Wilkie Collins - Ein biographisch-kritischer Versuch

von Ernst Freiherr von Wolzogen (1855-1934)

Kapitel 7



Unter denjenigen Werken, welche am meisten für die unerhörte Erfindungskraft Wilkie Collins zeugen, ist „The Moonstone“ (Der Mondstein) eines der hervorragendsten und am meisten gelesenen. Die ungemein verwickelte Intrige spottet jeder Bemühung, den Inhalt kurz wiederzugeben. Ich beschränke mich deshalb darauf, die Lektüre dieses köstlichen Sensationsromanes auzuempfehlen und die Aufmerksamkeit auf die staunenswerte Technik hinzulenken. Von dem Auftreten des Sergeant Cuff an läßt der Autor den Leser nicht mehr aus seinem Bann. Die Art und Weise, wie jedes scheinbar noch so unbedeutende Ereignis sich im Laufe der Handlung als höchst wichtig herausstellt, wie der Verdacht fortwährend irregeleitet wird, um schließlich an den Personen hangen zu bleiben, an deren Schuld man am wenigsten denken konnte – in all dem erkennt man die Hand des Meisters, dessen Kraft sich um so kühner entfaltet, je halsbrecherischer seine Aufgabe ist. Aber auch bei Gelegenheit dieses wirklichen Sensationsromanes betone ich, daß nicht die eminente Technik und Erfindung es allein ist, welche Collins aus den Reihen der literarischen Handwerksmeister zum Range einer künstlerischen Persönlichkeit erhebt, sondern vielmehr gewisse Feinheiten der Charakteristik und der Form, welche man gerade bei solcher spannenden Lektüre zu übersehen geneigt ist. Als solche Feinheiten hebe ich besonders das Interesse des Detektivs Cuff für Rosenzucht hervor, durch welches Collins diese Gestalt uns menschlich nahe rückt. Die Polizei spielt sowohl im Roman als im Drama meist die traurige Rolle eines mechanischen Hilfsmittels zur Herbeiführung der Lösung. Der Repräsentant der Polizei im Mondstein wird uns jedoch in seiner Originalität als Mensch ebenso vertraut wie in seiner Spezialität als Polizeimann, es ist ein Charakter, nicht ein Schema. Ferner mache ich auf die große psychologische Wahrheit in der Schilderung des Betragens Rachels aufmerksam. Eine Wahrheit, die wir freilich erst erkennen, wenn wir die Lösung des Geheimnisses erfahren haben. Die anfängliche Unverständlichkeit ihres Benehmens ist das einzige, was einem sehr feinfühligen Leser gleich anfangs den Schlüssel in die Hand geben könnte, und gerade das halte ich für einen Hauptbeweis für die Künstlerschaft des Verfassers, daß er nicht auf diese psychologische Wahrheit verzichtet, aus Furcht einer vorzeitigen Ahnung des Lesers. Der charakter der Rosanna Spearman ist eine Studie, in welche sich der Autor mit augenscheinlicher Liebe vertieft hat. Die Motive, welche sie zum Selbstmord treiben, sind sehr geschickt kombiniert, und dadurch ist es dem Autor gelungen, diese pathologische Abnormität psychologisch begreiflich zu machen. An die kostbare Figur der Miß Clack knüpft sich für den Leser, welcher Gelegenheit gehabt hat, diese Spezialität englischer Narrheit kennenzulernen, eine kostbare Satire auf das Treiben einer zahlreichen Sorte von Wohltätigkeitsvereinen und von jenen Traktätchenagenten, welche auch in unseren deutschen Bädern vielfach dazu beitragen, die Vorstellungen von dem englischen Spleen möglichst ins Groteske zu ziehen. Aber auch hier wieder hat Collins alles getan, um uns die Figur der Miß Clack, so lächerlich sie ist, nicht als absichtliche Karikatur erscheinen zu lassen.

Er hat wieder die Form der Berichterstattung durch Augenzeugen gewählt und wieder ist es ihm vortrefflich gelungen, das Portrait der Schreiber durch ihren Stil zu verdeutlichen. Nur der alte Betteredge hat sich bei Abfassung seines Manuskripts allzu ungeniert vom Autor helfen lassen. Die Figur selbst ist vortrefflich, aber mit seiner Selbstschilderung steht es schief: Wir glauben nicht daran, trotzdem, oder vielmehr gerade, weil er so naiv tut. Die Aufzeichnungen der Miß Clack dagegen sind dem Charakter derselben meisterhaft angepaßt und wirken nur um so schlagender satirisch und humoristisch, je besser es dem Autor gelungen ist, den Brustton der Überzeugung anzuschlagen.

Der Mondstein ist eines jener Werke von Collins, dessen Handlung so verzwickt ist, daß man sie bald wieder vergißt und welches man aus dem Grunde öfters lesen wird.

Wir haben bereits gesehen, wie Collins so gern eine Lücke im Gesetz oder einen eigentümlichen Auswuchs desselben benutzt, um darauf die Fabel eines Romanes zu gründen. In seinem nächsten, umfangreichen Werke „Man and Wife“ (Mann und Weib) tritt er als rücksichtsloser Bekämpfer einer schmählichen Eigentümlichkeit des schottischen Ehegesetzes auf und schreibt einen Tendenzroman, welcher geeignet ist, des Lesers Blut vor Entrüstung wallen zu machen. Wir Deutsche können uns kaum die Möglichkeit eines so ungeheuerlichen Gesetzes in einem zivilisierten Lande und in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vorstellen, aber der Autor gibt uns in einem Nachtrag autoritative Beweise für die Wirklichkeit jener Zustände. Es besteht nämlich in Schottland das Gesetz, daß zwei Personen verschiedenen Geschlechts, welche sich vor Zeugen als Eheleute anreden und gerieren, von dem Moment an für wirklich verheiratet zu halten sind. Ebenso genügt ein schriftliches Eheversprechen, vorausgesetzt, daß beide Teile über 21 Tage in Schottland verweilt haben, zum Beweis einer legalen Heirat. An diese beiden Voraussetzungen sind die Fäden der Intrige geknüpft und werden mit erstaunlichem Geschick in- und wieder auseinander geschlungen. Die Handlung ist etwa folgende: Die Heldin, Anne Silvester, deren Mutter durch eine gleichfalls schmachvolle Bestimmung des irischen Ehegesetzes nach einer langen Ehe für nicht rechtmäßig verheiratet erklärt worden ist, scheint wie durch ein Verhängnis den Fluch, der ihrer Mutter Glück zerstörte, überkommen zu haben. Sie wächst mit der Tochter der besten Freundin ihrer Mutter, Blanche Lundi, auf. Die körperliche Schönheit und Kraft eines geistig ganz rohen Menschen, Geoffrey Delamayn, verführen sie, ein heimliches Verhältnis mit ihm einzugehen, welches natürlich bald beide Teile gereut, da Anne die geistige Hohlheit und Brutalität des gewaltigen Boxers und Wettläufers immer mehr verachten lernt und jener ihrer bald überdrüssig wird. Als bei Anne sich die Folgen ihres Fehltrittes bemerkbar zu machen beginnen, drängt sie Geoffrey aufs Heftigste zur Heirat und nimmt seinen Vorschlag einer sofortigen heimlichen Ehe an. Sie entflieht aus dem Hause ihrer Freundin, nachdem Geoffrey ihr versprochen hat, binnen wenigen Stunden ihr nachzukommen, um die Trauung vollziehen zu lassen. Kaum ist sie fort, als Geoffrey die Nachricht erhält, sein Vater liege im Sterben. Dieser Vater ist derselbe, inzwischen zum Lord Holchester gewordene Advokat, welcher einst die Nichtigkeitserklärung der Ehe von Annes Mutter durchgesetzt hatte. Geoffrey, sein jüngerer Sohn, hat sich durch seine Lebensweise und durch seine bewiesene Unfähigkeit zu jedem standesgemäßen Beruf dem Vater so verhaßt gemacht, daß er seine Enterbung fürchten muß. Es ist daher für ihn von höchster Wichtigkeit, am Sterbebette seines Vaters zugegen zu sein, um ihn womöglich umzustimmen. Er sendet einen liebenswürdigen, ehrlichen jungen Mann, welchem er einst das Leben rettete und sich ihn dadurch für immer verpflichtete, mit seiner Entschuldigung an Anne. Jener, Arnold Brinkworth ist sein Name, der Verlobte Blanche‘s, erbittet sich eine schriftliche Bestätigung seines Auftrags, welche Geoffrey in der Eile des Aufbruchs auf einen alten Brief Annes schreibt. Da letztere sich in dem schottischen Gasthause, wohin sie sich geflüchtet hat, um überhaupt augenommmen zu werden, als Frau ausgeben mußte, deren Mann in wenigen Stunden nachkommen würde, so ist auch Arnold genötigt, sie dort als solche anzureden und sich als ihren Mann zu bezeichnen, denn die Wirtin ist eine puritanisch strenge Person, welche alleinstehenden Damen, die sie nicht als unzweifelhaft kennt, keine Unterkunft gewährt. Um diese Fiktion aufrecht zu halten, ist Arnold ferner genötigt, die Nacht in Annes Wohnzimmer zu verbringen. Jener Brief mit Geoffreys kühler Vertröstung auf „eine spätere Erfüllung seines Versprechens“, welchen Anne in der ersten Aufregung zornig fortgeworfen hatte, wird von einem alten Schuft von Kellner aufgehoben und bewahrt. Holchester hat sich inzwischen wieder erholt und hat Geoffrey eine reiche und vornehme Heirat zur Bedingung für seine Verzeihung gemacht. Lady Holchester und sein älterer Bruder haben bereits eine passende Partie für ihn gefunden, so daß Geoffrey nur zuzulangen braucht, um ein großes Vermögen und des Vaters Gunst zu gewinnen. Da ist ihm denn natürlich das Verhältnis zu Anne ein arger Klotz am Bein und er trachtet eifrig danach, es irgendwie zu brechen. Zufällig hört er, durch den vortrefflichen, liebenswürdigen Sir Patrick von jener eingangs erwähnten Bestimmung des schottischen Eherechts. Sofort erkennt er, daß der nichts ahnende Arnold nach diesen Bestimmungen mit Anne verheiratet sei, und verfolgt nun ohne jeden Gewissensskrupel siene Heiratspläne. Anne, der er ins Gesicht gesagt hat, sie sei Arnolds Frau, muß wiederum fliehen. Sie kommt nach Glasgow, wo sie die Meinung zweier Rechtsgelehrten über ihren Fall einholt, welche jeder das Gegenteil vom anderen behaupten. Die Aufregung und die dadurch veranlaßte vorzeitige Niederkunft werfen sie in eine lange Krankheit, während welcher Arnolds und Blanches Hochzeit stattfinder, ohne daß sie dazu kommen kann, ihn über Geoffreys Niederträchtigkeit aufzuklären. Auf der Hochzeitsreise erhält er erst die niederschmetternde Nachricht, daß seine Ehe vielleicht gar nicht legitim sei. - Inzwischen hat jener Kellner mit dem ominösen Briefe, welcher das Verhältnis zwischen Geoffrey und Anne klar legt, Erpressungsversuche bei der Braut des letzteren, der reichen Mrs. Glenarn, gemacht. Durch eine Zeitungsindiskretion erfährt Anne davon und weiß durch Geld und Drohung den Besitzer des Doppelbriefes zur Herausgabe desselben zu zwingen. Als sie erfährt, daß nach dem Inhalte desselben sich eine schottische Ehe zwischen ihr und Geoffrey beweisen lasse, opfert sie sich großmütig für Blanches Glück auf, indem sie ihre Ansprüche an Geoffrey geltend macht. Durch die Anerkennung dieser früheren Heirat wird natürlich die mit Arnold behauptete hinfällig. Geoffrey, welchem durch diese Wendung der Dinge alle seine glänzenden Aussichten zerstört werden, sinnt auf fürchterliche Rache. Ehe er jedoch seinen Mordplan wider Anne ausführen kann, rührt ihn der Schlag in Folge der wahnsinnigen Übertreibung seiner athletischen Übungen und seines Branntweintrinkens.

Dies ist nur ein dürftiges Gerippe der überaus reichen Handlung. Die Erfindung von immer neuen retardierenden oder die Enthüllung fördernden Momente ist geradezu erstaunlich. Die eminente Kraft, mit welcher Wilkie Collins an jede, auch noch so geringfügige Äußerlichkeit die überraschendsten Wirkungen anzuknüpfen weiß, und mit welcher er jede, auch die fernste Folge unmerklich vorbereitet, ist für die Gattung der Kriminalgeschichte geradezu mustergültig. Was ihn jedoch, selbst in seinen Mord- und Geheimnis-erfülltesten Erzählungen dennoch weit über das Niveau des gewöhnlichen Sensationsschriftstellers erhebt, das ist seine wirklich künstlerische Gestaltungskraft. Allerdings begeht er meistens den Fehler, daß er uns gleich das ganze psychologische Nationale einer neu auftretenden Figur mit dem Anspruch unterbreitet, dasselbe auf seine Autorität hin anzuerkennen. Trotz dieser etwas plumpen Manier der Einführung weiß er aber doch die meisten seiner Charaktere sehr lebendig und interessant zu gestalten. Auch „Mann und Weib“ enthält wieder eine Fülle sehr glücklich erdachter und fein ausgeführter Gestalten. Da ist besonders der joviale, warmherzige und wenn er will, beißend satirische Sir Patrick zu nennen, welcher der Sprititus regens der ganzen verzwickten Nachforschungen ist, die im Interesse Annes und Arnolds angestellt werden. Ihm gegenüber steht mit ihrem ganzen Wesen sowohl, als auch mit ihrem Haß gegen Anne, Lady Lundie, Blanches Stiefmutter, deren laut verkündigter Pflichteifer, Katzenfreundlichkeit und Bosheit mit köstlichem Humor geschildert werden – freilich mit etwas dickem Farbenauftrag.

Der Clown des großen Personals ist jener verschlagene und versoffene Kellner Bishopriggs, dessen philosophische Selbstgespräche, salbungsvolle Vertraulichkeit und erfinderische Pfiffigkeit höchst ergötzlich wirken.

Einen Roman im Roman bildet die Lebensgeschichte der sich stumm stellenden Köchin Hester Dethridge, eine Episode, die um so packender wirkt, als in ihr wiederum ein schreiender Übelstand des englischen Ehegesetzes die Ursache entsetzlicher Leiden und das Motiv zu einem Morde wird. Hester ist nämlich an einen Trunkenbold verheiratet gewesen, welcher gesetzlich befugt war, ihre Möbel zu seinem Besten zu verkaufen und ihren Verdienst ihr abzufordern. Die Art und Weise, wie sie ihren Peiniger endlich umbringt, zeugt von der außerordentlichen Bekanntschaft des Verfassers mit den raffiniertesten Kniffen der Verbrecherwelt. Aber die Schilderung ihres Seelenzustandes vor der Tat zeigt ihn als ebenso feinen Psychologen. Es mag die betreffende Stelle aus Hesters Tagebuch hier als Probe dienen:

Es gibt Dinge, die eine Frau auch für sich selbst nicht niederschreiben kann. Ich will nur so viel sagen. Gerade in dem Augenblick, wo ich mir zum ersten Mal über die Art klar geworden war, wie ich meinem Mann das Leben nehmen könne, mußte ich von ihm noch das Schlimmste erdulden, was einer Frau von einem verhaßten Manne widerfahren kann. Um Mittag ging er aus, um die Runde durch die Kneipen zu machen, ich war um diese Zeit noch fester als vorher entschlossen, mich ein für allemal von ihm zu befreien, wenn er abends wieder nach Hause kommen würde. Die Sachen, die wir am vorigen Tage bei den Reparaturen gebraucht hatten, waren unten im Wohnzimmer geblieben. Ich war ganz allein im Hause, und konnte mir die Unterweisung, die ich von ihm erhalten hatte, zunutze machen. Ich erwies mich als eine geschickte Schülerin. Noch ehe die Laternen auf der Straße angezündet waren, hatte ich in meinem und seinem Zimmer alles darauf vorbereitet, nachts, wenn er sich eingeschlossen haben würde, Hand an ihn zu legen. Ich kann mich nicht erinnern, daß mich während all jener Stunden etwas von Furcht oder Zweifel angewandelt hätte. Ich verzehrte mein bißchen Abendbrot mit nicht mehr und nicht weniger Appetit als gewöhnlich. Die einzige Veränderung in meinem Wesen, deren ich mich erinnern kann, war die, daß ich ein eigentümliches Verlangen empfand, jemanden bei mir zu haben, der mir hätte Gesellschaft leisten können. Da ich keine Freunde hatte, die ich zu mir bitten konnte, ging ich hinunter, stellte mich vor die Haustür und sah mir die Vorübergehenden an. Ein herumschlüpfender Hund kam zu mir heran. Im Allgemeinen mag ich weder Hunde noch Tiere überhaupt leiden; aber diesen Hund lockte ich hinein und gab ihm zu essen. Er war vermutlich dazu abgerichtet, sich auf die Hinterbeine zu setzen und so um Futter zu bitten, wenigstens drückte er bei mir sein Verlangen nach mehr so aus. Ich lachte, - es scheint mit jetzt kaum glaublich, wenn ich daran zurückdenke, aber es ist doch wahr, ich lachte, bis mir die Tränen über die Backen liefen, über das kleine Tier, wie es da auf seinen Hinterbeinen saß, mit gespitzten Ohren, den Kopf auf die eine Seite geneigt und wie ihm der Mund nach den Nahrungsmitteln wässerte. Ich möchte wohl wissen, ob ich damals recht bei Sinnen war; ich glaube es beinahe nicht. Nachdem der Hund die Überreste meines Abendbrots ganz verzehrt hatte, fing er an zu winseln, um wieder auf die Straße hinausgelassen zu werden. Als ich die Haustür öffnete, um das Tier hinauszulassen, sah ich meinen Mann gerade über die Straße auf das Haus zukommen. „Bleibe fort“, rief ich ihm zu, „nur diese Nacht bleibe fort.“ Er war zu betrunken, um meine Worte zu hören, ging an mir vorüber und stolperte die Treppe hinauf. Ich folgte ihm und horchte auf der Treppe, und hörte, wie er seine Tür öffnete, wieder zuschlug und verschloß. Ich wartete ein wenig und ging dann ein paar Stufen weiter hinauf. Jetzt hörte ich, wie er aufs Bett fiel. Eine Minute später war er fest eingeschlafen und schnarchte laut. So war alles gekommen, wie es kommen mußte. Nach Verlauf von zwei Minuten hätte ich ihn, ohne das mindeste zu tun, was geeignet gewesen wäre, einen Verdacht gegen mich rege zu machen, ersticken können. Ich ging auf mein Zimmer und nahm das Tuch, das ich bereit gelegt hatte, zur Hand. Im Begriff, es zu tun, überkam mich plötzlich etwas, ich kann nicht deutlich sagen, was es eigentlich war, das Entsetzen packte mich und trieb mich fort zum Hause hinaus. Ich setzte meinen Hut auf, verschloß die Haustür von außen und nahm den Schlüssel zu mir.

Es war noch nicht zehn Uhr. Wenn irgendetwas in meinem verwirrten Kopf klar war, so war es der Wunsch, fortzulaufen und dieses Haus und meinen Mann nie wiederzusehen. Ich ging nach rechts hin bis ans Ende der Straße und kehrte wieder um; ich machte einen zweiten Versuch, Straße auf, Straße ab, aber zuletzt trieb es mich doch wieder nach dem Hause zurück. Ich sollte nicht fort, das Haus hielt mich an sich gefesselt, wie ein Hundehaus den an dasselbe geketteten Hund. Und wenn es mein Leben gekostet hätte, ich hätte nicht fort gekonnt.

In dem Augenblick, wo ich wieder ins Haus treten wollte, ging gerade eine Gesellschaft von lustigen jungen Männern und Frauen an mir vorüber. Sie hatten es sehr eilig.

„Beeilt euch“, sagte einer der Männer, „das Theater ist hier ganz in der Nähe, und wir können gerade noch die Posse sehen.“

Ich kehrte wieder um und folgte ihnen. Ich war sehr fromm erzogen worden und noch nie in meinem Leben in einem Theater gewesen. Der Gedanke fuhr mir durch den Kopf, daß es mich vielleicht, sozusagen, aus mir selbst herausreißen könnte, wenn ich etwas zu sehen bekäme, was mir ganz neu wäre, und was mich auf andere Gedanken bringen könnte. Die jungen Leute gingen ins Parterre und ich folgte ihnen dahin. Das Ding, was sie Posse nannten, hatte eben angefangen. Männer und Frauen kamen auf die Bühne, liefen hin und her, sprachen und gingen wieder weg. Es dauerte nicht lange und alle Leute im Parterre um mich her lachten aus vollem Halse und klatschten in die Hände. Der Lärm, den sie machten, ärgerte mich. Ich weiß nicht, wie ich den Zustand, in dem ich mich befand, schildern soll.

Meine Augen und meine Ohren versagten mir ihren Dienst zu sehen und zu hören, was die anderen Leute sagen und hörten. Es muß wohl etwas in meinem Gemüt gewesen sein, was sich zwischen mich und das auf der Szene Vorgehende drängte. Das Stück schien ganz lustig, aber dahinter steckte doch Gefahr und Tod. Die Schauspieler schwatzten und lachten, um die Leute zu betrügen und ihre Mordgedanken zu verbergen.

Und das merkte keiner außer mir, und meine Zunge war gefesselt, als ich versuchen wollte, es den anderen zu sagen.

Ich stand auf und lief hinaus. Kaum war ich auf der Straße, als mich meine Füße unwillkürlich nach dem Hause zurückbrachten. Ich rief einen Fiaker an, und hieß den Kutscher, mich soweit er es für einen Schilling könne, in der entgegengesetzten Richtung zu fahren.

Er setzte mich, ich weiß selbst nicht wo, ab. An der anderen Seite der Straße sah ich über einer offenen Tür eine illuminierte Inschrift. Auf meine Frage antwortete der Kutscher, es sei ein Tanzlokal. Tanzen war für mich etwas eben so Neues wie Theater. Ich hatte gerade noch einen Schilling bei mir, und gab ihn für das Entrée aus, um zu sehen, was mir das Tanzen für einen Eindruck machen würde. Die Lichter eines Kronleuchters machten den Saal so hell als wenn er in Flammen gestanden hätte. Die Musik machte einen fürchterlichen Lärm. Das Herumwirbeln von Männern und Weibern, die einander in den Armen lagen, war ein Anblick zum Tollwerden. Ich weiß nicht, was hier in mir vorging. Das Licht, das sich vom Kronleuchter her über den Saal ergoß, erschien mir plötzlich blutrot. Der Mann, der vor den Musikanten stand, und einen Stock in der Luft hin und her schwenkte, sah für mich aus wie der Satan, wie er auf einem Bilde in unserer Familienbibel zu sehen war.

Die Männer und Weiber, die fort und fort im Saal herumwirbelten, hatten totenbleiche Gesichter und waren in Leichentücher gehüllt. Ich stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Da ergriff mich jemand am Arm und führte mich zur Tür hinaus. Die Dunkelheit der Straße tat mir wohl, sie war mir behaglich und erquickend wie wenn sich eine kalte Hand auf eine heiße Stirn legt.

Ich ging im Dunkeln durch die Straßen ohne zu wissen wohin, in dem tröstlichen Glauben, daß ich meinen Weg verloren habe und daß ich mich bei Tagesanbruch meilenweit vom Hause entfernt finden würde.

Nach einer Weile fühlte ich mich zu erschöpft, um weiter zu gehen, und setzte mich auf eine Haustreppe nieder, um mich auszuruhen. Ich schlummerte ein wenig und erwachte wieder. Als ich aufstand, um wieder weiter zu gehen, sah ich zufällig die Haustür an. Sie trug dieselbe Hausnummer wie unser Haus. Ich sah genauer darauf und siehe da, ich hatte mich auf meiner eigenen Haustreppe ausgeruht. Alle meine Bedenken und alle meine inneren Kämpfe waren wie mit einem Schlage beseitigt, als ich diese Entdeckung machte. Ich konnte mich nicht länger darüber täuschen, was dieses beständige Zurückkehren nach dem Hause zu bedeuten habe; was ich auch zu tun versuchte, es sollte sein.

Ich öffnete die Haustür, ging hinauf und hörte ihn laut schnarchen, gerade wie er geschnarcht hatte, als ich fortgegangen war. Mich auf mein Bett setzend, nahm ich meinen Hut ab und fühlte mich völlig ruhig, weil ich wußte, es müsse geschehen. Ich feuchtete das Handtuch an, legte es in Bereitschaft und ging im Zimmer auf und ab.

Der Tag brach eben an. Die Sperlinge in den Bäumen auf dem naheliegenden Square fingen an zu zwitschern. Ich zog das Rouleau auf. Die Morgendämmerung schien zu mir zu sprechen: „Tue es jetzt, bevor das Tageslicht dein Tun so hell bescheint.“

Auch aus dem tiefen Schweigen, das rings um mich her herrschte, sprach eine freundliche Stimme zu mir: „Tue es jetzt und vertraue mir dein Geheimnis an.“ Ich wartete, bis die ersten Schläge der Kirchenuhr erklangen. Mit dem ersten Schlage legte ich ihm, ohne das Schloß an seiner Tür zu berühren, ohne einen Fuß in sein Zimmer zu setzen, das Handtuch aufs Gesicht. Und ehe die Glocke den letzten Schlag getan, hatte er aufgehört zu atmen. Als die Glocke schwieg und es wieder totenstill geworden war, lag auch er totenstill auf seinem Bette.

Die Hauptfigur des Romans erweckt in uns nur durch ihre edle Sinnesart Sympathien: als künstlerisches Produkt steht sie nicht über dem Niveau gewöhnlicher, aufopfernder Romanheldinnen. Sie hätte vielleicht an Interesse gewonnen, wenn uns ihr Fehltritt durch die detailierte Erzählung der ganzen Verführungsgeschichte glaubhaft gemacht worden wäre. Der Autor motiviert aber das fait accompli nur obenhin dadurch, daß Anne durch die körperlichen Vorzüge und den Athletenruhm Geoffreys bestochen worden sei. Das glauben wir aber nicht, denn er zeichnet später Anne als eine sehr feinfühlige, tiefempfindende Natur. Im Übrigen gleicht sie, wie gesagt, sehr den leidenden Heldinnen englischer Romane und besonders denen Wilkie Collins‘ selbst, welche die immer höher auf sie gehäufte Last von Qualen mit unglaublicher Widerstandskraft ertragen und sich mit unbeugsamer Energie davon zu befreien suchen.

Auch Blanche erweckt kein intensives Interesse. Sie ist nur ein nettes, gutes Mädchen, welches sehr nettt und gut gezeichnet ist.

Die andere Hauptperson des Romans, Geoffrey Delamayn, ist mit dem größten Nachdruck hervorgehoben und tritt mit dem Anspruch auf, als Typus einer außerordentlich zahlreichen Menschenklasse Jung-Englands zu gelten. Der Verfasser verficht seine Ansicht von der unberechenbaren Schädlichkeit der übertriebenen Freude am Spport mit einer gar scharf zugespitzten, schonungslosen Feder. Wir Deutschen werden mit am allerersten geneigt sein, seiner Philippika gegen das unmäßige Betrieben des Ruder-, Box- und Rennsports Beifall zu klatschen. Sind es doch gerade Angehörige dieser Gattung von jungen Engländern, welche durch ihre rohen Manieren und ihre Unverschämtheit die englische Nation bei uns diskreditieren und lächerlich machen helfen. Wir merken es allen den Abschnitten, welche von diesen Dingen handeln, an, wie die Verachtung dieser Menschengattung und der Ingrimm über die durch sie hervorgebrachte Korruption des Volksbewußtseins in dem Autor gegärt haben. Infolge dessen sind sie auch am brillantesten ausgeführt, und da sie uns ihres Gegenstandes wegen weit näher berühren, als die schottische Ehefrage, so halte ich mich für berechtigt, einen Teil der Auslassungen über die schädlichen Folgen des Sportwahnsinns und einen Teil der grotesk satirischen Beschreibungen seiner Äußerungen hierher zu setzen.

Als Geoffrey dieses auf dem Wege nach dem Hotel erwog, gelangte er zu dem Entschluß, daß es richtig sein würde, Anne dadurch hinzuhalten, daß er ihr mitteilte, wie die Dinge augenblicklich stünden. Im Hotel angekommen, setzte er sich hin, um den Brief zu schreiben, wurde unschlüssig und zerriß das Geschriebene, wurde wieder unschlüssig und fing von neuem an, wurde zum dritten Male unschlüssig, zerriß den Brief wieder, sprang auf und gestand sich in nicht wiederzugebenden Ausdrücken, daß er, wenn es ihm auch das Leben kosten sollte, nicht zu einem Entschluß darüber gelangen könne, was das Richtige sei, zu schreiben oder zu warten. In diesem kritischen Augenblick gab ihm sein gesunder physischer Instinkt physische Mittel als Erleichterung an die Hand. „Mir ist zumute, als stecke ich in einem Sumpfe, ich will ein Bad nehmen.“ Er ging in eine große, viele Räume umfassende und mit Einrichtungen zu allen möglichen Lagen und Körpermanipulationen eingerichtete Badeanstalt. Er nahm ein Dampfbad, dazu ein Vollbad, dann ein Regenbad und ein gewaltiges Sturzbad. Er legte sich auf den Rücken, dann auf den Bauch, die Badediener kneteten und rieben ihn voll Ehrerbietung vom Kopf bis zum Fuß mit wohlgeübten Händen. Nach diesen Prozeduren sah er glatt, rein, rosig und schön aus. Er kehrte nun ins Hotel zurück und fing an zu schreiben, aber siehe da, die unerträgliche Unentschlossenheit war nicht von ihm gewichen, hatte sich nicht wegbaden lassen wollen. Dieses Mal sollte Anne an allem Schuld sein. „Die verfluchte Person wird mich noch ruinieren“, sagte Geoffrey, indem er seinen Hut ergriff, „ich will es noch einmal mit den Hanteln versuchen.“ Um durch dieses neue Mittel sein träges Gehirn aufzustacheln, mußte er in ein benachbartes Gasthaus gehen, dessen Wirt ein Läufer war, der die Ehre gehabt hatte, ihn verschiedene Male zu öffentlichen athletischen Wettkämpfen einzuüben. „Ein Zimmer für mich und die schwersten Hanteln, die Sie haben!“ rief ihm Geoffrey entgegen.

Er zog sich Rock und Weste aus und ging mit den schweren Gewichten in jeder Hand an die Arbeit, indem er sie auf und niederwärts, vorwärts und rückwärts nach jeder erdenklichen Richtung hin schwang, bis seine prachtvollen Muskeln so gespannt waren, daß die geschmeidige Haut bersten zu wollen schien. Allmählich fingen seine Lebensgeister an, wieder wach zu werden. Die starken Körperübungen wirkten berauschend auf den starken Mann. Seiner Aufregung gab er durch die heillosesten Flüche Ausdruck, indem er in Erwiderung der ihm reichlich gespendeten Beifallsbezeugungen des Gymnastikers und seines Sohnes abwechselnd Donner und Blitz, Pulver und Blei rief. „Tinte, Feder und Papier her!“ schrie er, als er endlich von der Körperübung erschöpft war, „ich habe mich entschlossen, ich will schreiben und die Sache los sein!“

Wie gesagt, so getan; er ging ans Werk und beendigte den Brief auf der Stelle; im nächsten Augenblick hätte der Brief sicher im Postkasten gelegen. Aber gerade in diesem Augenblick ergriff ihn wieder seine krankhafte Unentschlossenheit. Er öffnete den Brief wieder, las ihn nochmals und zerriß ihn dann wieder. „Nun weiß ich doch noch nicht, was ich will!“ rief Geoffrey, indem er seine großen, wilden, blauen Augen auf den Professor der Gymnastik heftete. „Donner und Blitz, Pulver und Blei! Lassen Sie Crouch kommen.“ Crouch war überall da, wo englische Mannhaftigkeit respektiert wurde, ein bekannter und hochgeschätzter, ins Privatleben zurückgetretener Preisfechter. Er erschien jetzt mit dem dritten und letzten Geoffrey Delamayn bekannten Mittel, seinen Geist frei zu machen, nämlich mit zwei Paar Boxhandschuhen in einem Reisesack. Geoffrey und der Preisfechter zogen die Handschuhe an und stellten sich in der klassisch korrekten Stellung erprobter Faustkämpfer einander gegenüber. „Aber keine Spielerei!“ brummte Geoffrey; „schlagen Sie ordentlich, Sie Schuft! Als ob es wieder um Preise ginge.“

Kein Mensch auf der Welt wußte besser, was wirkliches Schlagen heißt und welche furchtbaren Schläge selbst mit anscheinend so harmlosen Waffen, wie es wattierte Handschuhe sind, ausgeteilt werden können, als der große, schreckliche Crouch. Er tat aber auch nur, als ob er sich den Wünschen Geoffreys füge. Dieser belohnte ihn für seine Höflichkeit und Rücksichtsnahme damit, daß er ihn zu Boden schlug. Der große Schreckliche erhob sich wieder, ohne eine Miene zu verziehen.

„Gut getroffen, gut getroffen! Mr. Delamayn!“ sagte er, „versuchen Sie es jetzt mit der anderen Faust.“

Geoffrey war nicht so kaltblütig geblieben, indem er Tod und Verderben auf die schon oft genug braun und blau geschlagenen Augen Crouchs herniederrief, drohte er, ihm für immer seine Gunst und Protektion zu entziehen, wenn er nicht seine verfluchte Höflichkeit aufgebe und auf der Stelle gewaltig zuschlüge.

Der Held von hundert Faustkämpfen verzagte vor der ihm gestellten Aussicht. „Ich habe eine Familie zu ernähren!“ bemerkte Crouch, „wenn Sie es aber durchaus wünschen, da haben Sie‘s!“

Geoffrey stürzte mit solcher Gewalt zu Boden, daß das ganze Haus davon erdröhnte; aber im Augenblick stand er wieder auf den Beinen und war auch jetzt noch nicht befriedigt. „Ach was, mit Ihrem Umwerfen, schlagen Sie ordentlich auf den Kopf, Donner und Blitz, Pulver und Blei! Schlagen Sie mir die Geschichte heraus, zielen Sie nach dem Kopfe.“

Der gehorsame Crouch zielte nach dem Kopfe. Die beiden gaben und empfingen Schläge, die jedes zivilisierte Mitglied der menschlichen Gesellschaft auf der Stelle bwußtlos gemacht, vielleicht getötet haben würde. Der Handschuh des Preisfechters fiel jetzt wie ein Hammer abwechselnd auf die eine und dann auf die andere Seite des eisernen Schädels seines vornehmen Gegners, Schlag auf Schlag, gräßlich anzuhören, bis endlich Geoffrey selbst sich für befriedigt erklärte. „Ich danke Ihnen, Crouch“, sagte er zum ersten Male in einem höflichen Tone. „Nun ist es gut! Jetzt fühle ich mich frisch und klar“, er schüttelte drei bis vier Mal den Kopf, trank ein mächtiges Glas Bier und fand seine gute Laune wie durch einen Zauber wieder.

„Wünschen Sie wieder Feder und Tinte?“ fragte sein gymnastischer Wirt.

„Nein!“ antwortete Geoffrey, „jetzt bin ich die Geschichte los, hole der Teufel Feder und Tinte. Ich will einige meiner Kameraden aufsuchen und mit ihnen ins Theater gehen.“ Er verließ das Wirtshaus in der glücklichsten und heitersten Stimmung. Durch die stimulierende Wirkung von Crouches Handschuhen begeistert, hatte er die lähmende Schläfrigkeit seines Hirns abgeworfen und fühlte sich wieder ganz im Besitz seiner natürlichen Schlauheit. „An Anne schreiben? Welcher vernünftige Mensch würde das ohne die äußerste Not tun. Wir wollen ruhig abwarten und sehen, was die nächsten achtundvierzig Stunden bringen und dann schreiben oder sie im Stich lassen, je nachdem die Dinge sich gestalten werden.“ Das war ja so klar wie der Tag für jeden, der sehen konnte, und dank dem großen Crouch konnte er jetzt sehen und so ging er fort in der richtigen Stimmung für ein munteres Dinner und einen Abend im Theater mit seinen Universitätsfreunden.


Natürlich ist diese Schilderung der komischen Wirkung halber gehörig übertrieben, darum aber nicht minder charakteristisch.

Nach dieser Probe wird wohl jedermann den folgenden Anschauungen Sir Patricks Recht geben:

Jedermann bei gesundem Menschenverstand muß es zugeben, daß in den meisten Fällen ein Mann um so geschickter zu geistiger Tätigkeit sein wird, je mehr er in verständiger Weise die Entwicklung seiner körperlichen Kräfte mit der Tätigkeit seines Geistes zu verbinden weiß; streitig ist nur die Frage nach dem richtigen Verhältnis beider Tätigkeiten, und was ich unserer Zeit vorwerfe, ist, daß sie für das richtige Verhältnis eben keinen Sinn hat. Die öffentliche Meinung in England scheint mir auf dem Wege, die Entwicklung der Muskelkraft der Ausbildung des Geistes nicht gleich zu achten, sondern sich praktisch, wenn nicht theoretisch, zu der absurden Übertreibung zu versteigen, daß sie körperliche Übungen als das wichtigste und Ausbildung des Geistes als das weniger Wichtige betrachtet. Nehmen wir einen bestimmten Fall an. Ich finde in der Nation keinen Enthusiasmus, der an Intensität und Allgemeinheit entfernt dem durch ihre Universitäts-Wettruderkämpfe angeregten gleichkäme und weiter, ich finde, daß Ihre athletische Erziehung zu einem Gegenstande öffentlicher Feste in Schulen und Kollegien gemacht wird; und nun frage ich jeden Unbefangenen, was den öffentlichen Enthusiasmus am meisten anregt und was den hervorragendsten Platz in den öffentlichen Blättern einnimmt: die in den Schulen stattfindende Schaustellung dessen, was die Schlüer mit ihrem Geiste vermögen, oder die an Wetttagen stattfindende Schaustellung dessen, was die Schüler mit ihrem Körper zu leisten im Stande sind? Sie wissen sehr gut, welche die öffentlichen Blätter am meisten beschäftigt und welche als natürliche Konsequenz dem Helden des Tages die höchsten gesellschaftlichen Ehren einbringt.

Wo ist der Einfluß dieses modernen Ausbruches der männlichen Begeisterung auf die ernsten Angelegenheiten des Lebens, und in welcher Beziehung hat er auf den Charakter des Volkes im Allgemeinen günstig gewirkt? Sind wir mehr bereit, unsere eigenen kleinen Privatinteressen dem öffentlichen Wohle zu opfern, als es unsere Vorfahren waren? Behandeln wir die ernsten sozialen Fragen unserer Zeit in einer redlicheren und entschiedeneren Weise? Haben sich unsere sittlichen Begriffe von dem, was im Handel und Wandel zulässig oder nicht zulässig ist, geläutert? Herrscht in den öffentlichen Belustigungen, welche überall und in allen Ländern ein getreues Abbild des öffentlichen Geschmacks sind, ein besserer und feinerer Ton? Geben Sie mir auf diese Fragen unter Beibringung überzeugender Beweise bejahende Antworten und ich will zugeben, daß der gegenwärtig herrschende Fanatismus für athletische Spiele etwas Besseres ist, als eine neue Form unserer alten insularen Prahlsucht und Barbarei!...

Ich behaupte, daß ein Zustand der Dinge, bei welchem die herrschenden Anschauungen dazu führten, die Entwicklung der Körperkraft praktisch über geistige und moralische Ausbildung zu setzen, ein positiv schlechter und gefährlicher ist, weil er das angeborene Widerstreben des Menschen, sich den Forderungen, welche sittliche und geistige Ausbildung notwendig an ihn stellen, zu widersetzen ermutigt. Was tut ein Knabe am liebsten? Versucht er lieber, wie hoch er springen oder wie viel er lernen kann? Mit welcher Art von Übungen beschäftigen sich junge Leute am liebsten? Mit der Übung im Handhaben eines Ruders oder mit der Übung in der Befolgung der Lehren, die uns vorschreiben, Böses mit Gutem zu vergelten und unsere Nächsten wie uns selbst zu lieben? Welchen von diesen Versuchen, welche von diesen beiden Übungen mußte die englische Gesellschaft am eifrigsten befördern und welcher Versuch und welche Übung befördert sie in der Tat am eifrigsten?

Ich habe gesagt, daß ein Mann nur um so geschickter sein werde, sich mit geistigen Dingen zu beschäftigen, je mehr er seine Körperkräfte entwickelt habe und ich sage das noch einmal, vorausgesetzt, daß die Entwicklung der Körperkraft in gehörigen Schranken bleibt. Aber wenn die herrschenden Anschauungen dazu führen, die Entwicklung der Körperkraft geradezu über die Ausbildung des Geistes zu setzen, so behaupte ich, daß sich diese Anschauungen zu einem gefährlichen Extrem versteigen. Dann wird die Körperkraft den ersten Platz in den Gedanken der jungen Leute einnehmen, ihr Interesse am meisten fesseln, den Löwenanteil ihrer Zeit in Anspruch nehmen und auf diese Weise, abgesehen von den wenigen rein exzeptionellen Fällen, langsam und sicher dahin führen, die jungen Leute für alle guten, sittlichen und geistigen Zwecke unempfänglich und zu ungebildeten, vielleicht gar gefährlichen Menschen zu machen.

Ein Mann kann von guter Familie, in guten Verhältnissen, gut gekleidet und gut genährt sein, aber wenn er ungebildet ist, so ist er aller dieser sozialen Vorteile ungeachtet, bei seinem Mangel an Bildung, ein zum Bösen besonders geneigter Mensch. Mißverstehen Sie mich nicht. Ich bin weit entfernt zu behaupten, daß die gegenwärtig herrschende Leidenschaft für ausschließlich körperliche Ausbildung unvermeidlich zur tiefsten Verderbnis führen muß. Zum Glück für die Gesellschaft ist mehr oder weniger alle Schlechtigkeit der Individuen vor allem das Resultat einer besonderen Versuchung. Die überwiegende Mehrzahl aller Menschen geht, Gott sei Dank! Durchs Leben ohne anderen, als den gewöhnlichen Versuchungen ausgesetzt zu sein. Tausende der jungen Männer, die sich der Lieblingsbeschäftigung unserer Zeit hingeben, gehen durchs Leben, ohne schlimmere Folgen für sich davonzutragen, als einen rohen Ton, ein rohes Benehmen und eine beklagenswerte Unempfänglichkeit für die höheren und milderen Gefühle, welche das Leben gebildeter Menschen reinigen und erfreuen. Nehmen Sie aber den andern Fall, der jedem von uns begegnen kann, den Fall einer besonderen Versuchung, die an einen jungen Mann unserer gesellschaftlichen Stellung herantritt, und lassen Sie mich Mr. Delamayn bitten, dem, was ich jetzt zu sagen habe, ein geneigtes Ohr zu leihen, weil es eben das ist, was ich wirklich ursprünglich ausgesprochen habe und was wesentlich von dem verschieden ist, womit er einverstanden zu sein sich das Ansehen gibt und was ich in der Tat nie behauptet habe.

Nehmen wir also den Fall, von dem ich eben rede, den Fall eines jungen Mannes unserer Zeit, der sich aller Vorteile einer körperlichen Ausbildung erfreut. Nehmen wir an, daß an einen solchen jungen Mann eine Versuchung herantritt, welche es ihm nahe legt, in seinem eigenen Interesse die wilden Instinkte, welche in jeder Menschenbrust schlummern, die Instinkte der Selbsthilfe und der Grausamkeit, welche allen Verbrechen zugrunde liegen, zur Anwendung zu bringen. Nehmen wir weiter an, daß dieser junge Mann einer anderen Person, die ihm nichts zu Leide getan hat, in einem Verhältnis gegenüber steht, welches ihn vor die Alternative stellt, entweder diese andere Person oder seine eigenen Wünsche und Interessen zu opfern. Nehmen wir an, daß das Glück und das Leben seines Nebenmenschen ihm bei Erreichung seiner Wünsche im Wege steht, daß er das Glück und das Leben dieses Menschen vernichten kann, ohne sich einer erkennbaren Gefahr auszusetzen. Was kann ihn bei der Erziehung, die ihm zuteil geworden ist, abhalten, unter gänzlicher Nichtachtung seines Nebenmenschen gerade auf sein Ziel loszugehen? Glauben Sie, daß die Geschicklichkeit im Rudern, die Schnelligkeit im Wettlaufen, die bewunderungswürdige Ausdauer in anderen körperlichen Übungen, welche er sich durch anhaltende Pflege seiner Körperkräfte unter Ausschluß der Ausbildung seines Geistes angeeignet hat, glauben Sie, daß diese körperlichen Fähigkeiten ihm dazu nützen werden, einen rein sittlichen Sieg über seine Selbstsucht und Grausamkeit davon zu tragen? Sie werden nicht einmal hinreichen, ihn erkennen zu lassen, daß er aus Selbstsucht und Grausamkeit handelt. Das leitende Prinzip bei seinen Ruder- und Wettkämpfen besteht gerade darin, sich jedes Vorteils über seinen Nebenmenschen zu bedienen, den er mit seiner überlegenen Kraft und überlegenen List erringen kann. In seiner Erziehung hat nichts gelegen, was seine barbarische Herzenshärte hätte mildern und die barbarische Finsternis seines Geistes hätte klären können. Wenn die Versuchung an einen solchen Menschen herantritt, so findet sie ihn wehrlos, gleichviel wer er ist und wie hoch er zufällig auf der sozialen Stufenleiter steht; er ist in jeder sittlichen Beziehung ein Tier und weiter nichts. Wenn mein Glück ihm im Wege steht, so wird er, wenn er es ungestraft zu tun hoffen kann, dieses Glück mit Füßen treten und wenn ihm demnächst mein Leben im Wege ist, so wird er, wenn er es ungestraft tun kann, auch dieses vernichten, und zwar wird er das, mein werter Mr. Delamayn, nicht tun als ein Opfer eines unabwendbaren Verhängnisses oder eines blinden Zufalls, sondern als ein Mann, der erntet, was er gesät hat. Das, Mr. Delamayn, ist der Fall, den ich als einen äußersten im Beginn der Diskussion aufgestellt habe. Nur als einen solchen äußersten, aber zugleich vollkommen möglichen Fall stelle ich ihn jetzt abermals auf!

Wenn Sie mir das Recht bestritten, ein solches Beispiel zur Illustration meiner Ansicht zu wählen, so müssen Sie entweder leugnen, daß eine Versuchung zur Schlechtigkeit einem Manne in einer guten sozialen Stellung nahe treten kann, oder Sie müssen behaupten, daß nur Leute, die von Natur über jede Versuchung erhaben sind, sich athletischen Übungen hingeben können; das ist meine Verteidigung. - Bei der Aufstellung meines Falles hat mich meine aufrichtige Hochachtung für sittliche Reinheit und Bildung und meine aufrichtige Bewunderung für diejenigen jungen Leute unter uns geleitet, welche der ansteckenden Wirkung der um sie her herrschenden Barbarei Widerstand leisten. Auf ihrer Zukunft ruhet die Hoffnung für die Zukunft Englands. Ich bin zu Ende!“

Der ganze Groll, den der Verfasser gerechter Weise über diese Degeneration der vaterländischen Jugend empfindet, macht sich gegen das Ende des langen Romanes noch einmal Luft in den bitter sarkastischen Bemerkungen, welche einem Fremden, der dem Wettlaufen beiwohnt, in den Mund gelegt werden, und mit welchem ich meine Besprechung des Werkes schließe:

Der Fremde mischte sich unter die versammelte Menge und sah sich das soziale Schauspiel, das sich seinen Blicken darbot, etwas genauer an.

Er hatte dieselben Menschen schon bei anderen Gelegenheiten gesehen, zum Beispiel im Theater, und hatte dort ihre Sitten und Gebräuche mit Staunen und Überraschung beobachtet. So oft der Vorhang fiel, zeigten sie ein so geringens Interesse an dem, was sie eben auf der Bühne gesehen hatten, daß sie sich während der Zwischenakte laut miteinander unterhielten.

Bei offener Szene aber nahmen sie das dargestellte Stück, wenn es an die höheren und edleren Regungen des menschlichen Gemüts appellierte, gelangweilt oder mit höhnischen Bemerkungen auf. Nach der vorherrschenden Anschauung dieser Landsleute Shakespeares hatte der dramatische Schriftsteller nur zwei Pflichten, sie lachen zu machen und sich so kurz wie möglich zu fassen. Die beiden größten Verdienste eines Bühnenbesitzers in England bestanden, nach dem seltenen Applaus der gebildeten Besucher seines Theaters zu urteilen, darin, sehr viel Geld für seine Dekorationen auszugeben und möglichst viel Ballettänzerinnen zu engagieren.

Und nicht bloß im Theater, sondern auch an anderen öffentlichen Orten und in anderen Versammlungen hatte der Fremde, so oft er an das Denkvermögen und das Herz der eleganten entlischen Gesellschaft appellierte, dieselbe stumpfe Apathie und dieselbe stupide Geringschätzung beobachtet. Auf allen Mienen las man deutlich: der Himmel bewahre uns davor, an irgendetwas anderem Vergnügen zu finden, als an groben Scherzen und Skandal, und vor irgend etwas anderem Respekt zu haben, als vor Rang und Geld.

Hier war das alles anders. Hier zeigte sich das starke Gefühl, das atemlose Interesse, der echte Enthusiasmus, den man anderswo vergebens suchte. Hier standen die stolzen Herren, die es nicht der Mühe wert fanden den Mund aufzutun, wenn es sich um einen Kunstgenuß handelte und schrieen sich in unausgesetzten Ausbrüchen fanatischen Beifalls heiser. Hier saßen die zarten Damen, die schon bei der Idee, nachdenken und empfinden zu müssen, hinter ihren Fächern gähnten, und wehten, unter ihrer Schminke vor Aufregung errötend, begeistert mit ihren Schnupftüchern.

Der Fremde betrachtete dieses Schauspiel und suchte sich die Bedeutung desselben, nach den ihm als Bewohner eines zivilisierten Landes geläufigen Gesichtspunkten, klar zu machen.

Er war noch mit diesem Versuch beschäftigt, als etwas Neues seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Einige Hürden, welche dazu gedient hatten, den gegenwärtigen befriedigenden Zustand der Ausbildung der Springkunst unter den höheren Klassen der Gesellschaft vorzuführen, wurden fortgenommen. Die privilegierten Personen, welche bestimmte Pflichten in dem freien Raum zu erfüllen hatten, sahen sich in demselben um und verschwanden dann einer nach dem andern. Atemlos gespannte Erwartung durchdrang die ganze Versammlung. Offenbar sollte jetzt etwas besonders Interessantes und Wichtiges an die Reihe kommen.

Plötzlich wurde das Schweigen durch ein Hurrageschrei des auf der Landstraße außerhalb der Rennbahn stehenden Pöbels unterbrochen. Die Leute sahen sich einander mit aufgeregten Blicken an und riefen: „Einer von Ihnen ist da.“

Wieder trat ein allgemeines Schweigen ein, das abermals durch Beifallsgeschrei unterbrochen wurde. Die Leute nickten einander mit dem Ausdruck der Erlösung zu und riefen: „Jetzt sind sie beide da.“ Und dann trat wieder das Schweigen der gespannten Erwartung ein, und alle Augen wandten sich einem bestimmten Punkte des freien Raumes zu, an welchem sich ein kleiner hölzerner Pavillon befand, vor dessen offenem Fenster die Jalousien herabgelassen waren und dessen Tür geschlossen war.

Die atemlose Stille der großen Menschenmenge um ihn her machte einen tiefen Eindruck auf den Fremden. Er fing an, ohne selbst zu wissen warum, an dem Vorgange einen lebhaften Anteil zu nehmen. Er fühlte, daß er im Begriff stehe, das englische Volk zu verstehen.

In diesem Augenblick wurde offenbar eine sehr feierlich ernste Zeremonie vorbereitet. Sollte wohl ein großer Redner sich anschicken, das Wort an die versammelte Menge zu richten, oder wollte man die Gedenkfeier eines ruhmwürdigen Ereignisses begehen, oder endlich, sollte hier ein Gottesdienst abgehalten werden?

Der Fremde blickte abermals umher, ob er sich noch irgendwo die gewünschte Auskunft verschaffen könne. Zwei Herren, die in ihrer Erscheinung in Rücksicht auf seine Manieren von den meisten der anwesenden Zuschauer vorteilhaft abstachen, bahnten sich eben in diesem Augenblick, da wo der Fremde stand, langsam einen Weg durch die Menge hindurch. Er fragte dieselben mit respektvoller Höflichkeit, welcher Art die Nationalfeier sei, die eben vorbereitet würde.

Er erhielt die Auskunft, daß ein paar starke, junge Männer im Begriff ständen, eine gewisse Anzahl von Malen um den freien Raum herumzulaufen, und zwar zu dem Zweck, um festzustellen, wer von Beiden am schnellsten laufen könne.

Der Fremde erhob Hände und Augen zum Himmel und rief: „O, du weise Vorsehung! Wer hätte es für möglich gehalten, daß auf deiner Welt auch Geschöpfe wie diese wandeln?!“

Mit diesem Aufruf wandte er der Rennbahn den Rücken und ging von dannen.

Auf seinem Heimwege wollte der Fremde sich seines Taschentuchs bedienen und gewahrte, daß es fort sei. Er fühlte dann nach seiner Börse und fand, daß auch sie verschwunden sei. Als er wieder in sein Vaterland zurückgekehrt war, wurden wißbegierige Fragen über England an ihn gerichtet. Er hatte nur eine Antwort auf alle diese Fragen: „Die ganze Nation ist mir ein Rätsel. Von allen Engländern sind mir nur die englischen Diebe ganz verständlich.“


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