchweg allerersten Ranges. Die Figuren sind realer als die Dickensschen, weil der Humor Collins’ doch nicht so souverän mit ihnen umzugehen wagt, als der seines Meisters. Einige Situationen dagegen stehen ähnlichen bei Dickens an grotesker Komik und köstlicher Anschaulichkeit kaum nach. Ich nenne als eine solche z.B. das Abendessen, zu welchem Mat und Jack ihren Freund Blyth in ihre unzivilisierte Behausung geladen haben, und die lebhaft an ähnliche Szenen in Dombey and Son und Martin Chuzzlewit erinnert.

Von schlagender Lebenswahrheit ist auch Jacks Verhalten unter den väterlichen „Tribulations“, seine nächtlichen Exkursionen und seine polternde, übermütig lustige Redeweise beschrieben. Der ärgste Griesgram, der verstockteste Philister wird sich kaum enthalten können, über die gloriose Schilderung der folgenreichen Heimbringung von Jacks erstem ungeheuren Affen herzlich zu lachen.

Es ist nicht möglich, auf alle die gleich köstlichen Beobachtungen und vollkommen gelungenen Schilderungen hier hinzuweisen, ich fände sonst nicht sobald ein Ende. Das unterscheidende Merkmal dieses Buches vor anderen ist die lichte Sonnenbeleuchtung, die versöhnliche Stimmung und der gesunde Hauch der sympathischen Tendenz, welcher es durchweht.

Trotzdem in Hide and Seek ein uneheliches Kind, eine Schlägerei in einem Café chantant gemeinster Art, und die zoologisch treue Beschreibung eines Katers vorkommen, ist dieser Roman doch gerade derjenige, welcher auch der Jugend ohne Bedenken in die Hände gegeben werden kann, denn er ist gesund und glücklich durch und durch – gedacht wie ausgeführt.

Zu denjenigen Werken, welche in die Übergangsperiode der Entwicklung unseres Autors fallen, ist auch „The dead Secret“ (Ein tiefes Geheimnis) zu zählen, indem dasselbe einerseits bereits die ganze Virtuosität in der Kunst der Spannung und Fabelführung zeigt, andererseits noch den früheren Werken ähnlich, durch größere Breite der Ausführung und behagliches Verweilen bei Detailschilderung von Charaktern und Situationen sich auszeichnet. Außer der großen Spannung, welche das Geheimnis durch seine geschickte Verbergung erregt, bestehen die Vorzüge dieses Romans hauptsächlich in der glücklichen Mischung von sympathischen und unsympathischen Charakteren und der liebevollen, höchst gelungenen Ausführung derselben. Wir begegnen unter denselben sogar einigen Figuren, welche für die Handlung bedeutungslos sind und nur den Zweck haben, zur Staffage in einem humorvollen Genrebild zu dienen. Dergleichen findet sich in den späteren Werken nie.

Die Handlung dreht sich um Folgendes: Die kinderlose Mrs. Treverton begeht mit Hilfe ihrer Zofe Sarah in Abwesenheit ihres Gatten den Betrug, ein natürliches Kind der letzteren als ihr eigenes unterzuschieben. Auf ihrem Sterbebette zwingt sie Sarah, das Bekenntnis ihrer Schuld niederzuschreiben und nimmt ihr den Schwur ab, dasselbe weder zu zerstören noch aus dem Hause zu bringen. Sie stirbt jedoch, ehe Sarah noch geschworen hat, das Papier wirklich ihrem Gemahl zu übergeben. Durch Verbergen desselben in einem Zimmer des verlassenen Teils des Schlosses glaubt sie ihren Schwur erfüllt zu haben und flieht aus dem Schlosse, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ihre Tochter Rosamunde wächst als Erbin jenes Schlosses und der dazugehörigen Besitzung auf und heiratet einen blinden, reichen Mann, welcher beschließt, jenen verfallenen Teil des Schlosses wieder ausbauen zu lassen. Sarah, welche durch einen Zufall dazu kommt, die Krankenwärterin ihrer Tochter zu werden, erfährt dies und warnt dieselbe unbesonnener Weise vor dem Betreten des Zimmers, welches das Geheimnis verbirgt. Dadurch wird natürlich Rosamundes Neugier aufs Höchste erregt und sie bietet alles auf, um jenes Zimmer ausfindig zu machen. Andererseits sieht Sarah sofort ein, welchen Mißgriff sie getan und versucht mit Hilfe ihres liebevollen, aber höchst unpraktischen Onkels deutscher Abkunft, das Papier vor der Ankunft der jungen Herrin in ein anderes Versteck zu bringen. Diese Absicht wird jedoch vereitelt und Rosamunde entdeckt nach Überwindung mancherlei Schwierigkeiten das Geheimnis ihrer Geburt. Weit davon entfernt, ihrer unglücklichem Mutter zu zürnen, eilt sie vielmehr sofort an das Krankenlager derselben, um ihr die letzten Stunden zu versüßen, während ihr vortrefflicher Gemahl keinen Augenblick zögert, das Erbe seiner Frau dem rechtmäßigen Besitzer, dem menschenfeindlichen Bruder des verstorbenen Kapitän Treverton auszuliefern. Dieser wird durch solche unerhörte Ehrlichkeit in seinem Menschenhaß wankend gemacht und verzichtet auf das Besitztum. So endet alles in schönster Harmonie.

Wie schon oben bemerkt, ist dieser Roman in der Ausführung der Charaktere einer der Besten. So z.B. ist die Einwirkung des drückenden Geheimnisses auf Sarahs, der Heldin, weiches Gemüt und widerstandslosen Geist mit überzeugender Wahrheit dargetan. Rosamunde und ihr Gemahl sind ein ungemein liebenswürdiges Paar, besonders nimmt Rosamunde den Leser durch ihr Wesen gefangen, welches mit seinem ernsten Eifer, seiner entzückenden Zärtlichkeit und seiner überprudelnden Heftigkeit eine höchst anziehende Verquickung ergibt.

Ferner ist Sarahs deutscher Onkel, Joseph Buschmann, eine der glücklichsten Schöpfungen unseres Autors. Der alte herzensgute Mann mit seiner Naivität, seiner Aufopferung für seine unglückliche Nichte, seinem Humor und seiner Liebe zu seiner alten Spieluhr gewinnt jedes Lesers Herz. Am glänzendsten zeigt er sich im fünften und sechsten Kapitel des zweiten Bandes, wo er dem lächerlichen und anmaßenden Kastellan, Mr. Munder, als Diplomat entgegentritt. – Am frappantesten charakterisiert sind jedoch diejenigen Figuren, welche wenig oder gar nichts mit der Handlung zu tun haben und gerade deshalb vom Autor mit um so größerem Behagen an seinem eigenen Witz gezeichnet werden. Man lese nur z.B. das höchst komische Signalement des Mr. Phippen und der Gouvernante Mrs. Sturch.

Der Gast war ein alter Universitätsfreund des Pfarrers und verweilte jetzt, wie man annahm, um seiner Gesundheit willen in Long Beckley. Die meisten Menschen von irgendwelchem Charakter wissen sich einen Ruf von irgendeiner Art zu erwerben, der sie in dem geselligen Zirkel, in welchem sie sich bewegen, individualisiert. Mr. Phippen war ein Mann von einigem Charakter und lebte in der Wertschätzung seiner Freunde auf den Ruf hin, ein Märtyrer von Verdauungsbeschwerden zu sein, mit großer Auszeichnung. Überall wohin Mr. Phippen ging, dahin gingen auch die Leiden seines Magens mit ihm. Er übte öffentliche Diät und kurierte sich öffentlich. Er war mit sich selbst und seinen Krankheiten so unausgesetzt beschäftigt, daß er einen zufälligen Bekannten binnen fünf Minuten schon in die Geheimnisse der Beschaffenheit seiner Zunge einweihete, und ganz ebenso fortwährend bereit war, den Zustand seiner Verdauung zu besprechen, wie die Leute im Allgemeinen bereit sind, den Zustand des Wetters zu erörtern.

Über dieses Lieblingsthema sprach er wie über jedes andere in freundlich sanfter Weise, zuweilen in wehmütigem, zuweilen auch in sentimental schmachtendem Tone. Seine Höflichkeit war von der drückend liebreichen Sorte und er machte, wenn er andere Leute anredete, fortwährend von dem Worte „Lieber“ Gebrauch.

Was sein Äußeres betraf, so konnte man ihn nicht einen schönen Mann nennen. Seine Augen waren wässerig, groß und hellgrau und rollten in einem Zustande feuchter Bewunderung irgend eines Gegenstandes oder einer Person fortwährend von einer Seite zur andern. Seine Nase war lang, herabhängend und tief melancholisch, wenn in Bezug auf dieses Glied ein solcher Ausdruck statthaft ist. Übrigens hatten seine Lippen eine weinerliche Krümmung, seine Gestalt war klein, sein Kopf groß, kahl und locker zwischen den Schultern sitzend, seine Art sich zu kleiden ein wenig exzentrisch elegant, sein Alter ungefähr fünfundvierzig Jahre, sein Stand der eines ledigen Mannes.

Dies war Mr. Phippen, der Märtyrer der Verdauungsbeschwerden und Gast des Pfarrers von Long Beckley.

Miß Sturch, die Gouvernante, kann kurz und genau als eine junge Dame beschrieben werden, welche seit dem Tage ihrer Geburt niemals durch eine Idee oder eine Empfindung belästigt worden. Sie war ein kleines, feistes, ruhiges, weißes, lächelndes, nettgekleidetes Mädchen, genau zur Verrichtung gewisser Pflichten zu gewissen Stunden aufgezogen und im Besitz eines unerschöpflichen Wörterbuchs von Gemeinplätzen, welche, so oft es verlangt ward, stets in derselben Qualität zu jeder Stunde des Tages und zu jeder Jahreszeit freundlich von ihren Lippen rieselten. Miß Sturch lachte nie und weinte nie, sondern wählte den sichern Mittelweg, fortwährend zu lächeln. Sie lächelte, wenn sie des Morgens im Januar aus ihrem Schlafzimmer herunterkam und sagte, es wäre sehr kalt. Sie lächelte, wenn sie an einem Morgen im Juli herunterkam und sagte, es sei sehr heiß. Sie lächelte, wenn der Bischof einmal des Jahres sich einfand, um den Vikar zu besuchen; sie lächelte, wenn der Fleischerjunge jeden Morgen kam, um Bestellungen zu holen. Sie lächelte, wenn Miß Louise an ihrer Brust weinte und wegen ihrer Fehler in der Geographie um Nachsicht flehte; sie lächelte, wenn Master Robert ihr auf den Schoß sprang und ihr befahl, ihm das Haar zu bürsten. Es mochte im Pfarrhause geschehen, was da wollte, so war nichts im Stande, Miß Sturch aus dem einen glatten Gleise herauszuwerfen, in welchem sie sich fortwährend und stets in demselben Schritt hin- und herbewegte. Hätte sie während der Bürgerkriege in England in einer Royalistenfamilie gelebt, so hätte sie am Morgen der Hinrichtung Karls des Ersten dem Koche geklingelt, um das Mittagsmahl zu bestellen. Wäre Shakespeare wieder zum Leben erwacht und hätte er an einem Sonnabend abends sechs Uhr in dem Pfarrhause vorgesprochen, um Miß Sturch genau zu erklären, mit welchen Ideen er sich bei dem Verfassen des Trauerspiels Hamlet getragen, so hätte sie gelächelt und gesagt, es sei dies außerordentlich interessant, bis es sieben Uhr geschlagen, wo sie den Barden von Avon gebeten hätte, sie zu entschuldigen, um dann mitten in einem Redesatze fortzulaufen und die Hausmagd bei Vergleichung des Waschbuches zu beaufsichtigen.

Eine sehr achtungswerte junge Person war Miß Sturch, wie die Damen von Long Beckley zu sagen pflegten, so umsichtig mit den Kindern und so treu in Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten, von guten Grundsätzen beseelt und eine Pianistin mit markigem Anschlage, gerade hübsch genug, gerade gut genug gekleidet, gerade redselig genug, vielleicht nicht ganz alt genug und vielleicht ein wenig allzusehr zu einer zu Umarmungen verlockenden Korpulenz um die Taille herum geneigt – im ganzen genommen aber eine sehr schätzenswerte junge Person.

Ebenso ist die Figur des Menschenfeindes, Andrew Treverton, und die Schilderung seines Eremitenhaushaltes in Gemeinschaft mit seinem Gesinnungsgenossen Shrowl ein höchst effektvolles Capriccio der Phantasie und es lohnt sich, einen Abschnitt aus dem betreffenden Kapitel (dem sechsten des ersten Bandes) hier anzuführen:

Timon von London

Timon von Athen zog sich von der undankbaren Welt in eine Grotte am Meeresstrande zurück. Timon von London flüchtete sich vor seines Gleichen in ein vereinzelt stehendes Haus in Bayswater.

Timon von Athen machte seiner Misanthropie in prachtvollen Versen Luft – Timon von London gab seine Gefühle und Meinungen in schäbiger Prosa zu erkennen.

Timon von Athen hatte die Ehre, „mein hoher Herr“ genannt zu werden – Timon von London ward nur als „Mr. Treverton“ angeredet.

Die einzige Ähnlichkeit, welche diesen mehrfachen Kontrasten zwischen den beiden Timons entgegengesetzt werden konnte, bestand darin, daß ihre Menschenfeindlichkeit wenigstens echt war. Beide waren unverbesserliche Menschenhasser.

Andrew Trevertons Charakter hatte von seiner Kindheit an jene stark unterscheidenden, einander widerstreitenden und oft in Konflikt geratenden Kennzeichen von Gut und Schlecht dargeboten, welche die Sprache der Welt nach ihrer sorglosen verächtlichen Weise in das einzige Wort exzentrisch zusammenfaßt.

Es gibt wahrscheinlich keinen bessern Beweis von der Richtigkeit jener Definition vom Menschen, welche ihn als ein nachahmendes Tier beschreibt, als den, der in der Tatsache liegt, daß das Urteil der Welt stets gegen jedes einzelne Individuum gerichtet ist, welches sich herausnimmt, von den übrigen abzuweichen.

Ein Mensch ist ein Bestandteil einer Herde und seine Wolle muß von der allgemeinen Farbe sein. Er muß trinken, wo die übrigen trinken, und grasen, wo die übrigen grasen. Wenn die andern durch einen Hund erschreckt werden und fortrennend mit dem rechten Beine zuerst die Flucht ergreifen, so muß auch er durch einen Hund erschreckt werden und bei der Flucht sich ebenfalls des rechten Beins zuerst bedienen. Erschrickt er nicht oder ergreift, wenn er auch erschrickt, doch die Flucht nicht in derselben Weise wie die übrigen, so wird dies sofort als ein Beweis betrachtet, daß es mit ihm nicht ganz richtig ist.

Es gehe nur einer mittags mit vollkommener Gelassenheit in seinen Mienen und ganz anständig in seinem Benehmen, ohne den mindesten Anschein von Geistesverwirrung in seinen Augen oder in seinem Wesen, aber ohne Hut, von dem einen Ende der Oxfordstreet bis zum andern, und man frage dann einen Jeden der Tausende von huttragenden Leuten, an welchen er vorübergeht, was sie von ihm denken. Wie viele werden sich dann wohl enthalten, sofort zu erklären, er sei übergeschnappt, obschon sie keinen andern Beweis dafür haben als seinen unbedeckten Kopf ?

Ja, noch mehr – man lasse ihn höflich einen jeden dieser Vorübergehenden anreden und ihm in den schlichtesten Worten und in der verständigsten Weise auseinander setzen, daß sein Kopf sich ohne Hut weit leichter und behaglicher fühlt als mit einem solchen, wie viele seiner Mitmenschen, welche bei der ersten Begegnung mit ihm erklärten, er sei übergeschnappt, werden, nachdem sie diese Erklärung vernommen, anderer Meinung sein, wenn sie sich von ihm trennen ? In der überwiegenden Mehrheit der Fälle würde die Erklärung selbst als ein ganz vortrefflicher neuer Beweis betrachtet werden, daß der Verstand des hutlosen Mannes unbestreitbar gelitten habe.

Da Andrew Treverton gleich beim Beginn des Lebensmarsches mit der übrigen Mannschaft des sterblichen Regiments nicht Schritt hielt, so mußte er auch gleich von seinen frühesten Tagen an die Strafe für diese Unregelmäßigkeit bezahlen. In der Kinderstube war er ein Phänomen, in der Schule eine Zielscheibe und auf der Universität ein Schlachtopfer. Die unwissende Kindermagd erklärte ihn für ein „putziges Kind“; der gelehrte Schulmeister drückte die Sache etwas artiger aus und schilderte ihn als einen exzentrischen Knaben; der Studienmeister auf der Universität blies ebenfalls mit in das Horn der Andern, verglich aber witzigerweise Andrews Kopf mit einem Dach und sagte, es müsse einen Sparren zu viel haben. Wenn aber ein Dach einen Sparren zu viel hat und derselbe ist nicht gehörig fest gemacht, so muß er zuletzt herunterfallen. An dem Dache eines Hauses betrachten wir, wenn so etwas passiert, dies als eine notwendige Folge von Vernachlässigung; an dem Dache eines Menschenkopfes dagegen werden wir dadurch in der Regel sehr in Erstaunen und Schrecken gesetzt.

Nach einigen Richtungen hin übersehen und in anderen falsch geleitet, versuchten Andrews ungeschlachte Fähigkeiten zum Guten sich in hilfloser Weise selbst zu gestalten.

Die bessere Seite seiner Exzentrität nahm die Form von Freundschaft an. Er fühlte sich auf ganz unerklärliche Weise zu einem seiner Schulkameraden hingezogen – einem Knaben, der ihm auf dem Spielplatz keine besondere Rücksicht angedeihen ließ und ihm auch in der Schule selbst von keinem besondern Nutzen war.

Niemand konnte auch nur den mindesten Grund zu dieser Freundschaft entdecken, nichtsdestoweniger aber war es eine notorische Tatsache, daß Andrews Taschengeld diesem Knaben stets zu Diensten stand, daß Andrew hinter ihm herlief wie ein Hund und daß Andrew sehr häufig die Schuld und Strafe, welche seinen Freund hätte treffen sollen, auf sich selbst nahm.

Als einige Jahre später dieser Freund auf die Universität ging, bat Andrew darum, auch auf die Universität geschickt zu werden, und attachierte sich hier enger als je an den seltsam gewählten Kameraden seiner Schulzeit.

Eine solche Anhänglichkeit hätte Jeden rühren müssen, der nur einen gewöhnlichen Grad von edler Denkweise besessen hätte; auf die von Haus aus gemeine Natur des unwürdigen Freundes aber machte sie durchaus keinen Eindruck.

Nach dreijährigem Umgang auf der Universität – einem Umgang, der auf der einen Seite nur Egoismus und auf der andern nur Selbstverleugnung war – kam das Ende und es begann vor Andrews Augen grausam zu tagen. Als seine Börse in der Hand seines Freundes leicht ward, als die Akzepte, welche er den Wechseln seines Freundes gegeben, am zahlreichsten waren, überließ der Bruder seiner redlichen Zuneigung, der Held seiner schlichten Bewunderung ihn der Verlegenheit, dem Spott und der Einsamkeit, ohne auch nur den mindesten Schein von Reue zu heucheln, ja sogar ihm ein Wort des Lebewohls zu sagen.

Andrew kehrte, nachdem ihm auf diese Weise das Leben schon beim Beginn desselben verbittert worden, in das Haus seines Vaters zurück – er kehrte zurück, um sich Vorwürfe über die Schulden machen zu lassen, die er kontrahiert, um einem Menschen zu dienen, der ihn auf die herzloseste Weise gemißbraucht und schamlos betrogen hatte.

Er verließ, mit der Ungnade seines Vaters belastet, das Haus, um mit einem geringen Taschengeld auf Reisen zu gehen. Die Reisen dauerten lange und endeten, wie dies mit solchen Reisen oft der Fall ist, mit förmlicher Entfremdung vom Vaterlande. Das Leben, welches er während seines langen Verweilens im Auslande führte, die Gesellschaft, mit welcher er umging, äußerten eine dauernde, nachteilige Wirkung auf ihn.

Als er endlich nach England zurückkam, trat er in der hoffnungslosesten aller Rollen auf – in der Rolle eines Menschen, der an nichts glaubt. Zu dieser Zeit seines Lebens lag die einzige Möglichkeit einer glücklichen Zukunft für ihn in den guten Wirkungen, welche vielleicht der Einfluß seines Bruders auf ihn äußern konnte.

Kaum aber hatten die beiden Brüder ihren frühern Umgang wieder aufgenommen, so ward demselben durch den Zwist, welchen Kapitän Trevertons Vermählung veranlaßte, auf immer ein Ende gemacht.

Von dieser Zeit an war Andrew für alle geselligen Interessen und Zwecke ein verlorener Mann. Von dieser Zeit an setzte er den letzten Vorstellungen, die ihm von den letzten Freunden, die sich für ihn interessierten, gemacht wurden, stets eine und dieselbe bittere und hoffnungslose Antwort entgegen.

„Mein liebster Freund verließ und betrog mich“, pflegte er zu sagen. „Mein einziger Bruder hat sich um einer Komödiantin willen mit mir veruneinigt. Was kann ich nach diesen Erfahrungen wohl von der übrigen Menschheit erwarten ? Ich habe für meinen Glauben an Andere zweimal gebüßt – ich will nicht zum dritten Male dafür büßen. Der Klügste ist der, welcher sein Herz in seiner naturgemäßen Beschäftigung, Blut durch den Körper zu pumpen, nicht stört. Ich habe meine Erfahrungen in der Fremde und daheim gesammelt und genug gelernt, um die Täuschungen des Lebens zu durchschauen, welche den Augen anderer Menschen wie Wirklichkeit erscheinen, den meinigen aber sich schon vor Jahren in ihrer wahren Gestalt gezeigt haben. Meine Aufgabe in dieser Welt ist Essen, Trinken, Schlafen und Sterben. Alles andere ist Überfluß und ich habe nichts damit zu schaffen.“

Die wenigen Leute, welche sich, nachdem sie durch ein solches Geständnis zurückgeschreckt worden, die Mühe nahmen, sich wieder nach ihm zu erkundigen, hörten drei oder vier Jahre nach der Vermählung seines Bruders, daß er in der Nähe von Bayswater lebte.

Das Gerücht erzählte, er habe das erste beste Haus gekauft, welches durch eine ringsherumführende Mauer von allen andern Häusern abgeschnitten sei. Ferner erzählte man, er lebe wie ein Geizhals; er habe einen alten Diener namens Shrowl, der sogar ein noch größerer Menschenfeind sei als er selbst; er lasse keine lebende Seele, nicht einmal dann und wann eine Scheuerfrau, sein Haus betreten; er lasse sich den Bart wachsen und habe seinem Diener Shrowl befohlen, seinem Beispiele zu folgen.

Im Jahre 1844 ward die Tatsache, daß ein Mann sich nicht rasierte, von der aufgeklärten Mehrheit der englischen Nation als ein Beweis von Mangel an gesundem Verstand betrachtet. Gegenwärtig würde Mr. Trevertons Bart bloß seinem guten Rufe als achtbarer, solider Mann im Wege gestanden haben. Zu jener Zeit aber ward er als ein neuer Beweis der frühern Behauptung betrachtet, daß es mit ihm nicht ganz richtig sei.

Dennoch war er gerade zu dieser Zeit, wie sein Makler hätte bezeugen können, einer der gewandtesten und schlauesten Geschäftsleute in London; er verstand die falsche Seite jeder beliebigen Frage mit einem Aufwand von Sophistik und Sarkasmen zu verteidigen, um welche ihn selbst Doktor Johnson beneidet haben würde; er hielt seine Bücher bis auf den Heller in der strengsten Ordnung; sein Tun und Wesen zeigte von früh an bis abends niemals etwas Außergewöhnliches; seine Augen waren der verkörperte Scharfblick – aber was nützten ihm in dem Urteil seiner Nachbarn alle diese vortrefflichen Eigenschaften, da er sich herausnahm, auf einem andern Fuße zu leben als sie und während er ein haariges Wahnsinnszeugnis am untern Teile seines Gesichts trug ?

Wir haben in Bezug auf teilweise Duldung von Bärten seit jener Zeit einen kleinen Fortschritt gemacht, aber es bleibt uns immer noch ein bedeutender Weg zurückzulegen. Würde wohl selbst jetzt der zuverlässigste Komptoirist eines Bankiers in der ganzen Hauptstadt auch nur die entfernteste Aussicht haben, seine Stelle zu behalten, wenn er aufhörte, sein Kinn zu rasieren ?

Das gemeine Gerücht, welches Mr. Treverton als Wahnsinnigen verleumdete, hatte, indem es ihn als einen Geizhals schilderte, einen zweiten Irrtum zu verantworten. Er sparte mehr als zwei Dritteile des Einkommens von seinem ziemlich bedeutenden Vermögen, aber nicht weil er Gefallen daran gefunden hätte, Geld zusammenzuscharren, sondern weil er an den Bequemlichkeiten und Luxusgenüssen, auf welche man Geld zu verwenden pflegt, keinen Genuß fand. Wir müssen ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen zu sagen, daß seine Verachtung seines eigenen Reichtums ebenso aufrichtig war wie die des Reichtums seiner Nachbarn.

Indem auf diese Weise das Gerücht bei Schilderung seines Charakters nach diesen beiden Seiten hin die Unwahrheit sprach, hatte es doch wenigstens in einer Beziehung sehr inkonsequenterweise Recht, nämlich bei der Schilderung seiner Lebensweise.

Es war vollkommen gegründet, daß er das erste beste Haus gekauft, welches innerhalb seiner eigenen Mauern abgeschlossen war – es war begründet, daß niemandem unter irgendeinem Vorwand gestattet war, seine Schwelle zu überschreiten, und ebenso war es auch begründet, daß er in Mr. Shrowls Person einen Diener gefunden, der gegen die ganze Menschheit von noch bittererm Groll erfüllt war als er selbst.

Das Leben, welches diese beiden Männer führten, kam der Existenz des Urmenschen oder Wilden so nahe, als die sie umgebenden Verhältnisse der Zivilisation gestatteten. Die Notwendigkeit des Essens und Trinkens zugebend, setzte Mr. Treverton seinen Ehrgeit vor allen Dingen darein, das Leben mit so wenig Abhängigkeit als möglich von der Menschenklasse zu erhalten, welche ein Geschäft daraus machte, für die körperlichen Bedürfnisse ihrer Nächsten zu sorgen und die, wie er glaubte, ihn eben auf Grund ihres Berufes hin auf die nichtswürdigste Weise betrog.

Da Timon von London auf der hintern Seite des Hauses einen Garten hatte, so machte er den Gemüsehändler ganz entbehrlich, indem er seinen Kohl selbst baute. Um Weizen zu bauen, hatte er nicht Land genug, sonst wäre er auch für sein alleiniges Bedürfnis Ackersmann geworden, wohl aber konnte er den Müller und den Bäcker dadurch überlisten, daß er einen Sack Getreide kaufte, dasselbe auf seiner Handmühle mahlte und das Mehl dann von Shrowl zu Brot backen ließ.

Nach demselben Prinzip ward das Fleisch von den Händlern der City im Ganzen gekauft, Herr und Diener aßen dann so viel als möglich in frischem Zustand, salzten das übrige ein und schlugen auf diese Weise den Fleischern ein Schnippchen.

Was das Getränk betraf, so hatte weder Brauer noch Schenkwirt jemals Aussicht, auch nur einen Heller aus Mr. Trevertons Tasche zu locken. Er und Shrowl begnügten sich mit Bier, und dies brauten sie selbst. Mit Brot, Gemüse, Fleisch und Malzextrakt erreichten diese beiden Eremiten der Neuzeit den großen Doppelzweck, das Leben im Körper und die Handelsleute außer dem Hause zu halten.

Wie Urmenschen essend, lebten sie auch in allen andern Beziehungen wie Urmenschen. Sie hatten Töpfe, Pfannen und Tiegel, zwei einfache hölzerne Tische, zwei Stühle, zwei alte Sofas, zwei kurze Pfeifen und zwei lange Mäntel. Dagegen hatten sie keine selbstbestimmten Essenszeiten, keine Fußteppiche und Bettstellen, keine Schränke, Büchergestelle oder zur Ausschmückung dienender Firlefanz irgendwelcher Art, keine Wäscherin und keine Scheuerfrau. Wenn einer von den beiden zu essen und zu trinken wünschte, schnitt er sich seine Brotrinde ab, kochte sich sein Stück Fleisch und zapfte sich seine Quantität Bier vom Fasse, ohne sich im mindesten um den andern zu kümmern. Wenn einer von den beiden glaubte, er brauche ein reines Hemd, was sehr selten der Fall war, so ging er und wusch sich eins. Wenn einer von den beiden entdeckte, daß irgend ein Teil des Hauses sehr schmutzig würde, so nahm er einen Eimer Wasser und einen Rutenbesen und säuberte die betreffende Lokalität wie einen Hundestall. Und endlich, wenn einer von den beiden Lust zu schlafen hatte, so wickelte er sich in seinen Mantel und legte sich auf eins der Sofas und genoß so viel Ruhe als ihm beliebte, früh am Abend oder spät des Morgens, ganz wie es ihm gutdünkte.

Wenn es nichts zu backen, zu brauen, zu pflanzen oder zu säubern gab, so setzten sich die beiden einander gegenüber und rauchten stundenlang, meistenteils ohne ein Wort zu sprechen. Sprachen sie ja miteinander, so stritten sie sich. Ihr gewöhnliches Gespräch war eine Art Wettkampf, der mit einer sarkastischen Erheuchelung von Wohlwollen auf beiden Seiten begann und mit dem heftigsten Austausch giftiger Schmähungen endete, gerade so wie Boxer erst heuchlerischerweise die Formalität durchmachen, einander die Hand zu drücken, ehe sie die ernste praktische Aufgabe beginnen, einander so zuzurichten, daß ihr Gesicht keine Ähnlichkeit mehr mit dem eines Menschen hat.

Da Shrowl nicht mit so vielen nachteiligen Folgen von Bildung und Erziehung zu kämpfen hatte wie sein Herr, so gewann er bei diesen Wettkämpfen gewöhnlich den Sieg. Überhaupt war er, obschon dem Namen nach der Diener, doch eigentlich der herrschende Geist im Hause und erlangte schrankenlosen Einfluß auf seinen Herrn dadurch, daß er diesen in jeder Beziehung auf seinem eigenen Terrain überholte.

Shrowls Stimme war die rauheste; Shrowls Ausdrücke waren die bittersten und Shrowls Bart war der längste. Hätte jemand Mr. Treverton beschuldigt, daß er im Stillen den Meinungen seines Dieners nachgäbe und das Mißfallen desselben fürchte, so würde er diese Beschuldigung mit der größten Entrüstung zurückgewiesen haben. Nichtsdestoweniger aber war es vollkommen wahr, daß Shrowl im Hause die Oberhand behauptete und daß seine Entscheidung über jede wichtige Angelegenheit sicherlich dieselbe war, zu welcher früher oder später sein Herr ebenfalls gelangte.

Die sicherste von allen Vergeltungen ist die, welche den Prahler erwartet. Mr. Treverton prahlte gern mit seiner Unabhängigkeit, und wenn die Vergeltung ihn ereilte, so nahm sie Menschengestalt an und führte den Namen Shrowl.

An einem gewissen Morgen, ungefähr drei Wochen nachdem Mistreß Frankland an die Haushälterin in Porthgenna Tower geschrieben, um die Zeit zu melden, zu welcher sie mit ihrem Gemahl dort zu erwarten wäre, stieg Mr. Treverton mit seinem sauersten Gesicht und in der menschenfeindlichsten Laune aus den obern Regionen seines Hauses in eins der Parterrezimmer herab, welches zivilisierte Bewohner wahrscheinlich das Empfangszimmer genannt haben würden.

Gleich seinem ältern Bruder war er ein langer, gutgewachsener Mann, sein hageres, fahles Gesicht aber hatte mit dem schönen, offenen, sonnverbranntem Antlitz des Kapitäns nicht die mindeste Ähnlichkeit. Niemand, der sie beisammen gesehen, hätte erraten können, daß sie Brüder waren – so vollständig waren sie in Bezug auf den Ausdruck und die Züge des Gesichts von einander verschieden.

Die bittern Erfahrungen, welche der jüngere Bruder in seiner Jugend gemacht, das unstete, ausschweifende Leben, welches er im Mannesalter geführt, die ärgerliche, unzufriedene Stimmung und die physische Erschöpfung seiner spätern Lebenstage hatten ihn so abgezehrt, daß er fast um zwanzig Jahre älter aussah als der Kapitän. Mit ungekämmtem Haar und ungewaschenem Gesicht, mit verworrenem grauen Bart und in einem alten gestickten, schmutzigen Flanellschlafrock, der um ihn herumschlotterte wie ein Sack, sah dieser Sprößling einer reichen alten Familie aus, als ob sein Geburtsort das Armenhaus und sein Lebensberuf der Handel mit alten Kleidern gewesen wäre.

Es war bei Mr. Treverton Frühstückszeit – das heißt, es war die Zeit, zu welcher er sich hungrig genug fühlte, um daran zu denken, etwas zu essen. An demselben Platze über dem Kaminsims, an welchem in einem einigermaßen kultivierten Hause ein Spiegel gehangen haben würde, hing in dem Hause Timons von London eine Speckseite. Auf dem Tisch am Kaminfeuer lag ein halbes Laib schwammig aussehenden braunen Brotes; in einer Ecke des Zimmers lag ein Faß Bier mit zwei alten zinnernen Kannen an in der Wand oben darüber eingeschlagenen Nägeln, und unter dem Herd des Kamins lag ein verräucherter alter Bratrost gerade noch so, wie er, nachdem er zum letzten Male Dienst geleistet, hingeworfen worden.

Mr. Treverton nahm ein schmieriges Einschlagemesser aus der Tasche seines Schlafrocks, schnitt ein Stück Speck ab, setzte den Bratrost über das Feuer und begann sein Frühstück zu bereiten.

Eben hatte er die Speckschnitte umgewendet, als die Tür sich öffnete und Shrowl mit der Pfeife im Munde ins Zimmer trat, um dieselbe Verrichtung vorzunehmen, welcher sein Herr oblag.

Was das Äußere betraf, so war Shrowl klein, dick, aufgedunsen und vollkommen kahl, ausgenommen an der Hinterseite seines Kopfes, wo ein Ring borstigen, eisengrauen Haares hervorragte wie ein in Unordnung geratener schmutziger Hemdkragen. Um den Mangel an Haar zu ersetzen, wuchs der Bart, den er auf Wusnch seines Herrn kultivierte, weit über das Gesicht hinweg und fiel in zwei zottigen Spitzen bis auf die Brust herab.

Er trug einen sehr alten langschößigen Schlafrock, den er einmal hundebillig auf dem Trödelmarkt gekauft, ein verschossenes gelbes Hemd mit einer breiten zerrissenen Brustkrause, an den Knöcheln aufgeschlagene Manchesterhosen und Halbstiefeln, die seit dem Tage, wo sie die Werkstatt des Schuhstickers verlassen, nie wieder gewichst worden waren.

Seine Farbe war krankhaft rot, seine dicken Lippen kräuselten sich mit boshaftem Feixen aufwärts und seine Augen hatten an Form und Ausdruck ungemein viel Ähnliches mit denen eines Spürhundes.

Ein Maler, welcher in dem Gesicht und der Gestalt eines und desselben Individuums gleichzeitig Kraft, Unverschämtheit, Häßlichkeit, Gemeinheit und Hinterlist auszudrücken gewünscht, hätte zu diesem Zweck in der ganzen Welt kein besseres Modell finden können als in der Person des würdigen Mr. Shrowl.

Weder Herr noch Diener wechselten bei der ersten Begegnung an diesem Tage ein Wort oder nahmen die mindeste Notiz von einander. Shrowl blieb, mit den Händen in den Taschen träg zuschauend, stehen und wartete, bis für ihn Platz am Feuer würde.

Mr. Treverton trug, als er fertig war, seinen Speck auf den Tisch, schnitt sich eine Rinde Brot ab und begann nun zu frühstücken. Als er den ersten Bissen hinuntergewürgt hatte, ließ er sich herab, zu Shrowl aufzublicken, der in diesem Augenblick sein Taschenmesser öffnete und sich mit schlurfendem Tritt und schläfrig gierigen Augen ebenfalls der Speckseite näherte.

„Was soll das heißen ?“ fragte Mr. Treverton, indem er mit Entrüstung und Erstaunen auf Shrowls Brust zeigte. „Ihr dummer Kerl habt ja ein reines Hemd an !“

„Ich danke Ihnen, Sir, daß Sie Notiz davon nehmen“, sagte Shrowl mit sarkastisch erheuchelter, übertriebener Demut. „Die Veranlassung dazu ist eine sehr freudige. Heute ist ja meines Herrn Geburtstag und da konnte ich unmöglich weniger tun als ein reines Hemd anziehen. Möge Ihnen dieser Tag noch oft wiederkehren, Sir ! Vielleicht haben Sie geglaubt, ich würde nicht daran denken, daß heute Ihr Geburtstag sei ? Gott segne Ihr gutes liebes Gesicht, ich würde so etwas unter keiner Bedingung vergessen haben. Wie alt werden Sie denn heute, Sir ? Es ist nun eine hübsche Zeit her, Sir, seitdem Sie ein kleiner, freundlicher, dicker Junge waren mit einer Krause um den Hals und Marmorkügelchen in der Tasche und eingeknöpften Hosen und Küssen und Geschenken von Papa und Mama und Onkel und Tante an Ihrem Geburtstage. – Fürchten Sie nicht, daß ich dieses Hemd durch allzuhäufiges Waschen abnutzen werde. Ich gedenke es in Lavendelkraut bis zu Ihrem nächsten Geburtstag oder auch zu Ihrem Leichenbegängnis aufzuheben, was in Ihrem Alter ebenso wahrscheinlich ist – meinen Sie nicht auch, Sir ?“

„Verschwendet kein reines Hemd an mein Leichenbegängnis“, entgegnete Mr. Treverton. „Ich habe Euch in meinem Testament kein Geld vermacht, Shrowl ! Wenn ich auf dem Wege nach dem Grabe bin, seid Ihr auf dem Wege nach dem Armenhaus.“

„Haben Sie wirklich einmal Ihr Testament gemacht, Sir ?“ fragte Shrowl, indem er mit dem Anschein des größten Interesses im Abschneiden seiner Speckschnitte innehielt; „ich bitte gehorsamst um Verzeihung, aber ich glaubte immer, Sie scheuten sich es zu tun.“

Der Diener hatte augenscheinlich mit Absicht eine der wunden Stellen seines Herrn berührt. Mr. Treverton schlug mit seiner Brotrinde auf den Tisch und sah Shrowl zornig an.

„Ich sollte mich scheuen, mein Testament zu machen, Ihr Narr !“ sagte er. „Ich mache aus Grundsatz keins und werde keins machen.“

Shrowl sägte langsam sein Stück Speck vollends los und begann eine Melodie zu pfeifen.

„Aus Grundsatz mache ich keins !“ wiederholte Mr. Treverton. „Reiche Leute, welche Geld hinterlassen, sind die Säleute, welche die Saat menschlicher Verruchtheit ausstreuen. Wenn ein Mensch noch einen Funken Edelmut in seinem Gemüt hat und man denselben auszulöschen wünscht, so vermache man ihm etwas. Wenn ein Mensch schlecht ist und man ihn noch schlimmer zu machen wünscht, so setze man ihm ein Vermächtnis aus. Will man eine Anzahl Menschen zu dem Zweck, Schlechtigkeit und Unterdrückung nach großartigem Maßstabe zu befürdern, zusammenbringen, so mache man ein Vermächtnis in Form einer milden Stiftung. Wünscht man einem Mädchen die beste Möglichkeit von der Welt zu verschaffen, einen schlechten Mann zu bekommen, so setze man ihr ein Vermächtnis aus. Will man jugne Männer ins Verderben stürzen, will man alte Männer zu Magneten machen, welche die niedrigsten Eigenschaften der Menschheit anziehen, wünscht man, daß Eltern und Kinder, Eheleute und Geschwister einander in die Haare fallen, so vermache man ihnen Geld. Ich sollte mein Testament machen ? Ich kann die Menschen nicht leiden, Shrowl, das wißt Ihr, aber dennoch hasse ich sie noch nicht so sehr, daß ich ein solches Unheil unter ihnen anrichten möchte.“

Nachdem Mr. Treverton mit diesen Worten seine Rede beendet, nahm er eine der alten zinnernen Kannen vom Nagel und erfrischte sich durch einen Trunk Bier.

Shrowl schob den Bratrost an eine reine Stelle im Feuer und kicherte sarkastisch vor sich hin.

„Wem zum Teufel sollte ich denn auch mein Geld vermachen ?“ hob Mr. Treverton wieder an. „Meinem Bruder, der mich jetzt für einen Unmenschen hält und mich dann für einen Narren halten und mein ganzes Geld mit Landstreicherinnen und Komödianten durchbringen würde ? Oder dem Kinde jener Komödiantin, welches ich mit keinem Auge gesehen, welches erzogen ward, um mich zu hassen und welches sofort zum Heuchler werden würde, indem es des Anstandes wegen sich stellen müßte, als täte mein Tod ihm leid ! Oder vielleicht Euch, Ihr menschlicher Pavian – Euch, der Ihr sofort ein Wuchergeschäft eröffnen und Witwen, Waisen und allen Unglücklichen überhaupt das Blut aussaugen würdet ? Eure Gesundheit, Mr. Shrowl ! Ich kann ebenso gut lachen wie Ihr, besonders da ich weiß, daß ich Euch keinen Sixpence hinterlasse.“

Shrowl begann seinerseits nun ein wenig ärgerlich zu werden. Die ironische Höflichkeit, welche er bei seinem Eintritt in das Zimmer anzunehmen beliebt, wich seiner gewohnten sauertöpfischen Laune und dem natürlichen mürrischen Ausdruck seiner Stimme.

„Ich bitte Sie, mich ungeschoren zu lassen“, sagte er, indem er sich mißmutig zu seinem Frühstück niedersetzte. „Ich bin für heute mit dem Spaßmachen fertig und möchte Ihnen vorschlagen, dasselbe zu tun. Was kann es nützen, allerhand Unsinn über Ihr Geld zu schwatzen. Irgend jemandem müssen Sie es doch hinterlassen !“

„Ja wohl, das werde ich“, sagte Mr. Treverton. „Ich vermache es, wie ich Euch schon so oft gesagt habe, dem ersten besten, den ich finden kann, welcher das Geld herzlich verachtet und deshalb durch den Besitz desselben nicht schlechter gemacht werden kann.“

„Das heißt niemandem“, grunzte Shrowl.

„Das weiß ich recht wohl“, entgegnete sein Herr.

„Aber niemandem können Sie es nicht hinterlassen“, fuhr Shrowl hartnäckig fort. „Sie müssen es jemandem hinterlassen – Sie können gar nicht anders.“

„Nicht ?“ sagte Mr. Treverton. „Ich sollte meinen, ich könnte damit tun, was mir beliebt. Ich kann es ja, wenn ich Lust habe, in lauter Banknoten umsetzen und in unserm Brauhause ein Freudenfeuer damit anzünden, ehe ich sterbe. Dann ginge ich aus der Welt mit dem Bewußtsein, daß ich kein Material zurückgelassen, durch welches sie noch schlechter werden könnte, als sie schon ist, und das wäre für mich ein herrlicher Trost, das kann ich Euch sagen.“

Der Roman ist deutsch bei Julius Günther in Leipzig erschienen, leider in einer ziemlich oberflächlichen, durchaus nicht fehlerfreien Übersetzung.


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