Die Frau in Weiß

Die Aussage Walter Hartrights in Clement's Inn zu London.



I.

Es war am letzten Julitage. Der lange, heiße Sommer ging zu Ende, und wir müden Pilger des Pflasters von London begannen an die Wolkenschatten auf den Kornfeldern und die Herbstbrisen am Meeresstrande zu denken.

Was mein armes Selbst betrifft, so ließ mich der scheidende Sommer arm an Kräften, arm an Frohsinn und, wenn ich die Wahrheit gestehen soll, auch arm an Gelde zurück. Ich hatte meinen Erwerb während des verstrichenen Jahres nicht so sorgsam zu Rathe gehalten wie gewöhnlich, und da war es kein Wunder, daß meine Verschwendung mich jetzt in die Lage brachte, den Herbst auf sparsame Weise in meiner Mutter Häuschen in Hampstead und in meinem eigenen Junggesellenquartier in London zuzubringen.

Der Abend, dessen erinnere ich mich noch, war still und der Himmel umzogen; die Luft von London war so schwer, das ferne Summen des Straßenverkehres so schwach wie je; des Lebens kleiner Puls in mir, das große Herz der Stadt um mich her schienen beide gleichzeitig und mit der sinkenden Sonne matter und matter zu werden. Ich legte mein Buch von mir – ich hatte weniger darin gelesen, als vielmehr darüber geträumt – und verließ mein Zimmer, um in die kühle Abendluft der Vorstädte hinaus zu wandern. Es war einer jener Abende, die ich allwöchentlich bei meiner Mutter und Schwester zubrachte, und ich richtete also meine Schritts nordwärts nach Hampstead zu.

Begebenheiten, die ich noch zu erzählen habe, nöthigen mich, hier zu erwähnen, daß mein Vater zu der Zeit, von der ich jetzt schreibe, schon seit einigen Jahren verstorben und daß meine Schwester Sara und ich die einzigen überlebenden von fünf Geschwistern waren. Mein Vater war, wie ich, Zeichenlehrer. Seine Thätigkeit nun in diesem Berufe war im höchsten Grade lohnend für ihn gewesen, und seine zärtliche Besorgniß, die Zukunft Derer zu sichern, die von seinen Arbeiten abhängig waren, hatte ihn vom Augenblicke seiner Verheiratung an veranlaßt, einen weit größeren Theil seines Erwerbs der Versicherung seines Lebens zu widmen, als die meisten Leute für diesen Zweck nöthig erachten. Dieser bewunderungswürdigen Vorsicht und Aufopferung hatten meine Mutter und Schwester es zu danken, daß sie nach seinem Tode ebenso unabhängig von der Welt waren, wie sie es während seiner Lebenszeit gewesen. Ich erbte seine Kundschaft und hatte alle Ursache, für die Aussichten dankbar zu sein, die mich bei meinem Eintritte in’s Leben begrüßten.

Das stille Zwielicht zitterte noch auf den Hügeln der Heide, und London war unter mir im Schatten des wolkenumzogenen Nachthimmels in einen schwarzen Abgrund hinabgesunken, als ich vor dem Gartenpförtchen des Häuschens meiner Mutter stand. Ich hatte kaum geschellt, als schon die Hausthür heftig geöffnet wurde; anstatt der Magd erschien mein würdiger italienischer Freund, Professor Pesca, und stürzte mir mit einem gellenden Freudenschrei – einer wahren Parodie auf einen englischen »Cheer« – entgegen.

Um seiner selbst willen und – erlaube man mir hinzuzufügen – auch um meinetwillen verdient der Professor die Auszeichnung einer förmlichen Vorstellung. Machte ihn doch der Zufall zum Ausgangspunkte der seltsamen Familiengeschichte, deren Schilderung sich in diesen Blättern vor uns aufrollen soll.

Ich war mit meinem italienischen Freunde zuerst dadurch bekannt geworden, daß ich ihm in großen Häusern begegnete, wo er in seiner Muttersprache, ich im Zeichnen Unterricht ertheilte. Alles, was ich damals von seiner Lebensgeschichte wußte, war, daß er an der Universität Padua angestellt gewesen, daß er Italien aus politischen Gründen verlassen (welcher Art dieselben gewesen, weigerte er sich, irgend Jemandem mitzutheilen) und daß er seit vielen Jahren als Lehrer seiner Muttersprache anständig beschäftigt sei.

Ohne geradezu ein Zwerg zu sein – denn er war vom Kopfe bis zu den Füßen vollkommen proportionirt – war Pesca, glaube ich, das kleinste menschliche Wesen, das ich je außerhalb einer Schaubude gesehen habe. Durch seine persönliche Erscheinung überall bemerkbar, fiel er auch noch ferner überall, wo er sich bewegte, durch seine harmlose Sonderlingsart auf. Eine vorherrschende Idee nämlich schien bei ihm die zu sein, daß er dem Lande, das ihm eine Zuflucht und seinen Lebensunterhalt gegeben, seine Dankbarkeit beweisen müsse, indem er sein Möglichstes thue, sich zu einem Engländer heranzubilden. Nicht zufrieden damit, der Nation im Allgemeinen dadurch ein Kompliment zu machen, daß er beständig einen Regenschirm, Gamaschen und einen weißen Hut trug, trachtete der Professor auch darnach, in seinen Gewohnheiten und Vergnügungen sowohl, wie in seiner äußeren Erscheinung ein Engländer zu werden. Da er fand, daß wir als Nation uns durch unsere Liebe zu Körperübungen auszeichneten, gab sich der kleine Professor in der Unschuld seines Herzens aus dem Stegreif all unseren englischen Spielen und Vergnügungen hin, wo er nur immer Gelegenheit dazu fand, in der festen Ueberzeugung, daß er durch Willenskraft sich ebensogut unsere Leibesübungen aneignen könnte als unsere nationalen Gamaschen und unseren nationalen weißen Hut.

Ich hatte ihn auf der Fuchsjagd und beim Cricket- (Schlagball)spiele blindlings sein Leben in die Schanze schlagen sehen; und bald darauf sah ich ihn ebenso blindlings sein Leben in der See bei Brighton auf’s Spiel setzen.

Wir hatten einander dort durch Zufall getroffen und gingen zusammen zum Baden. Wären wir mit einer nur meinem Volke eigenen Körperübung beschäftigt gewesen, so hätte ich natürlich sorgfältig nach Pesca gesehen; da aber andere Nationen sich meist ebensogut im Wasser zu bewegen verstehen wie wir Engländer, so fiel es mir keinen Augenblick ein, daß die Schwimmkunst zu der Liste jener männlichen Körperübungen gehören könne, die der Professor auf eigene Hand lernen zu können glaubte.

Bald nachdem wir Beide das Ufer verlassen, hielt ich im Schwimmen inne, da ich fand, daß mein Freund mich nicht einholte, und wandte mich nach ihm um. Zu meinem Erstaunen und Entsetzen sah ich zwischen mir und dem Strande Nichts als zwei kleine weiße Arme, die einen Augenblick über dem Wasser hin und her schlugen und dann verschwanden. Als ich an derselben Stelle hinuntertauchte, lag der kleine Mann ruhig zusammengerollt in einer Höhlung des Ufergesteines und sah nun merklich kleiner aus, als ich ihn je zuvor gesehen hatte. Während ich ihn an’s Land trug – ein Zeitraum von wenigen Minuten – kam er in der frischen Luft wieder zum Leben zurück, und unter meinem Beistande gelang es ihm, die Stufen der Badekabine hinanzugehen. Mit seiner theilweisen Wiederherstellung kehrte ihm auch seine wunderbare Selbsttäuschung in Bezug auf das Schwimmen wieder zurück. Sobald er mit seinen klappernden Zähnen wieder sprechen konnte, lächelte er gedankenlos und meinte, es müsse ein Krampf gewesen sein.

Sobald er sich vollkommen wieder erholt und am Strande zu mir gesellt hatte, brach seine warme, südliche Natur augenblicklich durch alle künstliche, englische Zurückhaltung. Er überschüttete mich mit den wildesten Ausdrücken von Zuneigung – erklärte leidenschaftlich in seiner ausschweifenden italienischen Weise, daß sein Leben hinfort mir geweiht sei und daß er nicht eher glücklich sein werde, als bis er Gelegenheit gefunden, mir zum Beweise seiner Dankbarkeit einen Dienst zu leisten, den ich meinerseits bis an’s Ende meines Lebens nicht werde vergessen können. Ich that mein Möglichstes, dem Strome seiner Thränen und Beteuerungen Einhalt zu thun, indem ich das ganze Abenteuer von der heiteren Seite aufnahm, und es gelang mir endlich, wie ich mir einbildete, Pesca’s überschwängliche Dankbarkeit gegen mich zu mäßigen.

Ich ahnte damals – und auch später, als unsere angenehmen Ferientage in Brighton zu Ende gingen – freilich nicht, daß die Gelegenheit, mir zu dienen, nach der mein dankbarer Freund sich so feurig sehnte, so bald kommen sollte; daß er sie dann augenblicklich so eifrig ergreifen und dadurch den ganzen Lauf meines Lebens in einen neuen Kanal leiten und mein Wesen so verändern würde, daß ich mich selbst kaum wiedererkannte.

Und doch war dem so. Wäre ich nicht nach Professor Pesca untergetaucht, als er in seinem Steinbette unter dem Wasser lag, so wäre ich aller Wahrscheinlichkeit nach nie zu der Geschichte in Beziehung gekommen, welche diese Blätter erzählen werden – so hätte ich vielleicht nie auch nur den Namen des Weibes gehört, das seitdem in allen meinen Gedanken gelebt, dem alle meine Thatkräfte gehören, das der eine leitende Einfluß geworden, welchem mein ganzes Leben folgt.



Kapiteltrenner

II.

Pesca’s Gesicht und Benehmen, als wir an jenem Abende am Gartenpförtchen meiner Mutter einander gegenüberstanden, genügten vollkommen, um mir zu sagen, daß sich irgend etwas Außergewöhnliches zugetragen habe. Es war indessen ganz nutzlos, augenblickliche Aufklärung von ihm zu fordern. Ich konnte nur, während er mich bei beiden Händen in’s Haus zog, vermuthen, daß er, mit meinen Gewohnheiten vertraut, jenen Abend, um mich sicher zu treffen, dort hinausgekommen, und daß er nur irgend eine Neuigkeit von ungewöhnlich angenehmer Beschaffenheit mitzutheilen habe.

Wir stürzten Beide sehr plötzlich und in einer die gute Sitte verletzenden Weise in’s Zimmer. Meine Mutter saß lachend und sich fächelnd am offenen Fenster. Pesca war ein besonderer Liebling von ihr, und seine wildesten, excentrischesten Streiche waren in ihren Augen immer verzeihlich. Arme, liebe Seele! vom ersten Augenblicke an, wo sie entdeckte, daß der kleine Professor ihrem Sohne zugethan, öffnete sie ihm ohne allen Rückhalt ihr Herz, fand sich in alle seine sonderbaren ausländischen Eigenthümlichkeiten, ohne auch nur zu versuchen, eine einzige von ihnen zu verstehen.

Meine Schwester Sara schloß sich trotz ihrer Jugend seltsamerweise bei Weitem schwerer an. Sie ließ Pesca’s herrlichen Gemüthsanlagen alle Gerechtigkeit widerfahren, aber sie konnte seine Eigenthümlichkeiten nicht so unbedingt, wie meine Mutter, um meinetwillen hinnehmen. Bei ihren echt insularischen Begriffen von Schicklichkeit empörte sie sich fortwährend gegen Pesca’s angeborene Verachtung äußerer Sitten, und sie war immer mehr oder weniger unverhohlen erstaunt über die Vertraulichkeit ihrer Mutter mit dem excentrischen kleinen Ausländer.

Ich habe nicht allein bei meiner Schwester, sondern auch bei Anderen die Bemerkung gemacht, daß wir von der jüngeren Generation lange nicht so herzlich und empfänglich sind wie unsere Eltern. Ich sehe oft alte Leute in der Erwartung irgend eines in Aussicht stehenden Vergnügens aufgeregt und bewegt, während ihre ruhigen Enkel ungerührt bleiben. Es fragt sich wirklich, ob wir wohl ebenso natürlich in unserer Knaben- und Mädchenzeit waren, wie unsere Großeltern zu ihren Zeiten gewesen sein mögen. Hat der große Fortgang in der Erziehung etwa einen zu langen Schritt gethan, oder sind wir nicht etwa in diesen modernen Tagen ein klein wenig zu wohlerzogen?

Ohne zu versuchen, diese Fragen mit Bestimmtheit zu beantworten, darf ich wenigstens berichten, daß ich meine Mutter und Schwester nie zusammen in Pesca’s Gesellschaft sah, ohne die erstere für die jüngere von Beiden zu halten. Heute zum Beispiel lachte meine Mutter herzlich über die knabenhafte Manier, in der wir in’s Zimmer stürzten, während Sara mit gestörter Gemüthsruhe die Scherben einer zerbrochenen Theetasse vom Boden aufnahm, die der Professor in seinem eiligen Laufe nach der Thür mir entgegen niedergeworfen hatte.

»Ich weiß wirklich nicht, was sich noch ereignet hätte, Walter, wärst Du noch länger ausgeblieben,« sagte meine Mutter, »Pesca ist halb wahnsinnig geworden vor Ungeduld, und ich vor Neugierde. Der Professor hat irgend eine wunderbare Neuigkeit mitgebracht, die, wie er sagt, Dich betrifft, und er war grausam genug, uns auch nicht die kleinste Andeutung davon geben zu wollen, ehe sein Freund Walter käme.«

»Sehr ärgerlich, es macht das Service unvollständig,« murmelte Sara vor sich hin, indem sie trauernd wie ein in’s weibliche übersetzter Marius auf die Trümmer der zerbrochenen Tasse schaute.

Unterdessen schleppte Pesca in seliger Unkenntniß des unverbesserlichen Schadens, den seine Hände angerichtet, einen großen Lehnstuhl zum anderen Ende des Zimmers, um uns alle Drei übersehen zu können, wie ein öffentlicher Redner seine Zuhörer überschaut. Nachdem er die Rückseite des Stuhles uns zugedreht, sprang er hinein und redete höchst aufgeregt aus dieser improvisirten Kanzel seine kleine Gemeinde von Dreien an.

»Jetzt, meine guten Lieben,« begann Pesca (der stets »guten Lieben« sagte, wenn er »meine lieben Freunde« meinte), »hört mir zu. Die Zeit ist gekommen – ich erzähle meine gute Neuigkeit – ich spreche endlich.«

»Hört, hört!« rief meine Mutter – wie ein Unterhausmitglied – auf den Scherz eingehend.

»Das Nächste, was er zerbrechen wird, Mama,« flüsterte Sara, »wird der Rücken unseres besten Lehnstuhles sein.«

»Ich gehe in meinem Leben um ein wenig zurück und richte meine Rede an das edelste aller erschaffenen Wesen,« fuhr Pesca fort, indem er über den Stuhl hinweg heftig meine unwürdige Wenigkeit apostrophirte, »der mich todt (durch Krampf) am Boden des Meeres fand und mich wieder in die Höhe zog; und was sagte ich, als ich wieder in’s Leben und in meine eigenen Kleider zurückkehrte?«

»Weit mehr, als nothwendig war,« entgegnete ich so verdrießlich wie möglich, denn die geringste Ermuthigung in Bezug auf diesen Gegenstand diente nur dazu, daß sich des Professors Gemüthsbewegung in eine Thränenfluth auflöste.

»Ich sagte,« fuhr Pesca beharrlich fort, »daß mein Leben hinfort meinem lieben Freunde Walter gehöre – und das thut es. Ich sagte, daß ich nie wieder glücklich sein werde, bis ich irgend ein gutes Etwas für Walter gethan – und ich bin nie zufrieden mit mir gewesen, bis auf den heutigen, gesegneten Tag. Jetzt,« schrie der begeisterte, kleine Mann aus vollem Halse, »jetzt dringt nur das überströmende Glück wie Schweiß aus jeder Pore meiner Haut; denn bei meiner Treue, meiner Seele, meiner Ehre, dieses Etwas ist endlich geschehen, und das einzige Wort, das uns zu sagen übrig bleibt, ist: richtig-Alles-richtig!«

Es dürfte vielleicht nothwendig sein, hier zu wiederholen, daß Pesca sich etwas darauf zugute that, in seiner Sprache sowohl wie in seiner Kleidung, seinen Manieren und Vergnügungen ein vollkommener Engländer zu sein. Da er einige unserer gebräuchlichsten Redensarten aufgegriffen, streute er sie in seine Unterhaltung ein, wie sie ihm eben einfielen, indem er sie in der Freude seines Herzens an ihrem Klange und seiner allgemeinen Unwissenheit über ihre Bedeutung in nach eigener Erfindung zusammengesetzten, auch wohl wiederholten Wörtern von sich gab und sie dabei ineinander laufen ließ, als ob sie aus einer einzigen langen Silbe beständen.

»Unter den stolzen Häusern Londons, in denen ich die Sprache meines Vaterlandes lehre,« sagte der Professor, indem er ohne ein Wort weiterer Vorrede sich mitten in die so lange von ihm verschobene Erklärung stürzte, »ist ein mächtig vornehmes auf dem großen Platze, genannt Portland. Ihr wißt Alle, wo das ist? Ja, ja, steht-versteht-sich. Das vornehme Haus, meine guten Lieben, beherbergt eine vornehme Familie. Eine Mama, die blond und stark ist; drei junge Misses, die blond und stark sind; zwei junge Misters, die blond und stark sind, und ein Papa, der blondeste und stärkste von Allen, der, ein mächtiger Kaufmann, bis an den Hals in Gold steckt – einst ein schöner Mann, doch – da er jetzt einen nackten Kopf und ein Doppelkinn besitzt – gegenwärtig nicht mehr schön. Jetzt gebt Acht! Ich lese mit den jungen Misses den göttlichen Dante, und ach! Güte-du-meine-Güte! – keine menschliche Sprache vermag zu sagen, wie sehr der göttliche Dante die drei hübschen Köpfe verwirrt! Einerlei – Alles zu seiner Zeit – und je mehr Stunden, desto besser für mich. Jetzt gebt Acht! Stellt Euch vor, daß ich die drei jungen Misses heute, wie gewöhnlich, unterrichte, wir sind alle viere unten zusammen in Dante’s Hölle. Beim siebenten Kreise – aber einerlei: den drei blonden und starken jungen Misses sind alle Kreise gleich – beim siebenten Kreise dessenungeachtet bleiben meine Schülerinnen stecken; und ich, um sie wieder in Gang zu bringen, declamire, erkläre und rede mich in unnützer Begeisterung in die glühendste Hitze hinein, als – da hört man einen Stiefel knarren draußen im Corridor, und herein tritt der goldene Papa, der mächtige Kaufmann und glückliche Besitzer des nackten Kopfes und des doppelten Kinnes. – Ja! meine guten Lieben, ich bin der Sache jetzt näher, als ihr glaubt. Habt ihr so lange Geduld gehabt? oder habt ihr zu euch selbst gesagt: Teufel – zum – Teufel! Pesca ist heute Abend langweilig?«

Wir erklärten, daß er uns im höchsten Grade unterhalten habe. Der Professor fuhr fort:

»In seiner Hand hält der goldene Papa einen Brief, und nachdem er sich entschuldigt, daß er uns in unseren höllischen Regionen mit gewöhnlichen Tagesangelegenheiten störe, wendet er sich zu den drei jungen Misses, beginnt, wie ihr Engländer Alles, was ihr in dieser gesegneten Welt Zu sagen habt, beginnt mit einem großen O. ›O, meine Lieben,‹ sagte der mächtige Kaufmann, ›ich habe hier einen Brief von meinem Freunde Mr. *** Wohlgeboren‹ (der Name ist mir entfallen, doch einerlei, wir werden darauf zurückkommen; ja, ja – richtig-Alles-richtig). Also der Papa sagt, ›ich habe hier einen Brief von meinem Freunde, dem besagten Wohlgeboren, er wünscht, daß ich ihm einen Zeichenlehrer empfehle, der zu ihm auf sein Landhaus kommen kann.‹ Güte – Du – meine – Güte! Als ich den goldenen Papa diese Worte sagen hörte, hätte ich, wenn ich groß genug gewesen wäre, um zu ihm hinaufzureichen, seinen Hals mit meinen Armen umschlungen und ihn in einer langen, dankbaren Umarmung an meine Brust gedrückt! So aber zuckte ich nur auf meinem Stuhle zusammen. Ich saß auf Kohlen, und meine Seele brannte zu sprechen, aber ich hielt den Mund und ließ den Papa fortfahren. ›Vielleicht wißt ihr,‹ sagt dieser gute Mann des Geldes, indem er seines Freundes Brief zwischen seinem goldenen Daumen und Zeigefinger hin und her dreht, ›vielleicht kennt ihr einen Zeichenlehrer, meine Lieben, den ich empfehlen könnte.‹ Die drei jungen Misses sehen einander an und sagen dann (indem sie mit dem unvermeidlichen großen O anfangen): ›O nein, Papa! aber da ist Mr. Pesca –‹ Bei dieser Erwähnung meiner kann ich nicht länger an mich halten – der Gedanke an euch, meine guten Lieben, steigt mir wie Blut in den Kopf – ich springe von meinem Stuhle, wie wenn plötzlich ein Speer aus dem Boden durch den Sitz desselben emporgefahren wäre – ich wende mich zu dem mächtigen Kaufmann und sage (englische Redensart): ›Lieber Herr, ich habe Ihren Mann! den ersten, allerersten Zeichenlehrer der Welt. Empfehlen Sie ihn heute Abend mit der Post und schicken Sie ihn morgen mit Sack und Pack (wieder eine englische Redensart) mit dem Zuge ab!‹ ›Halt, halt,‹ sagt der Papa, ›ist er ein Ausländer oder ein Engländer?‹ ›Engländer bis ins Rückenmark,‹ entgegnete ich. ›Respectabel?‹ sagt Papa. ›Sir!‹ sage ich (denn diese letzte Frage empört mich sehr und ich bin nicht länger vertraulich mit ihm), ›Sir! das unsterbliche Feuer des Genies brennt im Busen dieses Engländers, und was noch mehr ist, sein Vater besaß es schon vor ihm.‹ ›Einerlei,‹ sagt dieser goldene Barbar von einem Papa, ›wir sprechen nicht von seinem Genie, Mr. Pesca. Wir verlangen in diesem Lande kein Genie, wenn es nicht zugleich auch respectabel ist – dann aber freuen wir uns sehr, es zu besitzen, sehr. Kann Ihr Freund Zeugnisse beibringen – Briefe, die seinen Charakter verbürgen?‹ Ich mache eine nachlässige Handbewegung. ›Briefe?‹ sage ich. ›Ja! Güte-du-meine-Güte! Das wollt’ ich meinen, wahrlich! Bände von Briefen und Portfolios voller Zeugnisse, wenn Sie es wünschen?‹ ›Eins oder zweie werden genügen,‹ sagt dieser Mann des Geldes und des Phlegmas. ›Lassen Sie ihn mir dieselben zuschicken, mit Angabe seines Namens und seiner Adresse. Und halt, halt, Mr. Pesca – ehe Sie zu Ihrem Freunde gehen, nehmen Sie lieber ein Billet mit.‹ ›Cassenbillet!‹ sage ich entrüstet. ›Kein Cassenbillet, bis mein braver Engländer es verdient hat, wenn ich bitten darf.‹ ›Cassenbillet!‹ sagt Papa in großem Erstaunen; ›wer spricht denn von Cassenbilleten? Ich meine ein Billet, enthaltend die Bedingungen – ein Memorandum von dem, was man von ihm verlangt. Fahren Sie in Ihrem Unterrichte fort, Mr. Pesca, und unterdessen will ich Ihnen den nothwendigen Auszug aus meines Freundes Briefe machen.‹ Der Mann der Waaren und des Geldes geht und nimmt Feder, Tinte und Papier zur Hand, und ich steige wieder in Dante’s Hölle hinab und meine drei jungen Misses mir nach. In zehn Minuten ist das Billet geschrieben, und Papas Stiefel knarren wieder den Corridor entlang. Von diesem Augenblicke an weiß ich bei meiner Treue, meiner Seele und Ehre weiter Nichts. Der herrliche Gedanke, daß ich endlich Gelegenheit gefunden, mich meinem theuersten Freunde in der Welt erkenntlich zu erweisen, und daß der Dienst bereits so gut wie schon geleistet ist, steigt mir zu Kopfe und macht mich trunken. Wie ich mich und meine jungen Misses wieder aus den höllischen Regionen heraufziehe, wie ich dann meine übrigen Geschäfte abmache und wie mein bißchen Mittagessen in meinen Hals hinabgleitet, weiß ich ebenso wenig wie der Mann im Monde. Genug, ich bin hier, mit dem Billet des mächtigen Kaufmannes in der Hand, in Lebensgröße, heiß wie Feuer und froh wie ein König! Ha! ha! ha! richtig-Alles-richtig-richtig!« Hier schwenkte der Professor das Memorandum der Bedingungen über seinem Kopfe und endete seine lange, geläufige Rede mit seiner gellenden italienischen Parodie eines englischen »Cheers«.

Sobald er geendet, erhob sich meine Mutter mit gerötheten Wangen und glänzenden Augen. Sie ergriff beide Hände des kleinen Mannes.

»Mein lieber, guter Pesca,« sagte sie, »ich zweifelte nie an Ihrer wahren Zuneigung für Walter – jetzt aber bin ich mehr als je davon überzeugt!«

»Gewiß, wir sind Professor Pesca um Walters willen sehr dankbar,« fügte Sara hinzu. Sie erhob sich halb von ihrem Sitze, wie sie sprach, als ob sie ebenfalls an den Lehnstuhl treten wollte; sowie sie aber gewahr wurde, daß Pesca voller Entzücken meiner Mutter Hände küßte, blickte sie ganz ernst und blieb an ihrem Platze. »Wenn der familiäre kleine Mensch meine Mutter schon so behandelt, wie würde er da erst mich behandeln?« Gesichter sprechen zuweilen die Wahrheit, und das war ohne alle Frage Sara’s Gedanke, als sie sich wieder setzte.

Obgleich ich selbst die Herzensgüte in Pesca’s Beweggründen dankbar anerkannte, so war ich doch über die Aussicht auf künftige Beschäftigung lange nicht so erfreut, als ich hätte sein sollen. Sobald der Professor mit den Händen meiner Mutter fertig war und ich ihm für sein Verwenden zu meinen Gunsten herzlich gedankt hatte, bat ich, das Memorandum über die Bedingungen sehen zu dürfen, das sein achtungswerther Beschützer zu meiner Durchsicht aufgesetzt hatte.

Pesca überreichte es mir mit einem triumphirenden Schwenken der Hand.

»Lies!« sagte der kleine Mann majestätisch. »Ich verspreche dir, mein Freund, daß das Schreiben des goldenen Papas wie mit Trompetenschall für sich selber redet.«

Das Memorandum war jedenfalls deutlich, offen und verständlich. Es unterrichtete mich –

Erstens, daß Frederik Fairlie, Esquire, zu Limmeridge House, Cumberland, während eines Zeitraumes von wenigstens vier Monaten der Dienste eines durchaus tüchtigen Zeichenlehrers bedürfe.

Zweitens, daß die Pflichten, welche dem Lehrer obliegen würden, zweierlei seien. Er sollte den Unterricht zweier junger Damen in der Kunst der Wasserfarbenmalerei beaufsichtigen und dann seine Mußezeit dazu verwenden, eine werthvolle Sammlung von Zeichnungen, die ganz in Unordnung und vernachlässigt war, zu ordnen und aufzukleben.

Drittens, daß das Honorar, welches Demjenigen geboten werde, der sich diesen Pflichten gewissenhaft zu unterziehen anheischig mache, vier Guineen wöchentlich sei; daß er in Limmeridge House wohnen und dort wie ein Gentleman behandelt werden solle.

Viertens und letztens, daß Niemand sich um diese Stelle zu bemühen brauche, der nicht die untadeligsten Ausweise über Charakter und Fähigkeiten beibringen könne. Diese Ausweise solle man Mr. Fairlie’s Freunde einsenden, der bevollmächtigt sei, das Uebereinkommen abzuschließen. Dann folgten noch Name und Adresse von Pesca’s Gönner auf dem Portlandplatze – und damit endete das Memorandum.

Die Aussicht, welche dieses Anerbieten darbot, war allerdings eine anziehende – die Beschäftigung aller Wahrscheinlichkeit nach leicht und angenehm; sie wurde mir in der Herbstzeit des Jahres vorgeschlagen, wo ich am wenigsten zu thun hatte, und das Honorar war nach meinen persönlichen Erfahrungen in meinem Berufe außerordentlich anständig. Ich wußte dies; ich wußte, daß ich Ursache haben würde, mich glücklich zu schätzen, falls ich mir die angebotene Beschäftigung sicherte – und dennoch hatte ich kaum das Memorandum gelesen, als ich schon eine unerklärliche Unlust verspürte, irgend etwas in der Sache zu thun. Ich hatte noch nie in allen meinen früheren Erfahrungen meine Pflicht und meine Neigung sich so in mir streiten gefühlt, als bei dieser Gelegenheit.

»O Walter, Dein Vater hat nie ein solches Glück gehabt!« sagte meine Mutter, nachdem sie das Memorandum gelesen und mir zurückgehändigt hatte.

»Solche vornehme Leute kennen zu lernen!« bemerkte Sara, sich auf ihrem Stuhle aufrichtend – »noch dazu unter so angenehmen Verhältnissen der Gleichheit!«

»Ja, ja; die Bedingungen sind in jeder Beziehung verführerisch genug,« erwiderte ich ungeduldig. »Aber ehe ich meine Zeugnisse einsende, möchte ich ein wenig Zeit haben, um zu überlegen –«

»Ueberlegen!« rief meine Mutter aus. »Ei, Walter, was ist mit dir?«

»Ueberlegen!« rief meine Schwester aus. »Welch eine sonderbare Idee unter so günstigen Umständen!«

»Ueberlegen!« stimmte der Professor ein. »was ist da weiter zu überlegen? Beantworte mir dies! Hast Du nicht über Deine Gesundheit geklagt und hast Du Dich nicht nach einem Schlucke Landluft gesehnt, wie Du es nennst? Nun! das Papier da in Deiner Hand bietet dir unausgesetzte Schlucke Landluft für vier Monate. Ist dem nicht so? Ja? Dann – Du brauchst Geld. Nun! Sind vier Guineen die Woche gar Nichts? Meine-Güte-du-meine-Güte. Gebe sie nur Einer mir – und meine Stiefel sollen, wie die des goldenen Papas, mit einem Bewußtsein des überwältigenden Reichthums des Mannes, der in ihnen geht, knarren! Vier Guineen die Woche, und was noch mehr ist, die reizende Gesellschaft zweier junger Misses; und was noch mehr ist, Dein Bett, Dein Frühstück, Dein Mittagsessen, Deine üppigen englischen Thees und Gabelfrühstücke und Dein schäumendes Bier, Alles umsonst – wie, Walter, mein lieber, guter Freund – Teufel-zum-Teufel! – zum ersten Male in meinem Leben habe ich nicht Augen genug im Kopfe, um Dich anzusehen und mich über Dich zu verwundern!«

Weder meiner Mutter offenbares Erstaunen über mein Betragen noch Pesca’s eifrige Aufzählung der Vortheile, welche mir die neue Beschäftigung in Aussicht stellte, erschütterten meine scheinbar ungerechtfertigte Abneigung, nach Limmeridge House zu gehen. Nachdem ich alle kleinlichen Einwendungen aufgeworfen, die ich nur gegen meine Reise nach Cumberland erdenken konnte, und nachdem mir dieselben der Reihe nach zu meiner eigenen Niederlage beantwortet waren, versuchte ich, ein letztes Hinderniß mit der Frage aufzurichten, was aus meinen Schülern in London werden sollte, während ich Mr. Fairlie’s junge Damen nach der Natur zeichnen lehrte. Die einleuchtende Antwort hierauf war, daß der größere Theil derselben auf ihren Herbstreisen sein werde, und die wenigen, die dableiben würden, der Obhut eines Collegen anvertraut werden könnten, dem ich seine Schüler einst unter ähnlichen Verhältnissen abgenommen hatte. Meine Schwester erinnerte mich daran, daß dieser Herr nur ausdrücklich für diese Saison seine Dienste angeboten, falls ich die Hauptstadt zu verlassen wünschte; meine Mutter bat mich ernstlich, doch nicht meine eigenen Interessen und meine Gesundheit durch eine einfältige Grille zu gefährden, und Pesca flehte mich in jammervollen Tönen an, ihm nicht bis ins innerste Herz weh’ zu thun, indem ich das erste dankbare Dienstanerbieten ausschlüge, das er dem Freunde und Lebensretter zu machen im Stande gewesen.

Die offenbare Liebe, welche diese Vorstellungen eingab, hätte auf jeden Mann Eindruck gemacht, der nur ein Atom von richtigem Gefühle besaß. Obgleich ich meine unbegreifliche Wunderlichkeit nicht überwinden konnte, so hatte ich doch wenigstens so viel Tugend in mir, mich jenes Vorurtheils zu schämen und die Erörterung damit zu enden, daß ich nachgab und Alles zu thun versprach, was man von mir verlangte. Der Rest des Abends verging dann fröhlich genug unter heiteren Zukunftsplänen und Muthmaßungen über meine Stellung bei den jungen Damen in Cumberland. Pesca, von unserem nationalen Grog begeistert, der ihm auf wunderbare Weise, fünf Minuten, nachdem er seine Kehle hinunter gegangen, zu Kopf zu steigen schien, behauptete seine Ansprüche, als ein vollkommener Engländer angesehen zu werden, indem er in schneller Aufeinanderfolge eine Reihe von Reden hielt; die Gesundheit meiner Mutter ausbrachte, die meiner Schwester, die meinige und zusammen die Gesundheit von Mr. Fairlie und den beiden jungen Misses; worauf er gleich hinterher für die ganze Gesellschaft eine pathetische Dankesrede hielt.

»Ein Geheimniß, Walter,« sagte mein kleiner Freund vertraulich, als wir zusammen nach Hause gingen. »Ein Geheimniß sei dir vertraut. Ich glühe bei der Erinnerung an meine Beredsamkeit. Meine Seele vergeht vor Ehrgeiz. Eines Tages werde ich in euer edles Parlament eintreten. Es ist der Traum meines ganzen Lebens, der »Ehrenwerthe Pesca M. P.« (Mitglied des Parlaments) zu werden!«

Am folgenden Morgen sandte ich des Professors Patrone auf dem Portlandplatze meine Zeugnisse ein. Drei Tage vergingen, und ich schloß daraus mit geheimer Genugthuung, daß meine Papiere nicht ausreichend genug befunden worden. Am vierten Tage kam jedoch eine Antwort. Dieselbe kündigte mir an, daß Mr. Fairlie meine Dienste annehme und mich ersuche, augenblicklich nach Cumberland aufzubrechen. Alle nothwendigen Instructionen betreffs meiner Reise waren sorgfältig und deutlich in einem Postscriptum beigefügt.

Ich traf ziemlich mißmuthig meine Vorbereitungen, früh am folgenden Tage London zu verlassen. Gegen Abend kam Pesca, im Begriffe in eine Mittagsgesellschaft zu gehen, zu mir, um mir Lebewohl zu sagen.

»Ich werde meine Thränen während Deiner Abwesenheit mit dem schönen Gedanken trocknen,«, sagte er fröhlich, »daß es meine Hand war, die Deinem Glücke in dieser Welt den ersten Schub vorwärts gegeben hat. Geh’, mein Freund. Wenn Deine Sonne in Cumberland scheint (englisches Sprichwort), da mache ja Dein Heu, um’s Himmels willen. Heirate eine der beiden jungen Misses, erbe die fetten Güter Fairlie’s, werde Ehrenwerther Hartright M. P., und wenn Du auf der obersten Stufe der Leiter angelangt bist, erinnere dich, daß Pesca, der unten steht, dir zu dem Allen verholfen hat!«

Ich versuchte, mit meinem kleinen Freunde über seinen Abschiedsscherz zu lachen, aber ich konnte meine üble Laune nicht bemeistern. Etwas in mir schlug einen fast schmerzlichen Mißton an, während er seine heiteren Abschiedsworte sprach.

Als ich wieder allein war, blieb mir Nichts zu thun übrig, als nach dem Häuschen in Hamstead zu gehen und meiner Mutter und Schwester Lebewohl zu sagen.



Kapiteltrenner

III.

Die Hitze war den ganzen Tag über sehr drückend gewesen, auch der Abend war noch heiß und schwül.

Meine Mutter und Schwester hatten so viele letzte Worte zu sagen gehabt und mich so oft gebeten, noch fünf Minuten länger zu bleiben, daß es beinahe Mitternacht war, als die Magd das Gartenthor hinter mir schloß. Ich that ein paar Schritte auf dem kürzesten Wege nach London zu, dann stand ich still und zögerte.

Der Mond stand groß und voll an dem dunkelblauen, sternenlosen Himmel, und die hügelige Haide sah in dem geheimnisvollen Lichte wild genug aus, daß sie Hunderte von Meilen von der Stadt hätte entfernt sein können, die weiter abwärts lag. Ich konnte mich nicht überwinden, eher als durchaus nothwendig, zu der Hitze und trüben Luft von London zurückzukehren. Die Aussicht, in meine dumpfigen Zimmer schlafen zu gehen, und die, allmälig zu ersticken, schienen mir bei meinem unruhigen Körper- und Gemüthszustande gleichbedeutend. Ich beschloß, durch die reinere Luft auf dem weitesten Umwege, den ich nur machen konnte, heimzuschlendern; den weißen sich hin und her schlängelnden Pfaden, die über die einsame Haide hinliefen, zu folgen und durch die am freiesten liegende Vorstadt von London dorthin zurückzukehren, indem ich den Weg von Finchley einschlug und so in der Frische des neuen Morgens auf der Westseite des Regents Park anlangte. Ich wanderte langsam auf der Haide dahin, im Genusse der himmlischen Stille und voll Bewunderung der sanften Abwechslungen von Licht und Schatten, wie sie einander rund um mich her auf der hügeligen Haide folgten. Solange ich bei diesem ersten und hübschesten Theil meines Nachtspazierganges war, blieb mein Geist für die Eindrücke des Anblickes passiv empfänglich; ich dachte nur wenig an irgend einen Gegenstand – ja, was meine Gefühle betrifft, so dachte ich eigentlich gar nicht.

Als ich aber die Haide verlassen und einen Nebenweg eingeschlagen hatte, wo es weniger zu sehen gab, zogen die Gedanken, welche die kommende Veränderung in meinen Gewohnheiten und Beschäftigungen natürlicherweise hervorriefen, mehr und mehr meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf sich. Als ich am Ende des Weges anlangte, war ich vollkommen in meine phantastischen Visionen von Limmeridge House, Mr. Fairlie und den beiden jungen Damen vertieft, deren Uebungen in der Kunst der Wasserfarbenmalerei ich so bald beaufsichtigen sollte.

Ich war jetzt an der Stelle angekommen, wo vier Wege einander begegnen – der Weg nach Hampstead, auf dem ich zurückgekehrt war, der Weg nach Finchley, der nach West-End und der nach London. Ich hatte mechanisch den letzteren eingeschlagen und schlenderte langsam die Landstraße entlang – in unnützen Muthmaßungen, wie ich mich entsinne, über das Aussehen der jungen Damen in Cumberland – als in einem einzigen Augenblicke jeder Tropfen Blutes in meinem Körper durch die Berührung einer Hand, die leicht und plötzlich von hinten auf meine Schulter gelegt wurde, erstarrte.

Ich wandte mich schnell um, indem meine Finger sich fest um meinen Stock schlossen.

Da, in der Mitte des breiten, hellen Weges – da, als ob sie soeben aus dem Erdboden entsprungen oder vom Himmel gefallen wäre – stand die Gestalt einer einsamen Frau von Kopf bis zu Füßen in weißen Kleidern, ihr Gesicht in ernster Frage zu dem meinigen gewendet und mit der Hand auf die dunkle Wolke deutend, die über London hing.

Ich war über die seltsame Erscheinung, die so plötzlich in der tiefen Nacht an dieser einsamen Stelle vor mich hingetreten war, zu sehr erschrocken, um sie zu fragen, was sie verlange. Sie sprach zuerst.

»Ist das der Weg nach London?« sagte sie.

Ich sah sie aufmerksam an, als sie diese sonderbare Frage that. Es war jetzt beinahe ein Uhr. Alles, was ich deutlich im Mondlichte unterscheiden konnte, war ein farbloses, junges Gesicht, mager und spitz um Kinn und Wangen; große, ernste, sehnsüchtig aufmerksame Augen; nervöse, zuckende Lippen und helles Haar von lichter, braungelber Farbe. Es lag Nichts Wildes, Nichts Unbescheidenes in ihrer Manier; dieselbe war ruhig und gefaßt, ein wenig melancholisch und hatte einen kleinen Anflug von Argwohn; nicht gerade die Manieren einer Dame und doch auch nicht die einer Frau aus der niedrigsten Classe. Die Stimme, so wenig ich auch bis jetzt davon gehört, hatte etwas seltsam Stilles und Mechanisches in ihren Tönen, und ihre Sprache war außerordentlich schnell. Sie hielt eine kleine Tasche in der Hand, und ihre Kleidung – Hut, Shawl und Kleid, Alles weiß – war, soviel ich dies beurtheilen konnte, gewiß nicht von sehr zartem oder theuerem Stoffe. Ihre Figur war schlank und etwas über die mittlere Größe – ihr Gang und ihre Bewegungen frei von der geringsten Uebertreibung. Dies war Alles, was ich in dem matten Lichte und unter den verwirrend seltsamen Umständen unseres Begegnens von ihr sehen konnte, welch eine Art von Frauenzimmer sie war und wie sie dazu kam, eine Stunde nach Mitternacht ganz allein auf der Landstraße zu sein, war mir rein unmöglich zu errathen. Das Einzige, wovon ich mich überzeugt fühlte, war, daß selbst der roheste Mensch und trotz der verdächtig späten Stunde und jener verdächtig einsamen Stelle ihren Beweggrund, zu mir zu sprechen, nicht hätte mißdeuten können.

»Haben Sie mich gehört?« sagte sie, noch immer leidenschaftslos, aber schnell und ohne die geringste Gereiztheit oder Ungeduld. »Ich frug sie, ob das der Weg nach London sei.«

»Ja,« erwiderte ich, »das ist der Weg, er führt nach St. John’s Wood und Regent’s Park. Sie müssen mich entschuldigen, wenn ich Ihnen nicht schneller antwortete. Ihr plötzliches Erscheinen erschreckte mich etwas, und ich kann mir dasselbe auch jetzt durchaus noch nicht erklären.«

»Sie beargwöhnen mich doch wohl nicht, daß ich irgend etwas Unrechtes begehe, wie? Ich habe Nichts Unrechtes begangen. Ich habe ein Unglück gehabt – ich bin sehr unglücklich, so spät hier allein zu sein, warum haben Sie mich im Verdacht, etwas Unrechtes gethan zu haben?«

Sie sprach mit unnöthiger Eindringlichkeit und Bewegung und zog sich mehrere Schritte von mir zurück. Ich that mein Möglichstes, sie wieder zu beruhigen.

»Ich bitte Sie, nicht zu glauben, daß ich daran denken könnte, einen Verdacht gegen Sie oder irgend etwas Anderes zu hegen, als den Wunsch, Ihnen nützlich zu sein, wenn ich kann. Ich erstaunte nur über Ihr Erscheinen auf der Landstraße, weil mir dieselbe einen Augenblick vorher völlig leer geschienen.«

Sie wandte sich um und deutete auf eine Stelle, wo der Weg nach London mit dem nach Hampstead zusammentraf und wo eine Oeffnung in der Hecke war.

»Ich hörte Sie kommen,« sagte sie, »und verbarg mich dort, um zu sehen, welch eine Art von Mann Sie seien, ehe ich es wagte, zu Ihnen zu sprechen. Ich zweifelte und fürchtete, bis Sie vorbeigegangen waren, und dann war ich genöthigt, hinter Ihnen herzuschleichen und Sie zu berühren.«

»Hinter mir herschleichen und mich berühren? Warum nicht mich anrufen? Seltsam, um mich gelinde auszudrücken!«

»Darf ich Ihnen trauen?« fragte sie, »Sie denken nicht schlechter von mir, weil ich ein Unglück gehabt habe, wie?« Sie schwieg in Verwirrung, indem sie ihre Tasche aus einer Hand in die andere nahm, und seufzte bitterlich.

Die Einsamkeit und Hilflosigkeit der Frau rührte mich tief. Der natürliche Antrieb, ihr zu helfen und sie schonend zu behandeln, siegte über das Urtheil, die Vorsicht und den weltlichen Takt, den ein älterer, weiserer und kälterer Mann in dieser seltsamen Lage zu Hilfe gerufen hätte.

»Für jeden harmlosen Zweck dürfen Sie mir vertrauen,« sagte ich. »Falls es Sie betrübt, mir Ihre seltsame Lage zu erklären, so sprechen Sie nicht weiter davon. Ich habe kein Recht, Erklärungen von Ihnen zu fordern. Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann; wenn es mir möglich ist, will ich es thun.«

»Sie sind sehr gütig, und ich bin sehr, sehr froh, Ihnen begegnet zu sein.« In diesen Worten zitterte der erste Anflug von weiblicher Zärtlichkeit, den ich bis jetzt in ihrer Stimme nicht gehört hatte; doch in den großen, sehnsüchtig aufmerksamen Augen, die noch immer auf mich geheftet waren, glänzte keine Thräne. »Ich bin erst einmal in London gewesen,« fuhr sie fort, indem sie immer schneller sprach, »und ich kenne den Theil dort von der Stadt gar nicht. Kann ich einen Fiaker oder irgend einen Wagen bekommen? Ist es zu spät? Ich weiß es nicht, wenn Sie mir zeigen wollen, wo ich einen Fiaker finden kann – und nur versprechen, sich nicht um mich zu bekümmern und mich fort zu lassen, wann und wie ich will – ich habe eine Freundin in London, die mich mit Freuden aufnehmen wird – weiter will ich Nichts – wollen Sie mir’s versprechen?«

Sie schaute ängstlich den Weg hinauf und hinab, nahm wieder die Tasche aus einer Hand in die andere, wiederholte die Worte: »Wollen Sie mir’s versprechen?« und sah mir so bang und mit einer so flehenden Angst und Verwirrung in’s Gesicht, daß sie mich förmlich traurig machte.

Was konnte ich thun? Hier war ein fremdes, völlig hilfloses Wesen in meiner Macht – und dieses Wesen ein verlassenes Weib. Kein Haus war in der Nähe; Niemand ging vorüber, den ich hätte zu Rathe ziehen können, und ich besaß in der Welt nicht das kleinste Recht über sie, selbst wenn ich gewußt hätte, in welcher Richtung ich dieses Recht hätte geltend machen sollen.

Ich schreibe diese Zeilen mit Zagen, indem die Schatten späterer Ereignisse schon auf das Papier fallen, auf dem ich schreibe; aber dennoch frage ich: was konnte ich thun?

Was ich that, war, daß ich Zeit zu gewinnen suchte, indem ich sie befragte:

»Sind Sie gewiß, daß Ihre Freundin in London Sie zu so später Stunde noch aufnehmen wird?« sagte ich.

»Ganz sicher. Sagen Sie nur, daß Sie mich nicht hindern wollen, Sie, wann und wie ich will, zu verlassen – sagen Sie, daß Sie mich nicht hindern werden, wollen Sie mir’s versprechen?«

Als sie diese Worte zum dritten Male wiederholte, trat sie dicht an mich heran und legte ihre Hand mit einer plötzlichen sanften Schüchternheit auf meine Brust, eine magere Hand, eine kalte Hand (ich fühlte es, als ich sie mit der meinigen hinwegnahm) selbst in jener heißen Nacht. Bedenke man, daß ich jung war und daß die Hand, welche mich berührte, einer Frau gehörte.

»Wollen Sie mir’s versprechen?«

»Ja.«

Ein Wort! das kleine, gewöhnliche Wort, das zu jeder Stunde des Tages auf Jedermanns Lippen ist. Ach! und ich zittere, jetzt in dem Augenblicke, wo ich es niederschreibe. –

Wir wandten uns nach London zu und gingen zusammen in dieser ersten stillen Stunde des neuen Tages dahin – ich und diese Frau, deren Name und Charakter, deren Geschichte und Lebenszwecke, ja, deren Gegenwart an meiner Seite in jenem Augenblicke unergründliche Geheimnisse für mich waren. Es war wie ein Traum. War ich Walter Hartright? War dies der wohlbekannte, erlebnisarme Weg, den an Sonntagen bunte Volksmassen besuchten? Hatte ich wirklich vor wenig mehr als einer Stunde die ruhige, anständige, ehrbar häusliche Atmosphäre des Hauses meiner Mutter verlassen? Ich war zu verwirrt – zu sehr mir eines gewissen Selbstvorwurfes bewußt – um während der ersten Minuten zu meiner sonderbaren Gefährtin zu sprechen. Es war wieder ihre Stimme, die zuerst das Schweigen brach.

»Ich wünsche, Sie nach etwas zu fragen,« sagte sie plötzlich. »Kennen Sie viele Leute in London?«

»Ja, sehr viele.«

»Viele Herren von Rang, welche Titel haben?« Es lag ein unverkennbarer Ton des Argwohnes in dieser sonderbaren Frage. Ich zögerte, sie zu beantworten.

»Einige,« sagte ich nach kurzem Schweigen.

»Viele« – sie schwieg und sah mir prüfend in’s Gesicht – »viele im Range eines Baronets?«

Zu sehr erstaunt, um zu antworten, befragte ich sie meinerseits.

»Warum fragen Sie das?«

»Weil ich um meiner selbst willen hoffe, daß es einen Baronet gibt, den Sie nicht kennen.«

»Wollen Sie mir seinen Namen sagen?«

»Ich kann nicht – ich wage es nicht – ich vergesse mich, wenn ich ihn ausspreche.« Sie sprach laut und fast zornig, erhob ihre geballte Hand und schüttelte sie leidenschaftlich; dann, sich plötzlich fassend, fügte sie fast flüsternd hinzu, »sagen Sie mir, welche Sie kennen.«

Ich konnte ihr eine solche Kleinigkeit kaum versagen und nannte daher drei Namen. Zwei von Familienvätern, deren Töchter ich unterrichtete; und noch den eines jungen Mannes, der mich auf einer Seefahrt in seiner Jacht mitgenommen hatte, um Skizzen für ihn zu machen.

»Ach! Sie kennen ihn nicht,« sagte sie mit einem Seufzer der Erleichterung. »Sind Sie selbst ein Mann von Rang und haben Sie einen Titel?«

»Weit entfernt. Ich bin nur ein Zeichenlehrer.« Als ich die Antwort aussprach – vielleicht mit etwas Bitterkeit – nahm sie mit der Hast, die alle ihre Handlungen kennzeichnete, meinen Arm.

»Kein Mann von Rang und ohne Titel,« sagte sie zu sich selbst. »Gott sei Dank! Ihm darf ich trauen!«

Es war mir bis hierher gelungen, meine Neugier aus Schonung für meine Gefährtin zu beherrschen. Jetzt aber überwältigte sie mich.

»Ich fürchte, Sie haben ernste Ursache, sich über einen Mann von Rang zu beklagen?« sagte ich. »Ich fürchte, der Baronet, dessen Namen Sie so ungern aussprechen, hat Ihnen irgend ein großes Unrecht zugefügt? Ist er die Ursache, daß Sie so seltsamerweise und in so später Nacht hier draußen sind?«

»Fragen Sie mich nicht, lassen Sie mich nicht davon sprechen,« entgegnete sie, »ich bin es jetzt nicht im Stande. Man hat mich grausam behandelt, mir ein arges Unrecht angethan. Es wird noch größere Freundlichkeit von Ihnen sein, wenn Sie schneller gehen und nicht mit mir sprechen wollen. Es thut mir so sehr nöthig zu schweigen – damit ich ruhig werde, wenn ich kann.«

Wir gingen schnellen Schrittes weiter, und während wenigstens einer halben Stunde wurde von uns Beiden kein Wort gesprochen, von Zeit zu Zeit – da sie mir verboten hatte, Fragen an sie zu richten – sah ich verstohlen auf ihr Gesicht. Es war immer dasselbe; die Lippen fest geschlossen, die Stirn gerunzelt, die Augen eifrig und doch scheinbar gedankenlos vor sich hinsehend, wir hatten die ersten Häuser erreicht und waren dicht vor der neuen Wesley’schen Schule, als ihre Züge milder wurden und sie wieder sprach.

»Wohnen Sie in London?« fragte sie.

»Ja.« Als ich antwortete, fiel mir ein, daß sie möglicherweise beabsichtige, mich um Rath oder Beistand zu bitten und daß ich ihr eine Täuschung ersparen sollte, indem ich ihr sofort meine bevorstehende Abwesenheit von zu Hause mittheilte. Deshalb fügte ich hinzu: »Aber morgen werde ich London auf einige Zeit verlassen. Ich reise auf’s Land.«

»Wohin?« fragte sie, »nach Norden oder Süden?«

»Nach dem Norden – nach Cumberland.«

»Cumberland!« sie wiederholte das Wort mit zärtlichem Tone. »Ach! ich wollte, ich reiste auch dorthin. Ich war einst glücklich in Cumberland.«

Ich versuchte noch einmal den Schleier zu lüften, der zwischen mir und dieser Frau gezogen.

»Vielleicht,« sagte ich, »sind Sie in dem schönen Lande der Seen geboren?«

»Nein,« entgegnete sie, »ich bin in Hampshire geboren; aber ich ging einmal auf kurze Zeit in Cumberland zur Schule. Seen? Ich erinnere mich keiner Seen. Es ist das Dorf Limmeridge und Limmeridge House, das ich so gern einmal wiedersehen möchte.«

Jetzt war ich an der Reihe, plötzlich stille zu stehen. Da meine Neugierde in jenem Augenblicke einmal sehr erregt war, erfüllte mich die zufällige Erwähnung von Mr. Fairlie’s Wohnorte von den Lippen meiner seltsamen Gefährtin in Erstaunen.

»Hörten Sie Jemanden hinter uns rufen?« fragte sie, sowie ich still stand, indem sie erschrocken den Weg auf und ab blickte.

»Nein, nein. Mir fiel nur der Name Limmeridge House auf – ich hörte denselben vor einigen Tagen von Leuten aus Cumberland aussprechen.«

»Ach! nicht von meinen Leuten. Mrs. Fairlie und ihr Mann sind todt und ihre kleine Tochter mag jetzt wohl schon verheiratet und fortgezogen sein. Ich weiß nicht, wer jetzt in Limmeridge wohnt, wer sie auch sein mögen; sobald sie denselben Namen tragen, weiß ich, daß ich sie liebe um Mrs. Fairlie’s willen.«

Sie schien im Begriffe noch mehr zu sagen; doch während sie sprach, waren wir weiter gegangen und sahen jetzt den Schlagbaum am oberen Ende des Avenue-Road. Ihre Hand erfaßte meinen Arm fester, und sie sah ängstlich auf das Thor vor uns.

»Sieht der Chausseegeldeinnehmer heraus?« fragte sie.

Er sah nicht heraus; es war Niemand in der Nähe, als wir durch das Thor gingen. Der Anblick der Gaslampen und der Häuser schien sie zu beunruhigen und ungeduldig zu machen.

»Dies ist London,« sagte sie. »Sehen Sie irgend einen Wagen, den ich nehmen kann? Ich bin müde und furchtsam. Ich möchte jetzt gern im Wagen sitzen und fortfahren.«

Ich erklärte ihr, daß wir etwas weiter gehen müßten, um eine Droschkenstation zu finden, wenn wir nicht das Glück hätten, einem leeren Fuhrwerke zu begegnen, und dann versuchte ich, die Unterhaltung wieder auf Cumberland zu leiten. Doch war dies nutzlos. Der Gedanke, im Wagen zu sitzen und wegzufahren, beschäftigte sie jetzt ausschließlich, und es schien ihr fast unmöglich, von etwas Anderem zu sprechen.

Wir hatten kaum den dritten Theil des Avenue-Road zurückgelegt, als ich in geringer Entfernung vor einem Hause auf der gegenüberliegenden Seite der Straße einen Fiaker still halten sah. Ein Herr stieg aus und ging durch das Gartenthor. Ich rief den Kutscher an, als dieser seinen Bock wieder bestieg. Als wir über die Straße gingen, wuchs die Ungeduld meiner Gefährtin in dem Grade, daß sie mich zwang, meinen Gang zu beschleunigen.

»Es ist so spät,« sagte sie, »und nur deshalb beeile ich meine Schritte.«

»Ich kann Sie nicht fahren, Sir, wenn Sie nicht nach dem Tottenham-court-road wollen,« sagte der Kutscher höflich, als ich die Wagenthür öffnete. Mein Pferd ist todtmüde, und ich kann es nicht weiter nehmen, als bis zum Stalle.«

»Ja ja, das paßt mir. Ich wollte eben dorthin – gewiß!« Sie sprach in athemloser Hast und drängte sich an mir vorbei in den Fiaker.

Ich überzeugte mich, ehe ich sie einsteigen ließ, davon, ob der Mann sowohl nüchtern als höflich sei, und als sie dann im Wagen saß, bat ich sie, mir zu erlauben, sie an ihren Bestimmungsort zu begleiten, bis sie in Sicherheit sei.

»Nein, nein, nein,« sagte sie heftig. »Ich bin jetzt ganz sicher und ganz glücklich, wenn Sie ein Gentleman sind, so denken Sie an Ihr Versprechen. Lassen Sie ihn zufahren, bis ich ihm sage, stille zu halten. Ich danke Ihnen, o! ich dank’ Ihnen, dank’ Ihnen!«

Meine Hand lag auf der Wagenthür. Sie ergriff dieselbe, küßte sie und stieß sie fort. In demselben Augenblicke setzte sich der Fiaker in Bewegung – ich eilte in den Weg, mit einer unbestimmten Idee, ihn wieder anzuhalten, ich wußte selbst nicht, warum – zögerte aus Furcht, sie zu erschrecken oder zu beunruhigen – und rief endlich, aber nicht laut genug, um von dem Kutscher gehört zu werden. Das Geräusch der Räder verlor sich in der Entfernung – der Fiaker verschmolz sich mit dem schwarzen Schatten der Straße – die Frau in Weiß war fort.

Zehn Minuten oder etwas mehr waren verstrichen. Ich war noch auf derselben Seite der Straße, bald mechanisch ein paar Schritte vorwärts gehend, bald zerstreut stehen bleibend. Einen Augenblick bezweifelte ich die Wirklichkeit meines Abenteuers, im nächsten verwirrte und beunruhigte mich ein Bewußtsein, unrecht gehandelt zu haben, das mich jedoch völlig in Unwissenheit darüber ließ, wie ich recht gehandelt hätte. Ich wußte kaum, wohin ich ging oder was ich zunächst zu thun beabsichtige; ich war mir Nichts, als der Verwirrung meiner Gedanken bewußt, als ich plötzlich zum Selbstbewußtsein zurückgerufen – erweckt wurde, möchte ich fast sagen – durch das Geräusch schnell hinter mir heranfahrender Räder.

Ich war auf der dunklen Seite der Straße, im Schatten einiger Bäume der Gärten, als ich still stand und mich umschaute. Auf der gegenüberliegenden, helleren Seite der Straße, in kurzer Entfernung von mir ging ein Constabler langsam der Richtung von Regent’s Park zu.

Der Wagen fuhr an mir vorbei – eine offene Chaise, in der Zwei Männer saßen.

»Halt’ still!« rief der Eine. »Da ist ein Constabler. wir wollen ihn fragen.«

Das Pferd wurde augenblicklich ein paar Schritte jenseits der dunklen Stelle angehalten, wo ich stand.

»Constabler,« rief der, welcher zuerst gesprochen hatte, »Haben sie eine Frau dieses Weges kommen sehen?«

»Was für eine Art Frau, Sir?.«

»Eine Frau in einem lavendelfarbigen Kleide –«

»Nein, nein,« rief der zweite Mann dazwischen. »Wir fanden die Kleider, die wir ihr gegeben hatten, auf ihrem Bette. Sie muß in den Kleidern fortgegangen sein, die sie trug, als sie zu uns kam. In Weiß, Constabler, eine Frau in Weiß.«

»Ich habe sie nicht gesehen, Sir«

»Falls Sie oder einer ihrer Leute der Frau begegnen, so halten Sie sie fest und schicken sie unter sorgfältiger Aufsicht nach dieser Adresse. Ich bezahle alle Kosten und gebe noch eine gute Belohnung obendrein.«

Der Constabler besah die Karte, die ihm herabgereicht wurde.

»Warum sollen wir sie festhalten, Sir? Was hat sie gethan?«

»Gethan?! Sie ist aus meiner Irrenanstalt entflohen, vergessen Sie es nicht, eine Frau in Weiß. Fahr zu.«



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IV.

»Sie ist aus meiner Irrenanstalt entflohen.«

Ich kann nicht mit voller Wahrheit sagen, daß der fürchterliche Schluß, auf den diese Worte hindeuten, mich wie eine plötzliche, unerwartete Offenbarung getroffen hätte. Einige der sonderbaren Fragen, welche die Frau in Weiß nach meinem unüberlegten Versprechen, sie unbeschränkt thun zu lassen, was sie wolle, an mich gerichtet, hatten schon die Vermuthung in mir aufkommen lassen, daß sie entweder von Natur flüchtig und unstet sei, oder irgend ein kürzlich erlittener, erschütternder Schlag das Gleichgewicht ihrer Geistesfähigkeiten gestört habe. Aber die Idee wirklichen Wahnsinns, die wir Alle mit dem bloßen Namen einer Irrenanstalt verbinden, war mir, offen gestanden, in Bezug auf sie, keinen Augenblick in den Sinn gekommen. Ich hatte in ihrer Sprache und ihrem Benehmen Nichts bemerkt, was dies zur Zeit gerechtfertigt hätte, und selbst jetzt nach dem neuen Lichte, das die Worte des Fremden zum Constabler auf die Sache geworfen, sah ich noch Nichts, das eine solche Ansicht gerechtfertigt hätte.

Was hatte ich gethan? Dem Opfer der schrecklichsten aller Einkerkerungen Beistand zur Flucht geleistet, oder in die weite Welt von London ein Wesen losgelassen, dessen Handlungen zu beaufsichtigen meine Pflicht und die Pflicht jedes Menschen war? Mir schwindelte, als sich mir diese Frage aufwarf, bei dem vorwurfsvollen Bewußtsein, daß sie zu spät komme.

In meinem verstörten Gemüthszustande war es unnöthig, an ein Schlafengehen zu denken, als ich endlich in meiner Wohnung in Clement’s Inn anlangte. In wenigen Stunden sollte ich meine Reise nach Cumberland antreten. Ich setzte mich und versuchte, erst zu zeichnen und dann zu lesen – aber die Frau in Weiß war zwischen mir und meinem Bleistifte, zwischen mir und meinem Buche. War das unglückliche Geschöpf zu Schaden gekommen? Das war mein erster Gedanke, obgleich ich ihn selbstsüchtig von mir wies. Dann folgten andere Gedanken, bei denen zu verweilen wenig qualvoll war. Wo hatte sie den Fiaker anhalten lassen? Was war jetzt aus ihr geworden? Hatten die Männer in der Chaise sie gefunden und festgehalten? Oder war sie noch frei und Herrin ihrer eigenen Handlungen und gingen wir Beide auf unseren weit auseinanderliegenden Pfaden einem und demselben Punkte in der geheimnisvollen Zukunft zu, an dem wir noch einmal einander begegnen sollten?

Es war mir eine Erleichterung, als die Stunde kam, meine Thür zu schließen, von meinen Londoner Beschäftigungen, meinen Schülern und Freunden Abschied zu nehmen und mich in Bewegung zu setzen auf dem Wege zu neuen Interessen und einem neuen Leben. Sogar das Gewühl und Getöse an der Eisenbahnstation, die zu anderen Zeiten so unerträglich sind, belebten mich und thaten mir wohl.

Meine Reiseinstruction enthielt die Weisung für mich, nach Carlisle zu fahren und dann meinen Weg auf einer Zweigbahn fortzusetzen, welche der Küste zulief. Als erstes Unglück nahm unsere Locomotive zwischen Lancaster und Carlisle Schaden. Der hiedurch herbeigeführte Verzug hatte zur Folge, daß ich für den Zug, mit dem ich sogleich auf der Zweigbahn meine Reise hätte fortsetzen sollen, zu spät kam. Ich hatte mehrere Stunden zu warten, und als ich endlich mit einem späteren Zuge auf der Limmeridge House am nächsten gelegenen Station anlangte, war es nach zehn Uhr und die Nacht so finster, daß ich kaum den Weg nach der Ponychaise sehen konnte, welche Mr. Fairlie geschickt hatte, mich zu erwarten.

Der Kutscher, offenbar durch meine späte Ankunft sich verletzt fühlend, war in jenem Zustande äußerst achtungsvoller Verdrießlichkeit, welcher englischen Dienern eigen ist. Wir fuhren langsam und in tiefem Schweigen durch die Dunkelheit. Die Wege waren schlecht, und die dichte Finsterniß vergrößerte die Schwierigkeit, schnell zu fahren. Es waren nach meiner Uhr beinahe anderthalb Stunden vergangen, seitdem wir die Station verlassen hatten, als ich das Rauschen der See in der Ferne und das Knirschen der Räder auf glattem Kieswege hörte. Wir waren durch ein Thor gekommen, ehe wir auf dem Kieswege anlangten, und mußten noch durch ein zweites, ehe wir vor dem Hause hielten. Ich wurde von einem feierlichen Bedienten ohne Livree ehrfurchtsvoll empfangen, von ihm unterrichtet, daß die Familie sich für die Nacht zurückgezogen, und dann in ein großes, hohes Zimmer geführt, wo am unteren Ende einer langen Mahagonispeisetafel ein Nachtessen meiner harrte.

Ich war zu müde und zu verdrießlich, um viel zu essen oder zu trinken, besonders da der feierliche Diener mich auf eine ebenso umständliche Weise bediente, als ob anstatt eines einzigen Mannes eine kleine Mittagsgesellschaft im Hause angekommen sei. In einer Viertelstunde war ich bereit, mich auf mein Schlafzimmer führen zu lassen. Der feierliche Diener führte mich auf ein hübsch möblirtes Zimmer, sagte: »Das Frühstück ist um neun Uhr aufgetragen, Sir,« schaute sich um, ob auch Alles an Ort und Stelle sei – und zog sich geräuschlos zurück.

»Was werde ich diese Nacht in meinen Träumen sehen?« dachte ich bei mir, als ich mein Licht auslöschte, »die Frau in Weiß oder die unbekannten Bewohner dieses Hauses?« Es war ein eigenthümliches Gefühl, wie ein alter Freund der Familie im Hause zu schlafen, und dennoch nicht ein einziges Mitglied derselben, auch nur dem Ansehen nach, zu kennen!



Kapiteltrenner

V.

Als ich am nächsten Morgen aufstand und mein Fensterrouleau in die Höhe zog, lag die See freudig und leuchtend in dem breiten Augustsonnenlichte vor mir, und die ferne Küste von Schottland säumte den Horizont mit ihren schmelzend blauen Wellenlinien.

Der Anblick gewährte mir eine solche Ueberraschung und Veränderung nach meinen langweiligen Erfahrungen in den Kalk- und Ziegelsteinlandschaften Londons, daß ich, sowie ich ihn erschaute, in ein neues Leben und neue Ideenkreise einzutreten schien. Es kam mir ein verworrenes Gefühl, als ob ich plötzlich meine Bekanntschaft mit der Vergangenheit verloren hätte, ohne dabei eine größere Klarheit der Ideen in Bezug auf die Gegenwart oder die Zukunft zu gewinnen. Umstände, die nur wenige Tage alt waren, verblichen in meiner Erinnerung, als ob sie sich vor vielen Monaten ereignet hätten. Pesca’s drollige Erzählung von der Art und Weise, wie er mir meine gegenwärtige Beschäftigung verschafft hatte; der Abschiedsabend, den ich bei meiner Mutter und Schwester zugebracht hatte; selbst mein geheimnisvolles Abenteuer auf meinem Heimwege von Hampstead: das Alles waren Begebenheiten geworden, die sich möglicherweise zu einer früheren Epoche meines Lebens zugetragen haben konnten. Obgleich die Frau in Weiß noch in meiner Erinnerung war, schien doch ihr Bild bereits undeutlicher geworden zu sein. –

Kurz vor neun Uhr ging ich ins Erdgeschoß hinunter. Der feierliche Diener vom vorigen Abend begegnete mir, wie ich in den Gängen umherwandelte, und zeigte mir voll Menschenfreundlichkeit den Weg nach dem Frühstückszimmer.

Der erste Blick, den ich um mich warf, als der Mann die Thür wieder hinter mir schloß, zeigte mir einen wohl besetzten Frühstückstisch, der in der Mitte eines langen Zimmers mit vielen Fenstern stand. Ich blickte vom Tische nach dem am weitesten von mir entfernten Fenster und sah an demselben eine Dame stehen, mit dem Rücken mir zugewandt. Sowie ich sie erblickte, frappirten mich die seltene Schönheit ihrer Gestalt und die ungekünstelte Anmuth ihrer Haltung. Ihre Figur war groß, doch nicht zu groß, von hübsch und wohl entwickelten, doch nicht allzu starken Formen; ihr Kopf saß mit einer ungezwungenen, biegsamen Festigkeit auf ihren Schultern; ihre Taille, vollkommen in den Augen eines Mannes – denn sie nahm ihre natürliche Stelle ein – füllte ihren natürlichen Zirkel aus und – was deutlich und reizend sichtbar war – ward nicht durch ein Schnürleibchen entstellt. Sie hatte mein Eintreten ins Zimmer nicht gehört, und ich gewährte mir den Genuß, sie einige Augenblicke zu bewundern, ehe ich als das am wenigsten in Verlegenheit setzende Mittel, ihre Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, einen der mir zunächst stehenden Stühle rückte. Sie wandte sich augenblicklich zu mir um; die unbefangene Anmuth jeder Bewegung ihrer Glieder und ihres Körpers, als sie von dem anderen Ende des Zimmers zu mir kam, machte mich förmlich zittern vor Erwartung, ihr Gesicht deutlich zu sehen. Sie verließ das Fenster – und ich sagte zu mir selbst: die Dame ist brünett. Sie ging ein paar Schritte vorwärts – und ich bemerkte, daß sie jung war. Sie kam näher – und ich sagte zu mir (mit einem Gefühle der Ueberraschung, das ich nicht mit Worten zu beschreiben vermag): die Dame ist – häßlich!

Noch nie wurde die alte conventionelle Maxime, daß die Natur nicht irren kann, vollständiger widerlegt – noch nie das Versprechen einer reizenden Gestalt seltsamer und überraschender durch das dazu gehörende Haupt und Antlitz Lügen gestraft. Die Hautfarbe der Dame war beinahe braun und der dunkle Flaum auf ihrer Oberlippe beinahe ein andalusisches Bärtchen, sie hatte einen großen, festen, männlichen Mund und Unterkiefer; hervorstehende, scharfe, entschlossene, braune Augen und dickes kohlschwarzes Haar, das ihr ungewöhnlich tief in die Stirn wuchs. Der Ausdruck ihres Gesichtes, der klar, offen und intelligent war, schien, wenn sie schwieg, gänzlich jenes weiblichen Reizes der Sanftheit und Schmiegsamkeit zu entbehren, ohne welchen die Schönheit des schönsten Weibes der Welt eine unvollkommene ist. Ein solches Gesicht auf Schultern zu sehen, die ein Bildhauer sich gesehnt haben würde abzubilden – von der bescheidenen Anmuth der Glieder, die ihre durch Ebenmaß ausgezeichnete Schönheit in jeder Bewegung verriethen, bezaubert und dann von der männlichen Form und dem männlichen Ausdrucke der Züge, in welchen der vollkommen gebildete Körper endete, beinahe abgestoßen zu werden, verursachte ein Gefühl, das eine unheimliche Aehnlichkeit mit dem hilflosen Verdrusse hat, den wir Alle kennen, wenn wir im Schlafe die Anomalien und Widersprüche unserer Träume erkennen und doch nicht begreifen können.

»Mr. Hartright?« sagte die Dame in fragendem Tone, und sowie sie sprach, erhellte sich ihr dunkles Gesicht durch ein Lächeln und wurde sanft und weiblich. »Wir gaben gestern Abend alle Hoffnung auf, Sie noch zu sehen, und gingen daher zur gewöhnlichen Zeit schlafen. Entschuldigen Sie unseren scheinbaren Mangel an Aufmerksamkeit und erlauben Sie mir, mich Ihnen als eine Ihrer künftigen Schülerinnen vorzustellen. Wollen wir einander die Hände geben? Früher oder später wird es doch vermuthlich dahin kommen – und warum da nicht früher?«

Diese seltsamen Worte des Willkommens wurden mit einer klaren, wohlklingenden, angenehmen Stimme gesprochen. Die dargebotene Hand – ziemlich groß, aber wunderschön geformt – wurde mir mit dem unbefangenen, ungekünstelten Selbstvertrauen einer vornehmen Dame gegeben, wir setzten uns so herzlich und bekannt an den Frühstückstisch, als ob wir einander seit Jahren gekannt hätten und auf Verabredung in Limmeridge House zusammengetroffen seien, um uns von alten Zeiten zu unterhalten.

»Ich hoffe, Sie kommen mit dem freundlichen Entschlusse zu uns, mit Ihrer Lage vorlieb zu nehmen,« fuhr die Dame fort. »Sie werden heute Morgen den Anfang damit machen müssen, indem Sie sich es am Frühstückstische an meiner Gesellschaft allein genügen sollen. Meine Schwester ist auf ihrem Zimmer und pflegt sich in jener wesentlich weiblichen Krankheit, einem leichten Kopfweh, und ihre alte Gouvernante, Mrs. Vesey, leistet ihr darin mit belebendem Thee barmherzigen Beistand. Mein Onkel, Mr. Fairlie, nimmt keine der Mahlzeiten in unserer Gesellschaft ein; er ist ein Invalide und hält seinen Junggesellenhofstaat in seinen eigenen Gemächern. Sonst ist außer mir Niemand im Hause. Es waren zwei junge Damen zum Besuch hier, doch sie verließen uns gestern in Verzweiflung, und das ist nicht zum Verwundern. Während der ganzen Dauer ihres Besuches boten wir ihnen (in Folge Mr. Fairlie’s schwachen Gesundheitszustandes) nicht die Annehmlichkeit eines männlichen Wesens, mit dem sie hätten coquettiren, tanzen und plaudern können, und die Folge davon war, daß wir Nichts thaten als streiten, besonders bei Tische. Wie kann man verlangen, daß vier Frauenzimmer alle Tage zusammen zu Mittag speisen, ohne zu streiten. Wir sind solche einfältige Wesen, daß wir einander nicht bei Tisch unterhalten können. Sie sehen, daß ich nicht viel von meinem Geschlechte halte, Mr. Hartright – was wollen Sie trinken, Thee oder Kaffee? – kein weibliches Wesen hält viel vom eigenen Geschlechte, obgleich wenige dies so offen gestehen, wie ich … Ach Gott! Sie sehen verlegen aus. Warum? Ueberlegen Sie, was Sie zum Frühstück essen wollen? oder sind Sie über meine unbekümmerte Art zu sprechen erstaunt? Im ersteren Falle rathe ich Ihnen als Freundin, sich nicht mit dem kalten Schinken abzugeben, der neben Ihnen steht, und zu warten, bis die Omelette kommt. Im zweiten will ich Ihnen eine Tasse Thee geben, um Ihr Gemüth zu beruhigen, und Alles zu thun, was eine Frau nur immer kann (was, beiläufig gesagt, sehr wenig ist), um den Mund zu halten.«

Sie reichte mir mit fröhlichem Lachen eine Tasse Thee. Ihr leichter Redefluß wie ihre lebhafte Vertraulichkeit gegen einen völlig Fremden waren von einer ungekünstelten Natürlichkeit und einem angeborenen unbefangenen Selbstvertrauen zu sich und ihrer Stellung begleitet, die ihr die Achtung des verwegensten Mannes von der Welt gesichert hätten. Ebenso unmöglich wie es war, förmlich und zurückhaltend in ihrer Gesellschaft zu sein, ebenso unmöglich wäre es gewesen, sich auch nur in Gedanken den kleinsten Schatten einer Freiheit herauszunehmen. Ich empfand dies instinctmäßig, schon während ich mich durch ihre Munterkeit angesteckt fühlte – indem ich mein Möglichstes that, ihr auf ihre eigene offene, lebhafte Manier zu antworten.

»Ja, ja,« sagte sie, als ich ihr mein verblüfftes Aussehen auf die einzig mögliche Art erklärt hatte; »ich begreife, Sie sind so vollkommen fremd im Hause, daß meine familiären Anspielungen auf seine würdigen Bewohner Sie verwirren. Ganz natürlich – ich hätte das früher bedenken sollen. Jedenfalls kann ich die Sache jetzt wieder gutmachen. Wie wär’s, finge ich mit nur selbst an, um desto schneller mit dem Theile des Gegenstandes fertig zu werden? Ich heiße Marianne Halcombe und bin so ungenau, wie Frauen es gewöhnlich sind, wenn ich Mr. Fairlie meinen Onkel, und Miß Fairlie meine Schwester nenne. Meine Mutter war zweimal verheiratet: das erste Mal mit Mr. Halcombe, meinem Vater, das zweite Mal mit Mr. Fairlie, dem Vater meiner Halbschwester. Außer darin, daß wir beide Waisen sind, gleichen wir einander so wenig wie möglich. Mein Vater war ein armer, und Miß Fairlie’s Vater ein reicher Mann. Ich besitze gar Nichts, und sie ist eine Erbin. Ich bin brünett und häßlich, und sie ist blond und hübsch. Jedermann findet mich mit vollkommenem Rechte barsch und sonderbar und sie mit noch größerem Rechte freundlich und anmuthig. Kurz, sie ist ein Engel, und ich – kosten Sie doch diese Marmelade, Mr. Hartright, und beendigen Sie selbst meinen Satz im Namen weiblicher Schicklichkeit. Was soll ich Ihnen über Mr. Fairlie erzählen? Ich weiß es wahrhaftig kaum. Er wird Sie ganz sicher nach dem Frühstücke zu sich bitten lassen, und da können Sie ihn selbst studiren. Unterdessen kann ich Sie unterrichten, daß er erstens des verstorbenen Mr. Fairlie jüngerer Bruder, zweitens unverheiratet und drittens Miß Fairlie’s Vormund ist. Ich will nicht ohne sie, und sie kann ohne mich nicht leben, und das ist der Grund, weshalb ich dazu komme, in Limmeridge House zu leben. Meine Schwester und ich, wir haben einander ernstlich lieb, was, wie Sie sagen werden, unter solchen Verhältnissen ganz unerklärlich ist, und ich stimme darin mit Ihnen überein – aber es ist einmal so. Sie müssen uns entweder Beiden gefallen, Mr. Hartright, oder Keiner; und, was noch härter ist, Sie sind gänzlich auf unsere Gesellschaft angewiesen, Mrs. Vesey ist eine vortreffliche Frau, die alle Cardinaltugenden besitzt und nicht mitgerechnet wird; und Mr. Fairlie ist zu krank, um für irgend Jemanden ein Gesellschafter zu sein. Ich weiß nicht, was ihm fehlt, auch die Aerzte können es nicht ergründen, und er selbst ist darüber im Unklaren. Wir sagen Alle, es kommt von den Nerven her, und Keiner von uns weiß, was er damit meint, wenn er das sagt. Ich rathe Ihnen indessen, seinen kleinen Sonderbarkeiten zu willfahren, wenn Sie ihn heute sehen. Bewundern Sie seine Sammlungen von Münzen, Stahlstichen und Aquarellen, und Sie werden sein Herz gewinnen. Und wirklich, wenn Sie sich mit einem ruhigen Landleben begnügen können, so sehe ich nicht ein, warum es Ihnen hier nicht ganz gut gefallen sollte, vom Frühstück bis zum Gabelfrühstück werden Mr. Fairlie’s Zeichnungen Sie beschäftigen. Nach dem Gabelfrühstück schultern wir, Miß Fairlie und ich, unsere Skizzenbücher und gehen aus, um unter Ihrer Aufsicht die Natur auf Papier dar- oder entstellen zu lernen; Zeichnen ist ihre Lieblingsgrille, nicht die meinige, bitte ich zu bemerken. Frauen können nicht zeichnen – sie sind zu flüchtig und ihre Augen zu unaufmerksam. Einerlei – meine Schwester findet Vergnügen daran, und folglich verschwende ich ihr zu Gefallen Farbe und verderbe Papier mit Todesverachtung, wie andere Frauen in England. Was die Abende betrifft, so denke ich, daß wir Ihnen über dieselben hinweg helfen können. Miß Fairlie spielt wunderschön Clavier. Was mich betrifft, so kann ich nicht einen Ton von einem anderen unterscheiden, aber ich kann es im Schach, im Triktrak, Ecarté und (mit den unvermeidlichen weiblichen Nachtheilen) selbst im Billard mit Ihnen aufnehmen. Wie gefällt Ihnen das Programm? Können Sie sich mit unserem ruhigen, regelmäßigen Leben begnügen? oder beabsichtigen Sie, unruhig zu sein und in der Alltagsatmosphäre von Limmeridge House heimlich nach Abwechslung und Abenteuern zu dürsten?«

Auf diese ihre anmuthig scherzende Weise hatte sie weiter geplaudert ohne andere Unterbrechungen von meiner Seite, als die unwichtigen Antworten, welche die Höflichkeit von mir verlangte. Doch die Veränderung ihres Ausdrucks in der letzten Frage oder vielmehr das zufällige Wort »Abenteuer«, so leicht es von ihren Lippen gefallen war, erinnerte mich plötzlich an mein Begegnen mit der Frau in Weiß und trieb mich, die Verbindung zu erfahren, welche der Fremden Anspielung auf Mrs. Fairlie nach einst zwischen der aus der Irrenanstalt Entwichenen ohne Namen und der ehemaligen Gebieterin von Limmeridge House stattgefunden haben konnte.

»Selbst wenn ich der unruhigste Mensch von der Welt wäre,« sagte ich, »würde ich auf einige Zeit nicht in Gefahr sein, nach Abenteuern zu dürsten. Gerade in der Nacht vor meiner Ankunft in diesem Hause hatte ich ein Abenteuer, und an dem Erstaunen und der Aufregung, in die ich darüber gerieth, werde ich, kann ich Sie versichern, Miß Halcombe, während der ganzen Dauer meines Aufenthaltes in Cumberland, wo nicht noch darüber hinaus, vollauf genug haben.«

»Was Sie sagen, Mr. Hartright! Darf ich es hören?«

»Sie haben Anspruch darauf, es zu hören. Die Hauptperson war für mich eine Fremde und mag vielleicht für Sie ebenfalls eine solche sein; so viel ist aber gewiß, daß sie den Namen der verstorbenen Mrs. Fairlie mit dem Ausdrucke der aufrichtigsten Dankbarkeit und Liebe nannte.«

»Den Namen meiner Mutter! Dies interessirt mich unbeschreiblich. Bitte, fahren Sie fort.«

Ich erzählte ihr sofort die Umstände, unter welchen ich der Frau in Weiß begegnet war, genau wie sie sich zugetragen hatten, und wiederholte, was sie über Mrs. Fairlie und Limmeridge House gesagt hatte, Wort für Wort.

Miß Halcombe’s klare, entschlossene Augen schauten von Anfang bis zu Ende meiner Erzählung begierig in die meinigen. Ihr Gesicht drückte lebhaftes Interesse und Erstaunen aus, aber weiter Nichts. Sie war offenbar ebenso weit, wie ich selbst, von einem Schlüssel zu dem Geheimnisse entfernt.

»Sind Sie jener Worte in Bezug auf meine Mutter ganz gewiß?« frug sie.

»Ganz gewiß,« erwiderte ich. »wer die Frau auch sein mag, sie ging einst in Limmeridge in die Schule und wurde von Mrs. Fairlie mit besonderer Güte behandelt, und in dankbarer Erinnerung an jene Güte fühlt sie für alle noch lebenden Mitglieder der Familie ein zärtliches Interesse. Sie wußte, daß Mrs. Fairlie und ihr Gemahl todt seien, und sie sprach von Miß Fairlie, als ob sich Beide in ihrer Kindheit gekannt hätten.«

»Sie sagten, glaube ich, daß sie angab, nicht an diesen Ort zu gehören?«

»Ja, sie sagte mir, sie komme aus Hampshire.«

»Und es gelang Ihnen nicht, ihren Namen zu erfahren?«

»Es war mir unmöglich.«

»Höchst sonderbar. Ich bin der Ansicht, Mr. Hartright, daß Sie ganz recht darin thaten, daß Sie dem armen Geschöpfe zu ihrer Freiheit verhalfen, denn sie scheint in Ihrer Gegenwart Nichts gethan zu haben, was bewiesen hätte, daß sie zu dem Genusse derselben nicht berechtigt sei. Aber ich wollte doch, Sie wären ein wenig entschlossener in Ihren Versuchen, ihren Namen zu erfahren, gewesen. Wir müssen dieses Geheimniß wirklich auf die eine oder andere Art aufklären. Ich denke indessen, sie erwähnen die Sache lieber noch nicht gegenüber Mr. Fairlie oder meiner Schwester. Ich bin fest überzeugt, daß Beide ebenso wenig wie ich wissen, wer die Frau ist und in welcher Art ihre frühere Geschichte Bezug zu unserer Familie haben könnte. Beide aber sind auch freilich auf ganz verschiedene Weise nervenschwach und leicht erregbar, und Sie würden sie nur unnöthigerweise beunruhigen. Was mich selbst betrifft, so brenne ich vor Neugierde und werde von diesem Augenblicke an meine ganze Energie auf die Entdeckung der Sache richten.

Als meine Mutter bald nach ihrer zweiten Heirat hierher kam, errichtete sie allerdings die Dorfschule, gerade so wie sie noch jetzt besteht. Aber die alten Lehrer sind alle todt oder anderswohin gegangen, so daß von der Seite her keine Aufklärung zu erwarten ist. Die einzige andere Alternative, die mir einfällt –«

Hier wurden wir durch das Eintreten des Dieners unterbrochen, der mich benachrichtigte, daß Mr. Fairlie sich freuen werde, mich bei sich zu sehen, sobald ich mit dem Frühstück zu Ende sei.

»Warten Sie draußen,« sagte Miß Halcombe, indem sie auf ihre schnelle, lebhafte Weise statt meiner antwortete, »Mr. Hartright wird gleich hinauskommen. Was ich sagen wollte,« fuhr sie fort, indem sie sich zu mir wandte, »die einzige Alternative wäre, daß meine Schwester und ich eine große Sammlung von meiner Mutter Briefen besitzen, die sie an ihren und meinen Vater geschrieben hatte. In Ermangelung aller anderen Mittel, uns Aufklärung zu verschaffen, will ich den Morgen dazu verwenden, meiner Mutter Correspondenz mit Mr. Fairlie durchzusehen. Er liebte London und war sehr oft von seinem Landsitze abwesend, und sie war gewohnt, ihm bei solchen Gelegenheiten Berichte über Alles zu schreiben, was sich in Limmeridge zutrug. Ihre Briefe sind voll von ihrer Schule, für die sie ein großes Interesse fühlte, und ich denke, es ist mehr als wahrscheinlich, daß ich etwas entdeckt haben werde, sobald wir einander wiedersehen. Das Gabelfrühstück ist um zwei Uhr, Mr. Hartright. Ich werde dann das Vergnügen haben, Sie meiner Schwester vorzustellen, und den Nachmittag wollen wir dann dazu verwenden, in der Nachbarschaft spazieren zu fahren und Ihnen alle unsere Lieblingsaussichten zu zeigen. Also auf Wiedersehen um zwei Uhr.«

Sie nickte mir mit der lebhaften Grazie und der bezaubernden vornehmen Vertraulichkeit zu, die Alles, was sie that und sagte, charakterisirten, und verschwand durch eine Thür am unteren Ende des Zimmers. Sobald sie mich verlassen, ging ich in den Vorplatz hinaus und ließ mich von dem Diener zum ersten Male zu Mr. Fairlie führen.



Kapiteltrenner

VI.

Mein Führer ging mit mir zu dem Corridor hinauf, auf dem das Schlafzimmer lag, in welchem ich die vergangene Nacht zugebracht hatte, und die Thür neben demselben öffnend, ersuchte er mich, hinein zu sehen.

»Ich habe Befehl von meinem Herrn, Ihnen Ihr eigenes Wohnzimmer zu zeigen, Sir,« sagte der Mann, »und Sie zu fragen, ob sie mit der Lage und dem Lichte zufrieden sind.«

Ich wäre in der That schwer zu befriedigen gewesen, hätte nicht das Zimmer, sowohl wie Alles, was dazu gehörte, meinen Beifall gehabt. Das Bogenfenster zeigte dieselbe wunderschöne Aussicht, die ich in der Frühe schon von meiner Schlafstube aus bewundert hatte. Die Möbel waren vollkommen an Luxus und Schönheit, und der runde Tisch in der Mitte der Stube funkelte förmlich von den darauf liegenden, reich gebundenen Büchern, eleganten Schreibmaterialien und prächtigen Blumen. Der zweite Tisch, der am Fenster stand, war mit allen Materialien zum Aufkleben von Aquarellen bedeckt; es war eine Staffelei daran angebracht, die ich nach Gefallen aufrichten oder zusammenlegen konnte. Die Fenstervorhänge waren von hellbuntem Glanzkattun, und der Fußboden war mit maisfarbenem und rothem indischem Strohgeflechte bedeckt. Es war das niedlichste, luxuriöseste kleine Wohnzimmer, das mir je vorgekommen, und ich lobte es mit dem wärmsten Enthusiasmus.

Der feierliche Diener war viel zu wohlerzogen, um die geringste Genugthuung zu bezeugen. Er verbeugte sich mit eisiger Ehrerbietung, als ich meine Lobsprüche erschöpft hatte, und öffnete dann schweigend wieder die Thür, um mich in den Corridor hinaus zu lassen.

Wir bogen um eine Ecke und betraten einen zweiten langen Corridor, an dessen äußerstem Ende angelangt wir eine kleine Treppenflucht hinaufstiegen, über einen kleinen, runden Vorplatz gingen und endlich vor einer Thür stillstanden, die mit einem dicken, dunklen Wollenstoffe beschlagen war. Der Diener öffnete diese Thür und führte mich ein paar Schritte weiter an eine zweite; öffnete diese ebenfalls und zeigte dadurch zwei Vorhänge von blasser, wassergrüner Seide dicht vor uns; zog den einen derselben geräuschlos zurück, sprach leise die Worte: »Mr. Hartright« aus und verließ mich.

Ich sah mich in einem großen, hohen Zimmer mit einer prachtvollen geschnitzten Decke und einem Teppich, der so dick und weich war, daß er sich wie Lagen von Sammt unter den Füßen anfühlte. Die eine ganze Seite des Zimmers nahm ein Bücherschrank aus einer seltenen, getäfelten Holzart ein, die mir völlig neu war. Derselbe war nur sechs Fuß hoch, und oben darauf standen Statuen in regelmäßigen Entfernungen von einander. Auf der entgegengesetzten Seite standen zwei antike Schränke, und über denselben hing ein Bild der Jungfrau mit dem Christuskinde, das durch Glas geschützt wurde und unten am Rahmen auf einer vergoldeten Platte den Namen Raphaels trug. Zu meiner Rechten und Linken, als ich innerhalb des Einganges stand, waren Chiffonniéren und Pfeilertischchen von Buhl und Marquetterie, die mit Figuren von Meißner Porzellan, seltenen Vasen, Elfenbeinschnitzereien, Spielereien und Merkwürdigkeiten aller Art, die von Gold, Silber und Edelsteinen funkelten, bedeckt waren. Am unteren Ende des Zimmers mir gegenüber verbargen Vorhänge von derselben wassergrünen Seide, wie die an der Thür, die Fenster und milderten das Sonnenlicht. Das auf diese Weise hervorgebrachte Licht war unendlich weich, geheimnisvoll und wohlthuend; es fiel gleichmäßig auf alle Gegenstände im Zimmer, machte die tiefe Stille und das Ansehen absoluter Abgeschlossenheit noch eindrucksvoller und umgab mit einem angemessenen Nimbus die einsame Gestalt des Gebieters des Hauses, welcher in theilnahmsloser Ruhe in einem großen Lehnstuhle ausgestreckt lag, an dem auf der einen Seite ein Lesepult und auf der anderen ein kleiner Tisch angebracht waren.

Falls man zugeben will, daß man von dem Aussehen eines Mannes, nachdem er sein Toilettezimmer verlassen, und wenn er vierzig Jahre alt ist, mit Sicherheit auf sein Alter schließen kann – was sehr zu bezweifeln ist – so mochte Mr. Fairlie’s Alter, als ich ihn sah, billigerweise auf über fünfzig und unter sechzig angeschlagen werden. Sein bartloses Gesicht war mager, verlebt und von einer durchsichtigen Blässe, aber nicht runzelig; seine Nase war groß und gebogen; seine Augen von einem matten, gräulichen Blau, groß und hervorstehend, und die Ränder der Augenlider etwas geröthet; er hatte wenig Haare, doch war es weich anzusehen und von jener hellen, sandähnlichen Farbe, welche von allen am letzten den Uebergang zum Grau verräth. Er trug einen dunklen Ueberrock von einem Stoffe, der weit leichter war als Tuch, und eine Weste und Beinkleid von untadeligem Weiß. Seine Füße waren auffallend klein und mit Strümpfen von lederfarbener Seide und kleinen bronzeledernen Pantöffelchen bekleidet. Zwei Ringe schmückten seine zarten, weißen Hände, deren Werth selbst meine unerfahrene Beobachtung sofort als beinahe unschätzbar anerkannte. Im Ganzen hatte er ein schwächliches, matt reizbares, überfeines Aussehen – etwas eigenthümlich und unangenehm Zartes, da man es an einem Manne fand, und das doch zu gleicher Zeit, wenn man es sich an der Erscheinung einer Frau dachte, unmöglich natürlich oder angemessen erschienen wäre. Durch die Erfahrung, die ich an Miß Halcombe gemacht, war ich aufgelegt, an Allem im Hause Gefallen zu finden; aber meine Sympathie zog sich beim ersten Anblicke von Mr. Fairlie entschlossen in sich selbst zurück.

Als ich näher zu ihm herantrat, entdeckte ich, daß er nicht so völlig unbeschäftigt sei, wie ich zuerst vermuthete. Unter anderen seltenen und schönen Gegenständen, welche auf einem großen runden Tische neben ihm standen, war ein Miniaturschrank von Ebenholz und Silber, der in kleinen Schubladen, die mit dunkelblauem Sammt ausgeschlagen waren, Münzen von allen Formen und Größen enthielt. Eine dieser Schubladen stand auf dem kleinen Tische, der an seinem Stuhle angebracht war, und daneben lagen einige kleine Juwelierbürsten, ein Stück Waschleder und eine kleine Flasche mit einer Flüssigkeit; Alles dazu bestimmt, zur Hinwegschaffung der geringsten, zufälligen Unreinheit, die er auf den Münzen entdecken möchte, angewendet zu werden. Seine zarten, weißen Finger spielten gleichgiltig mit etwas, das meinen unerfahrenen Augen wie eine schmutzige, zinnerne Medaille mit unebener Kante aussah, als ich in achtungsvoller Entfernung von seinem Stuhle stehen blieb, um ihm meine Verbeugung zu machen.

»Sehr erfreut, Sie in Limmeridge zu haben, Mr. Hartright,« sagte er mit einer kläglichen, krächzenden Stimme, die auf Nichts weniger als angenehme Art einen hohen Mißton mit einer matten, schläfrigen Aussprache verband. »Bitte, setzen Sie sich. Und bemühen Sie sich gefälligst, nicht den Stuhl zu rücken. In dem unseligen Zustande meiner Nerven ist jede Art von Bewegung unbeschreiblich schmerzhaft. Haben Sie Ihr Atelier gesehen? Sind Sie zufrieden damit?«

»Ich habe das Zimmer soeben gesehen, Mr. Fairlie, und ich versichere Sie –«

Er unterbrach mich mitten im Satze, indem er die Augen schloß und eine seiner weißen Hände stehend in die Höhe hielt. Ich schwieg voll Erstaunen, und die krächzende Stimme beehrte mich mit folgender Erklärung:

»Bitte, entschuldigen Sie mich. Aber wäre es Ihnen wohl möglich, etwas leiser zu sprechen? Bei dem unseligen Zustande meiner Nerven ist jeder laute Ton eine unbeschreibliche Tortur für mich. Sie werden einem Kranken verzeihen? Ich sage Ihnen nur, was der beklagenswerthe Zustand meiner Gesundheit mich allen Leuten zu sagen nöthigt. Ihr Zimmer gefällt Ihnen also, Mr. Hartright?«

»Ich könnte mir Nichts Hübscheres und Bequemeres wünschen,« entgegnete ich, indem ich meine Stimme bis zum Flüstern herabsenkte und zugleich bei mir die Entdeckung machte, daß Mr. Fairlie’s schwache Nerven und seine egoistische Association im Grunde ein und dasselbe seien.

»Sehr erfreut. Sie werden ihre Stellung hier gebührend anerkannt finden, Mr. Hartright. Es ist Nichts von dem abscheulichen, barbarischen, englischen Vorurtheile gegen die gesellschaftliche Stellung eines Künstlers in diesem Hause. Ich habe so viele Zeit meines früheren Lebens im Auslande zugebracht, daß ich in dieser Beziehung meine insularische Haut gänzlich abgeworfen habe. Ich wollte, ich könnte dasselbe von den vornehmen Ständen – abscheuliches Wort, aber ich muß wohl Gebrauch davon machen – unserer Nachbarschaft sagen. Aber sie sind entsetzliche Gothen und Vandalen in der Kunst, Mr. Hartright. Leute, versichere ich Sie, die vor Erstaunen große Augen gemacht haben würden, hätten sie Karl V. Titian’s Pinsel aufheben sehen. Wären Sie vielleicht so gütig, diese Schublade mit Münzen in den Schrank zurückzuschieben und mir die nächste zu reichen? In dem unseligen Zustande meiner Nerven ist mir auch die geringste Anstrengung im höchsten Grade zuwider. Jawohl. Dank Ihnen.«

Als praktischer Commentar zu der liberalen, gesellschaftlichen Theorie, von der er mir soeben ein Beispiel angeführt, belustigte mich Mr. Fairlie’s kaltblütiges Ersuchen einigermaßen. Ich that die eine Schublade mit aller möglichen Höflichkeit an ihren Platz zurück und gab ihm die andere. Er begann sofort mit den Münzen und kleinen Bürsten zu spielen, indem er sie während der ganzen Zeit, da er mit mir sprach, mit matten Blicken betrachtete und bewunderte.

»Danke tausendmal und bitte um Verzeihung. Interessiren Sie sich für Münzen? Ja? Sehr erfreut, daß wir außer unserer Liebe zur Kunst auch diesen Geschmack gemein haben. Jetzt, was unsere pekuniären Arrangements betrifft – bitte, sagen Sie mir – sind dieselben für Sie befriedigend?

»Vollkommen befriedigend, Mr. Fairlie.«

»Sehr erfreut. Und – was sonst noch? Ah! ich entsinne mich. Jawohl. In Bezug auf die Entschädigung, welche Sie so gütig sein wollen, für den Vortheil, den mir Ihre Talente in der Kunst gewähren, anzunehmen, wird mein Intendant am Ende jeder Woche Ihre Wünsche entgegennehmen. Und – was sonst noch? Sonderbar, nicht wahr? Ich hatte noch viel mehr zu sagen, und es scheint, ich habe Alles vergessen. Würden Sie vielleicht die Güte haben, zu klingeln? In jener Ecke. Jawohl. Danke Ihnen.«

Ich klingelte; ein neuer Diener trat geräuschlos ein – ein Ausländer mit einem stereotypen Lächeln und schön gebürstetem Haar – jeder Zoll ein Kammerdiener.

»Louis,« sagte Mr. Fairlie, indem er träumerisch mit einer der kleinen Bürsten über seine Fingerspitzen hin und her fuhr, »ich habe heute Morgen einige Memoranda in mein Notiztäfelchen eingetragen. Hole sie. Bitte tausendmal um Verzeihung, Mr. Hartright. Ich fürchte, ich langweile Sie.«

Da er, ehe ich ihm noch antworten konnte, ermüdet die Augen schloß und er mich ohne allen Zweifel unbeschreiblich langweilte, so saß ich stille und betrachtete mir die Jungfrau mit dem Christuskinde von Raphael. Unterdessen verließ der Kammerdiener das Zimmer und kehrte gleich darauf mit einem kleinen Buche von Elfenbeintäfelchen zurück. Mr. Fairlie ließ, nachdem er sich erst durch einen leisen Seufzer die Brust erleichtert, mit der einen Hand das Buch aufklappen und hielt mit der anderen die kleine Bürste empor als Zeichen für den Diener, auf weitere Befehle zu warten.

»Ja. Ganz recht!« sagte Mr. Fairlie, die Täfelchen befragend. »Louis, nimm jene Mappe herunter.« Er deutete, indem er sprach, auf mehrere Mappen, welche auf einem Mahagonitischchen neben dem Fenster lagen. »Nein, nicht die mit der grünen Rückseite – da habe ich meine Federzeichnungen von Rembrandt drin, Mr. Hartright. Interessiren Sie sich für Federzeichnungen? Ja? Sehr erfreut, daß wir noch einen Geschmack gemein haben. Die Mappe mit der rothen Rückseite, Louis. Lasse sie nicht fallen! Sie können sich keine Idee davon machen, Mr. Hartright, welche Qualen ich erdulden würde, wenn Louis die Mappe fallen ließe. Liegt sie sicher auf dem Stuhle? Denken Sie, daß sie sicher liegt auf dem Stuhle, Mr. Hartright? Ja? Sehr erfreut, wollen Sie mich verbinden, indem Sie sich die Zeichnungen ansehen, wenn Sie wirklich glauben, daß Sie dort ganz sicher liegen. Louis, geh hinaus. Was Du für ein Esel bist. Siehst Du nicht, daß ich die Täfelchen halte? Denkst Du dir, daß mir darum zu thun ist, sie zu halten? Warum nimmst Du sie mir da nicht ab, ohne daß man es dir erst sage? Bitte tausendmal um Verzeihung, Mr. Hartright; Bediente sind solche Esel, nicht wahr? Bitte, sagen Sie mir, wie Ihnen die Zeichnungen gefallen? Sie kamen in einem fürchterlichen Zustande aus einer Auction – es schien mir, wie ich sie das letzte Mal besah, als ob ihnen noch der Geruch abscheulicher Mäkler- und Trödlerfinger anhaftete. Können Sie sie wirklich in die Hand nehmen?«

Obgleich meine Nerven nicht zart genug waren, um den Geruch der plebejischen Finger, welcher Mr. Fairlie’s Nase so beleidigt hatte, wahrzunehmen, so war doch mein Geschmack hinlänglich gebildet, um mich in den Stand zu setzen, den Werth der Zeichnungen anzuerkennen. Sie bestanden größtenteils aus wirklich werthvollen Proben englischer Wasserfarbenmalerei und hätten weit bessere Behandlung von ihrem früheren Eigenthümer verdient, als ihnen anscheinend zu Theil geworden war.

»Die Zeichnungen sollten sorgsam ausgespannt und aufgeklebt werden,« entgegnete ich, »und sind meiner Ansicht nach wohl –«

»Bitte um Verzeihung«, unterbrach mich hier Mr. Fairlie. »Würden Sie etwas dagegen haben, wenn ich meine Augen schließe, während Sie sprechen? Selbst dieses Licht ist noch zu angreifend für sie. Nun?«

»Ich wollte nur bemerken, daß die Zeichnungen wohl der Mühe und Zeit werth sind –«

Mr. Fairlie öffnete plötzlich wieder die Augen und rollte sie mit einem Ausdrucke hilfloser Bestürzung in der Richtung nach dem Fenster zu.

»Ich beschwöre Sie, mich zu entschuldigen, Mr. Hartright,« sagte er mit schwachem Zittern. »Aber ich höre ganz gewiß entsetzliche Kinder im Garten – unten in meinem eigenen Garten?«

»Ich weiß nicht, Mr. Fairlie, ich selbst habe Nichts gehört.«

»Haben Sie die Güte – Sie sind so sehr freundlich gewesen, meinen armen Nerven zu willfahren – haben Sie die Güte, eine Ecke des Rouleaus aufzuheben, lassen Sie nicht die Sonne auf mich herein, Mr. Hartright! Haben Sie das Rouleau in die Höhe genommen? Ja? wollen Sie dann die Güte haben, in den Garten hinab zu sehen, um sich mit Sicherheit davon zu überzeugen?«

Ich erfüllte seinen Wunsch. Der Garten war rings mit einer Mauer umgeben. Kein menschliches Wesen, weder groß noch klein, war in irgend einem Theile der heiligen Stätte zu sehen. Ich unterrichtete Mr. Fairlie von diesem erfreulichen Umstande.

»Tausend Dank. Meine Phantasie vermuthlich. Wir haben im Hause, Gott sei Dank, keine Kinder; aber die Dienstboten (Leute, die ohne Nerven geboren werden) können es nicht unterlassen, die Dorfkinder herzubringen. Solche Rangen – o mein Gott, solche Rangen! Soll ich es Ihnen gestehen, Mr. Hartright? – Mir scheint eine Veränderung in dem allgemeinen Körperbau der Kinder wünschenswerth. Die Natur scheint bei ihnen nur den Zweck im Auge gehabt zu haben, Maschinen zum Hervorbringen fortwährenden Lärms zu erschaffen. Ist da nicht unseres entzückenden Raphael’s Auffassung unendlich vorzuziehen?«

Er deutete dabei auf das Bild der Madonna, dessen oberer Theil die conventionellen Cherubim der italienischen Schule darstellte, die auf himmlische Weise zur Sitzbequemlichkeit für ihre Knie mit Ballons von lederfarbenen Wolken versehen waren.

»Ein wahres Muster von einer Familie!« sagte Mr. Fairlie, die Engel anblinzelnd. »Solche hübsche runde Gesichter und solche hübsche weiche Flügel und – weiter Nichts. Keine schmutzigen kleinen Beine zum Umherlaufen und keine lärmenden kleinen Zungen zum Schreien. Wie unermeßlich der jetzigen Körperbildung überlegen! Ich will meine Augen wieder schließen, wenn Sie’s erlauben. Und Sie glauben wirklich, mit den Zeichnungen fertig werden zu können? Sehr erfreut. Ist da sonst noch irgend etwas zu besprechen? In dem Falle, glaube ich, habe ich es vergessen.«

Da ich mich jetzt bereits ebensosehr sehnte, der Unterredung baldmöglichst ein Ende zu machen, wie dies offenbar bei Mr. Fairlie der Fall war, so dachte ich, ich wollte versuchen, das Herbeirufen eines Dieners unnöthig zu machen, indem ich ihn auf eigene Verantwortung auf den erwünschten Gedanken brachte.

»Der einzige Punkt, der uns noch zu besprechen übrig bleibt, Mr. Fairlie,« sagte ich, »betrifft, wenn ich nicht irre, den Unterricht, welchen ich zwei jungen Damen im Landschaftsmalen ertheilen soll.«

»Ah! ganz recht,« sagte Mr. Fairlie. »Ich wollte, ich fühlte mich wohl genug, um in diesen Theil des Arrangements einzugehen – aber dem ist nicht so. Die Damen, die den Vortheil Ihrer freundlichen Dienste genießen sollen, Mr. Hartright, müssen für sich selbst entscheiden und bestimmen. Meine Nichte liebt Ihre bezaubernde Kunst. Sie versteht sie gerade hinlänglich, um sich ihrer eigenen Mängel bewußt zu sein. Bitte, geben Sie sich Mühe mit ihr. Jawohl. Ist sonst noch etwas da? Nein. Wir verstehen einander vollkommen – wie? Ich habe nicht das Recht, Sie noch länger von Ihrer schönen Beschäftigung abzuhalten – wie? Sehr angenehm, Alles angeordnet zu haben – solche Erleichterung, Geschäfte gemacht zu haben. Würde es Ihnen darauf ankommen, Louis zu klingeln, damit er die Mappe auf Ihr Zimmer trägt?«

»Ich werde sie selbst hintragen, Mr. Fairlie, wenn Sie es erlauben.«

»Wirklich? Sind Sie kräftig genug dazu? Wie angenehm, so kräftig zu sein! Wissen Sie es gewiß, daß Sie sie nicht fallen lassen werden? Sehr erfreut, Sie in Limmeridge zu haben, Mr. Hartright. Ich bin so leidend, daß ich kaum hoffen darf, viel von Ihrer Gesellschaft zu genießen. Käme es Ihnen darauf an, sich sehr vorzusehen, daß Sie nicht die Thüren knarren und die Mappe fallen ließen? Danke Ihnen. Leise mit den Vorhängen, bitte, das geringste Geräusch derselben geht wie ein Messer durch meine Nerven. Jawohl. Guten Morgen!«

Als sich die wassergrünen Vorhänge und die beiden beschlagenen Thüren hinter mir geschlossen hatten, stand ich einen Augenblick in der kleinen runden Vorhalle stille und that einen langen, tiefen Athemzug zur Erleichterung. Es war, als ob man nach tiefem Untertauchen wieder an die Oberfläche des Wassers komme, da man sich außerhalb Mr. Fairlie’s Zimmer befand.

Sobald ich mich gemüthlich in meinem eigenen hübschen Atelier für den Morgen niedergelassen hatte, legte ich mir ein Gelübde ab, nie mehr in die von Mr. Fairlie bewohnten Gemächer zurückzukehren außer in dem höchst unwahrscheinlichen Falle, daß er mich mit einer speziellen Einladung beehrte. Nachdem ich zu diesem befriedigenden Entschlusse in Betreff meines zukünftigen Verhaltens gegen Mr. Fairlie gekommen war, erlangte ich die Gemüthsruhe wieder, deren mich seine hochmüthige Vertraulichkeit und impertinente Höflichkeit einen Augenblick beraubt hatten.

Die noch übrigen Stunden des Morgens vergingen mir angenehm genug in der Beschäftigung, die Zeichnungen zu besehen, auszulesen, ihre zerrissenen Kanten zu beschneiden und in anderen notwendigen Vorbereitungen, ehe ich das Aufkleben beginnen konnte. Ich hätte vielleicht mehr als dies vollenden sollen; als aber die Zeit des Gabelfrühstücks näher kam, wurde ich unstet und war nicht im Stande, meine Aufmerksamkeit auf jene Art zu fesseln, die doch nur eine sehr bescheidene Handarbeit war.

Um zwei Uhr stieg ich – ein wenig gespannt – wieder in’s Frühstückszimmer hinab. Mit einem Wiedererscheinen in jenem Theile des Hauses waren Erwartungen von einigem Interesse verknüpft. Ich sollte in wenigen Augenblicken Miß Fairlie vorgestellt werden, und falls Miß Halcombe’s Nachforschungen in den Briefen ihrer Mutter den von ihr erwarteten Erfolg gehabt hatten, war auch die Zeit gekommen, wo das Geheimniß über die Frau in Weiß aufgeklärt werden sollte.



Kapiteltrenner

VII.

Als ich in’s Zimmer trat, saßen Miß Halcombe und eine ältliche Dame bereits am Eßtische.

Die ältliche Dame erwies sich, als ich ihr vorgestellt wurde, als Miß Fairlie’s frühere Erzieherin, Mrs. Vesey, von der meine lebhafte Gefährtin am Frühstückstische mir die kurze Beschreibung gegeben, daß sie »alle Cardinaltugenden besitze und nicht mitgerechnet werde«. Ich kann wenig mehr als mein bescheidenes Zeugniß darbieten, daß Miß Halcombe’s Skizze von dem Charakter der alten Dame eine durchaus getreue war. Mrs. Vesey sah wie die personificirte menschliche Gemüthsruhe und weibliche Liebenswürdigkeit aus. Ruhiger Genuß eines ruhigen Daseins glänzte in schläfrigem Lächeln aus ihrem runden, friedlichen Gesichte.

Wenn Mrs. Vesey eine Leidenschaft hatte, so war es die, ihr Leben möglichst sitzend zuzubringen. Man mochte sie im Hause, im Garten oder sonst wo sehen – überall dieselbe Manie. Selbst auf Spaziergängen, zu denen sie dann und wann ihre Freunde vermochten, bediente sie sich eines Feldsessels, auf den sie sich stets zuvor, ehe sie einen Gegenstand in Augenschein nahm, niederließ; ja, um die einfachste Frage zu beantworten, war es nur mit Ja oder Nein, mußte sie sich zuvor niedersetzen – immer mit demselben ruhigen Lächeln auf den Lippen, derselben allezeit bereiten aufmerksamen Haltung des Kopfes, derselben gemüthlich bequemen Haltung ihrer Hände und Arme unter allen erdenklichen Wechseln häuslicher Verhältnisse. Eine milde, willfährige, durch und durch ruhige und harmlose alte Dame, bei der Einem nie der Gedanke kam, daß sie seit der Stunde ihrer Geburt jemals wirklich lebendig gewesen sei! Die Natur hat in dieser Welt so viel zu thun und ist mit der Erschaffung einer so unendlichen Mannigfaltigkeit von nebeneinander bestehenden Producten beschäftigt, daß sie gewiß nothwendigerweise hin und wieder zu verwirrt und zerstreut sein muß, um die verschiedenen Bildungsprocesse und Veranstaltungen, die sie immer zur selben Zeit unter den Händen hat, klar zu unterscheiden. Indem ich von diesem Gesichtspunkte ausgehe, wird es stets meine Ueberzeugung sein, daß die Natur mit der Herstellung von Kohlstauden beschäftigt war, als Mrs. Vesey geboren wurde, und daß die gute Dame unter den Folgen der damals vorzugsweise dem Gemüse geltenden Beschäftigung der Allmutter zu leiden hatte.

»Nun, Mrs. Vesey,« sagte Miß Halcombe und sah im Gegensatze zu der gelassenen alten Dame an ihrer Seite munterer, schärfer und geschäftiger aus, denn je, »was wollen Sie haben, eine Cotelette?«

Mrs. Vesey legte ihre gefalteten Hände auf den Rand des Tisches, lächelte mild und sagte: »Ja, meine Liebe.«

»Was ist das da vor Mr. Hartright? – Gesottenes Huhn, nicht wahr? Ich glaubte, Sie äßen gesottenes Huhn lieber als Coteletten, Mrs. Vesey?«

Mrs. Vesey nahm ihre weichen Hände vom Rande des Tisches und faltete sie statt dessen auf ihrem Schooße; dann nickte sie dem gesottenen Huhn freundlich zu und sagte: »Ja, meine Liebe.«

»Nun ja, aber welches von den Beiden wollen Sie heute haben? Soll Mr. Hartright Ihnen etwas Huhn geben, oder ich eine Cotelette?«

Mrs. Vesey legte eine ihrer weichen Hände wieder auf den Tisch, zögerte träumerisch und sagte: »Was Sie wollen, meine Liebe.«

»Um aller Barmherzigkeit willen! Es ist eine Frage für Ihren Geschmack, liebe Madame, nicht für den meinigen. Ich schlage vor, Sie nehmen von Beiden ein wenig und von dem Huhn zuerst, denn Mr. Hartright stirbt vor Sehnsucht, für Sie zu tranchiren.«

Mrs. Vesey legte auch die andere weiche Hand wieder auf den Rand des Tisches, verbeugte sich gehorsam und sagte: »Wenn ich bitten darf, Sir.«

Ganz gewiß eine milde, gefällige durch und durch ruhige und harmlose alte Dame, wie? Aber vielleicht haben wir für den Augenblick genug von Mrs. Vesey.

Unterdessen war noch immer keine Spur von Miß Fairlie zu sehen. Wir waren mit dem Gabelfrühstück zu Ende, und sie kam noch immer nicht. Miß Halcombe, deren Scharfsinne Nichts entging, bemerkte die Blicke, welche ich von Zeit zu Zeit der Thür zuwarf.

»Ich verstehe Sie, Mr. Hartright,« sagte sie; »Sie möchten wissen, was aus Ihrer anderen Schülerin geworden ist. Sie ist bereits heruntergekommen und ihr Kopfweh los geworden; aber ihr Appetit ist noch nicht so weit zurückgekehrt, daß sie an unserem Gabelfrühstück theilnehmen möchte, wenn Sie sich meiner Führung anvertrauen wollen, so denke ich, sie irgendwo für Sie auffinden zu können.«

Sie nahm einen Sonnenschirm von einem Stuhle neben ihr und führte mich durch eine große Glasthür am andern Ende des Zimmers auf den freien Gartenplatz. Es ist fast unnöthig zu sagen, daß Mrs. Vesey am Tische sitzen blieb, auf dessen Rande sie noch immer ihre weichen Hände gefaltet hielt, dem Anscheine nach nunmehr für den ganzen übrigen Theil des Nachmittags.

Als wir über den Rasenplatz schritten, sah Miß Halcombe mich bedeutungsvoll an und schüttelte den Kopf.

»Jenes geheimnisvolle Abenteuer, das Sie hatten, bleibt nach wie vor in ein angemessenes, mitternächtiges Dunkel gehüllt,« sagte sie. »Ich habe den ganzen Morgen meiner Mutter Briefe durchsucht und bis jetzt noch keine Entdeckungen gemacht. Doch seien Sie ohne Sorge, Mr. Hartright. Dies ist eine Sache der Neugierde, und Sie haben ein Weib zu Ihrem Verbündeten. Unter solchen Verhältnissen ist früher oder später der Erfolg gewiß. Ich habe noch nicht alle Briefe durchgelesen, es bleiben mir noch drei Paquete, und Sie können sich darauf verlassen, daß ich den ganzen Abend mit Durchsuchen derselben zubringen werde.«

Hier also war eine meiner Erwartungen noch unerfüllt geblieben. Ich war nun begierig zu erfahren, ob auch die Vorstellung, welche ich mir seit dem Frühstück von Miß Fairlie gemacht, mich täuschen werde.

»Und wie sind Sie mit meinem Onkel fertig geworden?« fragte Miß Halcombe, als wir den Rasenplatz verließen und in ein Gebüsch einbogen. »War er heute Morgens besonders nervenschwach? Sie brauchen Ihre Antwort nicht zu überlegen, Mr. Hartright. Es genügt mir schon, daß Sie überhaupt genöthigt sind, sie zu überlegen. Ich sehe es Ihrem Gesichte an, daß er besonders nervenschwach war, und da ich liebenswürdig genug bin, nicht zu wünschen, daß Sie in denselben Zustand gerathen, so fragte ich lieber gar nicht weiter.«

Während sie noch sprach, bogen wir in einen Schlangenweg ein und näherten uns einem hübschen Lusthäuschen, von Holz und in Form eines Schweizerhäuschens in Miniatur gebaut. In dem einzigen Stübchen dieses Lusthäuschens sahen wir, als wir die Stufen hinaufstiegen, eine junge Dame. Sie stand an einem ländlichen, aus Baumästen angefertigten Tische und schaute auf Haide und Hügel landeinwärts durch eine Lichtung in den Bäumen, wobei sie zerstreut in einem kleinen Skizzenbuche blätterte, das neben ihr lag.

Es war Miß Fairlie.

Wie kann ich sie beschreiben? Wie kann ich sie von meinen eigenen Gefühlen und von alledem trennen, was sich später ereignet? Wie kann ich sie wiedererblicken, wie sie aussah, als meine Augen zum erstenmale auf ihr ruhten – sowie sie den Augen Derer erscheinen soll, die sie jetzt durch diese Blätter kennen lernen?

Das kleine Aquarell, das ich zu einer späteren Zeit von Laura Fairlie in dieser Stellung und Umgebung malte, liegt vor mir auf meinem Pulte, während ich schreibe. Ich schaue es an und es dämmert mir auf dem grünlich braunen Hintergrunde des Gartenhauses eine leichte, jugendliche Gestalt entgegen in einem einfachen Musselinkleide, dessen Muster von breiten, abwechselnden hellblauen und weißen Streifen gebildet wurde. Ein Shawl von demselben Stoffe schmiegt sich leicht um ihre Schultern und ein kleiner, runder Strohhut von natürlicher Farbe und ein wenig mit Band garnirt, das mit dem Kleide harmonirt, bedeckt ihr Haupt und wirft seinen weichen Schatten auf den oberen Theil ihres Gesichtes. Ihr Haar ist von einem so matten, blassen Braun – nicht flachsfarben und doch beinahe so hell; nicht goldig und doch fast so glänzend – daß es hier und da mit dem Schatten ihres Hutes zu verschmelzen scheint. Es ist einfach gescheitelt und über die Ohren zurückgezogen, über der Stirn kräuselt es sich in einer natürlichen Wellenlinie. Die Augenbrauen sind etwas dunkler als das Haar und die Augen von jenem schmachtenden Himmelblau, das so oft von Dichtern besungen und so selten im wirklichen Leben gesehen wird. Liebliche Augen in Farbe, lieblich in Form – große, zärtliche, still gedankenvolle Augen – aber am schönsten durch die klare Wahrhaftigkeit des Blickes, die in ihrer innersten Tiefe ruht und durch alle Wechsel des Ausdruckes wie das Licht einer reineren und besseren Welt hindurch leuchtet. Der Reiz – so zart und doch so deutlich ausgedrückt – den sie über das ganze Gesicht gossen, verbirgt und verändert die kleinen sonstigen natürlichen menschlichen Mängel desselben dergestalt, daß es schwer ist, die beziehungsweisen Vorzüge und Fehler der anderen Züge zu beurtheilen. Es ist schwer zu erkennen, daß der untere Theil des Gesichtes nach dem Kinne zu fast zu zart gebildet ist, um zu dem oberen im richtigen Verhältnisse zu stehen; daß die Nase, indem sie dem Adlerbogen entging (der bei Frauen immer etwas Hartes und Grausames hat, wie vollkommen er an und für sich auch sein mag) ein wenig nach der entgegengesetzten Richtung hin abgewichen ist und die ideale Geradheit übertreten hat und daß die lieblichen, gefühlvollen Lippen an einem kleinen nervösen Zucken leiden, das sie, wenn sie lächelt, ein wenig auf einer Seite in die Höhe zieht. Man dürfte solche Fehler möglicherweise in dem Gesichte einer anderen Frau bemerken, aber in dem ihrigen beachtet man sie nicht leicht; sie sind dazu mit Allem, was in ihrem Ausdrucke individuell und charakteristisch ist, zu genau verbunden, und der Ausdruck selbst ist in seiner ganzen Lebendigkeit in allen anderen Zügen zu sehr von der lebendigen Sprache der Augen abhängig.

Zeigt meine arme Zeichnung, die minnigliche, mit aller Muße vollendete Arbeit langer, glücklicher Tage, mir Alles dies? Ach! wie wenig ist davon in der mechanischen Zeichnung zu sehen und wie viel in den Gedanken, mit denen ich sie betrachte! Ein zartes, schönes Mädchen in einem hübschen, hellen Kleide, das mit den Blättern eines Zeichenbuches spielt, indem sie dabei mit treuen, unschuldigen blauen Augen aufblickt: – das ist Alles, was die Zeichnung sagt; vielleicht auch Alles, was selbst die größere Ausdrucksweise der Gedanken und der Feder in ihrer Sprache zu sagen vermögen. Das Weib, das unseren schattenhaften Vorstellungen von Schönheit zum erstenmale Leben, Licht und Gestalt verleiht, füllt eine Leere in unserer geistigen Natur aus, die uns, bis wir sie sahen, unbewußt war. Sympathien, die zu tief liegen für Worte, zu tief fast für Gedanken, werden in solchen Augenblicken von anderen Reizen berührt, als denen, welche die Sinne fühlen oder die Hilfsquellen des Ausdruckes bezeichnen können. Das Geheimniß, das sich in der Schönheit der Frauen birgt, erhebt sich nicht eher über den Ausdruck hinaus, bis es Verwandtschaft mit dem tieferen Geheimnisse in unserer Seele beansprucht. Dann und nur dann erst, hat sie jenes enge Bereich überschritten, auf welche in dieser Welt Feder und Griffel Licht zu werfen vermögen.

Denke an sie, wie an jenes erste Weib, das Deine Pulse fliegen machte, über die bisher noch keine Andere ihres Geschlechtes Macht hatte. Laß die guten, offenen blauen Augen den Deinen begegnen, wie sie den meinen begegneten, mit dem einen unvergleichlichen Blicke, dessen wir uns Beide so wohl erinnern. Laß ihre Stimme in jener Musik sprechen, die Du einst so liebtest und die Deinem Ohre und dem meinen so harmonisch klang. Laß ihre Schritte, wie sie in diesen Blättern kommt und geht, gleich jenem Schritte sein, zu dessen leichtem Rauschen Dein Herz den Takt schlug. Nimm sie hin als den geträumten Pflegling Deiner eigenen Phantasie, und sie wird in einem so klaren Bilde vor dir stehen als das Weib, das in meiner Seele lebt.

Unter den Gefühlen, die sie mir aufdrängen, als ich sie zum ersten male erblickte – Gefühle, die wir Alle kennen, die in den meisten unserer Herzen aufleben, in so vielen sterben und in ihr schönes Dasein in so wenigen wieder erneuern – war eins, das mich beunruhigte und verwirrte; ein Gefühl, das in Bezug auf Miß Fairlie auf seltsame Weise nicht folgerichtig und durchaus nicht gerechtfertigt schien.

Mit dem lebhaften Eindrucke, den der Liebreiz ihres schönen Gesichtes und Kopfes, der sanfte Ausdruck ihrer Züge und die einnehmende Einfachheit ihrer Manieren hervorbrachten, vermischte sich ein anderer, der mich auf nebelhafte Weise einen Mangel fühlen ließ. Einen Augenblick schien es, als ob ihr etwas fehle, im nächsten als ob der Mangel in mir sei und mich verhinderte, sie zu verstehen, wie ich sie hätte verstehen sollen; und das Widersprechende an der Sache war, daß dieser Eindruck immer am stärksten schien, wenn sie mich ansah, oder mit anderen Worten, wenn ich mir des Reizes und der Harmonie ihres Gesichtes am deutlichsten bewußt und doch dabei durch die Ahnung einer Unvollständigkeit verwirrt ward, der ich durchaus nicht näher auf die Spur kommen konnte. Es fehlte etwas, das zu ergründen ich damals zu ohnmächtig war.

Die Wirkung der sonderbaren Laune meiner Einbildungskraft (wofür ich es damals hielt) war nicht danach, daß ich mich während dieses ersten Zusammentreffens mit Miß Fairlie hätte behaglich fühlen können. Die wenigen freundlichen Worte des Willkommens, welche sie sprach, fanden mich kaum gefaßt genug, um sie auf die übliche Weise zu erwidern. Da Miß Halcombe mein Zögern bemerkte und dasselbe ganz natürlicherweise einer augenblicklichen Blödigkeit zuschrieb, so nahm sie das Gespräch wieder so unbefangen und bereitwillig wie gewöhnlich auf.

»Sehen Sie, Mr. Hartright,« sagte sie, auf das Zeichenbuch und die kleine feine Hand, die noch immer mit demselben spielte, deutend. »Jetzt werden Sie doch bekennen, daß Sie endlich das Muster einer Schülerin gefunden haben? Sowie sie hört, daß Sie im Hause angelangt sind, ergreift sie ihr unschätzbares Zeichenbuch, sieht der allgemeinen Natur gerade in’s Gesicht und sehnt sich, den Anfang zu machen.«

Miß Fairlie lachte mit einer herzlichen Fröhlichkeit, die sich so hell über ihr liebliches Gesicht ausgoß, als ob sie ein Theil des Sonnenscheines über unseren Häuptern gewesen wäre.

»Ich darf mir kein Lob anmaßen, wo mir keines gebührt,« sagte sie, mit ihren klaren, treuen Augen abwechselnd Miß Halcombe und mich anblickend. »So gern ich auch zeichne, so bin ich doch so sehr von meiner Untüchtigkeit überzeugt, daß ich mich mehr fürchte als sehne, anzufangen. Jetzt, da Sie da sind, Mr. Hartright, ertappe ich mich darauf, daß ich meine alten Zeichnungen durchsehe, wie ich wohl als Kind meine Aufgaben durchlas in der Angst, daß ich sie nicht herzusagen im Stande sein werde.«

Sie legte dies Bekenntniß auf allerliebste, ungezierte Weise ab und zog das Zeichenbuch mit einem drolligen, kindischen Ernste nach ihrer Seite des Tisches herüber. Miß Halcombe zerschnitt sofort auf ihre entschlossene, offenherzige Weise den Knoten dieser kleinen Verlegenheit.

»Ob gut, ob schlecht oder mittelmäßig,« sagte sie, »die Zeichnungen der Schüler müssen durch die Feuerprobe eines Urtheiles des Meisters gehen – und damit Punctum. Ich schlage vor, Laura, daß wir sie auf unsere Spazierfahrt mitnehmen und Mr. Hartright sie unter dem störenden Einflusse fortwährender Unterbrechungen ansehen lassen. Falls wir ihn nur während der ganzen Fahrt zwischen der Natur, wie sie ist – wenn er auf die Aussicht schaut – und der Natur, wie sie nicht ist – wenn er wieder in Dein Zeichenbuch hineinblickt – verwirren können, so werden wir ihn zu der letzten verzweifelten Zuflucht treiben, uns Schmeicheleien zu sagen und ihm durch seine Künstlerfinger schlüpfen, ohne dabei im Geringsten die Federn unserer Eitelkeit zu zerknittern.«

»Ich hoffe nur, daß Mr. Hartright mir keine Schmeicheleien sagen wird,« sagte Miß Fairlie, als wir Alle das Lusthäuschen verließen.

»Darf ich fragen, warum Sie diese Hoffnung hegen?« fragte ich.

»Weil ich Alles glaube, was Sie mir sagen werden,« erwiderte sie einfach.

In diesen wenigen Worten gab sie mir unbewußterweise selbst den Schlüssel zu ihrem ganzen Charakter, all jenem großmüthigen Vertrauen gegen Andere, wie es bei ihr aus dem Gefühle ihrer eigenen Wahrhaftigkeit hervorging. Damals fühlte ich es nur heraus. Jetzt weiß ich es aus Erfahrung.

Wir warteten bloß so lange, als die gute Mrs. Vesey Zeit brauchte, von ihrem Platze am Frühstückstische aufzustehen, und setzten uns dann Alle in den offenen Wagen, um die versprochene Spazierfahrt zu unternehmen. Die alte Dame und Miß Halcombe nahmen den Fond ein, während Miß Fairlie und ich auf dem Rücksitze saßen und das Zeichenbuch zwischen uns hielten, das endlich meinen Künstleraugen anzusehen gestattet wurde. Alle ernste Kritik jedoch über die Zeichnungen selbst, falls ich mich zu einer solchen erboten hätte, wurde durch Miß Halcombe’s lebhaften Entschluß, nur die lächerliche Seite der schönen Künste, wie dieselben von ihr, ihrer Schwester und von Damen im Allgemeinen betrieben wurden, zu sehen, unmöglich gemacht. Es wird mir viel leichter, mich der Unterhaltung zu erinnern, als der Zeichnungen, welche ich mechanisch durchblätterte. Namentlich ist jener Theil des Gespräches, an dem Miß Fairlie Antheil nahm, mir noch so frisch im Gedächtnisse, als ob ich ihn erst vor wenigen Stunden gehört hätte.

Ja, laßt mich es nur bekennen, daß schon an diesem ersten Tage der Reiz ihrer Gegenwart mich die Erinnerung an mich selbst und an meine Tage aus dem Auge verlieren ließ. Die unbedeutendsten Fragen, die sie über die Art und Weise, ihren Bleistift zu gebrauchen oder ihre Farben zu mischen, an mich richtete – die geringste Veränderung des Ausdruckes in den lieben Augen, wenn sie mit dem ernstlichen Wunsche, Alles zu lernen, das ich ihr zeigen konnte, in die meinigen schauten, zogen meine Aufmerksamkeit mehr auf sich als die schönsten Landschaften, an denen wir vorüberfuhren, oder die großartigsten Abwechslungen von Licht und Schatten, die über der hügeligen Haide und dem flachen Strande ineinander schmolzen.

Ist es nicht zu jeder Zeit und unter allen Verhältnissen menschlichen Interesses seltsam zu sehen, wie wenig die Gegenstände der natürlichen Welt, in der wir leben, unsere Herzen und Gemüther festzuhalten vermögen?

Bei der Natur suchen wir Trost in Trübsal, Theilnahme in der Freude aber in Büchern.

Die Bewunderung der Schönheiten der leblosen Welt welche die moderne Dichtkunst auf so ausführliche und beredte Weise beschreibt, ist selbst in den Besten von uns kein ursprünglicher Instinct der Natur. Als Kinder fühlen wir sie nicht. Den Ungebildeten ist sie fremd. Diejenigen, welche am ausschließlichsten unter den immer wechselnden Wundern des Meeres und des Landes leben, sind zu gleicher Zeit die am wenigsten Empfänglichen dafür, sobald die Naturschönheiten nicht unmittelbar mit dem Interesse ihres eigenen Gewerbes in Verbindung stehen. Unsere Fähigkeit, die Schönheiten der Erde, auf der wir leben, zu schätzen, gehört in Wahrheit zu jener civilisirten Ausbildung, die wir Alle als eine Kunst lernen; und, was noch mehr ist, sie wird selten von uns in Anwendung gebracht, außer wenn unser Geist am trägsten und unthätigsten ist. Welchen Antheil haben wohl je die Schönheiten der Natur an unseren oder unserer Freunde angenehmen oder schmerzlichen Interessen gehabt? Welchen Raum nehmen sie in den tausend kleinen Mittheilungen über persönliche Erfahrungen ein, die wir täglich mündlich einander machen? Alles, was unser Geist erfassen, Alles, was unsere Herzen aufzunehmen im Stande sind, kann mit derselben Sicherheit, demselben Nutzen und derselben Befriedigung für uns sowohl in der dürftigsten als in der reichsten Landschaft, welche die Erde bietet, ausgerichtet werden. Es muß sicher einen Grund geben für diesen Mangel an angeborener Sympathie zwischen dem Geschöpfe und der Schöpfung, der vielleicht in den weit auseinander liegenden Bestimmungen des Menschen und seiner irdischen Sphäre zu finden wäre. Die großartigste Gebirgsaussicht, über die das Auge nur hinschweifen kann, ist der Vernichtung geweiht. Das kleinste menschliche Interesse, das ein reines Herz nur fühlen kann, ist der Unsterblichkeit vorbehalten.

Wir waren beinahe drei Stunden aus gewesen, als der Wagen wieder durch die Thore von Limmeridge House fuhr.

Auf dem Rückwege hatte ich die Damen selbst die Ansicht wählen lassen, welche sie am Nachmittag des folgenden Tages unter meiner Aufsicht zeichnen sollten. Als sie sich zurückgezogen hatten, um ihre Mittagstoilette zu machen, und ich in meiner kleinen Wohnstube allein war, schien mein Frohsinn mich plötzlich zu verlassen. Ich war unruhig und unzufrieden mit mir und wußte kaum warum, vielleicht wurde ich mir zum ersten Male bewußt, daß ich unsere Spazierfahrt mehr in der Eigenschaft eines Gastes als in der eines Zeichenlehrers genossen hatte. Vielleicht verfolgte mich noch immer jenes seltsame Gefühl eines Mangels in Miß Fairlie – oder in mir selbst – das sich mir aufgedrungen, als ich ihr zuerst vorgestellt wurde, jedenfalls aber war es mir eine große Erleichterung, als die Stunde des Mittagessens mich aus meiner Einsamkeit rief und wieder in die Gesellschaft der Damen des Hauses führte.

Als ich in den Salon trat, frappirte mich der sonderbare Kontrast mehr der Farbe als des Stoffes der Kleider, die sie jetzt trugen, während Mrs. Vesey und Miß Halcombe (Jede nach der Weise, wie es am besten zu ihrem Alter paßte) reich gekleidet waren – die Erstere in silbergrauer, die Zweite in blaßgelber Seide, welche so schön mit dunklem Haar und dunkler Hautfarbe harmonirt – trug Miß Fairlie blos ein einfaches, beinahe allzu schlichtes weißes Musselinkleid. Es war vom reinsten Weiß und wunderhübsch gearbeitet; aber es war bei alledem ein Kleid, wie es die Tochter eines armen Mannes hätte tragen können und gab der Erbin von Limmeridge House, was die äußere Erscheinung betraf, ein ärmeres Aussehen als das ihrer eigenen Erzieherin. Später, als ich Miß Fairlie’s Charakter näher kennen lernte, entdeckte ich, daß dieser sonderbare Contrast nach der verkehrten Seite hin aus ihrem natürlichen Zartgefühle und ihrer Abneigung gegen Alles Zurschautragen ihres Reichthums entsprang, weder Mrs. Vesey noch Miß Halcombe konnten sie je überreden, durch vorteilhaftere Kleidung die beiden Damen, die arm waren, in den Schatten, und ihre eigene Person, die reich war, in’s Licht zu stellen.

Als das Mittagessen vorüber war, kehrten wir Alle in den Salon zurück. Obgleich Mr. Fairlie (in Nachahmung der erhabenen Herablassung jenes Monarchen, der Titian’s Pinsel aufgehoben hatte) seinem Kellermeister Befehl gegeben, mich zu fragen, welchen Wein ich nach Tisch zu trinken wünsche, war ich entschlossen genug, der Versuchung, in einsamem Prunke unter Flaschen meiner eigenen Wahl zu sitzen, zu widerstehen und vernünftig genug, die Damen um Erlaubniß zu bitten, den Tisch nach Sitte anderer civilisirten Länder während meines Aufenthaltes in Limmeridge House mit ihnen zugleich verlassen zu dürfen.

Der Salon, in den wir uns jetzt für den Rest des Abends zurückgezogen hatten, lag zur ebenen Erde und war von derselben Größe wie das Frühstückszimmer. Große Glasthüren am unteren Ende führten auf eine Terrasse, die ihrer ganzen Länge nach mit einer Masse von schönen Blumen geschmückt war. Das sanfte, dürftige Zwielicht schattirte eben Blatt und Blüthe mit seinen ernsten Tönen zu sanfter Harmonie, als wir in den Salon traten, und der süße Abendduft der Blumen drang uns durch die offenen Glasthüren mit seinem lieblichen Willkommen entgegen. Die gute Mrs. Vesey (wie immer die Erste, die sich setzte) nahm Besitz von einem Armsessel in einer Ecke und schlummerte bald darauf ein. Auf meine Bitte setzte Miß Fairlie sich an’s Klavier. Als ich ihr zu einem Sitze neben dem Instrumente folgte, sah ich Miß Halcombe sich in die Vertiefung eines der Seitenfenster zurückziehen, um das Durchlesen der Briefe ihrer Mutter bei den letzten Strahlen des Abendlichtes fortzusetzen.

Wie lebhaft jenes friedliche, häusliche Bild des Salons wieder vor mir steht, während ich schreibe! Von der Stelle, an der ich saß, konnte ich Miß Halcombe’s graziöse Gestalt, halb in dem sanften Lichte und halb in dem geheimnisvollen Schatten, sich aufmerksam über die Briefe in ihrem Schooße beugen sehen, während neben mir das schöne Profil der Clavierspielerin sich ganz leicht auf dem Hintergrunde der inneren Wand des Zimmers abzeichnete. Draußen auf der Terrasse bewegten sich die Blumen, die Gräser und Schlingpflanzen so sanft in der leichten Abendluft, daß ihr Rauschen nicht bis zu uns drang. Der Himmel war ohne eine Wolke, und das dämmernde Geheimniß des Mondlichtes zitterte schon in den Regionen des östlichen Himmels. Das Gefühl von Frieden und Abgeschlossenheit lullte jeden Gedanken, jede Empfindung in eine verzückte, überirdische Ruhe und die balsamische Stille, welche tiefer wurde mit dem tieferen Zwielichte, schien mit noch sanfterem Einflusse über uns zu schweben, als die himmlische Zärtlichkeit von Mozart’s Musik sich durch sie hinstahl. Es war ein Abend unvergeßlicher Anblicke und Klänge.

Wir blieben Alle an den Plätzen sitzen, die wir uns gewählt hatten – Mrs. Vesey noch immer schlafend, Miß Fairlie am Clavier und Miß Halcombe bei ihren Briefen – bis das Licht schwand. Unterdessen hatte sich der Mond um die Terrasse herumgeschlichen, und blasse, geheimnisvolle Strahlen fielen über das untere Ende des Zimmers. Der Wechsel von dem Zwielichtdunkel war so schön, daß wir einstimmig die Lampen zurückwiesen, als der Diener sie hereinbrachte, und das große Zimmer unbeleuchtet ließen, außer von den beiden Kerzen auf dem Clavier.

Miß Fairlie setzte ihr Clavierspiel noch eine halbe Stunde fort. Dann aber verleitete sie die Schönheit der Mondlichtlandschaft, auf die Terrasse hinauszutreten, und ich folgte ihr. Als die Kerzen am Clavier angezündet worden, hatte Miß Halcombe ihren Platz verlassen, um bei ihrem Lichte die Untersuchung ihrer Briefe fortzusetzen. Sie hatte sich, als wir hinausgingen, auf einen niedrigen Sessel neben dem Instrumente gesetzt und war so in ihre Lectüre vertieft, daß sie unser Fortgehen nicht zu bemerken schien.

Wir waren wohl kaum fünf Minuten draußen vor der Glasthür gewesen und Miß Fairlie knüpfte eben auf meinen Rath ihr weißes Taschentuch, um sich gegen die Nachtluft zu schützen, um den Kopf, als ich Miß Halcombe’s Stimme – leise, eifrig und verschieden von ihrem natürlichen lebhaften Tone – meinen Namen aussprechen hörte.

»Mr. Hartright,« sagte sie, »wollen Sie einen Augenblick herkommen? Ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Ich trat augenblicklich wieder ins Zimmer. Das Clavier nahm etwa die Mitte an der inneren Wand entlang ein. An dem von der Terrasse am entferntesten Ende des Instrumentes saß Miß Halcombe, auf deren Schooße die Briefe zerstreut lagen, von denen sie einen in der Hand und dicht an’s Licht hielt. An dem Ende, das der Terrasse am nächsten war, stand ein niedriger Sessel, auf dem ich Platz nahm; ich war so nicht weit von der Glasthür und konnte deutlich Miß Fairlie sehen, wie sie wiederholt an derselben vorbei kam, indem sie langsam im hellen Glanze des Mondes von einem Ende der Terrasse bis zum anderen ging.

»Bitte, hören Sie den Schluß dieses Briefes,« sagte Miß Halcombe, »und sagen Sie mir, ob derselbe irgendwie Licht auf Ihr sonderbares Abenteuer auf der Straße nach London wirft. Der Brief ist von meiner Mutter an ihren zweiten Gemahl, Mr. Fairlie, und vor ungefähr elf oder zwölf Jahren geschrieben. Zu jener Zeit hatten Mr. und Mrs. Fairlie und meine Stiefschwester Laura schon jahrelang in diesem Hause gelebt, und ich war abwesend, um meine Erziehung in Paris zu vollenden.«

Ihre Sprache und ihr Aussehen waren ernst und, wie mir es schien, auch ein wenig unruhig. In dem Augenblicke, wo sie den Brief zum Lichte empor hielt, ehe sie anfing, ihn zu lesen, ging Miß Fairlie an der Glasthür vorüber und schaute einen Augenblick zu uns herein; da sie uns aber beschäftigt sah, ging sie langsam weiter.

Miß Halcombe fing zu lesen an, wie folgt:

»Es wird Dich langweilen, mein lieber Philipp, fortwährend von meinen Schulen und Schülerinnen zu hören. Aber ich bitte Dich, die langweilige Einförmigkeit unseres Lebens in Limmeridge und nicht mich deshalb zu tadeln. Uebrigens habe ich dir diesmal wirklich etwas Interessantes über eine neue Schülerin mitzutheilen.

Du kennst doch die alte Mrs. Kempe im Dorfladen. Nun, nach jahrelanger Kränklichkeit hat der Arzt sie endlich aufgegeben und sie stirbt jetzt langsam Tag für Tag dahin. Ihre einzige lebende Verwandte, eine Schwester, kam vorige Woche hier an, um sie zu pflegen. Diese Schwester kommt den langen Weg aus Hampshire her, sie heißt Mrs. Catherick. Vor vier Jahren besuchte mich Mrs. Catherick und brachte ihr einziges Kind mit, ein liebliches kleines Mädchen, etwa ein Jahr älter als unsere liebe kleine Laura –«

Bei dem Satze gerade ging Miß Fairlie wieder an der offenen Thür vorbei. Sie sang leise eine der Melodien vor sich hin, die sie zu Anfang des Abends gespielt hatte. Miß Halcombe wartete, bis sie ihrem Gesichtskreise entschwunden war, und fuhr dann mit dem Lesen ihres Briefes fort:

»Mrs. Catherick ist eine anständige, wohlgesittete, respectable Frau; sie ist in den mittleren Jahren und zeigt Ueberreste, nach denen sie einmal ziemlich, nur ziemlich gut ausgesehen hat. Doch ist etwas in ihren Manieren und ihrer Erscheinung, das ich nicht verstehen kann. In Bezug auf sich selbst ist sie zurückhaltend bis zur Heimlichthuerei, und in ihrem Gesichte hat sie einen Ausdruck – ich kann ihn nicht beschreiben – aber er verursacht mir ein Gefühl, als ob sie etwas auf dem Gewissen habe. Sie ist überhaupt, was man ein lebendiges Geheimniß nennen möchte. Was sie übrigens nach Limmeridge House führte, war einfach genug. Als sie Hampshire verließ, um die Pflege ihrer Schwester, Mrs. Kempe, in deren letzter Krankheit zu übernehmen, war sie genöthigt gewesen, ihre Tochter mitzunehmen, da sie zu Hause Niemanden hatte, dem sie die Sorge für das kleine Mädchen hätte anvertrauen können. Mrs. Kempe kann schon in einer Woche sterben oder auch noch monatelang daliegen; Mrs. Catherick kam daher, um mich zu bitten, ob nicht ihre kleine Tochter Anna an dem Unterrichte in meiner Schule theilnehmen dürfe, unter der Bedingung, daß sie nach Mrs. Kempe’s Tode dieselbe wieder verlassen und mit ihrer Mutter heimkehren dürfe. Ich willigte augenblicklich ein, und als Laura und ich unseren Spaziergang machten, brachten wir das kleine Mädchen (das eben elf Jahre alt ist) schon an demselben Tage nach der Schule.«

Miß Fairlie’s Gestalt, so hell und weich in ihrem schneeigen Musselinkleide – ihr Gesicht von den weißen Falten des Taschentuches eingerahmt – ging noch einmal im Mondlichte an uns vorbei. Miß Halcombe hielt abermals inne, um sie vorüber zu lassen, und fuhr dann fort:

»Ich habe eine große Zuneigung für meine neue Schülerin gefaßt, lieber Philipp, und zwar aus einem Grunde, den ich, um Dich zu überraschen, bis zuletzt aufbewahren will. Da ihre Mutter mir ebenso wenig über ihr Kind wie über sich selbst mitgetheilt hatte, war es mir überlassen, zu entdecken, daß des armen kleinen Mädchens Verstand nicht ganz so entwickelt ist, wie er es in ihrem Alter sein sollte. Da ich dies gewahr wurde (was schon am ersten Tage der Fall war), ließ ich sie am folgenden Tage zu mir kommen und kam mit dem Arzte überein, daß er sie beobachten, befragen und mir dann sagen solle, was er von ihr denke. Er ist der Ansicht, daß es sich ändern wird, wenn sie aufwächst. Aber er sagt, daß ihre sorgfältige Erziehung in der Schule gerade jetzt von großer Wichtigkeit sei, da ihre ungewöhnlich langsame Auffassung andeutet, daß sie alle Eindrücke, die sie jetzt in sich aufnimmt, mit ungewöhnlicher Treue festhalten wird. Du mußt nun nicht gleich denken, lieber Philipp, daß ich eine Vorliebe für eine Blödsinnige gefaßt habe. Diese arme kleine Anna Catherick ist ein liebes, zärtliches, dankbares kleines Mädchen und sagt die drolligsten, niedlichsten Sachen (wie Du sogleich nach einem Beispiele selbst urtheilen sollst) auf eine höchst eigenthümliche, plötzliche und halb erstaunte, halb erschrockene Art. Obgleich sie höchst sauber gekleidet ist, so zeigen doch ihre Kleider in Farbe und Muster einen betrübenden Mangel an Geschmack. Demzufolge ließ ich gestern einige von unserer lieben Laura Kleidchen und weißen Hütchen für Anna Catherick ändern und erklärte ihr, daß kleine Mädchen von ihrer Haut- und Haarfarbe sauberer und besser in weiß aussähen als in sonst einer Farbe. Sie stockte und sah einen Augenblick verwirrt aus; dann erröthete sie plötzlich und schien mich zu verstehen. Ihre kleine Hand erfaßte plötzlich die meine. Sie küßte sie, Philipp, und sagte (o so ernstlich!): ›Ich will immer weiß tragen, solange ich lebe. Es wird mir helfen, mich an Sie zu erinnern, Madame, und zu glauben, daß ich Ihnen noch gefalle, wenn ich schon fort sein und Sie nicht mehr sehen werde.‹ Dies ist nur ein Beispiel von den niedlichen Sachen, die sie auf so allerliebste Weise sagt. Arme, kleine Seele! Sie soll einen Vorrath von weißen Kleidern haben, wenn sie fortgeht, mit guten, tiefen Säumen zum Auslassen, wenn sie größer wird –«

Miß Halcombe hielt inne und blickte zu mir hinüber.

»Schien die verlassene Frau, der Sie auf der Landstraße begegneten, jung zu sein?« fragte sie. »Nicht älter als zwei- bis dreiundzwanzig Jahre?«

»Ja, Miß Halcombe, gerade in den Jahren.«

»Und sie war seltsamerweise von Kopf bis zu Füßen in Weiß gekleidet?«

»Von Kopf bis zu den Füßen in Weiß.«

Als diese Antwort über meine Lippen ging, schwebte Miß Fairlie zum dritten Male auf der Terrasse an uns vorüber. Anstatt ihren Gang fortzusetzen, stand sie stille, mit dem Rücken uns zugewandt, und indem sie sich über das Gitterwerk lehnte, schaute sie in den unten liegenden Garten hinab. Meine Augen hefteten sich auf den weißen Schimmer ihres Kleides und Kopftuches im Mondlichte, und es beschlich mich ein Gefühl, für das ich keinen Ausdruck habe – ein Gefühl, das meine Pulse fliegen und mein Herz zittern machte.

»Ganz in Weiß!« wiederholte Miß Halcombe. »Der wichtigste Theil des Briefes, Mr. Hartright, ist der am Schlusse, den ich Ihnen sogleich vorlesen will. Aber ich kann nicht umhin, ein wenig bei dem Zusammentreffen zwischen den weißen Kleidern des jungen Frauenzimmers, das Sie auf der Landstraße trafen, und den Kleidchen, welche die kleine Schülerin meiner Mutter ihrer seltsamen Antwort verdankte, zu verweilen. Der Arzt mag sich geirrt haben, als er den Mangel an Kopf in dem Kinde entdeckte und weissagte, daß sich das mit den Jahren verlieren werde. Sie mag ihm nie entwachsen sein, und die alte, dankbare Phantasie, sich immer in Weiß zu kleiden, die dem Kinde ein ernstes Gefühl war, mag der erwachsenen Frau noch dasselbe ernste Gefühl sein.«

Ich sagte ein paar Worte der Erwiderung – ich weiß kaum, was. Meine ganze Aufmerksamkeit war ausschließlich auf den weißen Schimmer von Miß Fairlie’s Musselinkleide gerichtet.

»Hören Sie die letzten paar Sätze des Briefes,« sagte Miß Halcombe, »ich glaube, sie werden Sie in Erstaunen setzen.«

Als sie den Brief zum Lichte erhob, wandte Miß Fairlie sich von dem Geländer, blickte zweifelhaft die Terrasse auf und ab, that einen Schritt nach der Glasthür zu und stand dann uns gegenüber still.

Unterdessen las Miß Halcombe nur die letzten Sätze vor, deren sie erwähnt hatte:

»Und jetzt, lieber Philipp, da ich an’s Ende meines Papiers gelangt bin, zu der wirklichen Ursache, der erstaunlichen Ursache meiner großen Liebe zu dieser kleinen Anna Catherick. Mein lieber Philipp, obgleich nicht halb so hübsch, ist sie dennoch in Folge eines jener sonderbaren Spiele des Zufalls mit Aehnlichkeiten wie man sie zuweilen sieht, in Haar, Hautfarbe, Farbe der Augen und Gesichtsform das leibhafte Ebenbild ……«

Ich sprang von meinem Sessel in die Höhe, ehe Miß Halcombe noch die nächsten Worte aussprechen konnte. Dasselbe Gefühl, welches mir die Berührung der Hand auf der einsamen Landstraße verursacht hatte, durchschauerte mich wieder.

Da stand Miß Fairlie, eine einsame Gestalt im Mondlichte, in ihrer Haltung und der ihres Kopfes, in ihrer Hautfarbe und ihrer Gesichtsform, in jener Entfernung und unter jenen Verhältnissen das lebendige Ebenbild der – Frau in Weiß. Der Zweifel, der mich stundenlang gequält hatte, wurde in einem Augenblicke zur Gewißheit. Das Etwas, was mir gefehlt hatte, war – mein eigenes Erkennen der ominösen Aehnlichkeit zwischen der aus der Irrenanstalt Entflohenen und der Erbin von Limmeridge House!

»Sie sehen es!« sagte Miß Halcombe. Sie ließ den Brief fallen, und ihre Augen blitzten, als sie den meinigen begegneten. »Sie sehen es jetzt, wie meine Mutter es vor elf Jahren sah!«

»Ich sehe es – und es betrübt mich mehr, als ich es sagen kann. Jene hilflose, freundlose, verlassene Frau auch nur durch eine zufällige Aehnlichkeit mit Miß Fairlie in Verbindung zu bringen, sieht aus, als ob man einen Schatten auf die Zukunft eines so strahlenden Wesens, wie das, welches jetzt vor uns steht, werfen wollte. Lassen Sie mich so schnell wie möglich den Eindruck los werden. Rufen Sie Miß Fairlie fort aus dem entsetzlichen Mondlichte – bitte, rufen Sie sie herein!«

»Mr. Hartright, Sie setzen mich in Erstaunen, was die Frauen auch immer sein mögen, die Männer, dachte ich, seien im neunzehnten Jahrhundert über den Aberglauben erhaben.«

»Bitte, rufen Sie sie herein!«

»Stille! stille! sie kommt schon von selbst. Sagen Sie Nichts in ihrer Gegenwart, lassen Sie die Entdeckung dieser Aehnlichkeit ein Geheimniß zwischen Ihnen und mir bleiben. Komm’ herein, Laura, komm’ herein und erwecke Mrs. Vesey mit Clavierspiel. Mr. Hartright bittet noch um etwas Musik, und zwar diesmal von der leichtesten und lebhaftesten Art.«



Kapiteltrenner

VIII.

So endete mein an Begebnissen so reicher erster Tag in Limmeridge House.

Miß Halcombe und ich bewahrten unser Geheimniß. Nach der Entdeckung der Aehnlichkeit schien uns kein neues Licht auf das die Frau in Weiß betreffende Geheimniß fallen zu sollen. Bei der ersten sicheren Gelegenheit leitete Miß Halcombe ihre Stiefschwester vorsichtig auf eine Unterhaltung über ihre Mutter, alte Zeiten und Anna Catherick. Doch waren Miß Fairlie’s Erinnerungen an die kleine Schülerin ihrer Mutter nur von der unbestimmtesten und allgemeinsten Art. Sie entsann sich, daß man damals von einer Aehnlichkeit zwischen ihr und der kleinen Anna Catherick gesprochen hatte; aber sie erwähnte Nichts von dem Geschenke der weißen Kleider, noch von der eigenthümlichen Ausdrucksweise, in welcher das Kind so ungekünstelt seine Dankbarkeit ausgesprochen hatte. Sie erinnerte sich, daß Anna nur wenige Monate in Limmeridge geblieben und dann nach Hampshire zurückgekehrt sei; aber sie konnte nicht sagen, ob die Mutter je mit ihrer Tochter zurückgekehrt sei, oder ob man später wieder von ihnen gehört hatte. Miß Halcombe’s ferneres Nachforschen in den wenigen noch übrigen Briefen Mrs. Fairlie’s, welche sie noch nicht gelesen hatte, nützte uns weiter Nichts, die Ungewißheiten aufzuklären, welche uns noch immer blieben. Wir hatten uns überzeugt, daß die unglückliche Frau, welche mir zur Nachtzeit begegnet war, und Anna Catherick eine und dieselbe Person sei – wir waren wenigstens so weit gekommen, daß wir die mangelhafte geistige Entwickelung des armen Geschöpfes mit der Sonderbarkeit, sich ganz in Weiß zu kleiden, und mit ihrer in reiferen Jahren fortgesetzten, kindlichen Dankbarkeit gegen Mrs. Fairlie in Verbindung brachten – und damit waren für jetzt unsere Entdeckungen zu Ende.

Tage vergingen und Wochen; die Spur des goldenen Herbstes zog sich sichtbar durch den grünen Sommer der Bäume. Friedliche, eilende, glückliche Zeit! Meine Erzählung gleitet jetzt an dir vorüber, so schnell wie einst Du an mir. Wie viel ist mir von all den Schätzen des Glückes, die Du so freigebig in mein Herz gossest, geblieben, das Inhalt genug besäße, um in diesen Blättern aufgezeichnet zu werden? Nichts als das traurigste Bekenntniß, das ein Mann nur machen kann – das Bekenntniß seiner Thorheit.

Das Geheimniß, welches dies Bekenntniß enthüllt, mitzutheilen, sollte mich wenig Anstrengung kosten, da es mir indirect bereits entschlüpft ist. Die armseligen, schwachen Worte, denen es nicht gelungen ist, Miß Fairlie zu beschreiben, haben statt dessen die Gefühle verrathen, welche sie in mir erweckte. Aber so geht es immer! Unsere Worte sind Riesen, wo sie uns schaden, und Zwerge, wo sie uns nützen können.

Ich liebte sie.

Ach! wie gut kenne ich all den Kummer und Hohn, der in diesen drei Worten enthalten ist! Ich kann mit dem zärtlichsten Weibe, welches dies liest und mich bemitleidet, seufzen. Ich kann so bitter, wie der hartherzigste Mann, der es in Verachtung von sich wirft, darüber lachen. Ich liebte sie! Fühlt für mich oder verachtet mich – ich bekenne es mit dem unerschütterlichen Entschlusse, die Wahrheit zu gestehen! – –

Gab es keine Entschuldigung für mich? Gewiß, es lag einige Entschuldigung in den Verhältnissen, unter welchen ich die Zeit meiner gemietheten Dienste in Limmeridge House zubrachte.

Meine Morgenstunden vergingen still und ruhig in der Einsamkeit meines Zimmers. Ich hatte an dem Aufkleben der Zeichnungen gerade Arbeit genug, um meine Augen und Hände angenehm zu beschäftigen, während mein Geist frei blieb, sich dem gefährlichen Rausche ungezügelter Phantasie hingebend. Eine gefährliche Einsamkeit. Denn sie währte lange genug, um mich schwach zu machen, nicht aber, um mich zu stärken. Eine gefährliche Einsamkeit, denn ihr folgten Nachmittage und Abende, die Tag für Tag, eine Woche nach der anderen in der Gesellschaft zweier Frauen vergingen, von denen die Eine alle Vorzüge der Anmuth, des Witzes und der feinen Bildung, die Andere alle Reize der Schönheit, Sanftmuth und der einfachen Wahrheit besaß, welche das Herz eines Mannes veredeln und bezwingen können. Es verging kein Tag, an dem nicht in jener gefährlichen Vertraulichkeit zwischen Lehrer und Schülerin Miß Fairlie’s Hand die meinige berührte oder ihre Wange, indem wir uns zugleich über ihr Zeichenbuch beugten, fast die meinige streifte. Je aufmerksamer sie jede Bewegung meines Pinsels beobachtete, desto näher war mir der liebliche Duft ihres Haares und der warme Hauch ihres Athems. Es gehörte zu meinem Dienste, förmlich in dem Lichte ihrer Augen zu leben – einen Augenblick mich über sie zu beugen und zwar ihren Schultern so nahe, daß ich bei dem Gedanken, sie zu berühren, zitterte; im nächsten zu fühlen, wie sie sich über mich beugte, um zu sehen, was ich zeichne, und zwar so tief herab, daß sie ihre Stimme senkte, wenn sie zu mir sprach, und ihre vom Winde bewegten Bänder meine Wange streiften, ehe sie dieselben zurückziehen konnte.

Die Abende, welche diesen Landschafterausflügen folgten, brachten mehr Abwechslung als Störung in diese unvermeidlichen unschuldigen Vertraulichkeiten. Meine natürliche Liebe zu Musik, welcher ihr Spiel, so seelenvoll im Ausdrucke, so zart-weiblich in der Auffassung, entgegenkam, und ihre Freude, mir das durch die Ausübung ihrer Kunst wiederzugeben, was ihr die Ausübung der meinigen an Genuß geboten hatte, webten nur noch ein neues Band, das uns fester und fester aneinander knüpfte. Die Zufälligkeiten der Unterhaltung; die einfachen Gewohnheiten, nach denen eine solche Kleinigkeit, wie zum Beispiel unsere Plätze bei Tische, bestimmt wurden; Miß Halcombe’s fröhliche Neckereien, gegen des Lehrers Sorgfalt und den Enthusiasmus der Schülerin gerichtet; Mrs. Vesey’s harmloses, schläfriges Lob, das Miß Fairlie und mich als zwei musterhafte junge Leute verband, die sie niemals störten – alle diese Kleinigkeiten und noch manche andere trugen dazu bei, uns in denselben häuslichen Zirkel zu schließen und uns Beide unmerklich demselben hoffnungslosen Ende zuzuführen.

Ich hätte meine Stellung bedenken und im Stillen auf der Hut sein sollen. Ich that dies auch, aber erst, als es bereits zu spät war. Alle Umsicht, alle Erfahrung, die mir bei anderen Frauen von Nutzen gewesen und mich gegen Versuchungen verwahrt hatten, schlugen mir bei ihr fehl. Meine Beschäftigung hatte es seit Jahren mit sich gebracht, daß ich in nahe Berührung mit jungen Mädchen jeden Alters und jeder Gattung von Schönheit kam. Ich hatte die Stellung als einen Theil meines Berufes angenommen; ich hatte mich gewöhnt, alle die meinen Jahren entsprechenden Sympathien draußen im Vorsaale zu lassen, wie ich meinen Regenschirm dort zurückließ, ehe ich die Treppe hinauf ging. Ich hatte längst ganz gefaßt und wie etwas, das sich von selbst versteht, begriffen, daß meine Stellung im Leben eine Garantie dagegen sei, daß meine Schülerinnen jemals mehr als das allergewöhnlichste Interesse an mir nahmen und daß die jungen, bezaubernden Mädchen mich ungefähr wie ein unschädliches Hausthier empfingen. Diese schützende Erfahrung hatte ich schon früher gemacht, sie hatte mich streng und gerade auf meinem armen, schmalen Pfade dahingeführt, ohne mich auch nur ein einziges Mal zur Linken oder zur Rechten hinabschweifen zu lassen. Und jetzt hatte mein getreuer Talisman mich zum ersten Male verlassen! Ja, meine schwererworbene Selbstbeherrschung war so vollständig dahin, als ob ich sie nie besessen hätte; für mich verloren, wie andere Männer sie verlieren in kritischen Lagen, wo Frauen mit im Spiele sind. Ich weiß jetzt wohl, daß ich mich gleich von Anfang an hätte prüfen, mich hätte fragen sollen, warum jedes Zimmer in jenem Hause mir theurer war als meine Heimat, sobald sie eintrat, und warum es mir öde wurde, wie eine Wüste, sobald sie es verließ – warum ich bei ihr auch die kleinste Veränderung in der Kleidung wahrnahm, während ich hierauf noch bei keinem anderen Weibe geachtet hatte – warum ich sie ansah, anhörte und berührte (wenn wir einander zum Morgen- oder Abendgruße die Hand gaben), wie noch nie zuvor ein anderes Weib? Ich hätte fleißig in mein Herz schauen, dies neue Gefühl dort aufblühen sehen und es herausreißen sollen, da es noch in der Knospe war. Warum war mir dieses leichteste Werk der Selbstcultur immer zu schwer? Die Erklärung dieser Fragen liegt in den drei Worten meines Bekenntnisses. Ich liebte sie.

Die Tage vergingen, die Wochen vergingen; der dritte Monat meines Aufenthaltes in Cumberland nahte heran. Die köstliche Einförmigkeit des Gebens in unserer stillen Zurückgezogenheit floß mir dahin leicht wie dem Schwimmer, der stromabwärts gleitet. Jede Erinnerung an die Vergangenheit, jeder Gedanke an die Zukunft, jedes Gefühl von der Hoffnungslosigkeit meiner Stellung schlummerte in betrügerischer Ruhe in meinem Herzen. Von dem Sirenengesange meines eigenen Herzens eingelullt, trieb ich mit Augen und Ohren, die jeder Gefahr verschlossen waren, dem vernichtenden Felsen näher und näher. Die Warnung, welche mich endlich aufschreckte und plötzlich zu dem selbstanklagenden Bewußtsein meiner Schwachheit erweckte, war die deutlichste, wahrste, liebreichste aller Warnungen, denn sie kam stillschweigend von ihr selbst.

Wir waren eines Abends wie gewöhnlich auseinander gegangen. Es war meinen Lippen weder an jenem Abende, noch je zuvor ein Wort entfallen, das mich hätte verrathen und sie erschrecken können. Als wir am folgenden Morgen einander begegneten, war eine Veränderung über sie gekommen – eine Veränderung, die mir Alles sagte.

Ich bebte damals – und noch jetzt – davor zurück, mich in das innerste Heiligthum ihres Herzens zu drängen und es vor den Blicken Anderer zu entblößen, wie ich das meinige vor ihnen entblößt habe. Genüge es zu sagen, daß der Augenblick, wo sie mein Geheimniß entdeckte – wie ich fest überzeugt bin, derselbe war, in welchem sie ihr eigenes entdeckte, und zwar als sie in dem kurzen Zeitraume einer einzigen Nacht sich gegen mich veränderte. Ihre Natur, zu aufrichtig, um Andere zu betrügen, war zu edel, um sich selbst zu täuschen. Als der Zweifel, den ich in Schlaf gelullt hatte, sich mit seiner schweren Last zuerst auf ihr Herz legte, bekannten die offenen Züge Alles und sagten in der ihnen eigenen einfachen Sprache: es betrübt mich um seinet- und um meinetwillen …

Sie sagten dies und noch mehr, das ich aber damals mir nicht deuten konnte. Ich verstand nur zu wohl, warum ihr Benehmen gegen mich vor Anderen gütiger und zuvorkommender wurde und warum sie traurig und gezwungen mit nervöser Aengstlichkeit sich in die erste beste Beschäftigung vertiefte, wenn wir zufällig einmal allein gelassen wurden. Ich begriff, warum die lieben, gefühlvollen Lippen jetzt so selten und so zurückhaltend lächelten und warum die klaren blauen Augen mich zuweilen mit dem Mitleiden eines Engels und zuweilen mit der unschuldigen Verwirrung eines Kindes anblickten. Aber die Veränderung bedeutete noch mehr als dies. Es war eine Kälte in ihrer Hand, eine unnatürliche Ruhe in ihren Zügen, und in allen ihren Bewegungen der stumme Ausdruck von Angst und Selbstvorwurf. Aber dies waren nicht die Gefühle, deren Spur ich bei ihr und bei mir wahrgenommen, nicht die, welche wir, ohne sie zu bekennen, in Gemeinschaft empfanden. In der Veränderung ihres Wesens lagen gewisse Elemente, welche uns ganz heimlich noch immer zueinander hinzogen und wieder andere, die uns ebenso heimlich voneinander zu entfernen begannen.

In meinem Zweifel und meiner Unruhe, in meinem unklaren Verdachte, daß man mir etwas verberge, das ich ohne Hilfe, durch eigene Anstrengung entdecken sollte, suchte ich in Miß Halcombe’s Blicken und Verhalten Aufklärung. In so vertraulichem Umgange, wie dem unsrigen, konnte keine ernstliche Veränderung in dem Einen oder Anderen stattfinden, ohne daß die Anderen gewissermaßen davon mit berührt wurden. Die Veränderung in Miß Fairlie spiegelte sich in ihrer Halbschwester ab. Obgleich letztere mit keiner Silbe auf irgendwie veränderte Gefühle in Bezug auf mich hindeutete, so hatten doch ihre scharfen Blicke die ganz neue Gewohnheit angenommen, mich stets zu beobachten. Zuweilen war der Ausdruck derselben wie verhaltener Zorn; zuweilen wie verhaltene Angst; zuweilen wie keins von Beiden – kurz wie etwas, das ich nicht recht begreifen konnte. Es verging eine Woche, während welcher wir alle drei in diesem heimlichen Zustande des Zwanges gegen einander lebten. Meine Lage, welche jetzt durch das zu spät erwachte Bewußtsein meiner Schwachheit und Selbstvergessenheit noch verschlimmert worden, wurde jetzt förmlich unerträglich. Ich fühlte, daß ich ein für allemal die Beklemmung abwerfen müsse, die mich drückte; doch was das Beste für mich zu thun sei und was ich zuerst thun müsse, war mir unmöglich, zu bestimmen.

Aus dieser hilflosen, demüthigenden Lage erlöste mich Miß Halcombe. Ihre Lippen sagten mir die bittere, die nothwendige, die unerwartete Wahrheit. Ihre herzliche Güte hielt mich unter dem Schlage, den sie mir verursachte, aufrecht; ihr klares Urtheil und ihr Muth machten den rechten Gebrauch von einem Ereignisse, das mich und noch andere in Limmeridge House mit dem Schlimmsten, das uns widerfahren konnte, bedrohte.



Kapiteltrenner

IX.

Es war an einem Donnerstage in der Woche zu Ende des dritten Monats meines Aufenthaltes in Limmeridge House.

Als ich am Morgen zur gewöhnlichen Stunde in’s Frühstückzimmer trat, war Miß Halcombe zum ersten Male, seit ich sie kannte, nicht an ihrem Platze am Tische.

Miß Fairlie war draußen auf dem Rasenplatze. Sie grüßte mich, kam aber nicht herein. Weder ihre Lippen noch die meinigen hatten ein einziges Wort fallen lassen, das uns hätte verlegen machen können – und doch ließ uns ein unausgesprochenes Gefühl der Verlegenheit gegenseitig die Gelegenheit vermeiden, miteinander allein zu sein. Sie wartete auf dem Rasenplatze und ich in der Frühstücksstube, bis Mrs. Vesey und Miß Halcombe eintraten. Wie schnell wäre ich noch vor vierzehn Tagen zu ihr hinaus gegangen! Wie herzlich würden wir damals uns die Hände gegeben haben und in unsere gewöhnliche Unterhaltung gefallen sein!

Nach wenigen Minuten kam Miß Halcombe herein. Sie sah nachdenklich aus und machte zerstreute Entschuldigungen, daß sie so spät komme.

»Ich wurde durch eine Berathung über häusliche Angelegenheiten, wegen welcher Mr. Fairlie mich zu sprechen wünschte, aufgehalten,« sagte sie. Miß Fairlie kam aus dem Garten herein, und wir boten einander den üblichen Morgengruß. Ihre Hand lag kälter denn je in der meinigen. Sie sah mich nicht an und war sehr bleich. Sogar Mrs. Vesey bemerkte dies, als sie einen Augenblick später in’s Zimmer trat.

»Es wird wohl vom veränderten Winde kommen,« sagte die alte Dame. »Der Winter naht – ach ja, mein liebes Kind, bald wird er da sein!«

In ihrem Herzen und dem meinigen war er schon eingekehrt.

Unser Frühmahl – das sonst so voll fröhlicher Pläne für den Tag gewesen – ward kurz und still beendet. Miß Fairlie schien das Drückende der langen Pausen in der Unterhaltung zu fühlen und sah bittend ihre Schwester an, daß sie dieselben füllen möge. Endlich, nachdem sie ein- oder zweimal auf höchst uncharakteristische Weise angesetzt und wieder aufgehört hatte, begann Miß Halcombe:

»Ich habe Deinen Onkel heute Morgen gesehen,« sagte sie. »Er ist der Ansicht, daß die dunkelblaue Stube hergerichtet werden soll, und er bestätigt, was ich dir sagte. Montag ist der Tag – nicht Dienstag.«

Während Miß Halcombe diese Worte sprach, blickte Miß Fairlie auf den Tisch herab. Ihre Finger bewegten sich zitternd unter den Krumen, die sie auf das Tischtuch gestreut hatte. Die Blässe ihrer Wangen zog sich bis in ihre Lippen hinein, und die Lippen selbst bebten sichtlich. Ich war nicht der Einzige, der dies bemerkte. Miß Halcombe sah es ebenfalls und ging uns sofort mit dem Beispiele des Aufstehens voran.

Mrs. Vesey und Miß Fairlie verließen zusammen das Zimmer. Die lieben, kummervollen blauen Augen schauten mich einen Augenblick an mit der in die Zukunft sehenden Trauer eines nahen, langen Lebewohls. Ich fühlte die schmerzvolle Antwort in meinem eigenen Herzen – es war ein Schmerz, der mir sagte, daß ich sie bald verlieren, aber selbst um des Verlustes willen, umso fester, umso unveränderlicher lieben würde.

Ich wandte mich dem Garten zu, als sich die Thür hinter ihr schloß. Miß Halcombe stand mit ihrem Hute in der Hand und ihrem Shawl über dem Arme neben dem großen Fenster, das in den Garten führte, und betrachtete mich aufmerksam.

»Haben Sie etwas Zeit übrig,« fragte sie, »ehe Sie Ihre Arbeit auf Ihrem Zimmer beginnen?«

»Gewiß, Miß Halcombe. Meine Zeit steht Ihnen ganz zu Diensten.«

»Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen allein sprechen, Mr. Hartright. Holen Sie Ihren Hut und kommen Sie mit mir in den Garten hinaus. Wir werden dort zu dieser Stunde des Morgens nicht leicht gestört werden.«

Als wir auf den Rasenplatz hinaustraten, ging einer der Gärtnerburschen – noch ein Knabe – mit einem Briefe in der Hand an uns vorbei und nach dem Hause zu. Miß Halcombe rief ihn an.

»Ist der Brief für mich?« fragte sie.

»Nein, Miß, er soll eben für Miß Fairlie sein,« antwortete der Bursche, den Brief hinhaltend.

Miß Halcombe nahm ihm den Brief ab und besah die Adresse.

»Eine fremde Hand,« sprach sie zu sich selbst. »Wer mag Lauras Correspondent nur sein? Wo hast Du dies her?« fragte sie, zum Gärtnerburschen gewendet.

»Nun, Miß,« sagte der Bursche, »ich hab’s eben von einer Frau,«

»Was für eine Frau?«

»Eine schon ziemlich alte Frau.«

»So, eine schon ziemlich alte Frau. Kennst Du sie?«

»Ich müßte lügen, wenn ich sagen sollte, daß ich sie gekannt hätte.«

»In welcher Richtung ging sie fort?«

»Dahin,« sagte der Untergärtner, mit großer Kaltblütigkeit nach Süden deutend, indem er jenen ganzen Theil von England mit einer einzigen Schwenkung seines Armes bezeichnete.

»Sonderbar,« sagte Miß Halcombe, »ein Bettelbrief vermuthlich. Da,« fügte sie hinzu, als sie dem Burschen den Brief zurückgab, »trage ihn in’s Haus und gib ihn an einen der Diener ab. Und jetzt, Mr. Hartright, falls Sie Nichts dawider haben, wollen wir diesen Weg nehmen.«

Sie führte mich über den Rasenplatz und denselben Pfad entlang, den wir am Tage meiner Ankunft in Limmeridge eingeschlagen hatten. Bei dem kleinen Lusthause, in dem Laura Fairlie und ich einander zum erstenmale gesehen hatten, stand sie still und brach das Schweigen, das sie, während wir zusammen gingen, beobachtet hatte.

»Was ich Ihnen zu sagen habe, kann ich Ihnen hier sagen.«

Mit diesen Worten trat sie in das Lusthäuschen, setzte sich auf einen der Stühle, die an dem kleinen runden Tische standen, und machte mir ein Zeichen, den anderen zu nehmen. Ich hatte von dem, was kommen sollte, eine Ahnung gehabt, als sie im Frühstückzimmer zu mir sprach; jetzt war ich dessen gewiß.

»Mr. Hartright,« sagte sie, »ich werde mit einem offenen Geständnisse anfangen. Ich werde – ohne Redensarten, die ich verabscheue, oder Complimente, die ich verachte – Ihnen sagen, daß ich im Verlaufe Ihres Aufenthaltes unter uns eine große freundschaftliche Achtung für Sie gefaßt habe. Ihr Betragen gegen jenes unglückliche Frauenzimmer, dem Sie unter so eigenthümlichen Umständen begegneten, nahm mich gleich zu Anfang zu Ihren Gunsten ein. Die Art und Weise, wie Sie in der Sache verfuhren, mag nicht vorsichtig gewesen sein; aber sie bewies die Selbstbeherrschung, das Zartgefühl und das Mitleid eines Mannes, der von Natur ein Gentleman ist. Ich erwartete demnach nur Gutes von Ihnen, und Sie haben meine Erwartungen nicht getäuscht.«

Sie hielt inne – machte jedoch ein Zeichen mit der Hand, um mir anzudeuten, daß sie keine Antwort von mir erwartete, ehe sie fortführe. Als ich das Lusthäuschen betrat, war kein Gedanke an die Frau in Weiß in meinem Herzen gewesen. Jetzt aber riefen Miß Halcombe’s Worte ihn in mein Gedächtniß zurück. Dort blieb er, während der ganzen Unterhaltung – er blieb und zwar nicht ohne Erfolg.

»Als Ihre Freundin,« fuhr sie fort, »werde ich Ihnen sofort auf meine offene, deutliche Weise geradezu sagen, daß ich Ihr Geheimniß entdeckt habe – ohne irgend eine Hilfe oder einen Wink, merken Sie wohl auf, von einem anderen Wesen. Mr. Hartright, Sie haben, wie ich fürchte, sorgloserweise eine ernste, tiefe Zuneigung zu meiner Schwester Laura gefaßt. Ich mache Ihnen nicht den Schmerz, in viel Worten ein Bekenntniß darüber von Ihnen zu verlangen, weil ich weiß, daß Sie zu redlich sind, um es zu leugnen. Ich tadle Sie nicht einmal – nein, ich fühle blos Mitleid mit Ihnen, weil Sie eine hoffnungslose Liebe in Ihr Herz eingelassen haben. Sie haben nicht versteckt gehandelt, haben nicht im Geheimen mit meiner Schwester gesprochen. Sie haben sich der Schwäche und der unbewußten Verabsäumung Ihrer eigenen Interessen schuldig gemacht, aber weiter Nichts. Hätten Sie in irgend einer Hinsicht weniger zartfühlend und weniger bescheiden gehandelt, so hätte ich Ihnen, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern oder irgend Jemand zu Rathe zu ziehen, gesagt, das Haus zu verlassen. So nun klage ich nur das Mißgeschick Ihrer Jahre und Ihrer Stellung an, nicht Sie. Geben Sie mir die Hand – ich habe Ihnen Schmerz verursacht; ich werde Ihnen noch mehr Schmerz verursachen müssen – es ist nicht zu ändern, aber – geben Sie Ihrer Freundin Marianne Halcombe erst die Hand!«

Diese plötzliche Güte, diese warme, hochherzige, furchtlose Theilnahme, mit der sie mir so barmherzigerweise auf dem Fuße der Gleichheit entgegen kam und welche mit so zarter, großmüthiger Offenheit gerade zu meinem Herzen, meiner Ehre, meinem Muthe sprachen, überwältigte mich einen Augenblick. Ich versuchte sie anzusehen, als sie meine Hand nahm, aber mein Blick war unklar. Ich versuchte, ihr zu danken, aber die Stimme versagte mir.«

»Hören Sie mich an,« sagte sie und wandte sich rücksichtsvoll ab, um nicht zu sehen, wie sehr ich meine Fassung verloren hatte. »Hören Sie mich an und lassen Sie uns gleich mit der Sache zu Ende kommen. Es ist mir eine wirkliche, wahre Erleichterung, daß ich in dem, was ich sagen muß, die Frage in Bezug auf gesellschaftliche Ungleichheit nicht zu berühren brauche. Umstände, welche Sie bis in’s Innerste verletzen werden, ersparen mir die bittere Nothwendigkeit, einem Manne, der in freundschaftlicher Vertraulichkeit mit mir gelebt hat, durch irgend eine demüthigende Hindeutung auf Dinge, die Rang und Stellung betreffen, noch mehr Schmerz zu machen. Sie müssen Limmeridge House verlassen, Mr. Hartright, ehe noch mehr Unglück geschieht. Es ist meine Pflicht, Ihnen das zu sagen, und es würde in ganz derselben ernsten Nothwendigkeit nicht minder meine Pflicht sein, es Ihnen zu sagen, wenn Sie auch der Repräsentant der ältesten und begütertsten Familie in England wären. Sie müssen uns verlassen, nicht weil Sie ein Zeichenlehrer sind –« sie hielt einen Augenblick inne; dann wandte sie ihr Gesicht gerade zu mir und legte, über den Tisch reichend, ihre Hand fest auf meinen Arm.

»Nicht, weil Sie ein Zeichenlehrer sind,« wiederholte sie, »sondern weil Laura Fairlie – verlobt ist.«

Das Wort fuhr mir wie eine Kugel durch das Herz. Mein Arm fühlte die Hand nicht mehr, welche ihn gefaßt hielt. Ich rührte mich nicht, ich sprach nicht. Der rauhe Herbstwind, welcher die trockenen Blätter zu unseren Füßen umherstreute, durchfuhr mich plötzlich so kalt, als ob meine tollen Hoffnungen ebenfalls vertrocknete Blätter gewesen wären, wie sie von dem Winde dahin geweht würden. Hoffnungen! Verlobt oder nicht – war sie nicht mir gleich fern? Hätten andere Männer an meiner Stelle daran gedacht? Nicht, wenn sie dieselbe geliebt hätten, wie ich sie liebte. –

Der heftige Schmerz war vorüber und ließ Nichts als ein dumpfes schweres Weh zurück. Ich fühlte wie Miß Halcombe’s Hand meinen Arm fester faßte –, ich erhob den Kopf und sah sie an. Ihre großen schwarzen Augen waren auf mich geheftet und beobachteten die Blässe meines Gesichtes, die ich fühlte und die sie sah.

»Ueberwinden Sie es!« sagte sie. »Hier, wo Sie sie zuerst sahen, auf der Stelle überwinden Sie es! Beben Sie nicht wie ein Weib davor zurück. Reißen Sie es sich aus der Brust und zertreten Sie es wie ein Mann!«

Die unterdrückte Heftigkeit, mit der sie sprach, die Kraft ihres Willens – die sich in dem Blicke, den sie auf mich heftete, und in dem Griffe ihrer Hand, welche sie noch nicht von meinem Arme fortgenommen, aussprach – theilten sich endlich mir mit und machten mich ruhiger. Wir warteten Beide einen Augenblick in Stillschweigen. Nach Verlauf desselben hatte ich ihr großmüthiges Vertrauen auf meine Mannhaftigkeit gerechtfertigt und wenigstens äußerlich meine Fassung wiedergewonnen.

»Haben Sie sich gefaßt?«

»Hinreichend gefaßt, Miß Halcombe, um Sie Beide um Vergebung zu bitten. Hinreichend, um mich von Ihrem Rathe leiten zu lassen und Ihnen dadurch meine Dankbarkeit zu beweisen, die ich Ihnen auf keine andere Art beweisen kann.«

»Sie haben sie schon mit diesen Worten bewiesen,« entgegnete sie. »Mr. Hartright, alle Verheimlichung ist zwischen uns zu Ende. Ich kann es nicht über mich gewinnen, gegen mein Gefühl Ihnen zu verbergen, was meine Schwester mir unbewußterweise verrathen hat. Sie müssen uns sowohl um meiner Schwester willen, als um Ihrer selbst willen verlassen. Ihre Anwesenheit hier, Ihre nothwendige Vertraulichkeit, so harmlos dieselbe in jeder anderen Hinsicht auch war, Gott weiß es, hat sie unruhig und elend gemacht. Ich, die ich sie mehr liebe als mein Leben – ich, die ich an ihre reine, edle unschuldige Natur glaube wie an meine Religion – kenne nur zu wohl das heimliche Elend, das sie durch ihre Selbstvorwürfe gelitten, seit der erste Schatten eines mit ihrer Verlobung unvereinbaren Gefühles sich gegen ihren Willen in ihr Herz schlich. Ich sage nicht – nach dem, was sich zugetragen, wäre es unnütz, dies zu sagen – daß ihre Verlobung jemals ihre ganze Zuneigung hatte. Es ist eine Sache der Ehre, nicht der Liebe – ihr Vater bestätigte sie vor zwei Jahren auf seinem Sterbelager – sie selbst wünschte sie weder, noch bebte sie davor zurück – sie war darein ergeben. Bis Sie hierher kamen, war sie in der Lage von Hunderten von anderen Frauen, die Männer heirateten, ohne sich besonders zu ihnen hingezogen oder von ihnen abgestoßen zu fühlen, und die anstatt vor der Heirat nach der Heirat sie lieben lernen (wenn sie dieselben nicht hassen lernen!). Ich hoffe inniger, als ich es mit Worten sagen kann – und Sie sollten den selbstverleugnenden Muth haben, dies ebenfalls zu hoffen – daß die neuen Gedanken und Gefühle, welche die alte Ruhe und Zufriedenheit unterbrochen haben, nicht zu tief Wurzel gefaßt haben mögen, um sich wieder ausreißen zu lassen. Ihre Abwesenheit (hätte ich weniger Glauben an Ihre Ehre, Ihren Muth und Ihr gutes Urtheil, so würde ich Ihnen nicht vertrauen, wie ich es jetzt thue) – Ihre Abwesenheit wird meine Bemühungen unterstützen, und die Zeit wird uns allen Dreien helfen.

Es ist immer schon etwas, zu wissen, daß mein Vertrauen zu Ihnen kein übel angebrachtes war; daß Sie nicht weniger redlich, weniger ehrenhaft, weniger rücksichtsvoll gegen die Schülerin sein werden, deren Stellung Sie das Unglück hatten zu vergessen, als gegen die Fremde, Unglückliche, die nicht umsonst Ihre Hilfe anrief.«

Noch einmal diese zufällige Anspielung auf die Frau in Weiß! War es denn unmöglich, von Miß Fairlie und von mir zu sprechen, ohne die Erinnerung an Anna Catherick hervorzurufen und sie zwischen uns zu stellen wie ein Verhängniß, dem nicht auszuweichen war?

»Sagen Sie mir, welche Entschuldigung ich Mr. Fairlie gegenüber machen kann, indem ich meinen Contract mit ihm breche,« sagte ich. »Sagen Sie mir, wann ich gehen soll, sobald sie angenommen ist. Ich verspreche, Ihnen und Ihrem Rathe unbedingt zu folgen.«

»Die Zeit ist in jeder Beziehung von Wichtigkeit,« entgegnete sie. »Sie hörten, wie ich heute Morgen vom nächsten Montag und der Notwendigkeit sprach, das dunkelblaue Zimmer herzurichten. Der Besuch, den wir am Montag erwarten –«

Ich konnte nicht warten, bis sie sich deutlicher ausdrückte. Nach dem, was ich jetzt wußte, sagten mir Miß Fairlie’s Blicke und Manieren beim Frühstück, daß der in Limmeridge House erwartete Gast ihr zukünftiger Gemahl sei. Ich versuchte es zu unterdrücken, aber es erhob sich in dem Augenblicke etwas in mir, das stärker war als mein Wille, und ich unterbrach Miß Halcombe.

»Lassen Sie mich schon heute gehen,« sagte ich bitter. »Je eher, desto besser.«

»Nein; nicht heute,« erwiderte sie. »Der einzige Grund, den Sie Mr. Fairlie für Ihre Abreise vor Ablauf Ihres Contractes angeben können, muß der sein, daß eine unvorhergesehene Notwendigkeit Sie zwingt, ihn um seine Erlaubniß zu bitten, sofort nach London zurückkehren zu dürfen. Sie müssen bis morgen warten, um ihm dies zur Zeit zu sagen, wo die Briefe ankommen, weil er dann diese plötzliche Veränderung Ihrer Pläne verstehen wird, indem er sie mit der Ankunft eines Briefes für Sie aus London in Beziehung bringt. Es ist jämmerlich und widerlich, sich zur Täuschung herablassen zu müssen, selbst wenn dieselbe von der harmlosesten Art ist; aber ich kenne Mr. Fairlie, und falls Sie einmal seinen Verdacht erregen, daß Sie keinen ernstlichen Grund haben, so wird er sich weigern, Sie fortzulassen. Sprechen Sie am Freitag Morgen mit ihm und beschäftigen Sie sich dann mit Ihrer Arbeit für Mr. Fairlie, um sie (um Ihres eigenen Interesses willen) in ihrem unvollendeten Zustande doch in möglichster Ordnung zurückzulassen, und verlassen Sie diesen Ort dann am Sonnabend. Es wird dann für Sie und für uns Alle noch Zeit genug sein, Mr. Hartright.«

Ehe ich ihr noch antworten konnte, daß sie sich darauf verlassen möge, daß ich unbedingt nach ihren Wünschen und Anordnungen handeln werde, wurden wir Beide durch herannahende Schritte aufmerksam gemacht. Es kam Jemand vom Hause her, um uns zu suchen. Ich fühlte, wie das Blut mir in die Wangen schoß und dann sie wieder verließ. Konnte die dritte Person, die zu solcher Zeit und unter solchen Umständen uns aufsuchte, Miß Fairlie sein?

Es war mir eine Erleichterung –, so traurig und so hoffnungslos war meine Stellung ihr gegenüber bereits geworden –, es war mir eine förmliche Erleichterung, als die Person, deren Schritte uns gestört hatten, am Eingange des Lusthäuschens stand und sich als Miß Fairlie’s Kammermädchen auswies.

»Könnte ich wohl einen Augenblick mit Ihnen sprechen, Miß?« sagte das Mädchen etwas eilig und unruhig.

Miß Halcombe stieg die Stufen hinab und ging ein paar Schritte mit ihr in das Gehölz hinein.

Da ich allein war, wandten sich meine Gedanken mit einem Gefühle der Verlassenheit, das zu beschreiben ich keine Worte finde, meiner herannahenden Rückkehr zur Einsamkeit meiner Wohnung in London zu. Gedanken an meine liebe, alte Mutter und an meine Schwester, die sich mit ihr so sehr über meine Aussichten in Cumberland gefreut hatte, Gedanken, deren lange Verbannung aus meinem Herzen ich mir jetzt zum erstenmale zu meiner Schande und meinem Vorwurfe vergegenwärtigte, kehrten mir mit jener zärtlichen Traurigkeit alter vernachlässigter Freunde zurück. Was sollten die Gefühle meiner Mutter und Schwester sein, wenn ich mit dem Bekenntnisse meines elenden Geheimnisses vor Ablauf meines Contractes zurückkehrte – nachdem sie so hoffnungsvoll an jenem Abend im Häuschen zu Hampstead Abschied von mir genommen hatten!

Wieder Anna Catherick! Selbst die Erinnerung an jenen Abschiedsabend bei meiner Mutter und Schwester mußte sich mit jener an den Gang im Mondenscheine nach London vermischen. Was sollte es bedeuten?

Sollten jene Frau und ich einander noch einmal begegnen? Es war wenigstens möglich. Wußte sie, daß ich in London wohnte? Ja, ich hatte es ihr entweder vor oder nach jener sonderbaren Frage gesagt, ob ich viele Leute kenne, die den Rang eines Baronets hätten. Entweder vorher oder nachher, mein Geist war in diesem Augenblicke nicht klar genug, um sich dessen mit Bestimmtheit zu entsinnen.

Es vergingen einige Minuten, ehe Miß Halcombe das Kammermädchen zurückschickte und dann zu mir zurückkehrte. Auch sie sah jetzt unruhig aus.

»Wir sind jetzt über Alles, was nothwendig war, einig, Mr. Hartright,« sagte sie. »Wir haben einander verstanden, wie Freunde einander verstehen sollten, und können jetzt zum Hause zurückkehren. Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, so bin ich um Laura beunruhigt. Sie hat mir sagen lassen, daß sie mich augenblicklich zu sprechen wünscht, und ihr Kammermädchen sagt, daß sie anscheinend außerordentlich ergriffen sei von einem Briefe, den sie diesen Morgen erhalten hat, derselbe Brief wahrscheinlich, den ich in’s Haus schickte, als wir hierher gingen.«

Wir gingen eilends durch das Gebüsch zurück. Obgleich Miß Halcombe Alles gesagt hatte, was sie ihrerseits zu sagen wünschte, so hatte ich nicht Alles von meiner Seite gesagt, von dem Augenblicke an, wo ich entdeckte, daß der in Limmeridge House erwartete Gast Miß Fairlie’s zukünftiger Gemahl sei, fühlte ich eine bittere Neugierde, eine brennende, neidische Begier, zu wissen, wer er sei. Es war möglich, daß sich nicht leicht eine zweite Gelegenheit zu einer solchen Frage bieten würde, und ich wagte daher, sie auf unserem Rückwege nach dem Hause zu thun.

»Jetzt, da Sie so gut sind, zu sagen, daß wir einander verstanden haben, Miß Halcombe,« sagte ich, »jetzt, da Sie meiner Dankbarkeit, meiner Entsagung und meines Gehorsams gewiß sind, darf ich es wagen, Sie zu fragen, wer« – ich zögerte; ich hatte mich gezwungen, an ihn als ihren zukünftigen Gemahl zu denken, aber als solchen von ihm zu sprechen, war noch weit schwerer – »wer der Herr ist, mit dem Miß Fairlie sich verlobt hat?«

Sie war offenbar mit der Botschaft beschäftigt, die man ihr von ihrer Schwester gebracht hatte. Sie antwortete hastig und zerstreut:

»Ein Herr mit großem Vermögen in Hampshire.«

Hampshire! Anna Catherick’s Heimat. Wieder und immer wieder die Frau in Weiß. Es mußte ein Verhängniß darin sein.

»Und sein Name?« sagte ich so ruhig und gleichgiltig, wie es mir möglich war.

»Sir Percival Glyde.«

Sir – Sir Percival Glyde! Anna Chatherick’s Frage, jene verdächtige Frage über Leute im Rang von Baronets, die ich etwa kannte, war kaum durch Miß Halcombe’s Rückkehr in’s Lusthäuschen aus meiner Erinnerung verwischt worden, als sie dieselbe durch ihre Antwort schon wieder hervorrief. Ich stand plötzlich stille und sah sie an.

»Sir Percival Glyde,« wiederholte sie, in der Vermuthung, daß ich sie nicht verstanden.

»Ritter oder Baronet?« fragte ich mit einer Aufregung, die ich nicht länger bemeistern konnte.

Sie schwieg einen Augenblick und entgegnete dann ziemlich kalt:

»Baronet, natürlich.«



Kapiteltrenner

X.

Es wurde kein Wort weiter von uns gesprochen, während wir nach dem Hause zurückgingen. Miß Halcombe eilte sofort auf ihrer Schwester Zimmer; und ich ging auf mein Atelier, um diejenigen von Mr. Fairlie’s Zeichnungen, welche ich noch nicht aufgeklebt hatte, zu ordnen, ehe sie anderen Händen übergeben würden. Gedanken, die ich bisher unterdrückt hatte, Gedanken, die meine Stellung schwerer zu ertragen machten als je, drängten sich jetzt mir auf, da ich allein war.

Sie war verlobt, und ihr zukünftiger Gemahl war Sir Percival Glyde. Ein Mann im Range eines Baronets und Eigenthümer von Gütern in Hampshire.

Es waren Hunderte von Baronets in England und Dutzende von Güterbesitzern in Hampshire. Nach gewöhnlichen Beweisregeln hatte ich somit nicht den Schatten eines Grundes, um Sir Percival Glyde mit der verdächtigen Frage der Frau in Weiß in Verbindung zu bringen. Und dennoch brachte ich sie mit ihm in Verbindung. War es, weil er jetzt in meinen Gedanken mit Miß Fairlie in Verbindung stand und Miß Fairlie ihrerseits mit Anna Catherick seit jenem Abend, wo ich die unheildrohende Aehnlichkeit zwischen ihnen entdeckt hatte? Hatten die Ereignisse des Morgens bereits so sehr meine Nerven erschüttert, daß ich jeder Täuschung anheimfiel, welche ganz gewöhnliche Zufälle und Zusammentreffen in meiner Einbildungskraft hervorriefen? Ich kann es nicht sagen. Ich fühlte nur, daß das, was sich zwischen mir und Miß Halcombe auf unserem Heimwege zugetragen, mich ganz seltsam ergriffen hatte. Das Vorgefühl einer unentdeckbaren Gefahr, die für uns Alle in der Dunkelheit der Zukunft verborgen lag, regte sich stark in mir. Der Zweifel, ob ich nicht bereits ein Glied in der Kette von Ereignissen sei, die selbst meine herannahende Abreise von Cumberland nicht mehr zersprengen konnte, ob irgend Eins von uns das Ende sah, wie das Ende wirklich sein werde, gestaltete sich immer finsterer in meinem Geiste. So bitter und schneidend das Leiden auch war, das mir das kummervolle Ende meiner kurzen, verwegenen Liebe verursachte, so schien es abgestumpft und geschwächt durch die noch stärkere Ahnung von etwas Bevorstehendem, etwas unsichtbar Drohendem, das die Zeit über unseren Häuptern hielt.

Ich war etwas über eine halbe Stunde mit meinen Zeichnungen beschäftigt gewesen, als an meine Thür geklopft wurde. Auf meinen Ruf öffnete sich dieselbe und zu meinem Erstaunen trat Miß Halcombe in das Zimmer.

Ihr Auftreten war aufgebracht und erregt, sie ergriff einen Stuhl, ehe ich Zeit hatte, ihr einen zu reichen, und setzte sich dicht neben mich nieder.

»Mr. Hartright,« sagte sie, »ich hatte gehofft, daß für heute wenigstens alle unangenehmen Unterhaltungsgegenstände abgemacht seien. Aber es sollte nicht so sein. Es ist irgend eine versteckte Büberei im Werke, um meine Schwester über ihre herannahende Heirat zu ängstigen. Sie sahen mich den Gärtnerburschen mit einem Briefe, der in unbekannter Handschrift an Miß Fairlie adressirt war, in’s Haus schicken?«

»Gewiß.«

»Jener Brief ist ein anonymer Brief – ein abscheulicher Versuch, Sir Percival Glyde in der Achtung meiner Schwester herabzusetzen. Derselbe hat sie so ergriffen und beunruhigt, daß es mir nur mit größter Mühe gelungen ist, sie hinlänglich zu besänftigen, daß ich ihr Zimmer verlassen und hierher kommen konnte. Ich weiß, daß dies eine Familienangelegenheit ist, über die ich Sie nicht zu Rathe ziehen sollte, und für die Sie weder Theilnahme noch Interesse fühlen können –«

»Ich bitte um Entschuldigung, Miß Halcombe. Ich fühle die allergrößte Theilnahme und das tiefste Interesse für Alles, was Miß Fairlie’s Glück oder Ihr eigenes betrifft.«

»Es freut mich, Sie das sagen zu hören. Sie sind die einzige Person im Hause – und außerhalb desselben, die mir rathen kann. An Mr. Fairlie ist bei seinem Gesundheitszustande und seinem Abscheu gegen jede Art von Schwierigkeiten oder Geheimniß unnöthig zu denken. Der Geistliche ist ein guter, schwacher Mensch, der außer dem Einerlei seiner Amtspflichten von gar Nichts weiß; und unsere Nachbarn sind gerade die Art von gemächlichen Alltagsbekanntschaften, die man in Zeiten der Sorge und Gefahr nicht bemühen darf. Was ich zu wissen wünsche, ist dies: soll ich sogleich diejenigen Schritte, die mir zu Gebote stehen, thun, um den Schreiber des Briefes zu entdecken? oder soll ich warten und mich morgen an Mr. Fairlie’s Rechtsanwalt wenden? Es handelt sich um den Gewinn oder Verlust eines Tages, was vielleicht von großer Wichtigkeit ist. Sagen Sie mir, wie Sie darüber denken, Mr. Hartright. Hätte nicht die Nothwendigkeit mich bereits gezwungen, Sie unter sehr zarten Verhältnissen in mein Vertrauen zu ziehen, so wäre vielleicht selbst meine hilflose Lage keine Entschuldigung für mich. Aber wie die Sachen stehen, kann es doch gewiß nach Allem, was zwischen uns vorgegangen ist, nicht unrecht sein, zu vergessen, daß Sie erst seit drei Monaten unser Freund sind.«

Sie reichte mir den Brief. Derselbe begann plötzlich, ohne alle Einleitung oder Anrede, wie folgt:

»Glauben Sie an Träume? Ich hoffe es, um Ihrer selbst willen. Sehen Sie nach, was die heilige Schrift über Träume und deren Erfüllungen sagt (Erstes Buch Moses XL, V. 8; XLI, V. 25; Daniel IV, V. 18-25), und hören Sie die Warnung, die ich Ihnen sende, ehe es zu spät ist.

In letzter Nacht träumte mir von Ihnen, Miß Fairlie. Mir träumte, ich stände innerhalb des Altargitters einer Kirche: ich auf der einen Seite des Altars und der Geistliche in seinem Priestergewande und mit dem Gebetbuche in der Hand, auf der anderen.

Nach einer Weile kamen durch das Schiff der Kirche ein Mann und ein Weib auf uns zu, um getraut zu werden! Sie waren das Weib. Sie sahen in Ihrem weißseidenen Kleide und Ihrem langen Spitzenschleier so schön und unschuldig aus, daß mein Herz für Sie fühlte und mir Thränen in die Augen kamen.

Es waren Thränen des Mitleids, junge Dame, welche der Himmel segnet; und anstatt wie die alltäglichen Thränen, die wir Alle vergießen, aus meinen Augen zu fallen, wurden sie zu zwei Lichtstrahlen, die sich nach dem Manne hinzogen, der an Ihrer Seite am Altar stand, bis sie seine Brust berührten. Die beiden Strahlen standen in Bogen, wie zwei Regenbogen zwischen mir und ihm. Ich schaute an ihnen hin und blickte tief in sein innerstes Herz hinab.

Das Aeußere des Mannes, den Sie heirateten, war schön genug anzusehen. Er war weder groß noch klein – ein wenig unter mittlerer Größe. Ein gewandter, rüstiger, munterer Mann – dem Ansehen nach ungefähr fünfundvierzig Jahre alt. Er hatte ein bleiches Gesicht, war etwas kahl über der Stirn, und den übrigen Theil seines Kopfes bedeckte dunkles Haar. Sein Kinn war ohne Bart, doch wuchs derselbe auf seinen Wangen und über seiner Oberlippe in einem schönen reichen Braun. Seine Augen waren ebenfalls braun und sehr lebhaft. Seine Nase gerade und schön und zart genug geformt für ein Weib. Seine Hände ebenso. Von Zeit zu Zeit wurde er von einem trockenen Husten gequält, und wenn er seine weiße rechte Hand zu seinen Lippen erhob, zeigte er auf der Rückseite derselben die rothe Narbe einer alten Wunde. Hat mir von dem rechten Manne geträumt? Sie wissen es am besten, Miß Fairlie. Lesen Sie jetzt, was ich unter der Außenseite sah – ich flehe Sie an, lesen Sie es und ziehen Sie Vortheil daraus.

Ich schaute an den beiden Lichtstrahlen hin und sah in sein innerstes Herz hinab. Und siehe! es war schwarz wie die Nacht und drin stand geschrieben mit den rothen, flammenden Buchstaben, welche da sind die Handschrift des gefallenen Engels: ›Ohne Mitleid und ohne Reue. Er hat die Pfade Anderer mit Jammer und Elend bestreut und er wird den Pfad des Weibes an seiner Seite mit Jammer und Elend bestreuen.‹ Das las ich; und dann bewegten sich die Lichtstrahlen von da fort und deuteten über seine Schultern hin; und da, hinter Ihnen stand ein Engel, der weinte. Und die Lichtstrahlen veränderten zum dritten Male ihr Ziel und deuteten gerade zwischen Sie und jenen Mann. Sie dehnten sich auseinander, immer mehr auseinander und drängten Euch Beide voneinander. Und der Geistliche suchte vergebens nach dem Heiratsamte: es war aus seinem Buche verschwunden, und er schloß es und legte es in Verzweiflung von sich. Und ich erwachte mit thränenvollen Augen und klopfendem Herzen – denn ich glaube an Träume.

Glauben auch Sie, Miß Fairlie, – ich bitte Sie um Ihrer selbst willen, glauben Sie, wie ich glaube. Joseph und Daniel und Andere in der heiligen Schrift glaubten an Träume. Stellen Sie Erkundigungen über die Vergangenheit des Mannes mit der rothen Narbe auf der Hand an, ehe Sie das Wort sprechen, das Sie zu seinem elenden Weibe macht. Ich gebe Ihnen diese Warnung nicht um meinet-, sondern um Ihretwillen. Ich fühle ein Interesse für ihre Wohlfahrt, welches leben wird, solange ich athme. Die Tochter Ihrer Mutter hat einen weichen Platz in meinem Herzen – denn Ihre Mutter war meine erste, meine beste, meine einzige Freundin.«

Hier endete dieser seltsame Brief ohne irgend eine Unterschrift.

Die Handschrift bot keine Aussicht auf einen Schlüssel. Sie war in unsicheren, steifen Schönschreibebuchstaben auf blauen Linien geschrieben. Sie war matt und undeutlich und durch Flecken entstellt, aber hatte sonst Nichts an sich, das sie auszeichnete.

»Das ist nicht der Brief eines ungebildeten Wesens,« sagte Miß Halcombe, »und zugleich ist er zu unzusammenhängend, um von einer gebildeten Frau aus den höheren Ständen geschrieben zu sein. Das Erwähnen des Brautkleides und Schleiers und andere kleine Ausdrücke scheinen das Schreiben als von einer Frau herrührend zu kennzeichnen. Was denken Sie davon, Mr. Hartright?«

»Ich denke wie Sie. Es scheint mir nicht nur der Brief einer Frau zu sein, sondern auch einer Frau, deren Geist –«

»Gestört sein muß?« meinte Miß Halcombe. »Er ist mir in demselben Lichte aufgefallen.«

Ich antwortete nicht, während ich noch sprach, hatte mein Auge auf dem letzten Satze des Briefes geruht: »Die Tochter Ihrer Mutter hat einen weichen Platz in meinem Herzen – denn Ihre Mutter war meine erste, meine beste, meine einzige Freundin.« Diese Worte und der Zweifel, der mir soeben in Bezug auf den Gemüthszustand der Schreiberin des Briefes entschlüpft war, riefen, indem sie vereint auf meinen Geist einwirkten, einen Gedanken hervor, den auszusprechen oder auch nur im Geheimen zu hegen ich mich buchstäblich fürchtete. Ich begann zu zweifeln, ob nicht am Ende meine eigenen Geistesfähigkeiten ihr Gleichgewicht zu verlieren anfingen. Es schien fast wie eine Monomanie, jedes seltsame Ereigniß, jedes unerwartete Wort derselben verborgenen Quelle, demselben finsteren Einflusse zuzuschreiben. Ich beschloß diesesmal zur Verteidigung meines eigenen Muthes und meiner eigenen Vernunft keine Entscheidung zu treffen, welche nicht deutlich durch die Thatsachen gerechtfertigt würde und fest Allem den Rücken zu wenden, das mich in der Gestalt von Vermuthungen in Versuchung führte.

»Falls wir irgendwie Aussicht haben, die Person aufzufinden, welche dies geschrieben hat,« sagte ich, indem ich Miß Halcombe den Brief zurückgab, »so kann es nicht schaden, wenn wir jede Gelegenheit ergreifen, sowie sie sich bietet. Ich bin der Ansicht, daß wir den Untergärtner noch einmal über die Frau, welche ihm den Brief gab, befragen und dann unsere Nachfragen im Dorfe fortsetzen sollten. Aber erst erlauben Sie mir eine Frage. Sie erwähnten soeben der Alternative, Mr. Fairlie’s Rechtsanwalt morgen über die Sache zu Rathe zu ziehen. Ist es nicht möglich, ihn schon früher davon zu benachrichtigen? Warum nicht gleich heute?«

»Ich kann Ihnen dies nur erklären,« erwiderte Miß Halcombe, »indem ich in gewisse Einzelheiten in Bezug auf meiner Schwester Verlobung eingehe, welche zu erwähnen mir heute Morgen weder nothwendig noch wünschenswerth schien. Sir Percival Glyde’s Zweck bei seinem Besuche hier am nächsten Montag ist, den Zeitpunkt seiner Vermählung festzusetzen, der bis jetzt völlig unbestimmt geblieben ist. Er wünscht sehr, daß dieselbe vor Ende des Jahres stattfinde.«

»Kennt Miß Fairlie diesen Wunsch?« fragte ich begierig.

»Sie hat keine Ahnung davon; und nach dem, was sich zugetragen hat, werde ich nicht die Verantwortlichkeit übernehmen, sie darüber aufzuklären. Sir Percival hat seine Wünsche nur gegen Mr. Fairlie ausgesprochen, welcher mir selbst gesagt hat, daß er als Lauras Vormund bereit und erfreut sei, dieselben zu fördern. Er hat an Mr. Gilmore, den Geschäftsführer der Familie in London, geschrieben. Mr. Gilmore ist zufällig augenblicklich Geschäfte halber in Glasgow; und in seiner Antwort hat er vorgeschlagen, auf seinem Rückwege nach London in Limmeridge House vorzusprechen. Er wird morgen ankommen und einige Tage da bleiben, um Sir Percival Zeit zu geben, seine Sache zu führen. Wenn ihm dies gelingt, so will Mr. Gilmore nach London zurückkehren und seine Instructionen in Bezug auf den Heiratscontract meiner Schwester mitnehmen. Jetzt begreifen Sie, Mr. Hartright, warum ich sage, daß wir bis morgen auf juristischen Rath warten müssen. Mr. Gilmore ist der alte, erprobte Freund und Rathgeber zweier Generationen von Fairlie’s, und wir können ihm vertrauen wie sonst Niemanden.«

Der Heiratscontract! Der bloße Klang dieses einen Wortes durchdrang mich mit einer eifersüchtigen Verzweiflung, die Gift für meine höheren und besseren Gefühle war. Ich fing an – es ist schwer, dies zu bekennen, aber ich darf vom Anfang bis zum Ende der fürchterlichen Erzählung, zu der ich mich jetzt verpflichtet habe, Nichts verschweigen – ich fing an, mit einer hassenswerthen Hoffnung an die unbestimmten Anklagen, welche der anonyme Brief gegen Sir Percival Glyde enthielt, zu denken. Wie wäre es, wenn jene wilden Beschuldigungen eine Grundlage von Wahrheit hätten? Wie wäre es, wenn diese Wahrheit bewiesen werden könnte, ehe die verderblichen Worte der Einwilligung gesprochen oder der Heiratscontract unterzeichnet würde?

Ich habe seitdem zu glauben versucht, daß die Gefühle, welche mich damals belebten, nur auf das reinste der Interessen von Miß Fairlie gerichtet waren. Aber es ist mir nie gelungen, mich so zu täuschen, daß ich es wirklich geglaubt hätte, und ich darf jetzt auch Andere darüber nicht in Ungewißheit lassen. Das Gefühl begann und endete mit einem unbekümmerten, rachesüchtigen, hoffnungslosen Hasse gegen den Mann, der sie heiraten wollte.

»Wenn wir etwas entdecken wollen,« sagte ich, unter dem neuen Einflusse sprechend, der mich jetzt leitete, »so dürfen wir keine Minute mehr unbenutzt verfließen lassen. Ich schlage noch einmal vor, daß wir zuerst den Gärtner zum zweiten Male befragen und dann unsere Nachforschungen im Dorfe fortsetzen.«

»Ich denke, ich kann Ihnen in beiden Fällen behilflich sein,« sagte Miß Halcombe aufstehend. »Lassen Sie uns sogleich gehen und zusammen Alles das thun, was uns das Beste erscheint und in unserer Macht liegt.«

Ich hatte meine Hand auf der Klinke der Thür, um letztere für sie zu öffnen – aber ich zögerte plötzlich, um eine wichtige Frage zu thun, ehe wir aufbrachen.

»Eine Stelle in dem anonymen Briefe,« sagte ich, »enthält genaue persönliche Beschreibungen. Sir Percival Glyde’s Name wird nicht genannt, soviel ich weiß; können Sie mir sagen, ob jene Beschreibung auf ihn paßt?«

»Auf’s Genaueste; sogar darin, daß sie ein Alter mit fünfundvierzig Jahren angibt –«

Fünfundvierzig, und sie war noch nicht einundzwanzig! Männer seines Alters heiraten alle Tage Mädchen in dem ihrigen, und die Erfahrungen haben jene Heiraten oft als die glücklichsten bezeichnet. Ich wußte dies – und dennoch fügte die Erwähnung seines Alters, als ich es mit dem ihrigen verglich, noch viel zu meinem blinden Hasse und Mißtrauen gegen ihn hinzu.

»Ganz genau,« fuhr Miß Halcombe fort, »selbst bis zur Narbe auf seiner rechten Hand, welche die Narbe einer Wunde ist, welche er vor Jahren auf seinen Reisen in Italien empfing. Es unterliegt keinem Zweifel, daß jede Eigentümlichkeit seiner äußeren Erscheinung dem Schreiber des Briefes genau bekannt ist.«

»Es wird sogar eines Hustens erwähnt, der ihn belästigt, wenn ich mich recht entsinne?«

»Ja, auch das hat seine Richtigkeit. Er selbst behandelt die Sache leicht, obgleich es seine Freunde zuweilen besorgt um ihn macht.«

»Ich setze voraus, man hat nie etwas gegen seinen Charakter gehört?«

»Mr. Hartright! Ich hoffe, Sie sind nicht so ungerecht, jenen schändlichen Brief auf sich einwirken zu lassen?«

Ich fühlte, wie das Blut mir in die Wangen drang, denn ich wußte, daß er allerdings auf mich eingewirkt hatte.

»Ich hoffe nicht,« entgegnete ich verwirrt; »vielleicht hatte ich kein Recht, eine solche Frage zu thun.«

»Es ist mir nicht unlieb, daß Sie sie thaten,« sagte sie, »denn es setzt mich in Stand, Sir Percivals Rufe Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Weder ich noch meine ganze Familie, Mr. Hartright, haben je ein Wort gegen ihn auch nur flüstern hören. Er hat mit Erfolg zwei bestrittene Wahlen bestanden und ist unverletzt aus der Feuerprobe hervorgegangen. Ein Mann, der das in England kann, ist ein Mann, dessen Charakter sicher steht.«

Ich öffnete schweigend die Thür für sie und folgte ihr hinaus. Sie hatte mich nicht überzeugt, wäre ein Engel selbst vom Himmel herabgestiegen, um ihre Worte zu bestätigen, und hätte er vor meinen sterblichen Augen sein Buch geöffnet, er würde mich dennoch nicht überzeugt haben.

Wir fanden den Gärtner wie gewöhnlich bei der Arbeit. Keine von unseren Fragen konnte auch nur eine einzige Antwort aus der undurchdringlichen Dummheit des Burschen herausbringen. Die, welche ihm den Brief gegeben hatte, war eine ältliche Frau; sie hatte kein Wort mit ihm gesprochen und war sehr eilig südwärts davon gegangen. Das war Alles, was der Bursche uns sagen konnte.

Das Dorf lag südwärts vom Hause; folglich gingen wir dann ins Dorf.



Kapiteltrenner

XI.

Wir setzten unsere Nachfragen in Limmeridge geduldig in allen Richtungen und unter allen Arten von Leuten fort, aber immer noch erfolglos. Drei von den Dorfleuten versicherten uns allerdings, daß sie die Frau gesehen hatten; da es ihnen jedoch unmöglich war, sie zu beschreiben, und sie durchaus nicht über die Richtung einig werden konnten, welche sie eingeschlagen hatte, als sie sie zuletzt gesehen, so gewährten uns diese drei glänzenden Ausnahmen von der allgemeinen Regel totaler Unwissenheit keinen größeren Beistand, als die Masse ihrer nutzlosen und unaufmerksamen Nachbarn.

Der Verlauf unserer erfolglosen Nachforschungen brachte uns mit der Zeit an das Ende des Dorfes, wo die von Mrs. Fairlie errichteten Schulen waren. Als wir an der Seite des Gebäudes entlang gingen, welches dem Gebrauche der Knaben gewidmet war, schlug ich vor, eine letzte Nachfrage bei dem Schulmeister anzustellen, von dem wir zufolge seines Amtes wohl annehmen durften, daß er der intelligenteste Mann im Orte sei.

»Ich fürchte, der Schulmeister muß mit seinen Schülern beschäftigt gewesen sein,« sagte Miß Halcombe, »als die Frau durch das Dorf hin und zurück ging. Indessen, wir können es ja versuchen.«

Wir traten in den eingeschlossenen Spielplatz und gingen an dem Schulstubenfenster vorbei, um zu der Eingangsthür zu gelangen, welche auf der Hinterseite des Hauses war. Ich stand einen Augenblick vor dem Fenster stille und sah hinein.

Der Schulmeister saß auf seinem Katheder, mit dem Rücken mir zugewandt, dem Anscheine nach seinen Schülern, die mit einer Ausnahme vor ihm standen, eine Rede haltend. Diese eine Ausnahme war ein derber weißblonder Bube, der von allen Anderen getrennt, allein in einer Ecke stand – wie ein verlassener kleiner Crusoe in der traurigen Abgeschiedenheit seiner wüsten Insel von einsamer Schande und Strafe.

Als wir zur Thür herum kamen, fanden wir dieselbe halb geöffnet und die Stimme des Schulmeisters drang deutlich bis zu uns hin, als wir einen Augenblick im Vorhäuschen stille standen.

»Jetzt, Jungen,« sagte die Stimme, »paßt auf, was ich euch sagen werde. Wenn ich in dieser Schule noch ein Wort von Gespenstern sagen höre, so soll es euch Allen schlimm ergehen. Es gibt keine Gespenster, und wenn daher ein Junge an Gespenster glaubt, so glaubt er an etwas Unmögliches; und ein Junge, der zu der Schule von Limmeridge gehört und an etwas Unmögliches glaubt, sträubt sich gegen alle Vernunft und Disciplin und muß folglich bestraft werden. Ihr Alle seht Jacob Pastlethwaite, der dort zur Strafe in der Ecke auf dem Schemel steht. Er ist bestraft worden – nicht, weil er gesagt hat, daß er gestern Abend ein Gespenst gesehen, sondern weil er zu frech und halsstarrig ist, um Vernunft anzunehmen, und weil er darauf besteht, zu behaupten, daß er ein Gespenst gesehen hat, nachdem ich ihm gesagt habe, daß dies unmöglich ist. Falls es mir nicht auf andere Weise gelingt, ihn zu überzeugen, so beabsichtige ich Jacob Pastlethwaite das Gespenst auszuprügeln, und falls sein Glaube sich unter euch verbreiten sollte, beabsichtige ich, noch einen Schritt weiter zu thun und der ganzen Schule das Gespenst auszuklopfen.«

»Es scheint, wir haben einen ungünstigen Augenblick zu unserem Besuche gewählt,« sagte Miß Halcombe, indem sie am Schlusse der Rede des Schulmeisters die Thür aufstieß und mir voran ging.

Unser Erscheinen machte große Sensation unter den Knaben. Sie schienen zu denken, daß wir ausdrücklich, um Jacob Pastlethwaite durchprügeln zu sehen, hinkämen.

»Geht Alle zu eurem Mittagessen nach Hause,« sagte der Schulmeister, »ausgenommen Jacob. Jacob muß bleiben, wo er ist, und das Gespenst mag ihm sein Mittagessen bringen, wenn er Lust hat.«

Jacobs Standhaftigkeit verließ ihn bei dem doppelten Unglücke des Verlustes seiner Schulkameraden und seines Mittagessens. Er zog seine Hände aus den Taschen, blickte fest auf seine Knöchel, erhob sie nach kurzer Ueberlegung zu seinen Augen, und als sie dort angelangt, drehte er sie in denselben um und um, während er die Handlung mit kurzem, krampfhaftem Schnüffeln begleitete, welches in regelmäßigen Zwischenräumen stattfand – die nasalen Minutenschüsse kindlichen Schmerzes.

»Wir kamen, um eine Frage an Sie zu thun, Mr. Dempster,« sagte Miß Halcombe, zum Schulmeister gewendet, »und waren wenig darauf vorbereitet, Sie damit beschäftigt zu finden, ein Gespenst zu beschwören, was soll dies Alles bedeuten? Was hat sich in Wirklichkeit zugetragen?«

»Dieser böse Bube, Miß Halcombe, hat die ganze Schule in Angst gejagt, indem er behauptet, gestern Abend ein Gespenst gesehen zu haben,« antwortete der Schulmeister. »Und trotz Allem, was ich ihm sagen kann, bleibt er noch immer bei seiner albernen Geschichte.«

»Sehr sonderbar,« sagte Miß Halcombe. »Ich hätte kaum geglaubt, das unsere Knaben Einbildungskraft genug besäßen, um ein Gespenst zu sehen. Dies ist in der That ein neuer Zuwachs zu der schweren Arbeit, den Geist der Jugend von Limmeridge zu bilden – und ich wünsche Ihnen von Herzen, daß Sie es bald überstanden haben mögen, Mr. Dempster. Inzwischen erlauben Sie mir, Ihnen zu erklären, weshalb Sie mich hier sehen und was ich wünsche.«

Sie legte dann dem Schulmeister dieselbe Frage vor, die wir schon an fast alle Bewohner des Dorfes gerichtet hatten. Er gab dieselbe entmuthigende Antwort. Mr. Dempster hatte die Fremde, welche wir suchten, mit keinem Auge gesehen.

»Ich denke, wir können nun nach Hause zurückkehren, Mr. Hartright,« sagte Miß Halcombe; »es ist offenbar, daß wir die gewünschte Auskunft nicht erlangen werden.«

Sie hatte sich gegen Mr. Dempster verbeugt und war im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als die verlassene Lage Jacob Pastlethwaite’s, der auf seinem Bußschemel schnüffelte, daß es zum Erbarmen war, ihre Aufmerksamkeit auf sich zog, als sie an ihm vorbeiging und sie still zu stehen bewog, um ein paar freundliche Worte zu dem armen Gefangenen zu sprechen, ehe sie hinausging.

»Du närrischer Knabe,« sagte sie, »warum bittest Du nicht Mr. Dempster um Verzeihung und hörst nun von dem Gespenst auf?«

»Was! – aber ich hab’s doch gesehen,« sagte Jacob Pastlethwaite mit einem Blicke des Entsetzens, begleitet von einer Thränenfluth.

»Unsinn! Du hast Nichts dergleichen gesehen. Mit Deinem Gespenste! Was für ein Gespenst –«

»Ich bitte um Verzeihung, Miß Halcombe,« unterbrach sie der Schulmeister ein wenig unruhig – »aber ich glaube, es wäre besser, wenn Sie den Knaben nicht befragen wollten. Die halsstarrige Narrheit seiner Geschichte ist unglaublich, und Sie könnten ihn verleiten, in seiner Dummheit –«

»In seiner Dummheit – was?« frug Miß Halcombe schnell.

»In seiner Dummheit Ihre Gefühle zu verletzen,« sagte Mr. Dempster, indem er außerordentlich verwirrt aussah.

»Wirklich, Mr. Dempster, Sie machen meinen Gefühlen ein großes Compliment, wenn Sie denken; daß sie schwach genug sind, um von diesem kleinen Buben verletzt zu werden!« Sie wandte sich mit einer Miene spöttischer Herausforderung zum kleinen Jacob und begann ihn sofort, ihn auszufragen. »Komm!« sagte sie; »ich beabsichtige, die ganze Geschichte zu erfahren. Du unartiger kleiner Bursch, wann hast Du das Gespenst gesehen?«

»Gestern Abend, im Schummern,« entgegnete Jacob.

»O! Du sahst das Gespenst gestern Abend im Zwielichte? Und wie sah es aus?«

»Es war ganz in Weiß – wie ein G’spinst sein sollte,« antwortete der Geisterseher mit einer Zuversicht, die über seine Jahre war.

»Und wo war es?«

»Da drüben, im Kirchhof – wo ein G’spinst hin gehört?«

»Wie ein ›G’spinst‹ sein sollte – wo ein ›G’spinst‹ hingehört – ei, Du kleiner Narr, Du sprichst ja, als ob Du seit Deiner frühesten Jugend mit den Sitten und Gewohnheiten der Gespenster vertraut gewesen wärst. Jedenfalls weißt Du Deine Geschichte gut auswendig, vermuthlich wirst Du sogar noch im Stande sein, mir zu sagen, wessen Gespenst es war?«

»Was! – Das kann ich auch,« entgegnete Jacob und nickte mit einer Miene finsteren Triumphes mit dem Kopfe.

Mr. Dempster hatte schon verschiedene Male zu sprechen versucht, während Miß Halcombe seinen Schüler examinirte und er legte sich jetzt entschlossen genug dazwischen, um gehört zu werden.

»Verzeihen Sie, Miß Halcombe,« sagte er, »wenn ich zu sagen wage, daß Sie den Knaben durch diese Fragen nur noch bestärken.«

»Ich will ihn nur noch eins fragen, Mr. Dempster, und dann völlig befriedigt sein. Nun«, fuhr sie, zu dem Knaben gewendet, fort, »wessen Geist war es also?«

»Der Geist von Mistreß Fairlie,« flüsterte der Knabe.

Die Wirkung dieser seltsamen Antwort auf Miß Halcombe war der Art, daß sie vollkommen die Besorgniß des Schulmeisters rechtfertigte, mit der er sie zu verhindern gesucht hatte, sie zu hören. Ihr Gesicht wurde purpurroth vor Entrüstung – sie wandte sich mit einer so zornigen Schnelligkeit zum kleinen Jacob, daß er von Neuem in einen Strom von Thränen ausbrach – öffnete die Lippen, wie um mit ihm zu sprechen – dann faßte sie sich – und wandte sich, anstatt zum Knaben, zu dem Lehrer.

»Es ist unnütz«, sagte sie, »ein Kind wie dieses für das, was es sagt, verantwortlich zu machen. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, daß die Idee ihm von Anderen in den Kopf gesetzt worden ist. Falls es in diesem Dorfe Leute gibt, Mr. Dempster, welche die Achtung und Dankbarkeit vergessen haben, welche jede Seele unter ihnen dem Andenken meiner Mutter schuldig ist, so will ich sie herausfinden; und wenn ich irgendwie Einfluß auf Mr. Fairlie habe, so sollen sie es fühlen.«

»Ich hoffe – gewiß, ich bin überzeugt, Miß Halcombe, daß Sie im Irrthum sind,« sagte der Schulmeister. »Die Sache beginnt und endet mit dieses Burschen Eigensinn und Narrheit. Er sah, oder bildet es sich wenigstens ein, gestern Abend, als er am Kirchhofe vorüber ging, eine Frau in Weiß, und die Gestalt, ob eine wirkliche oder eingebildete, stand neben dem Marmorkreuze, das allen Leuten in Limmeridge als das Monument auf Mrs. Fairlie’s Grabe bekannt ist. Sind nicht diese Umstände hinreichend, um dem Knaben selbst die Antwort einzugeben, die sie natürlicherweise so sehr verletzt hat?«

Obgleich Miß Halcombe nicht überzeugt zu sein schien, so fühlte sie doch offenbar, daß des Schulmeisters Darstellung der Sache eine zu verständige sei, um sie offen zu bestreiten. Sie antwortete blos, indem sie ihm für seine Aufmerksamkeit dankte und ihm versprach, ihn wieder zu besuchen, sobald ihre Zweifel beseitigt seien. Darauf grüßte sie ihn und verließ das Zimmer.

Während dieses ganzen seltsamen Auftrittes hatte ich beiseite gestanden, aufmerksam zugehört und dabei meine eigenen Schlüsse gezogen. Sobald wir wieder allein waren, fragte mich Miß Halcombe, ob ich irgend eine Meinung gefaßt über das, was ich gehört habe.

»Eine sehr entschiedene Meinung,« erwiderte ich. »Des Knaben Geschichte hat, wie ich überzeugt bin, ihre Grundlage in einer Thatsache. Ich gestehe, daß ich sehr gern das Monument auf Mrs. Fairlie’s Grabe sehen und den Boden umher untersuchen möchte.«

»Sie sollen das Grab sehen.«

Sie schwieg, nachdem sie dies gesagt, und sann ein wenig nach, während wir weiter gingen. »Das, was sich in der Schulstube ereignet hat,« sagte sie dann, »hat so vollständig meine Aufmerksamkeit von der Briefgeschichte abgezogen, daß ich ein wenig verwirrt bin, wenn ich darauf zurückzukommen versuche. Sollen wir den Gedanken an alle ferneren Nachforschungen aufgeben und warten, bis wir die Sache morgen Mr. Gilmore’s Händen übergeben können?«

»Durchaus nicht, Miß Halcombe. Was sich im Schulzimmer zugetragen hat, ermuthigt mich, unsere Nachforschungen fortzusetzen.«

»Warum ermuthigt es Sie?«

»Weil es einen Verdacht bestärkt, den ich fühlte, als Sie mir den Brief zu lesen gaben.«

»Sie hatten vermutlich Ihre Gründe, Mr. Hartright, wenn Sie mir diesen Verdacht bis jetzt verhehlten?«

»Ich fürchtete mich, ihn in mir selbst aufkommen zu lassen. Ich hielt ihn für völlig widersinnig – und mißtraute ihm als dem Erfolge eines Eigensinnes in meiner Phantasie. Aber ich kann dies jetzt nicht mehr. Nicht nur des Knaben Antworten auf Ihre Fragen, sondern auch ein zufälliger Ausdruck, welcher dem Schulmeister entfiel, als er seine Geschichte erklärte, haben mit Gewalt die Idee in meinen Geist zurückgerufen. Kommende Ereignisse mögen diese Idee noch als eine Sinnestäuschung ausweisen, Miß Halcombe; aber ich habe in diesem Augenblicke den festen Glauben, daß das eingebildete Gespenst im Kirchhofe und – der Schreiber des anonymen Briefes eine und dieselbe Person sind.«

Sie stand stille, erblaßte und sah mir begierig in’s Gesicht.

»Welche Person?«

»Der Schulmeister sagte es Ihnen unbewußterweise. Als er von der Gestalt sprach, welche der Knabe im Kirchhofe gesehen hatte, nannte er sie ›eine Frau in Weiß‹«.

»Doch nicht Anna Catherick –!«

»Ja, Anna Catherick.«

Sie legte ihren Arm durch den meinigen und lehnte sich schwer darauf.

»Ich weiß nicht warum,« sagte sie mit leiser Stimme, »aber es ist etwas in Ihrem Argwohne, das mich zu erschrecken und niederzudrücken scheint. Mir ist –« sie hielt inne und versuchte darüber zu lachen. »Mr. Hartright,« fuhr sie fort, »ich will Ihnen das Grab zeigen und dann in’s Haus zurückkehren. Ich möchte Laura lieber nicht zu lange allein lassen. Ich will lieber zu ihr gehen und bei ihr bleiben.«

Wir waren ganz nahe bei dem Kirchhofe, als sie dies sagte. Die Kirche, ein trauriges Gebäude von grauem Stein, lag in einem kleinen Thale, so daß sie gegen die rauhen Winde geschützt war, welche rings von der Haide herkamen. Der Begräbnißplatz zog sich von der Seite der Kirche ein wenig den Hügel hinauf. Derselbe war von einer rohen niedrigen Steinmauer umgeben und lag ganz frei da, außer an der Stelle, wo ein kleiner Bach rann und ein Gebüsch von kleinen Bäumen deren schmale Schatten auf das kurze, magere Gras warf. Gerade jenseits des Baches und der Bäume und nicht weit von den drei steinernen Tritten, über die man an verschiedenen Stellen in den Kirchhof stieg, erhob sich das weiße Marmorkreuz, welches Mrs. Fairlie’s Grab von den bescheidenen Monumenten, die es umgaben, unterschied.

»Ich brauche nicht weiter mit Ihnen zu gehen,« sagte Miß Halcombe, auf das Grab deutend. »Sie werden mich davon unterrichten, wenn Sie irgend etwas entdecken, um die Idee zu bestätigen, deren Sie soeben zu mir erwähnten. Wir werden uns zu Hause wiedersehen.«

Sie verließ mich. Ich ging sofort in den Kirchhof hinab und stieg über den Tritt, welcher direkt zu Mrs. Fairlie’s Grabe führte.

Das Gras umher war zu kurz und der Boden zu hart, um Fußspuren zu zeigen. Hierin getäuscht, betrachtete ich dann aufmerksam das Kreuz und den viereckigen Marmorblock unter demselben, in welchen die Inschrift gravirt war.

Die natürliche Weiße des Kreuzes hatte hie und da vom Wetter gelitten, und etwas mehr als die Hälfte des Blockes war auf der Seite, welche die Inschrift trug, in demselben Zustande. Die andere Hälfte indessen zog sogleich durch ihre vollkommene Sauberkeit meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich sah näher darauf hin und bemerkte, daß sie gereinigt – ganz kürzlich gereinigt worden war, in einer Richtung von oben nach unten. Die Linie zwischen dem gereinigten und dem nicht gereinigten Theile war an der Stelle zu erkennen, wo die Inschrift den Marmor frei ließ – deutlich als eine Linie zu erkennen, welche durch künstliche Mittel hervorgebracht worden. Wer hatte das Reinigen des Marmors angefangen, und wer hatte es unbeendet gelassen?

Ich schaute umher voll Neugierde, das Räthsel zu lösen. Von der Stelle, an der ich stand, war keine Wohnung zu sehen: der Begräbnißplatz war im ausschließlichen Besitze der Todten. Ich kehrte zur Kirche zurück und ging daran hin, bis ich zur Hinterseite des Gebäudes kam; dann stieg ich vermittelst eines der anderen Tritte über die Grenzmauer und fand mich am Eingange eines Pfades, welcher zu einem verlassenen Steinbruche führte. Gegen die eine Seite dieses Steinbruches lehnte sich eine kleine zweistubige Wohnung; und vor der Thür war eine alte Frau mit Wäsche beschäftigt.

Ich ging zu ihr heran und fing eine Unterhaltung über die Kirche und den Begräbnißplatz an. Sie ging bereitwillig genug darauf ein, und gleich die ersten Worte, die sie sprach, unterrichteten mich, daß ihr Mann das Amt des Küsters und Todtengräbers innehabe. Ich sagte dann ein paar lobende Worte in Bezug auf Mrs. Fairlie’s Monument. Die alte Frau schüttelte den Kopf und sagte mir, ich hätte es in keinem vortheilhaften Zustande gesehen. Es wäre ihres Mannes Geschäft, danach zu sehen, aber er sei schon seit vielen Monaten so schwächlich und unwohl, daß er nur mit der größten Anstrengung im Stande gewesen, Sonntags nach der Kirche zu schleichen, um sein Amt zu verrichten, und das Monument sei in Folge dessen etwas vernachlässigt. Er sei jetzt etwas in der Besserung und hoffe, in einer Woche oder zehn Tagen kräftig genug zu sein, um sich daran zu machen und es zu reinigen.

Dieser Bericht – den ich aus einer langen, weitschweifigen Antwort im breitesten cumberländischen Dialekte herauszuschälen hatte – sagte mir Alles, was ich besonders zu wissen wünschte. Ich gab der armen Frau eine Kleinigkeit und kehrte sofort nach Limmeridge House zurück.

Die theilweise Säuberung des Monumentes war also offenbar durch eine fremde Hand geschehen. Indem ich das, was ich bis hierher entdeckt hatte, mit dem zusammenhielt, was ich geargwöhnt, als ich von dem Erscheinen des Gespenstes im Zwielichte gehört hatte, bedurfte es weiter Nichts, meinen Entschluß, heute Abend heimlich Mrs. Fairlie’s Grab zu bewachen, zu befestigen; ich beschloß, um Sonnenuntergang dorthin zurückzukehren und im Gesichtskreise desselben bis Einbruch der Nacht zu warten. Die Säuberung des Monumentes war unbeendet geblieben, und die Person, welche sie angefangen, mochte vielleicht zurückkehren, um sie zu beenden.

Als ich im Hause anlangte, unterrichtete ich Miß Halcombe von dem, was ich zu thun beabsichtigte. Sie sah überrascht und beunruhigt aus, während ich ihr meine Absicht erklärte; aber sie machte keinen entschiedenen Einwurf gegen die Ausführung desselben. Sie sagte nur, »ich hoffe, es mag glücklich enden«. Gerade als sie mich wieder verließ, hielt ich sie zurück, um sie so ruhig, als es mir möglich war, nach Miß Fairlie’s Befinden zu fragen. Sie war weniger traurig und Miß Halcombe hoffte es über sie zu vermögen, daß sie sich ein wenig Bewegung in freier Luft mache, solange die Nachmittagssonne scheine.

Ich kehrte auf mein Zimmer zurück, um mit dem Ordnen der Zeichnungen fortzufahren. Es war nothwendig, daß ich dies that, und doppelt nothwendig, damit ich meinen Geist mit irgend etwas beschäftigte, das meine Aufmerksamkeit von mir selbst und von der hoffnungslosen Zukunft abzöge, die vor mir lag. Von Zeit zu Zeit hielt ich in meiner Arbeit inne, um aus dem Fenster zu schauen und den Himmel zu beobachten, als die Sonne tiefer und tiefer zum Horizont hinabsank. Bei einer solchen Gelegenheit erblickte ich auf dem breiten Kieswege unter meinem Fenster eine Gestalt. Es war Miß Fairlie. –

Ich hatte sie seit dem Morgen nicht gesehen und selbst da fast kein Wort mir ihr gesprochen. Es blieb mir nur noch ein Tag in Limmeridge und nach diesem Tage sollten meine Augen sie vielleicht nie wieder sehen. Dieser Gedanke genügte, um mich am Fenster festzuhalten. Ich war rücksichtsvoll genug gegen sie, um die Vorhänge so zurecht zu schieben, daß sie mich nicht sehen konnte, falls sie hinaufblicken sollte; aber ich hatte nicht die Kraft, der Versuchung zu widerstehen, ihr mit den Augen zu folgen, soweit dies auf ihrem Spaziergange geschehen konnte.

Sie trug einen braunen Mantel und darunter ein einfaches seidenes Kleid. Ihren Kopf bedeckte derselbe runde Strohhut, den sie an jenem Morgen getragen, wo ich sie zum ersten Male gesehen hatte. Es war jetzt ein Schleier daran befestigt, welcher mir ihr Gesicht verbarg. Neben ihr lief ihr kleines italienisches Windspiel, der Gefährte all ihrer Spaziergänge, der eine schöne, scharlachrothe Tuchdecke trug, um seine zarte Haut gegen die rauhe Luft zu schützen. Sie schien den Hund nicht zu bemerken, sondern ging gerade aus, den Kopf ein wenig gesenkt und die Arme unter dem Mantel verschlungen. Die welken Herbstblätter, welche im Winde vor mir gerauscht hatten, als ich am Morgen von ihrer Heirat hörte, rauschten jetzt im Winde vor ihren Füßen, als sie in dem matten, erblassenden Sonnenlichte dahin ging. Der kleine Hund schauerte zusammen und zitterte und drängte sich an ihr Kleid, damit sie ihn bemerke und ermuntere. Aber sie ließ ihn unbeachtet. Sie ging dahin, immer weiter fort von mir, und die welken Blätter rauschten auf ihrem Pfade um sie her – sie ging dahin, bis meine wehen Augen sie nicht mehr sahen, und ich wieder allein war mit meinem schweren Herzen.

Eine Stunde später war ich mit meiner Arbeit zu Ende, und die Sonne neigte sich zum Untergange. Ich holte mir meinen Hut und Ueberrock aus der Vorhalle und schlüpfte aus dem Hause, ohne Jemandem zu begegnen.

Die Wolken standen drohend am westlichen Himmel und ein kalter Wind blies vom Meere her. Ungeachtet der Entfernung des Meeresufers, strich doch das Getöse der Brandung über das Heideland herüber und schlug düster an meine Ohren, als ich in den Kirchhof trat. Kein lebendes Wesen war zu sehen. Der Ort sah verlassener aus denn je, als ich meine Stellung einnahm, in der ich beobachtend verharrte, die Augen auf das weiße Kreuz über Mrs. Fairlie’s Grabe geheftet.



Kapiteltrenner

XII.

Die offene Lage des Kirchhofes hatte mich genöthigt, die Wahl meines Beobachtungspostens mit Umsicht zu treffen.

Der Haupteingang zur Kirche war auf der Seite des Begräbnißplatzes und die Thür durch eine mit einer Mauer umgebene Vorhalle verborgen. Nach kurzem Zögern, das aus einem natürlichen Widerwillen, mich zu verstecken, entsprang, wie unvermeidlich dies Verstecken auch bei dem Zwecke, den ich im Auge hatte, sein mochte, beschloß ich, in diese Vorhalle zu treten. In jeder der Seitenmauern war ein rundes Fenster. Durch das eine derselben konnte ich Mrs. Fairlie’s Grab sehen. Das andere ging nach dem Steinbruch hin, wo die Hütte des Todtengräbers stand. Vor mir, dem Eingange der Vorhalle gegenüber, lag ein Stück kahlen Begräbnißbodens, ein Ende von der niedrigen Steinmauer und ein Streifen des einsamen braunen Hügels, über den die Sonnenuntergangswolken schwer vor dem starken Winde dahinstrichen. Kein lebendes Wesen war zu hören oder zu sehen – kein Vogel flog vorüber; kein Hund bellte in des Todtengräbers Hütte. Die Pausen in dem dumpfen Tosen der Brandung füllte das trübe Rauschen der kleinen Bäume neben dem Grabe und das kalte, schwache Murmeln des Baches, wie er in seinem steinernen Bette dahinkroch. Ein düsterer Ort und eine düstere Stunde. Mein Geist wurde trauriger, als ich in meinem Verstecke in der Vorhalle der Kirche die langen Minuten des Abends zählte.

Es war noch nicht im Halbdunkel – das Licht der untergehenden Sonne zögerte noch am Himmel, und wenig über eine halbe Stunde war verflossen, nachdem ich meinen Posten eingenommen hatte, als ich Schritte und eine Stimme hörte. Die Schritte kamen von der entgegengesetzten Seite der Kirche, und die Stimme war eine weibliche.

»Sorge Du Dich nicht um den Brief, mein liebes Kind,« sagte die Stimme. »Ich habe ihn sicher in die Hände des Burschen gegeben und der Bursche nahm ihn, ohne ein Wort zu sagen. Er ging seiner Wege und ich der meinigen und es folgte mir keine lebende Seele – dafür stehe ich ein.«

Diese Worte trieben meine Aufmerksamkeit auf einen Grad der Erwartung, der beinahe schmerzhaft war. Es trat eine Pause im Gespräche ein, aber die Schritte kamen immer näher. Einen Augenblick später gingen zwei Personen, beide Frauen, innerhalb meines Gesichtskreises an dem Fenster der Vorhalls vorbei. Sie gingen gerade auf das Grab zu und wandten mir daher den Rücken zu.

Eine der beiden Frauen trug einen Hut und Shawl, die andere einen langen Reisemantel von dunkelblauer Farbe, dessen Kappe sie über den Kopf gezogen hatte. Einige Zoll ihres Kleides waren unter dem Mantel sichtbar. Mein Herz schlug heftig, als ich die Farbe unterschied – es war weiß.

Als sie etwa auf halbem Wege Zwischen der Kirche und dem Grabe angelangt waren, standen sie still und die Frau im Mantel drehte den Kopf zu ihrer Begleiterin hin. Aber ihr Profil, das ein Hut mir jetzt zu sehen erlaubt hätte, war durch die schwere, vorstehende Kante ihrer Kappe verborgen.

»Behalte mir ja den warmen Mantel um,« sagte dieselbe Stimme, welche ich schon vorher gehört hatte – die Stimme der Frau mit dem Shawl. »Mrs. Todd hat Recht, wenn sie sagt, daß Du gestern zu auffallend aussahst, so ganz in Weiß. Ich will ein bißchen umher spazieren, solange Du hier bist, denn Kirchhöfe sind durchaus nicht mein Geschmack, wie sehr sie auch dir gefallen mögen. Mache nur das, was Du zu thun hast, fertig, bis ich zurückkomme, und lasse uns auf jeden Fall vor Einbruch der Nacht wieder zu Hause sein.«

Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging mit dem Gesichte mir zugewendet denselben Weg zurück. Es war das Gesicht einer ältlichen Frau, bräunlich, scharf und gesund, in dessen Ausdrucke Nichts Unehrliches oder Verdächtiges lag. Dicht bei der Kirche stand sie still, um sich fester in ihren Shawl zu hüllen.

»Sonderbar,« sagte sie, »immer sonderbar in ihren Launen und Ideen, solange ich mich ihrer erinnern kann. Aber harmlos – so harmlos, arme Seele, wie ein kleines Kind.«

Sie seufzte, schaute ängstlich über den Begräbnißplatz hin, schüttelte den Kopf, als ob der düstere Anblick ihr keineswegs behage, und verschwand, indem sie um die Ecke der Kirche bog.

Ich war einen Augenblick unschlüssig, ob ich ihr folgen und mit ihr sprechen solle oder nicht. Mein heftiges Verlangen, mich ihrer Begleiterin gegenüber zu sehen, bestimmte mich zu letzterem. Ich konnte mich eines Zusammentreffens mit der Frau im Shawl versichern, indem ich in der Nähe des Kirchhofes ihre Rückkehr erwartete – obgleich es mehr als zweifelhaft schien, ob sie mir die Aufklärung werde geben können, nach der ich forschte. Die Person, welche den Brief abgegeben hatte, war von unbedeutender Wichtigkeit; die aber, welche ihn geschrieben, war der Mittelpunkt des Interesses und die Quelle der Aufklärung; und diese Person stand meiner Ueberzeugung nach jetzt vor mir auf dem Kirchhofe.

Während diese Gedanken mir durch den Kopf gingen, sah ich die Frau im Mantel dicht an das Grab herantreten und es eine Weile still betrachten. Sie blickte dann rund um sich, und ein weißes Leinwandtuch unter ihrem Mantel hervorziehend, wandte sie sich dem Bache zu. Der kleine Strom rann unter einer Oeffnung in der Mauer in den Kirchhof hinein, und nachdem er innerhalb desselben einen Bogen beschrieben, floß er unter einer ebensolchen wieder hinaus. Sie tauchte das Tuch in das Wasser und kehrte zum Grabe zurück. Ich sah sie das weiße Kreuz küssen, dann vor der Anschrift niederknien und sich anschicken, das Monument mit dem weißen Tuche zu reinigen.

Nachdem ich bei mir überlegt, wie ich mich ihr am besten zeigen könne, ohne sie zu erschrecken, beschloß ich, an der Stelle vor mir über die Mauer zu steigen, dann außen an derselben entlang zu gehen und über den Tritt nahe bei dem Grabe in den Kirchhof zu treten, damit sie mich kommen sehen möge. Sie war indeß so sehr in ihre Beschäftigung vertieft, daß sie mich nicht eher kommen hörte, als bis ich über den Tritt gestiegen war. Dann blickte sie auf, sprang mit einem schwachen Ausrufe auf ihre Füße und stand mir mit sprach- und regungslosem Schrecken gegenüber.

»Erschrecken Sie nicht,« sagte ich, »Sie erinnern sich meiner doch gewiß?«

Ich stand still, während ich sprach – dann trat ich langsam ein paar Schritte näher – stand wieder still – und ging so nach und nach zu ihr heran, bis ich dicht neben ihr stand. Hätte ich noch irgendwie Zweifel gehegt, so mußte derselbe jetzt weichen. Da, mir gegenüber an Mrs. Fairlie’s Grabe sah ich dasselbe Gesicht, das ich in jener Nacht auf der Landstraße zum ersten Male erblickt hatte.

»Sie erinnern sich meiner?« sagte ich. »Wir begegneten einander sehr spät, und ich half Ihnen, den Weg nach London zu finden. Sie haben doch das nicht vergessen?«

Ihre Züge erheiterten sich, und sie that einen tiefen Athemzug der Erleichterung. Ich sah das neue Leben des Erkennens sich langsam unter der todtenähnlichen Ruhe regen, welche die Furcht auf ihr Gesicht gerufen hatte.

»Versuchen Sie noch nicht, mit mir zu sprechen,« fuhr ich fort, »lassen Sie sich Zeit, um sich zu erholen – lassen Sie sich Zeit, um sich zu überzeugen, daß ich Ihr Freund bin.«

»Sie sind sehr gütig gegen mich,« flüsterte sie, »ebenso gütig jetzt, wie damals.«

Sie schwieg, und auch ich vermochte Nichts zu sagen. Ich ließ nicht nur ihr Zeit, sich zu fassen, sondern wünschte auch für mich Zeit zu gewinnen. – Noch einmal waren jene Frau und ich einander in dem bleichen, milden Abendlichte begegnet; zwischen uns ein Grab, um uns her die Todten und rings auf allen Seiten die einsamen, finsteren Hügel. Die Stunde, der Ort, die Umstände, unter denen wir jetzt in der Abendstille jenes öden Thales einander gegenüberstanden; das lebenslange Interesse, das jetzt von dem Worte abhängen mochte, das zuerst gesprochen würde; der Gedanke, daß, soviel mir bewußt, Laura Fairlie’s ganze Zukunft, Wohl oder Wehe entschieden werden sollte, und zwar dadurch, daß ich das Vertrauen des unglücklichen Wesens, das jetzt zitternd am Grabe ihrer Mutter stand, entweder gewönne oder verlöre – Alles dies drohte die Festigkeit und Fassung zu erschüttern, von der jeder Zoll der Fortschritte abhing, die mir noch zu machen übrig blieben. Als ich dies fühlte, suchte ich mich zu sammeln; ich that mein Möglichstes, um von meinem kurzen Nachdenken den besten Nutzen zu ziehen.

»Sind Sie jetzt beruhigt?« fragte ich sie, sobald ich glaubte, daß es Zeit sei, wieder zu sprechen. »Können Sie mit mir sprechen, ohne sich zu fürchten oder zu vergessen, daß ich Ihr Freund bin?«

»Wie kamen Sie hierher?« fragte sie, ohne zu beachten, was ich gesagt hatte.

»Erinnern Sie sich nicht, daß ich Ihnen, als wir uns das letzte Mal sahen, erzählte, ich würde nach Cumberland reisen? Ich bin also seit der Zeit in Cumberland gewesen; ich habe die ganze Zeit in Limmeridge House zugebracht.«

»In Limmeridge House!« Ihr blasses Gesicht erhellte sich, als sie die Worte wiederholte; ihre unsteten Augen hefteten sich voll Interesse auf mich. »Ach, da müssen Sie sehr glücklich gewesen sein!« sagte sie, indem sie mich begierig ansah und ohne daß noch eine Spur ihres ehemaligen Mißtrauens in ihrem Gesichte zu sehen war.

Ich benutzte ihr neu erwecktes Vertrauen zu mir, um ihr Gesicht mit einer Aufmerksamkeit und Neugier zu prüfen, welche zu verrathen ich vorsichtshalber mich bisher enthalten hatte. Ich sah sie an, während jenes andere liebliche Gesicht, das mich an dieses auf so bedeutungsvolle Weise jenen Abend im Mondschein auf der Terrasse erinnert hatte, meine Gedanken füllte. Ich hatte Anna Catherick’s Aehnlichkeit mit Miß Fairlie gesehen und jetzt sah ich Miß Fairlie’s Aehnlichkeit mit Anna Catherick – sah sie umso deutlicher, weil die Unähnlichkeiten zwischen Beiden sowohl als ihre Aehnlichkeiten vor mir waren. In dem allgemeinen Umrisse des Gesichtes und im Verhältniß der Züge; in der Farbe des Haares und der nervösen kleinen Unsicherheit der Lippen; in der Größe und Form der Gestalt und in der Haltung des Kopfes und Körpers erschien mir die Aehnlichkeit auffallender denn je vorher. Doch da endete dieselbe, und die Unähnlichkeit in Einzelheiten begann. Die zarte Schönheit von Miß Fairlie’s Hautfarbe, die durchsichtige Klarheit ihrer Augen, die weiche Reinheit ihrer Haut, die blühende Farbe auf ihren Lippen, Alles dies fehlte auf dem abgemagerten müden Gesichte, das jetzt dem meinigen zugewendet war. Obgleich ich mich dafür haßte, so drängte sich mir doch unwillkürlich, indem ich die Frau vor mir anblickte, der Gedanke auf, daß Nichts als ein einziger trauriger Wechsel der Zukunft fehlte, um die Aehnlichkeit vollkommen zu machen, die ich jetzt in ihren Einzelheiten unvollkommen fand. Falls jemals Kummer und Leiden ihren entweihenden Stempel auf Miß Fairlie’s Jugend und Schönheit drückten, dann, und nur dann erst, würden sie und Anna Catherick die Zwillingsschwestern zufälliger Aehnlichkeit, das leibhafte Abbild von einander sein.

Mir schauderte es bei dem Gedanken. Es war etwas Furchtbares in dem blinden, unüberlegten Mißtrauen gegen die Zukunft, welches das bloße Auftauchen desselben in meinem Geiste anzudeuten schien. Es war mir eine willkommene Unterbrechung, als das Gefühl von Anna Catherick’s Hand auf meiner Schulter mich zu mir selbst zurückrief. Die Berührung war ebenso heimlich und plötzlich wie jene, welche mich vom Kopfe bis zu den Füßen hatte erstarren lassen in der Nacht, wo wir zuerst einander begegneten.

»Sie sehen mich an und Sie denken an etwas,« sagte sie mit ihrer seltsamen, athemlosen Schnelligkeit der Sprache, »was ist es?«

»Nichts Besonderes,« entgegnete ich, »ich dachte nur daran, wie Sie hierher gekommen seien.«

»Ich kam mit einer Freundin, die sehr gut gegen mich ist. Ich bin erst seit zwei Tagen hier.«

»Und Sie fanden gestern den Weg hierher?«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich errieth es blos.«

Sie wandte sich von mir und kniete wieder vor der Inschrift nieder.

»Wohin sollte ich gehen, wenn nicht hierher?« sagte sie. »Sie, die mir mehr als eine Mutter war, ist die einzige Freundin, welche ich in Limmeridge aufzusuchen habe. O, es thut meinem Herzen weh, einen Flecken auf ihrem Grabsteine zu sehen! er sollte weiß wie Schnee gehalten werden um ihretwillen. Ich gab gestern der Versuchung nach, ihn zu reinigen, und mußte heute wiederkommen, um es zu vollenden. Liegt darin irgend etwas Unrechtes? Ich hoffe nicht. Es kann doch Nichts Unrechtes in dem sein, was ich aus Liebe zu Mrs. Fairlie thue?«

Die alte dankbare Erinnerung an die Güte ihrer Wohlthäterin war offenbar die vorherrschende Idee in dem Gemüthe dieses armen Geschöpfes – diesem engen Gemüthe, das – wie es mir nur zu deutlich war – seit jenem ersten Eindrucke aus ihrer glücklichen Jugendzeit, keinen anderen bleibenden Eindruck mehr in sich aufgenommen hatte. Ich sah, daß, um ihr Vertrauen zu gewinnen, es das beste sein würde, sie zu ermuntern, mit der bescheidenen Arbeit fortzufahren, um deretwillen sie auf den Begräbnißplatz gekommen war. Sie nahm dieselbe augenblicklich wieder auf, sowie ich ihr sagte, daß sie dies thun möge, und berührte den harten Marmor so leicht und zart, als ob er ein fühlendes Wesen wäre, wobei sie die Worte der Inschrift vor sich herflüsterte und wiederholte, wie wenn die geschwundenen Tage ihrer Kindheit ihr zurückgekehrt seien und sie zu Mrs. Fairlie’s Füßen, wie ehemals, ihre Aufgabe lerne.

»Würde es Sie sehr wundern,« sagte ich, so vorsichtig wie möglich den Weg zu den Fragen anbahnend, die ich ihr vorlegen mußte, »wenn ich Ihnen gestände, es sei ebensosehr zu meiner Freude als zu meiner Verwunderung, daß ich Sie hier wiedersehe? Ich fühlte mich Ihretwegen sehr beunruhigt, nachdem Sie mich verlassen hatten.«

Sie blickte schnell und argwöhnisch auf.

»Beunruhigt,« wiederholte sie, »weshalb?«

»Es trug sich etwas Sonderbares zu, nachdem wir jenen Abend voneinander geschieden waren. Es fuhren zwei Männer in einer Chaise an mir vorbei; sie sahen mich nicht, aber sie hielten dicht neben mir stille und sprachen mit dem Constabler auf der entgegengesetzten Seite der Straße.«

Sie hielt augenblicklich in ihrer Beschäftigung inne. Die Hand, in der sie das nasse Tuch hielt, mit dem sie die Anschrift gereinigt hatte, sank an ihrer Seite nieder. Mit der anderen Hand faßte sie das Kreuz am oberen Ende des Grabes. Ihr Gesicht wandte sich langsam zu mir hin und zeigte wieder den bestürzten Ausdruck starren Schreckens. Ich fuhr auf alle Gefahr hin fort, denn es war jetzt zu spät, es zurückzunehmen.

»Die beiden Männer sprachen mit dem Constabler,« sagte ich, »und frugen ihn, ob er Sie gesehen habe. Er hatte Sie nicht gesehen, und dann sprach der Eine von ihnen wieder und sagte, Sie seien aus seiner Anstalt entflohen.«

Sie sprang auf, wie wenn meine letzten Worte die Verfolger auf ihre Spur gejagt hätten.

»Warten Sie! und hören Sie das Ende,« rief ich. »warten Sie! und Sie sollen erfahren, wie ich als Ihr Freund handelte. Ein Wort von mir hätte jenen Leuten verrathen, wohin Sie gegangen waren, aber ich sprach dieses Wort nicht. Ich unterstützte Ihre Flucht – ich machte sie gewiß und sicher. Bedenken Sie das, versuchen Sie, das zu bedenken. Suchen Sie das, was ich Ihnen sage, zu verstehen.«

Meine Art und Weise schien mehr Eindruck auf sie zu machen als meine Worte. Sie bemühte sich, die neue Idee zu erfassen. Sie nahm das nasse Tuch aus einer Hand in die andere, gerade wie sie es in jener Nacht, wo ich sie zum erstenmale sah, mit der kleinen Tasche gemacht hatte. Die Bedeutung meiner Worte schien sich langsam durch die Verwirrung und Aufregung ihres Gemüthes einen Weg zu bahnen. Ihre Züge erhellten sich langsam, und ihre Augen gewannen in ihrem Ausdrucke das an Neugier, was sie an Furcht verloren.

»Sie denken doch nicht, daß ich wieder nach der Anstalt zurückgebracht werden sollte, wie?« sagte sie.

»Ganz gewiß nicht. Ich freue mich, daß Sie daraus entflohen sind und – daß ich ihnen dazu behilflich gewesen.«

»Ja ja; Sie halfen mir in der That; Sie halfen mir da, wo mir’s schwer wurde,« fuhr sie etwas zerstreut fort. »Das Entfliehen war leicht oder es wäre mir nicht gelungen. Sie beargwöhnten mich nie, wie mich die Anderen beargwöhnten. Ich war so ruhig, so gehorsam und so leicht erschrocken. Das Schwere dabei war, London zu finden, und darin halfen Sie mir. Habe ich Ihnen damals gedankt? Ich danke Ihnen jetzt recht, recht sehr.«

»War die Anstalt sehr weit von der Stelle, wo Sie mich fanden? Nun! Beweisen Sie mir, daß Sie einen Freund in mir sehen, und sagen Sie mir, wo die Anstalt war.«

Sie nannte den Ort – eine Privatirrenanstalt, wie ich aus ihrer Angabe entnahm, eine Privatirrenanstalt nicht weit von der Stelle, wo ich sie zuerst gesehen hatte – und dann wiederholte sie mit offenbarer Unruhe über den etwaigen Gebrauch, den ich von ihrer Antwort machen werde, ihre frühere Frage: »Sie denken doch nicht, daß ich nach der Anstalt zurückgebracht werden sollte, wie?«

»Ich wiederhole es Ihnen: ich freue mich, daß Sie entkamen und daß es Ihnen wohl ging, nachdem Sie mich verlassen hatten,« entgegnete ich. »Sie sagten, daß Sie eine Freundin in London hätten, zu der Sie gehen würden. Fanden Sie diese Freundin?«

»Ja. Es war sehr spät. Aber es war ein Mädchen im Hause, die noch spät mit Handarbeit beschäftigt war, und sie half mir, Mrs. Clements zu wecken. Mrs. Clements ist meine Freundin. Eine liebe, gütige Frau, aber nicht wie Mrs. Fairlie. Ach nein, Niemand gleicht Mrs. Fairlie?«

»Ist Mrs. Clements eine alte Freundin von Ihnen? Haben Sie sie lange gekannt?«

»Ja; sie war früher unsere Nachbarin zu Hause in Hampshire; sie hatte mich lieb und sah nach mir, als ich ein kleines Mädchen war. Vor langen Jahren, als sie von da fortzog, schrieb sie in mein Gebetbuch ein, wo sie in London wohnen werde, und sagte: ›Wenn dir’s jemals schlecht geht, Anna, dann komme zu mir. Ich habe keinen Mann, der mir’s untersagen könnte, noch Kinder, für die ich zu sorgen hätte, und ich will für Dich sorgen‹. Waren das nicht gütige Worte? Ich habe sie wohl behalten, weil sie so gütig waren. Außer ihnen habe ich freilich nur wenig, sehr, sehr wenig behalten!«

»Hatten Sie keinen Vater, keine Mutter, die für Sie sorgen konnten?«

»Mein Vater? Hab’ ihn nie gesehen; ich habe meine Mutter nie von ihm sprechen hören. Vater? Ach Gott! er wird wohl todt sein.«

»Und Ihre Mutter?«

»Wir passen nicht gut zusammen; wir verursachen einander nur Sorge und Furcht.«

Verursachen einander nur Sorge und Furcht! Bei diesen Worten kam mir zum erstenmale der Verdacht, daß es vielleicht ihre Mutter war, welche sie unter Aufsicht gestellt hatte.

»Fragen Sie mich nicht nach meiner Mutter,« fuhr sie fort, »ich spreche lieber von Mrs. Clements. Mrs. Clements denkt wie Sie, sie findet nicht, daß ich nach der Anstalt zurückgebracht werden sollte, und sie freut sich ebenso wie Sie, daß es mir gelang, daraus zu entfliehen. Sie weinte über mein Unglück und sagte, es müsse vor allen Leuten geheim gehalten werden.«

Ihr »Unglück«. In welchem Sinne gebrauchte sie dieses Wort? In einem Sinne, der ihren Beweggrund, aus dem sie den anonymen Brief schrieb, hätte erklären können? In dem Sinne, welcher auf den zu häufigen, zu gewöhnlichen Beweggrund hindeutete, aus welchem manche Frau der Heirat des Mannes, der ihren Untergang verschuldet, anonymerweise Hindernisse in den Weg gelegt hat? Ich beschloß, den Versuch zu machen, diesen Zweifel zu lösen, ehe wir von etwas Anderem sprächen.

»Was für ein Unglück?« frug ich.

»Das Unglück meiner Einsperrung,« entgegnete sie, allem Anscheine nach erstaunt über meine Frage; »welch anderes Unglück könnte es sonst noch für mich geben?«

Ich beschloß, so zart und schonend wie möglich fortzufahren. Es war von der größten Wichtigkeit, daß jeder Schritt, den ich jetzt in meiner Nachforschung vorwärts that, mit Sicherheit ausgeführt wurde.

»Es gibt noch ein anderes Unglück,« sagte ich, »das einem Weibe widerfahren und ihm lebenslänglichen Kummer und lebenslängliche Schande bereiten kann.«

»Welches ist das?« frug sie begierig.

»Das Unglück, zu unschuldsvoll an die eigene Tugend und an die Redlichkeit und Treue des Mannes zu glauben, den man liebt,« erwiderte ich.

Sie sah mit dem ungekünstelten Ausdrucke des Nichtbegriffenhabens eines Kindes zu mir auf. In ihrem Gesichte zeigte sich nicht die kleinste Spur von Verwirrung oder Erröthen oder auch nur des geheimsten Bewußtseins der Schande – dieses Gesicht, das jede andere Bewegung so deutlich verrieth. Kein gesprochenes Wort hätte mich so wie ihr Blick und Benehmen überzeugen können, daß der Beweggrund, den ich ihrem Schreiben und Absenden des anonymen Briefes an Miß Fairlie unterlegte, unzweifelhaft der verkehrte sei. Dieser Zweifel war wenigstens jetzt beseitigt; aber dieser Umstand selbst brachte uns neue Ungewißheit. Der Brief bezeichnete, wie ich nach entschiedenen Indicien wußte, Sir Percival Glyde, obgleich er ihn nicht nannte. Sie mußte einen starken Beweggrund haben, welcher aus einer tiefen Verletzung entsprang, und ihn heimlich und in solchen Ausdrücken, wie sie gebraucht hatte, bei Miß Fairlie anzuklagen und dieser Beweggrund lag offenbar nicht in dem Verluste ihrer Unschuld und ihres Friedens, welches Unrecht er ihr auch zugefügt haben mochte, es war nicht dieser Art. Worin konnte es nur bestehen?

»Ich verstehe Sie nicht,« sagte sie, nachdem sie offenbar lange, aber vergebens versucht hatte, die Bedeutung meiner letzten Worte zu fassen.

»Es thut Nichts,« entgegnete ich. »Lassen Sie uns mit dem fortfahren, wovon wir sprachen. Sagen Sie mir, wie lange Sie bei Mrs. Clements in London blieben und wie es zuging, daß Sie hierher kamen?«

»Wie lange?« wiederholte sie. »Ich blieb bei Mrs. Clements, bis wir beide vor zwei Tagen hierher kamen.«

»Dann wohnen Sie hier im Dorfe?« sagte ich. »Es ist eigen, daß ich noch nicht von Ihnen gehört habe, obgleich Sie erst zwei Tage hier sind.«

»Nein, nein; nicht im Dorfe. Drei Meilen (engl.) von hier auf einem Gehöfte. Kennen Sie das Gehöfte? Es wird Todd’s Ecke genannt.«

Ich erinnerte mich des Gutes vollkommen; wir waren auf unseren Spazierfahrten oft daran vorbeigekommen. Es war eins der ältesten Gehöfte der Gegend und lag landeinwärts an einer einsamen, geschützten Stelle am Fuße zweier Hügel.

»Die Leute zu Todd’s Ecke sind Verwandte von Mrs. Clements,« fuhr sie fort, »und hatten sie oft gebeten, sie zu besuchen. Sie sagte, sie wolle zu ihnen reisen und mich mitnehmen, damit ich Ruhe und frische Landluft genießen könne, war das nicht sehr freundlich von ihr? Ich wäre überall hingegangen, um nur in Ruhe und Sicherheit und Verborgenheit zu sein. Aber als ich hörte, daß Todd’s Ecke nahe bei Limmeridge sei – o! da war ich so glücklich, daß ich gern den ganzen Weg barfuß zurückgelegt hätte, um das Dorf und die Schule und Limmeridge wiederzusehen. Die Leute zu Todd’s Ecke sind sehr freundlich. Ich hoffe, ich werde eine lange Zeit bei ihnen bleiben können. Nur Eins gefällt mir nicht an ihnen und gefällt mir nicht an Mrs. Clements –«

»Was ist das?«

»Sie quälen mich, weil ich mich immer ganz weiß kleide – sie sagen, es sieht so auffallend aus. Was wissen sie davon? Mrs. Fairlie verstand das am besten. Mrs. Fairlie hatte mich niemals diesen garstigen blauen Mantel tragen lassen. Ach! sie hatte Weiß so gern, als sie noch lebte, und hier ist ein weißer Stein an ihrem Grabe und aus Liebe zu ihr mache ich ihn noch weißer. Sie selbst trug sehr oft Weiß und kleidete ihre kleine Tochter immer in Weiß. Ist Miß Fairlie wohl und glücklich? Trägt sie noch Weiß, wie damals, als sie ein kleines Mädchen war?«

Ihre Stimme wurde leiser, als sie diese Fragen über Miß Fairlie that, und sie wandte ihren Kopf mehr und mehr von mir ab. Es war mir, als entdeckte ich in der Veränderung ihres Wesens ein unruhiges Bewußtsein der Gefahr, welcher sie sich ausgesetzt, indem sie den anonymen Brief absandte und ich beschloß sogleich, meine Antwort zu einzurichten, daß sie es mir in ihrer Ueberraschung bekannte.

»Miß Fairlie war heute Morgen nicht sehr wohl oder verstimmt,« sagte ich.

Sie murmelte ein paar Worte vor sich hin; doch waren sie so verwirrt und so leise gesprochen, daß ich den Sinn nicht einmal errathen konnte.

»Frugen Sie mich, warum Miß Fairlie heute Morgen weder wohl noch glücklich war?« fuhr ich fort.

»Nein,« sagte sie schnell und aufgeregt – »o nein, ich frug das nicht.«

»Ich will es Ihnen sagen, ohne daß Sie mich fragen,« fuhr ich fort, »Miß Fairlie hat Ihren Brief erhalten –.«

Sie hatte seit einiger Zeit auf ihren Knieen gelegen, indem sie sorgfältig die letzten Flecke von der Inschrift abwischte, während wir zusammen sprachen. Die ersten Worte meiner letzten Rede ließen sie mit ihrer Beschäftigung innehalten und langsam, ohne sich von ihren Knieen zu erheben, ihr Gesicht mir zuwenden; die letzten aber ließen sie förmlich erstarren. Das Tuch entfiel ihren Händen, ihre Lippen öffneten sich und die wenige Farbe, die in ihrem Gesichte noch übrig war, schwand gänzlich aus ihm.

»Woher wissen Sie das?« sagte sie mit schwacher Stimme; »wer hat Ihnen denselben gezeigt?« Das Blut stieg in ihre Wangen – schnell und gewaltig, indem es sie wie ein Blitz durchfuhr, daß ihre eigenen Worte sie verrathen hatten. Sie schlug in Verzweiflung die Hände zusammen. »Ich habe ihn nicht geschrieben,« hauchte sie mühsam und erschrocken; »ich weiß Nichts davon!«

»Doch,« sagte ich, »Sie haben ihn geschrieben und wissen wohl davon. Es war unrecht von Ihnen, einen solchen Brief zu schreiben und Miß Fairlie zu erschrecken. Falls Sie irgend etwas zu sagen hatten, das recht und nothwendig für sie war zu wissen, so hätten Sie selbst nach Limmeridge House gehen und es der jungen Dame mit Ihren eigenen Lippen sagen sollen.«

Sie beugte sich über den flachen Grabstein hin, bis ich ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte und entgegnete Nichts.

»Miß Fairlie wird ebenso gütig und freundlich gegen Sie sein, wie ihre Mutter es war, falls Sie es gut meinen,« fuhr ich fort. »Miß Fairlie wird Ihr Geheimniß bewahren und Sie nicht zu Schanden kommen lassen. Wollen Sie sie morgen auf dem Gehöfte sehen? oder wollen Sie im Garten zu Limmeridge House mit ihr zusammenkommen?«

»O, wenn ich doch sterben und bei Ihnen ruhen könnte!« murmelten ihre Lippen dicht über dem Grabsteine in Tönen leidenschaftlicher Zärtlichkeit zu der Todten da unten. »Sie wissen, wie sehr ich Ihr Kind liebe, um Ihretwillen! O Mrs. Fairlie! Mrs. Fairlie! sagen Sie mir, wie ich sie retten kann. Seien Sie noch einmal mein Liebling und meine Mutter und sagen Sie mir, was ich thun soll!«

Ich hörte, wie ihre Lippen den Stein küßten, und sah sie leidenschaftlich ihre Hände darauf legen. Der Ton und der Anblick bewegten mich tief. Ich beugte mich herab zu ihr, faßte ihre armen, hilflosen Hände sanft mit den meinigen und versuchte, sie zu beruhigen.

Es war nutzlos. Sie entzog mir schnell ihre Hände und drückte ihr Gesicht noch immer auf den Stein. Da ich jedoch die dringende Nothwendigkeit sah, sie auf jeden Fall und wie ich nur konnte, zu besänftigen, so benutzte ich den einzigen Wunsch, welchen sie in Bezug auf mich und meine Meinung von ihr fühlte – den Wunsch nämlich, daß ich sie für geeignet anerkenne, Herrin über ihre eigenen Handlungen zu bleiben, sie für zurechnungsfähig halte.

»Kommen Sie,« sagte ich sanft. »Suchen Sie sich zu fassen, sonst werden Sie mich nöthigen, meine Meinung über Sie zu ändern. Lassen Sie mich nicht denken, daß diejenige Person, welche Sie unter Aufsicht in die Anstalt schickte, eine Entschuldigung dafür –«

Die nächsten Worte erstarrten auf meinen Lippen. Sowie ich die Anspielung auf die Person wagte, welche sie in die Irrenanstalt gebracht hatte, sprang sie von ihrer knieenden Lage empor. Es brachte eine ganz außerordentliche und auffallende Veränderung in ihr hervor. Ihr Gesicht, das sonst durch seinen gefühlvollen, sanften, unsicheren Ausdruck so rührend anzuschauen war, wurde plötzlich finster durch einen Ausdruck fast wahnsinnigen Hasses und unbeschreiblicher Furcht, welcher jedem ihrer Züge eine wilde, unnatürliche Kraft verlieh. Ihre Augen leuchteten in dem matten Abendlichte, wie die eines wilden Thieres. Sie riß das Tuch, das ihren Händen entfallen war, mit einer Heftigkeit vom Boden auf, als ob es ein lebendes Wesen sei, das sie tödten müsse, und drückte es dann mit so krampfhafter Gewalt in beiden Händen, daß die wenigen Tropfen von Feuchtigkeit, welche es noch enthielt, auf den Stein fielen.

»Sprechen Sie von etwas Anderem,« sagte sie, durch ihre Zähne hindurch flüsternd, »es bringt mich außer Fassung, wenn Sie davon sprechen.«

Jede Spur der sanften Gefühle, welche noch vor einer Minute ihr Herz erfüllt hatten, schien jetzt aus demselben verwischt Zu sein. Es war klar, daß der Eindruck, den Mrs. Fairlie’s Güte in ihrem Gemüthe zurückgelassen, nicht, wie ich vermuthet hatte, der einzige starke Eindruck in ihrem Gedächtnisse war. Neben der dankbaren Erinnerung an ihre Schulzeit in Limmeridge lebte noch die rachsüchtige Erinnerung an das Unrecht, das man ihr durch ihre Einsperrung in der Irrenanstalt zugefügt hatte. Wer hatte ihr dieses Unrecht angethan? Konnte wirklich ihre Mutter dies gethan haben?

Es war hart, die Nachforschung bis zu diesem letzten Punkte aufgeben zu müssen; aber ich zwang mich, davon abzulassen. So wie ich sie jetzt vor mir sah, wäre es grausam von mir gewesen, wenn ich an irgend etwas Anderes hätte denken können, als an die durch die Menschlichkeit gebotene Nothwendigkeit, sie zu beruhigen.

»Ich will von Nichts sprechen, das Sie betrübt,« sagte ich begütigend.

»Sie verlangen etwas von mir,« sagte sie scharf und argwöhnisch. »Sehen Sie mich nicht so an. Sprechen Sie, sagen Sie mir, was Sie von mir verlangen.«

»Ich verlange Nichts, als daß Sie sich beruhigen und, wenn Sie ganz gefaßt sind, an das denken, was ich Ihnen gesagt habe.«

»Gesagt?« Sie hielt inne, drehte das Tuch in den Händen hin und her und flüsterte vor sich hin: »Was hat er gesagt?« Sie wandte sich zu mir und schüttelte ungeduldig den Kopf. »Warum helfen Sie mir nicht?« sagte sie mit zorniger Hast.

»Ja, ja,« sagte ich, »ich will Ihnen helfen; und Sie werden sich bald daran erinnern. Ich bat Sie, Miß Fairlie morgen zu sehen und ihr die Wahrheit über den Brief zu sagen.«

»Ach ja, Miß Fairlie – Fairlie – Fairlie –,« sagte sie. Das bloße Aussprechen des geliebten wohlbekannten Namens schien sie zu beruhigen. Ihr Gesicht erhellte sich und wurde wieder das alte.

»Sie brauchen sich durchaus nicht vor Miß Fairlie zu fürchten«, fuhr ich fort, »oder daß Sie irgendwie durch den Brief zu Schaden kommen könnten. Sie weiß bereits so viel, daß es Ihnen nicht schwer werden wird, ihr Alles zu sagen. Es kann keine Nothwendigkeit für Verheimlichung vorhanden sein, wo wenig mehr zu verheimlichen übrig bleibt. Sie erwähnen keinen Namen in dem Briefe, aber Miß Fairlie weiß, daß Sie Sir Percival Glyde –«

Sowie ich den Namen aussprach, sprang sie auf und stieß einen Schrei aus, der weit über den Kirchhof dahin hallte und mein Herz vor Entsetzen erzittern ließ. Der finstere, entstellte Ausdruck, der erst soeben aus ihrem Gesichte gewichen, kehrte doppelt und dreifach verstärkt auf dasselbe zurück. Der Schrei bei dem Namen, sowie der wiederholte Blick des Hasses und der Furcht, welcher ihm augenblicklich folgte, sagte Alles. Es blieb mir auch nicht ein letzter Zweifel. Ihre Mutter war unschuldig an ihrer Einkerkerung in der Irrenanstalt. Ein Mann hatte sie dort eingesperrt, und dieser Mann war Sir Percival Glyde.

Der Schrei war noch zu anderen Ohren außer den meinigen gedrungen. In der einen Richtung hörte ich die Thür des Todtengräbers öffnen; in der anderen die Stimme ihrer Begleiterin, der Frau im Shawl, der Frau, von welcher sie als Mrs. Clements gesprochen hatte.

»Ich komme, ich komme,« rief die Stimme von der anderen Seite des kleinen Gebüsches her.

Einen Augenblick später eilte Mrs. Clements herbei. »Wer sind Sie?« rief sie, mit Entschlossenheit mich ansehend, indem sie den Fuß auf den Tritt setzte. »Wie können Sie sich unterstehen, ein armes Frauenzimmer so zu erschrecken?«

Sie stand bereits neben Anna und hatte diese mit einem Arme umschlungen, ehe ich ihr noch antworten konnte. »Was gibt’s, mein Kind?« sagte sie; »was hat er dir gethan?«

»Nichts,« entgegnete das arme Geschöpf, »Nichts; ich bin nur erschreckt worden.«

Mrs. Clements wandte sich mit einer furchtlosen Entrüstung zu mir, welche mir Achtung für sie einflößte.

»Ich würde mich sehr schämen,« sagte ich, »wenn ich diesen entrüsteten Blick verdiente. Aber ich verdiene ihn mit nichten. Ich habe sie unglücklicherweise erschreckt, ohne es zu beabsichtigen. Es ist nicht das erste Mal, daß sie mich gesehen hat. Fragen Sie sie selbst, und sie wird Ihnen sagen, daß ich nicht im Stande bin, ihr oder sonst einem Frauenzimmer ein Leides zu thun.«

Ich sprach sehr deutlich, damit Anna Catherick mich hören und verstehen möge, und ich sah, daß die Worte und deren Bedeutung zu ihr gedrungen waren.

»Ja, ja,« sagte sie; »er war auch einmal gut gegen mich; er half mir –« das Uebrige flüsterte sie ihrer Freundin ins Ohr.

»Höchst seltsam!« sagte Mrs. Clements mit bestürztem Gesicht. »Doch das ändert die Sache sehr. Es thut mir leid, daß ich so rauh zu Ihnen sprach, Sir; aber Sie müssen einräumen, daß der Schein gegen Sie war. Die Schuld liegt übrigens mehr an mir als an Ihnen, indem ich ihrer Laune nachgab und sie an einem solchen Orte allein ließ. Komm’, liebes Kind, komm’ jetzt nach Hause.«

Es schien mir, als ob die gute Frau etwas ängstlich aussähe bei dem Gedanken an ihren Rückweg, und ich erbot mich daher, sie zu begleiten, bis sie das Haus sehen könnten. Aber Mrs. Clements dankte mir höflich und schlug meine Begleitung aus. Sie sagte, sie würden sicher einigen von den Arbeitern auf dem Gehöfte begegnen, sobald sie auf die Haide hinaus kämen.

»Versuchen Sie, mir zu vergeben –,« sagte ich, als Anna Catherick den Arm ihrer Freundin nahm, um fortzugehen. So unschuldig ich auch an der Absicht gewesen, sie zu erschrecken oder zu ängstigen, so machte mein Herz mir doch Vorwürfe, als ich auf ihr bleiches, erschrockenes Gesicht blickte.

»Ich will es versuchen,« sagte sie. »Aber Sie wissen zu viel. Ich fürchte, Sie werden mich jetzt immer erschrecken.«

Mrs. Clements sah mich an und schüttelte mitleidsvoll den Kopf.

»Gute Nacht, Sir,« sagte sie; »Sie konnten Nichts dafür, ich weiß es wohl; aber ich wollte, Sie hätten lieber mich erschreckt als sie.«

Sie gingen ein paar Schritte fort. Ich dachte, sie hätten mich verlassen; aber plötzlich stand Anna still und machte sich vom Arme ihrer Freundin los.

»Warte einen Augenblick,« sagte sie, »ich muß erst ihr Lebewohl sagen.«

Sie kehrte zum Grabe zurück, legte beide Hände zärtlich auf das Kreuz und küßte es.

»Jetzt ist mir besser,« seufzte sie, mich ruhig anblickend. »Ich vergebe Ihnen.«

Dann kehrte sie zu ihrer Freundin zurück und dann verließen Beide den Kirchhof. Ich sah sie neben der Kirche stille stehen und mit der Frau des Todtengräbers sprechen, die aus ihrer Hütte gekommen war und uns aus der Ferne beobachtet hatte. Dann setzten sie ihren Weg auf dem Pfade, der nach der Haide führte, fort. Ich blickte Anna Catherick nach, bis jede Spur von ihr im Zwielichte dahinschwand – sah ihr so ängstlich und kummervoll nach, als ob dies das letzte Mal sein sollte, wo ich die Frau in Weiß in dieser öden Welt erblickte.



Kapiteltrenner

XIII.

Eine halbe Stunde später war ich wieder im Hause angelangt und unterrichtete Miß Halcombe von Allem, was sich zugetragen hatte.

Sie hörte mir von Anfang bis zu Ende mit einer ununterbrochenen Aufmerksamkeit zu, die bei einem Weibe ihres Temperaments und ihrer Gemüthsbeschaffenheit der größte Beweis davon war, daß die Erzählung einen ernstlichen Eindruck auf sie mache.

»Mein Herz erfüllt sich mit bangen Zweifeln,« war Alles, was sie sagte, nachdem ich geendet. »Mein Herz erfüllt sich mit bangen Zweifeln für die Zukunft.«

»Die Zukunft,« meinte ich, »mag von dem Gebrauchs abhängen, den wir von der Gegenwart machen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Anna Catherick weniger zurückhaltend in ihrer Unterhaltung mit einer Dame sein würde, als sie es gegen mich war. Wenn Miß Fairlie – –«

»Daran ist keinen Augenblick zu denken,« unterbrach mich Miß Halcombe auf ihre entschiedenste Weise.

»Dann lassen Sie mich vorschlagen,« fuhr ich fort, »daß Sie selbst mit Anna Catherick sprechen und ihr Vertrauen zu gewinnen suchen, was mich betrifft, so mag ich nicht daran denken, das arme Geschöpf zum zweiten Male so zu erschrecken, wie ich es leider schon einmal gethan. Haben Sie irgend etwas dagegen, mich morgen nach dem Gehöfte zu begleiten?«

»Durchaus Nichts. Ich will gehen, wohin es sei, und thun, was es sei, um Laura zu dienen. Wie nannten Sie den Ort?«

»Sie müssen ihn ganz gut kennen. Er heißt Todd’s Ecke.«

»Allerdings. Todd’s Ecke ist eins von Mrs. Fairlie’s Gehöften. Unsere Milchmagd hier ist die zweite Tochter des Pächters. Sie geht sehr häufig nach dem Gehöfte und mag vielleicht etwas gehört oder gesehen haben, das uns von Nutzen sein dürfte zu wissen. Soll ich mich gleich versichern, ob sie da ist?«

Sie klingelte und befahl dem Diener, nachzusehen, ob sie da sei. Er kam mit der Nachricht zurück, daß die Milchmagd nach dem Gehöfte gegangen sei. Sie sei seit drei Tagen nicht dort gewesen und die Haushälterin habe ihr Erlaubniß gegeben, den Abend auf ein paar Stunden nach Hause zu gehen.

»Ich kann morgen mit ihr sprechen,« sagte Miß Halcombe, als der Diener das Zimmer verlassen hatte. »Inzwischen lassen Sie mich wohl verstehen, welchen Zweck wir bei meiner Unterredung mit Anna Catherick im Auge haben. Hegen Sie selbst keinen Zweifel darüber, daß es Sir Percival Glyde war, der sie in die Irrenanstalt schaffte?«

»Auch nicht den Schatten eines Zweifels. Das einzige Geheimniß, was uns noch zu lösen übrig bleibt, ist das Geheimniß seines Beweggrundes dazu. Wenn man den großen Unterschied zwischen seiner Stellung im Leben und der ihrigen bedenkt, welcher jeden Gedanken selbst an die entfernteste Verwandtschaft zwischen ihnen ausschließt, so ist es von der größten Wichtigkeit – gesetzt sogar, daß ihr Zustand wirklich Aufsicht und Haft erheischte – zu wissen, warum er die ernstliche Verantwortlichkeit auf sich geladen haben sollte, sie in Gewahrsam bringen zu lassen –«

»In eine Privatirrenanstalt, glaube ich, sagten Sie?«

»Ja, in eine Privatirrenanstalt, wo eine Summe für ihre Aufnahme und ihren Unterhalt bezahlt werden mußte, welche eine arme Person nicht erschwingen konnte.«

»Ich sehe, wo der Zweifel liegt, Mr. Hartright, und verspreche Ihnen, daß derselbe gelöst werden soll, gleichviel ob Anna Catherick uns morgen dazu behilflich ist oder nicht. Sir Percival Glyde soll nicht lange im Hause sein, ohne Mr. Gilmore sowohl wie mich zufrieden zu stellen. Die Zukunft meiner Schwester ist die höchste Sorge meines Lebens, und ich habe hinreichenden Einfluß auf sie, um die Macht zu besitzen, dieselbe in Bezug auf ihre Heirat zu bestimmen.«

Wir trennten uns für diese Nacht.

Nach dem Frühstück folgenden Morgens stellte sich unserem sofortigen Aufbrechen nach dem Gehöfte ein Hinderniß entgegen, das mir in den Ereignissen des Abends gänzlich entfallen war. Es sollte dies mein letzter Tag in Limmeridge House sein und es war daher nothwendig, sowie die Briefe ankamen, Miß Halcombe’s Rath zu befolgen und Mr. Fairlie zu bitten, mein Engagement einen Monat verkürzen zu dürfen in Rücksicht auf unvorhergesehene Umstände, welche meine Rückkehr nach London nothwendig machten.

Glücklicherweise, um dieser Entschuldigung wenigstens äußerlich den Anschein der Wahrheit zu geben, brachte die Post mir diesen Morgen zwei Briefe von Freunden in London. Ich nahm sie sofort mit auf mein Zimmer, schickte den Diener mit meiner Empfehlung an Mr. Fairlie und ließ ihn fragen, wann ich ihn in einer Geschäftsangelegenheit sprechen dürfte.

Ich erwartete des Mannes Rückkehr, ohne mich im Allergeringsten darüber zu beunruhigen, wie sein Herr möglicherweise mein Ersuchen aufnehmen werde. Ich mußte fort – ob nun mit Mr. Fairlie’s Bewilligung oder ohne dieselbe. Das Bewußtsein, jetzt den ersten Schritt auf diesem öden Wege gethan zu haben, der hinfort mein Leben von Miß Fairlie’s Leben trennen sollte, schien mich gegen Alles Andere, was mich betraf, abgestumpft zu haben. Ich war fertig mit meinem empfindlichen Armenmannesstolz – fertig mit allen kleinen Künstlereitelkeiten. Reine Impertinenz von Mr. Fairlie – falls es ihm gefallen sollte, impertinent zu sein – konnte mich jetzt verletzen.

Der Diener kehrte mit einer Botschaft zurück, auf die ich nicht unvorbereitet war. Mr. Fairlie bedauerte, daß der Zustand seiner Gesundheit gerade an diesem Morgen derart sei, daß er ihn aller Hoffnung beraube, das Vergnügen zu haben, mich zu sehen. Er bitte mich daher, seine Entschuldigungen entgegen zu nehmen und ihm gütigst meine Wünsche brieflich mitzutheilen. Ich hatte während der drei Monate meines Aufenthaltes im Hause in verschiedenen Zwischenräumen ähnliche Botschaften erhalten, während dieser ganzen Zeit war Mr. Fairlie hoch erfreut gewesen, mich zu »besitzen«, aber niemals wohl genug, um mich ein zweites Mal zu sehen. Der Diener trug jedes neue Paket beendeter Zeichnungen mit einer »achtungsvollen Empfehlung« zu seinem Herrn und kehrte mit leeren Händen und Mr. Fairlie’s »bester Empfehlung«, »freundlichem Danke« und »aufrichtigem Bedauern« zurück, daß der Zustand seiner Gesundheit ihn noch immer zum einsamen Gefangenen auf seinem Zimmer mache. Die Sache hätte nicht befriedigender für beide Theile eingerichtet werden können. Es wäre schwer zu entscheiden, wer von uns Beiden Mr. Fairlie’s gefälligen Nerven die größte Dankbarkeit schuldete.

Ich setzte mich sofort und schrieb den Brief, indem ich mich so höflich, deutlich und kurz wie möglich ausdrückte. Mr. Fairlie übereilte sich nicht mit der Antwort. Es verging beinahe eine Stunde, ehe mir dieselbe überbracht wurde. Sie war mit sehr schöner, regelmäßiger und zierlicher Handschrift, mit veilchenfarbener Tinte auf Briefpapier geschrieben, das so glatt wie Elfenbein und beinahe so steif wie Pappe war, und lautete wie folgt:

»Mr. Fairlie’s Empfehlungen an Mr. Hartright.

Mr. Fairlie fühlt sich durch Mr. Hartright’s Anliegen mehr überrascht und getäuscht, als er (in seinem gegenwärtigen Gesundheitszustande) zu beschreiben vermag. Mr. Fairlie ist kein Geschäftsmann, aber er hat seinen Haushofmeister – der ein Geschäftsmann ist – befragt und derselbe bestätigt seine Ansicht, daß Mr. Hartright’s Wunsch, seinen Contract zu brechen, durch keine Art von Notwendigkeit zu rechtfertigen ist, außer etwa in einem Falle von Leben und Tod. Wenn Mr. Fairlie’s hohe Schätzung der Kunst und ihrer Jünger, die ihm in seinem leidenden Dasein Trost und Glück gewähren, leicht zu erschüttern wäre, so würde Mr. Hartright’s gegenwärtiges Verfahren sie erschüttert haben. Doch ist dies nicht der Fall – außer in Bezug auf Mr. Hartright selbst.

Nachdem Mr. Fairlie seine Meinung ausgesprochen – das heißt, insoweit sein heftiges nervöses Leiden ihm erlaubt, überhaupt irgend etwas auszusprechen – bleibt ihm Nichts weiter hinzuzufügen übrig, als seinen Entschluß in Bezug auf das an ihn ergangene höchst irreguläre Ersuchen mitzutheilen. Da Mr. Fairlie’s Zustand die vollkommenste Ruhe des Körpers und Gemüthes fordert, so will er Mr. Hartright nicht erlauben, diese Ruhe dadurch zu stören, daß er unter Verhältnissen in seinem Hause bliebe, welche für beide Theile im höchsten Grade aufregend sein wurden. Demzufolge leistet Mr. Fairlie Verzicht auf sein Recht der Verweigerung, ausschließlich in Rücksicht auf die Erhaltung seiner eigenen Ruhe – und benachrichtigt Mr. Hartright, daß er gehen mag.«

Ich legte den Brief zusammen und zu meinen übrigen Papieren. Es hatte eine Zeit gegeben, wo ich ihn als eine Beleidigung geahndet hatte; jetzt nahm ich ihn als eine geschriebene Entlassung auf. Ich hätte ihn mir aus dem Sinne geschlagen, ja fast aus dem Gedächtnisse verloren, als ich ins Frühstückszimmer hinunter ging, um Miß Halcombe zu sagen, daß ich bereit sei, mit ihr nach dem Gehöfte zu gehen.

»Hat Mr. Fairlie Ihnen eine befriedigende Antwort gegeben?« frug sie, als wir das Haus verließen.

»Er hat mir zu gehen erlaubt, Miß Halcombe.«

Sie schaute schnell zu mir auf und nahm dann zum ersten Male, seit ich sie kannte, von selbst meinen Arm. Keine Worte, die sie hätte sprechen können, hätten mir auf so zartfühlende Weise ihr Verständniß der Manier, wie man mir die erbetene Erlaubniß gestattet, ausgedrückt und zugleich, daß sie mir ihre Theilnahme nicht aus Herablassung, sondern aus Freundschaft bot. Ich hatte des Mannes impertinenten Brief nicht gefühlt, aber des Weibes abbittende Güte fühlte ich tief.

Auf unserem Wege nach dem Gehöfte kamen wir überein, daß Miß Halcombe allein ins Haus gehen und ich in einer Entfernung draußen warten sollte, so daß man mich nöthigenfalls rufen könne. Wir nahmen dies Verfahren aus Besorgniß an, daß meine Gegenwart nach dem, was sich gestern Abend auf dem Kirchhofe ereignet hatte, vielleicht die nervöse Furcht in Anna Catherick wieder erwecken und sie doppelt argwöhnisch gegen das Entgegenkommen einer ihr völlig fremden Dame machen möge.

Miß Halcombe verließ mich in der Absicht, zuerst mit der Frau des Pächters zu sprechen (deren Bereitwilligkeit, ihr auf jede mögliche Weise zu helfen, sie sich versichert hielt), während ich unfern des Hauses auf sie wartete.

Ich war ganz darauf vorbereitet, ziemlich lange warten zu müssen. Zu meinem Erstaunen aber waren kaum fünf Minuten verflossen, als Miß Halcombe schon wieder zurückkehrte.

»Weigert sich Anna Catherick, Sie zu sehen?« frug ich erstaunt.

»Anna Catherick ist fort,« erwiderte Miß Halcombe.

»Fort!«

»Fort mit Mrs. Clements. Beide verließen das Gehöfte heute Morgen um acht Uhr.«

Ich konnte kein Wort sagen – ich konnte nur fühlen, daß unsere letzte Aussicht auf Entdeckung des Geheimnisses mit ihnen geschwunden war.

»Alles, was Mrs. Todd über ihre Gäste weiß, habe ich erfahren,« fuhr Miß Halcombe fort, »und es läßt mich, wie Sie, im Dunkeln. Sie kamen Beide gestern Abend nachdem sie Sie verlassen, wohlbehalten zurück und brachten den ersten Theil des Abends, wie gewöhnlich, mit Mrs. Todd’s Familie zu. Aber gerade vor dem Nachtessen erschreckte Anna Catherick sie alle, indem sie ohnmächtig wurde. Sie hatte an dem Tage ihrer Ankunft auf dem Gehöfte einen Anfall ähnlicher Art gehabt, und Mrs. Todd hatte es damals auf etwas geschoben, was sie in unserer Ortszeitung gelesen, welche sie einen Augenblick vorher vom Tische genommen hatte.«

»Weiß Mrs. Todd, welche besondere Stelle in der Zeitung sie so erregte?« frug ich.

»Nein,« entgegnete Miß Halcombe. »Sie hatte sie durchgesehen und Nichts darin gefunden, was irgend Jemand erregen könnte. Ich bat indessen um die Erlaubniß, die Zeitung ebenfalls zu sehen, und schon auf der ersten Seite sah ich, daß der Redacteur Stoff zu seinen Neuigkeiten aus unseren Familienangelegenheiten geschöpft und unter anderen Tagesneuigkeiten die Verlobung meiner Schwester bekannt gemacht hatte, welche er den Londoner Zeitungen und ›Vermählungen in der vornehmen Welt‹ entlehnte. Ich schloß demnach sogleich, daß dies die Stelle gewesen, die einen so heftigen Eindruck für Anna Catherick gemacht hatte, und es schien mir außerdem hierin die Veranlassung des Briefes zu liegen, den sie am folgenden Tage nach unserem Hause schickte.«

»In beiden Fällen liegt nicht der geringste Zweifel vor. Aber was hörten Sie über ihren gestrigen Ohnmachtsfall?«

»Nichts. Die Ursache desselben ist ein vollkommenes Geheimniß. Es war niemand Fremdes im Zimmer. Der einzige Besuch war der unserer Milchmagd, die, wie ich Ihnen schon sagte, eine Tochter von Mr. Todd ist, und die Unterhaltung war die gewöhnliche, über Ortsneuigkeiten. Sie hörten sie, anscheinend ohne die geringste Ursache, einen Schrei ausstoßen, und sahen sie dann bis zum Tode erbleichen. Mrs. Todd und Mrs. Clements brachten sie oben hinauf, und Mrs. Clements blieb bei ihr. Man hörte sie bis spät nach der gewöhnlichen Schlafenszeit zusammen sprechen, und ganz früh heute Morgen nahm Mrs. Clements Mrs. Todd bei Seite und überraschte sie über alle Beschreibung mit der Ankündigung, daß sie sie verlassen müßten. Die einzige Erklärung, welche Mrs. Todd aus ihrer Freundin herausbringen konnte, war, daß sich etwas ereignet habe, woran Niemand auf dem Gehöfte die Schuld trage, das aber so ernster Art sei, daß Anna Catherick in Folge dessen Limmeridge zu verlassen beschlossen habe. Es war nutzlos, auf deutlichere Erklärung zu dringen. Mrs. Clements schüttelte nur den Kopf und bat, daß man sie um Anna Catherick’s willen nicht ferner befragen wolle. Alles, was sie wiederholen konnte – wobei man sah, daß sie selbst ernstlich bewegt war – bestand darin, daß Anna abreisen und sie dieselbe begleiten und der Ort, nach dem sie sich jetzt hinwenden würden, jedermann ein Geheimniß bleiben müsse. Ich verschone Sie mit der Erzählung von Mrs. Todd’s gastfreundlichen Vorstellungen und Weigerungen. Dieselben endeten damit, daß sie mit Beiden vor mehr als drei Stunden nach der Eisenbahnstation fuhr. Sie versuchte unterwegs Alles Mögliche, um Mrs. Clements zu bewegen, sich deutlicher auszusprechen, aber ohne allen Erfolg. Und sie fühlte sich so verletzt und beleidigt durch die rücksichtslose Hast ihrer Abreise und den unfreundlichen Mangel an Vertrauen zu ihr, daß sie Beide vor der Station absteigen ließ, ohne ihnen Adieu gesagt zu haben. Das ist genau, was sich zugetragen hat. Suchen Sie in Ihrem Gedächtnisse, Mr. Hartright, und sagen Sie mir, ob sich gestern Abend auf dem Begräbnißplatze irgend etwas ereignet hat, daß diese sonderbare Abreise der beiden Frauen heute Morgen erklären konnte.«

»Ich möchte mir erst die seltsame Veränderung in Anna Catherick erklären, welche die Leute auf dem Gehöfte erschreckte, mehrere Stunden nachdem sie und ich auseinander gegangen waren und nachdem Zeit genug verflossen, um sich von irgend einer Aufregung, die ich das Unglück hatte, ihr zu verursachen, zu erholen. Haben Sie besonders gefragt, worüber man sich eben im Zimmer unterhielt, als sie ohnmächtig wurde?«

»Ja. Aber Mrs. Todd’s Aufmerksamkeit scheint gestern Abend während der Unterhaltung in ihrem Wohnzimmer zum Theil durch ihre häuslichen Angelegenheiten in Anspruch genommen gewesen zu sein. Sie konnte mir blos sagen, daß es ›eben die Neuigkeiten‹ waren, womit sie vermutlich meinte, daß sie sich Alle wie gewöhnlich unterhielten.«

»Das Gedächtniß der Milchmagd mag besser sein als das ihrer Mutter,« sagte ich. »vielleicht wäre es gut, Miß Halcombe, wenn Sie mit dem Mädchen redeten, sobald wir nach Hause kommen.«

Miß Halcombe handelte, sowie wir im Hause anlangten, nach meinem Vorschlage. Sie führte mich nach den Nebengebäuden herum, und wir fanden das Mädchen in der Milchkammer, wo sie mit bis an die Achseln aufgestreiften Aermeln eine Milchschale ausspülte und fröhlich bei ihrer Arbeit sang.

»Ich bringe diesen Herrn, um ihm Deine Milchkammer zu zeigen, Hanna,« sagte Miß Halcombe, »sie ist eine von den Sehenswürdigkeiten des Hauses und macht dir alle Ehre.«

Das Mädchen erröthete, machte einen Knix und sagte verlegen, sie hoffe, daß sie immer ihr Möglichstes thue, um Alles hübsch sauber und ordentlich zu halten.

»Wir kommen eben von Deines Vaters Hause her,« fuhr Miß Halcombe fort. »Du warst gestern Abend dort, wie ich höre, und fandest Besuch vor?«

»Ja, Miß.«

»Eine der Anwesenden wurde ohnmächtig, wie man mir erzählt hat? Wurde irgend etwas erzählt oder gethan, das sie erschrecken konnte? Du erzähltest doch nicht etwa irgend etwas Fürchterliches, wie?«

»O nein, Miß,« sagte das Mädchen lachend, »wir sprachen nur von den Neuigkeiten.«

»Deine Schwestern erzählten dir die Neuigkeiten von Todd’s Ecke, vermuthlich?«

»Ja, Miß.«

»Und Du erzähltest ihnen dafür die Neuigkeiten in Limmeridge House?«

»Ja, Miß. Und ich weiß es ganz gewiß, daß Nichts gesagt wurde, was das arme Geschöpf erschrecken konnte, denn ich sprach gerade in dem Augenblicke, wo ihr unwohl wurde. Mir wurde ganz schlecht zu Muthe, als ich es sah, Miß, da ich noch niemals Jemanden habe ohnmächtig werden sehen.«

Ehe Miß Halcombe dem Mädchen noch fernere Fragen vorlegen konnte, wurde dieses abgerufen, um an der Thür einen Korb mit Eiern entgegenzunehmen. Als sie uns verließ, flüsterte ich Miß Halcombe zu:

»Fragen Sie sie, ob sie gestern Abend zufällig erwähnte, daß Besuch in Limmeridge House erwartet werde.«

Miß Halcombe bedeutete mich mit einem Blicke, daß sie mich verstanden, und that die Frage, sowie das Milchmädchen zurückkehrte.

»O ja, Miß, ich erwähnte das,« sagte dieses ganz einfach. »Die Neuigkeiten von dem erwarteten Besuch und von dem Falle mit der scheckigen Kuh waren Alles, was ich ihnen zu erzählen hatte.«

»Hast Du Namen genannt? Hast Du gesagt, daß wir Sir Percival Glyde am Montag erwarten?«

»Ja, Miß – ich erzählte, daß Sir Percival Glyde am Montag kommen werde. Ich hoffe, es war Nichts Böses darin, und daß ich kein Unheil damit angerichtet habe?«

»O nein, Nichts Böses. Kommen Sie, Mr. Hartright, wir werden Hanna im Wege sein, wenn wir sie noch länger bei der Arbeit stören.«

Sowie wir wieder allein waren, standen wir stille und sahen einander an.

»Zweifeln Sie jetzt, Miß Halcombe?«

»Sir Percival Glyde soll meinen Zweifel entweder beseitigen, – oder Laura Fairlie niemals seine Frau werden.«



Kapiteltrenner

XIV.

Als wir zur Vorderseite des Hauses herum gingen, kam uns ein Fiaker von der Eisenbahnstation auf dem Fahrwege entgegen. Miß Halcombe wartete an der Hausthür, bis der Fiaker vor derselben hielt, und trat dann vor, um einen alten Herrn, der gewandt herausgesprungen, sowie der Tritt herabgelassen war, die Hand zu geben. Mr. Gilmore war angelangt.

Ich betrachtete ihn, als wir einander vorgestellt wurden, mit einem Interesse und einer Neugierde, die ich kaum verbergen konnte. Dieser alte Mann sollte in Limmeridge House bleiben, nachdem ich es verlassen hatte; er sollte Sir Percival Glyde’s Erklärung hören und Miß Halcombe’s Urtheil mit seiner Erfahrung zu Hilfe kommen; er sollte bleiben, bis die Heiratsfrage bestimmt sei, und seine Hand sollte, falls diese Bestimmung bejahend ausfiele, den Contract aufsetzen, der Miß Fairlie unwiderruflich an die von ihr eingegangene Verpflichtung band. Selbst damals schon, wo ich doch im Vergleiche zu dem, was ich jetzt weiß, erst sehr wenig wußte, betrachtete ich den Advocaten der Familie mit einem Interesse, wie ich es nie zuvor irgend einem Manne gegenüber gefühlt hatte, der mir so völlig fremd war.

Dem Aeußern nach war Mr. Gilmore gerade das Gegentheil von der conventionellen Idee, die man sich von einem alten Advocaten macht. Seine Gesichtsfarbe war blühend; sein weißes Haar ziemlich lang und sorgfältig gebürstet; sein schwarzer Rock, Weste und Beinkleid saßen ihm vortrefflich; sein weißes Halstuch war sorgfältig geknüpft, und seine lavendelfarbenen Handschuhe hätte ein Mode-Prediger tragen können – ohne Furcht und ohne Tadel. Sein Benehmen zeichnete sich angenehm durch die förmliche Anmuth und Feinheit der alten Schule der Höflichkeit aus, belebt durch die wohlthuende Schärfe und Leichtigkeit eines Mannes, den seine Geschäfte nöthigen, alle seine Fähigkeiten im Gange zu erhalten. Eine sanguinische Constitution und gute Aussichten bei seinem Eintritte in’s Leben; eine lange Carrière in rühmlichem und angenehmem Wohlstande; ein frohes, fleißiges, allgemein geachtetes Alter –: dies waren die allgemeinen Eindrücke, die er, als wir einander zuerst vorgestellt wurden, auf mich machte, und ich lasse ihm nur Gerechtigkeit widerfahren, wenn ich hinzufüge, daß meine spätere und längere Bekanntschaft nur dazu diente, sie zu bestätigen.

Ich ließ den alten Herrn allein mit Miß Halcombe in’s Haus gehen, damit sie sich, ungestört durch den Zwang der Gegenwart eines Fremden, von Familienangelegenheiten unterhalten könnten; mein Antheil an den Nachforschungen, welche der anonyme Brief gemacht hatte, war zu Ende.

Es konnte Niemandem als mir selbst ein Leid daraus erwachsen, wenn ich mein Herz während der kurzen Zeit, die mir noch blieb, von dem kalten, grausamen Zwange befreite, welchen die Nothwendigkeit mich gelehrt hatte, ihm aufzulegen, und von den Stellen Abschied nahm, die mit der kurzen Traumzeit meines Glückes und meiner Liebe in Beziehung gestanden hatten.

Ich wandte instinctmäßig meine Schritte nach dem Wege unter dem Fenster meines Ateliers, auf dem ich Laura Abends vorher mit ihrem kleinen Hunde hatte gehen sehen, und folgte dem Pfade, den ihre lieben Füße so oft betreten, bis ich an das kleine Pförtchen kam, das in den Rosengarten führte. Der kahle Winter lag jetzt kalt darüber ausgebreitet. Die Blumen, deren Namen sie mich gelehrt, die Blumen, die ich sie zeichnen gelehrt hatte – waren fort und die schmalen weißen Pfade, die sich von einem Beete zum anderen zogen, waren bereits feucht und grün. Ich wanderte nach der großen Baumallee, wo wir zusammen den warmen Duft der Augustabende geathmet; wo wir die Myriaden Combinationen von Schatten und Sonnenlicht, die den Boden zu unseren Füßen sprenkelten, miteinander bewundert hatten. Die Blätter stoben um mich her aus den ächzenden Zweigen, und der erdige Modergeruch in der Atmosphäre drang mir bis in’s Mark. Ein wenig weiter und ich hatte den Garten verlassen und folgte dem Pfade, der sich allmälig nach den nächsten Hügeln hinaufwand. Der alte Baumstumpf, auf dem wir ausgeruht hatten, war wasserhart von Regen, und der Busch von Farnkraut und Gräsern am Fuße der rohen Steinmauer vor uns, den ich für sie gezeichnet hatte, war, von einer fauligen Lache umgeben, eine im Kothe schwimmende Unkrautinsel geworden. Ich erreichte den Gipfel des Hügels und schaute auf die Aussicht, die wir in glücklichen Zeiten so oft bewundert hatten. Dieselbe war kalt und kahl – es war nicht mehr dieselbe Aussicht. Der Sonnenschein ihrer Gegenwart war fern; der Reiz ihrer Stimme liebkoste nicht mehr mein Ohr. Auf der Stelle, an der ich jetzt stand, hatte sie mir von ihrem Vater erzählt, der von ihren Eltern zuletzt gestorben war; wie sie einander so lieb gehabt und wie sehr er ihr noch immer fehle, wenn sie gewisse Zimmer des Hauses betrete und vergessene Beschäftigungen und Unterhaltungen wieder aufnehme, die sie an ihn erinnerten, war die Aussicht, auf die ich geschaut, als ich jenen Worten lauschte, dieselbe, die ich jetzt erblickte, wo ich allein auf der Höhe stand? Ich wandte mich ab und verließ sie; ich nahm meinen Weg zurück über die Haide um die Sandhügel herum nach dem Strande hinunter. Da war die weiße Wuth der Brandung, da war die ewig wechselnde Pracht der tanzenden Wellen; wo aber war die Stelle, wo sie einst scherzend mit ihrem Sonnenschirme Figuren in den Sand gezeichnet hatte; die Stelle, wo wir nebeneinander gesessen, während sie von mir selbst und von meiner Heimat zu mir sprach und mich mit der genauen Beobachtung der Frauen über meine Mutter und Schwester befragte und sich in unschuldsvollen Muthmaßungen erging, ob ich je meine einsame Junggesellenwohnung verlassen und eine Frau und ein eigenes Haus haben werde? Wind und Wellen hatten längst die Spur verwischt, welche in jenen Zeichen im Sande von ihr zurückblieb. Ich schaute auf die weite Einförmigkeit des Meeres hinaus, und die Stelle, an der wir Beide so glückliche, müßige, sonnige Stunden zugebracht hatten, war mir so verloren, als ob ich sie nie gekannt, so fremd, als stände ich schon an einem fernen Gestade. –

Die leere Stille am Meeresufer fiel kalt auf mein Herz. Ich kehrte zum Hause und Garten zurück, wo an jeder Stelle Spuren waren, die mir von ihr sprachen.

Auf dem westlichen Terrassengange begegnete mir Mr. Gilmore. Er hatte mich offenbar gesucht, denn er beschleunigte seine Schritte, als wir einander ansichtig wurden. Mein Gemüthszustand eignete sich nicht sehr für die Gesellschaft eines Fremden. Aber das Zusammentreffen war unvermeidlich, und ich ergab mich darein.

»Sie sind gerade Derjenige, den ich zu sehen wünschte,« sagte der alte Herr; »ich habe ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen, mein lieber Herr, und wenn Sie Nichts dawider haben, will ich diese Gelegenheit dazu benützen. Um offen zu sein: Miß Halcombe und ich haben über Familienangelegenheiten verhandelt, um deretwillen ich hier bin, und im Verlaufe unserer Unterhaltung erwähnte sie natürlich diese unangenehme Geschichte von dem anonymen Briefe und des Antheils, den Sie bisher auf so lobenswerthe und paßliche Weise an den Nachforschungen genommen. Dieser Antheil läßt Sie, wie ich vollkommen begreife, ein Interesse daran nehmen – wie dies sonst wohl nicht der Fall gewesen wäre – zu wissen, daß die künftige Leitung der Nachforschungen, welche Sie begonnen haben, sicheren Händen übergeben werden soll. Seien Sie über diesen Punkt ohne alle Sorge, mein lieber Herr, dieselbe ist in meinen Händen.«

»Sie sind in jeder Hinsicht ein besserer Rathgeber und Beistand in der Sache, als ich bin, Mr. Gilmore. Wäre es eine Unbescheidenheit von mir, wenn ich Sie fragte, ob Sie Ihren Plan des Verfahrens bereits festgestellt haben?«

»Soweit es mir möglich ist, darüber zu bestimmen, Mr. Hartright, habe ich darüber bestimmt. Ich beabsichtige, eine Abschrift des Briefes mit einer Angabe der Umstände an Sir Percival Glyde’s Rechtsanwalt in London, mit dem ich ziemlich bekannt bin, einzusenden. Den Brief selbst werde ich hier behalten, um ihn Sir Percival zu zeigen, sowie er ankommt. Das Aufsuchen der beiden Frauenzimmer habe ich bereits besorgt, indem ich einen Diener Mr. Fairlie’s, der ein zuverlässiger Mensch ist, nach der Eisenbahnstation abgeschickt, um Erkundigungen einzuziehen. Der Mann hat Geld und Instructionen erhalten und wird den Frauen folgen, falls er ihre Spur findet. Das ist Alles, was wir thun können, bis Sir Percival selbst am Montag anlangt. Ich für meine Person hege keinen Zweifel, daß er uns bereitwillig jede Aufklärung geben wird, die man von einem Gentleman, einem Ehrenmanne erwarten kann. Sir Percival ist ein Mann von hoher Geburt, Sir – sein Ruf ist über allen Verdacht erhaben – und ich bin über den Erfolg vollkommen beruhigt; vollkommen beruhigt, wie ich Sie mit Vergnügen versichern darf. Derartige Sachen kommen mir in meinen Erfahrungen alle Tage vor. Anonyme Briefe – unglückliche Frauenzimmer – trauriger Zustand der menschlichen Gesellschaft. Ich leugne nicht, daß dieser Fall noch ein besonders verwickelter ist; aber der Fall selbst ist unglücklicherweise häufig, sehr häufig.«

»Ich fürchte, Mr. Gilmore, daß ich das Unglück habe, die Sache nicht ganz aus demselben Gesichtspunkte anzusehen, wie Sie.«

»Ganz recht, mein lieber Herr, ganz recht. Ich bin ein alter Mann und sehe die Sache von ihrem praktischen Gesichtspunkte an. Sie sind ein junger Mann, und Ihre Auffassung ist eine romantische. Lassen Sie uns unsere Ansichten nicht bestreiten. In meinem Berufe lebe ich in einer Atmosphäre von Streit, Mr. Hartright, und bin froh, wenn ich ihr entwischen kann, sobald ich hierher komme. Wir wollen die Sache abwarten – ja, ja, ja; wir wollen die Sache abwarten. Sehr angenehmer Ort dies. Gute Jagd? Wohl kaum. Mr. Fairlie’s Grund und Boden ist nirgends eingehegt, wie ich glaube. Aber doch ein sehr angenehmer Ort und charmante Leute. Sie zeichnen und malen, wie ich höre, Mr. Hartright? Beneidenswerthes Talent. In welchem Genre?«

wir verfielen in ein allgemeines Gespräch – oder vielmehr Mr. Gilmore sprach, und ich hörte zu. Meine Aufmerksamkeit war weit von ihm und den Gegenständen entfernt, von denen er so geläufig redete. Mein einsamer, zweistündiger Spaziergang hatte seine Wirkung auf mich gehabt – er hatte mich bestimmt, meine Abreise von Limmeridge House möglichst zu beschleunigen, warum sollte ich die bittere Prüfung des Abschiednehmens noch um eine unnöthige Minute verlängern? Wie konnte ich irgend Jemandem noch ferner von Nutzen sein? Ich konnte durch ferneres Bleiben in Cumberland keinem nützlichen Zwecke mehr dienen und in seiner Erlaubniß zu meiner Abreise hatte Mr. Fairlie mich auf keine Zeit beschränkt. Warum also nicht sofort der Sache ein Ende machen?

Ich beschloß dies zu thun. Der Tag war nicht zu Ende – und es lag kein Grund vor, daß ich meine Rückreise nach London nicht schon an demselben Nachmittage anträte. Ich machte Mr. Gilmore die erste höfliche Entschuldigung, welche mir einfiel, und kehrte zum Hause zurück.

Auf dem Wege nach meinem Zimmer begegnete mir Miß Halcombe auf der Treppe. Sie sah es meiner Eile und meinem geänderten Benehmen an, daß ich irgend eine neue Absicht hatte, und frug mich, was sich zugetragen habe.

Ich sagte ihr die Gründe, welche mich bewogen hatten, meine Abreise zu beschleunigen, gerade wie ich sie hier mitgetheilt habe.

»Nein, nein,« sagte sie dringend und herzlich, »verlassen Sie uns wie ein Freund; brechen Sie noch einmal Brot mit uns. Bleiben Sie zum Diner da; bleiben Sie und helfen Sie uns, den letzten Abend so glücklich wie möglich und den ersten Abenden so ähnlich wie möglich hinzubringen. Es ist meine Einladung, Mrs. Vesey’s Einladung –« sie zögerte ein wenig und fügte dann hinzu »und Lauras Einladung.«

Ich versprach zu bleiben. Gott weiß, daß ich auch nicht den Schatten eines schmerzlichen Eindruckes bei irgend einer von ihnen zurückzulassen wünschte.

Mein Zimmer war der beste Ort für mich, bis zu Tische geläutet wurde. Ich blieb dort, bis es Zeit war, in’s Gesellschaftszimmer hinunter zu gehen.

Ich hatte den ganzen Tag noch nicht mit Miß Fairlie gesprochen – ich hatte sie selbst noch nicht einmal gesehen. Unser erstes Zusammentreffen, als ich in’s Gesellschaftszimmer trat, war eine schwere Probe für ihre Selbstbeherrschung sowohl, wie für die meinige. Auch sie hatte ihr Möglichstes gethan, um den letzten Abend die goldene verflossene Zeit erneuern zu lassen – die Zeit, die nie zurückkehren konnte. Sie trug das Kleid, das ich mehr als jedes andere in ihrem Besitze zu bewundern pflegte, ein Kleid von dunkelblauer Seide, das eigenthümlich und hübsch mit altmodischen Spitzen verziert war. Sie kam mir mit all ihrer früheren Bereitwilligkeit entgegen und gab mir die Hand mit dem offenen, unschuldigen Wohlwollen glücklicherer Tage. Die kalten Finger, welche sich so zitternd um die meinigen schlossen; die bleichen Wangen, auf deren Mitte helle Fieberröthe glühte; das matte Lächeln, das sich auf den Lippen zu erhalten suchte und schon darauf erstarb, während ich sie anblickte, Alles dies sagte mir, mit welchen Opfern es ihr gelang, sich diese äußere Fassung zu bewahren. Ich konnte sie nicht inniger in’s Herz schließen, sonst hätte ich sie in diesem Augenblicke geliebt, wie noch nie zuvor.

Mr. Gilmore war uns von großem Nutzen. Er war in bester Laune und führte die Unterhaltung mit unermüdlicher Munterkeit. Miß Halcombe unterstützte ihn nach Kräften, und ich that Alles, was in meiner Macht lag, um ihrem Beispiele zu folgen. Die lieben blauen Augen, deren wechselnden Ausdruck ich so gut zu deuten gelernt hatte, sahen mich flehend an, als wir uns zu Tische setzten. Helfen Sie meiner Schwester – schien das gelbe Antlitz zu sagen – helfen Sie meiner Schwester und Sie werden mir helfen.

Wir kamen allem äußeren Anscheine nach wenigstens glücklich mit dem Mittagessen zu Ende. Als die Damen den Tisch verlassen und Mr. Gilmore und ich allein geblieben waren, bot sich unserer Aufmerksamkeit ein neues Interesse, welches mir die Gelegenheit verschaffte, mich durch einige Minuten der Ruhe und des willkommenen Schweigens wieder zu fassen. Der Diener, der ausgesandt worden, um die Spur von Anna Catherick und Mrs. Clements zu verfolgen, kehrte mit seinem Berichte zurück und wurde augenblicklich in’s Eßzimmer gebracht.

»Nun,« sagte Mr. Gilmore, »was haben Sie ausgespürt?«

»Ich habe ausfindig gemacht, Sir,« sagte der Mann, »daß die beiden Frauenzimmer auf unserer Station Billete nach Carlisle nahmen.«

»Sie gingen darauf natürlich nach Carlisle?«

»Ja wohl, Sir; aber ich muß leider sagen, daß ich auch nicht eine Spur weiter von ihnen entdecken konnte.«

»Sie erkundigten sich auf der Eisenbahn?«

»Ja, Sir.«

»Und in den verschiedenen Wirthshäusern?«

»Ja, Sir.«

»Und gaben den Bericht, den ich für Sie aufschrieb, auf der Polizei ab?«

»Ja wohl, Sir.«

»Nun, mein Bester, da haben Sie Alles gethan, was Sie konnten, und ich habe Alles gethan, was ich konnte, und da muß die Sache jetzt ruhen bis auf Weiteres. Wir haben unsere Trumpfkarten ausgespielt, Mr. Hartright,« fuhr der alte Herr fort, als der Diener das Zimmer verlassen hatte. »Für den Augenblick wenigstens haben die Frauenzimmer uns überlistet; und das Einzige, was uns noch übrig bleibt, ist jetzt zu warten, bis Sir Percival Glyde kommt. Wollen Sie Ihr Glas nicht noch einmal füllen? Sehr guter Portwein das – ein kräftiger, starker Wein. Uebrigens besitze ich besseren in meinem Keller.«

Wir kehrten ins Gesellschaftszimmer zurück, das Zimmer, in welchem ich die glücklichsten Abende meines Lebens zugebracht hatte und das ich nach diesem letzten Abende niemals wieder sehen sollte. Sein Anblick hatte sich verändert, seit die Tage kürzer und das Wetter kälter geworden. Die Glasthüren auf der Terrassenseite waren geschlossen und durch dichte Vorhänge verborgen. Statt des sanften Zwielichtes, in dem wir zu sitzen pflegten, blendete jetzt helles Lampenlicht meine Augen. Alles war anders – im Hause wie draußen, Alles so ganz anders!

Miß Halcombe und Mr. Gilmore setzten sich zusammen an den Kartentisch. Mrs. Vesey nahm ihren gewohnten Sitz ein. Sie fühlten keinen Zwang darüber, wie sie den Abend hinbringen sollten; und ich fühlte um so mehr den Zwang über die Art und Weise, ihn meinerseits hinzubringen. Ich sah Miß Fairlie am Notentischchen zögern. Es hatte eine Zeit gegeben, wo ich mich zu ihr gesellt hätte. Ich wartete unentschlossen, ich wußte nicht, wohin ich gehen, noch was ich beginnen sollte. Sie warf einen schnellen Blick nach mir hin, nahm ein Musikstück von dem Tischchen und kam von selbst zu mir hin.

»Soll ich Ihnen einige von den kleinen Melodien von Mozart vorspielen, die Sie so gern zu hören pflegten?« sagte sie, indem sie verwirrt das Heft öffnete und darauf niedersah, während sie sprach.

Ehe ich ihr noch danken konnte, eilte sie schon an’s Instrument. Der Sessel daneben, den ich immer einzunehmen pflegte, stand leer. Sie schlug ein paar Accorde an – schaute sich nach mir um und dann wieder auf ihre Noten.

»Wollen sie nicht an Ihren alten Platz kommen?« sagte sie sehr schnell und mit sehr leiser Stimme.

»An diesem letzten Abende darf ich ihn wohl noch einnehmen,« entgegnete ich.

Sie erwiderte Nichts, sondern richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Musik – eine Musik, die sie auswendig wußte, die sie in früheren Zeiten zu wiederholten Malen ohne das Musikheft gespielt hatte. Ich wußte nur, daß sie mich gehört hatte, daß sie meine Nähe gewahr geworden, als ich die rothe Stelle von ihren Wangen schwinden und ihr Gesicht gänzlich erbleichen sah.

»Es thut mir sehr leid, daß Sie abreisen,« sagte sie mit so leiser Stimme, daß es beinahe geflüstert war; sie heftete ihre Augen immer aufmerksamer auf die Noten, während ihre Finger mit einer seltsamen, fieberhaften Energie über die Tasten dahineilten, die ich noch nie zuvor an ihr bemerkt hatte.

»Ich werde mich dieser gütigen Worte erinnern, Miß Fairlie, lange nachdem der morgende Tag gekommen und vergangen ist.«

Die Blässe auf ihrem Gesichte wurde noch weißer, und sie wandte es noch mehr von mir ab.

»Sprechen Sie nicht von morgen,« sagte sie. »Lassen Sie die Musik in glücklicherer Sprache reden, als der unsrigen von heute Abend.«

Ihre Lippen bebten, ein schwacher Seufzer, den sie vergebens zu unterdrücken gesucht, entwand sich ihrer Brust. Ihre Finger glitten unsicher über die Tasten; sie schlug eine falsche Note an, verwirrte sich, indem sie dieselbe berichtigen wollte, und ließ die Hände ungeduldig auf den Schooß sinken. Miß Halcombe und Mr. Gilmore blickten erstaunt vom Kartentische herüber, und Mrs. Vesey erwachte durch das plötzliche Aufhören der Musik aus ihrem Schlummer und frug, was es gäbe.

»Spielen Sie Whist, Mr. Hartright?« frug mich Miß Halcombe, indem sie bedeutungsvoll nach meinem Platze hinblickte.

Ich wußte, was sie meinte, ich wußte, daß sie Recht hatte, und stand augenblicklich auf, um an den Kartentisch zu gehen. Als ich das Instrument verließ, schlug Miß Fairlie ein Blatt ihres Notenheftes um und spielte wieder mit sicherer Hand.

»Ich will es spielen,« sagte sie, fast leidenschaftlich anschlagend, »ich will es spielen – an diesem letzten Abend.«

»Kommen Sie, Mrs. Vesey,« sagte Miß Halcombe, »Mr. Gilmore und ich haben genug vom Ecarté – kommen Sie und seien Sie Mr. Hartright’s Partner beim Whist.«

Der alte Advocat lächelte satyrisch. Er war der Gewinnende gewesen und hatte gerade eben den König ausgespielt. Er schrieb Miß Halcombe’s plötzliche Veränderung in der Anordnung des Kartentisches offenbar der Laune einer Dame zu, die es nicht ertragen konnte, zu verlieren.

Der Rest des Abends verging ohne ein Wort oder einen Blick weiter von ihr. Sie blieb an ihrem Platze am Instrument und ich an dem meinigen am Kartentische. Sie spielte ununterbrochen, spielte, als ob sie in der Musik ihre einzige Zuflucht vor sich selber fände. Zuweilen berührten ihre Finger die Tasten mit einem Ausdrucke zögernder Liebe, einer sanften, klagenden, hinsterbenden Zärtlichkeit, der unaussprechlich schön und rührend war – und dann wieder glitten sie unsicher oder eilten mechanisch über die Tasten dahin, als ob ihre Aufgabe ihnen eine unerträgliche Last sei. Aber wie sie auch in ihrer Unsicherheit den Ausdruck verändern mochten, den sie der Musik verliehen, sie spielten entschlossen weiter. Sie erhob sich nicht eher von ihrem Platze, als da wir Alle aufgestanden und einander gute Nacht wünschten.

Mrs. Vesey war der Thür am nächsten und die Erste, welche mir die Hand gab.

»Ich werde sie nicht wieder sehen, Mr. Hartright,« sagte die alte Dame, »es thut mir aufrichtig leid, daß Sie schon fortgehen. Sie waren immer sehr freundlich und aufmerksam, und eine alte Frau, wie ich, empfindet Freundlichkeit und Aufmerksamkeit. Ich wünsche Ihnen Alles Gute, Sir – ich sage Ihnen ein herzliches Lebewohl.«

Dann kam Mr. Gilmore.

»Ich hoffe, wir werden künftig noch Gelegenheit finden, unsere Bekanntschaft fortzusetzen, Mr. Hartright. Sie verstehen doch vollkommen, daß jene kleine Angelegenheit in meinen Händen wohl aufbewahrt ist? Ja, ja, versteht sich. Mein Gott, wie kalt es schon ist! Ich will Sie nicht länger an der Thür zurückhalten. Bon voyage, mein lieber Herr, bon voyage, wie der Franzose sagt.«

Miß Halcombe war die Nächste.

»Morgen früh um halb acht Uhr,« sagte sie und fügte dann flüsternd hinzu, »ich habe mehr gesehen und gehört, als Sie glauben. Ihr Benehmen heute Abend hat mich auf Lebenszeit zu Ihrer Freundin gemacht.«

Miß Fairlie kam zuletzt. Ich wagte nicht, sie anzusehen, als ich ihre Hand nahm und an den nächsten Morgen dachte.

»Meine Abreise wird sehr früh stattfinden, Miß Fairlie,« sagte ich, »ich werde fort sein, ehe Sie –«

»Nein, nein,« unterbrach sie mich hastig, »nicht, ehe ich herunter komme. Ich werde mit Marianne zum Frühstück herunter kommen. Ich bin nicht so undankbar, kann die letzten drei Monate nicht so leicht vergessen –«

Ihre Stimme versagte ihr; ihre Hand schloß sich sanft um die meinige und ließ sie dann plötzlich fallen. Ehe ich noch »gute Nacht« sagen wollte, war sie verschwunden.

Das Ende kommt mir schnell entgegen, kommt unvermeidlich, wie das Licht des letzten Morgens in Limmeridge House.

Es war kaum halb acht Uhr, als ich hinunter ging, aber ich fand Beide bereits am Frühstückstisch, mich erwartend. In der kalten Luft, in dem trüben Lichte, in der finsteren Morgenstille setzten wir Drei uns an den Frühstückstisch und versuchten zu essen und zu sprechen. Der Kampf, den Schein zu bewahren, war hoffnungslos – war nutzlos; ich stand auf, um ihm ein Ende zu machen.

Als ich meine Hand ausstreckte und Miß Halcombe, die mir zunächst war, dieselbe nahm, wandte Miß Fairlie sich plötzlich ab und eilte aus dem Zimmer.

»Es ist besser so,« sagte Miß Halcombe, als die Thür sich hinter ihr schloß, »es ist besser so, für Sie und für Laura.«

Ich zögerte einen Augenblick, ehe ich sprechen konnte – es war so hart, sie zu verlieren ohne ein Abschiedswort oder einen Abschiedsblick. Ich faßte mich wieder und versuchte, mit passenden Worten Miß Halcombe Lebewohl zu sagen; aber alle Abschiedsworte, die ich hätte sprechen mögen, lösten sich in einem einzigen Satze auf:

»Verdiene ich, daß Sie mir schreiben!« war Alles, was ich sagen konnte.

»Sie Edelster, haben Alles verdient, was ich für Sie thun kann, so lange wir Beide leben. Was auch das Ende sei, Sie sollen es erfahren.«

»Und wenn ich jemals wieder von Nutzen sein kann, zu irgend einer künftigen Zeit, lange nachdem meine Anmaßung und Thorheit vergessen –«

Ich konnte nicht weiter. Die Stimme versagte mir, meine Augen wurden trübe, wie sehr ich auch dagegen ankämpfte.

Sie ergriff meine beiden Hände – sie drückte sie fest wie mit dem Griffe eines Mannes – ihre schwarzen Augen glänzten – ihre dunklen Wangen errötheten tief – die Kraft und Energie ihres Gesichtes glühte und wurde wunderschön in dem reinen inneren Lichte ihrer Großmuth und ihres Mitleids.

»Ich will Ihnen vertrauen, wenn jemals die Zeit kommt, da will ich Ihnen vertrauen, wie meinem Freunde und ihrem Freunde; wie meinem Bruder und ihrem Bruder.« Sie hielt inne, trat näher zu mir heran – das furchtlose, edle Weib berührte schwesterlich meine Stirn mit ihren Lippen und nannte mich bei meinem Vornamen.

»Gott segne Sie, Walter,« sagte sie, »warten Sie hier allein und fassen Sie sich – ich will um unsrer Beider willen lieber gehen; ich will Sie lieber vom Balcon herab abreisen sehen.«

Sie verließ das Zimmer. Ich wandte mich zum Fenster, wo Nichts als die einsame Herbstlandschaft meinen Blicken begegnete – ich wandte mich ab, um meine Bewegung zu bemeistern, ehe auch ich das Zimmer verließ – auf immer verließ.

Es verging eine Minute – es konnte kaum mehr gewesen sein, als ich die Thür noch einmal leise öffnen hörte, und es nahte sich nur das Rauschen eines Frauenkleides. Mein Herz schlug heftig, als ich mich umwandte. Miß Fairlie kam vom entgegengesetzten Ende des Zimmers auf mich zu.

Sie stand still und zögerte, als sich unsere Blicke begegneten und sie gewahr wurde, daß wir allein seien. Dann trat sie mit jenem Muthe, den die Frauen bei geringen Gelegenheiten so leicht, bei großen so selten verlieren, zu mir heran, mit einem seltsam bleichen, ruhigen Antlitze, indem sie eine Hand auf dem Tische nach sich zog, wie sie an demselben entlang ging, und in der anderen, die an ihrer Seite hing, etwas hielt, das die Falten ihres Kleides verbargen.

»Ich ging blos hinauf, um dies zu holen,« sagte sie. »Es wird Sie vielleicht an Ihren Besuch hier erinnern und an die Freunde, die Sie hier zurücklassen. Sie sagten mir, ich habe große Fortschritte gemacht, als ich es zeichnete – und ich dachte, Sie hätten vielleicht gern –«

Sie wandte das Gesicht ab und hielt mir eine kleine Zeichnung hin, ganz von ihrer eigenen Hand, eine Skizze des kleinen Gartenhäuschens, in dem wir uns zuerst gesehen. Das Papier zitterte in ihrer Hand, als sie es mir darreichte, es zitterte in der meinigen, als ich es nahm.

Ich wagte nicht zu sagen, was ich fühlte – ich entgegnete blos: »Dies soll mich nie verlassen; solange ich lebe, soll es der Schatz sein, der mir über Alles werth ist. Ich bin sehr dankbar dafür – und Ihnen sehr dankbar dafür, daß Sie mich nicht abreisen ließen, ohne Ihnen Lebewohl zu sagen.«

»O!« sagte sie mit ihrem unschuldsvollen Blicke, »wie hätte ich Sie so abreisen lassen können, nachdem wir so viele glückliche Tage zusammen verlebt!«

»Solche Tage mögen nimmer wiederkehren, Miß Fairlie; Ihr Weg im Leben und der meinige liegen sehr weit auseinander. Sollte aber jemals eine Zeit kommen, wo die Ergebenheit meines ganzen Herzens, meiner ganzen Kraft und ganzen Seele Ihnen einen Augenblick des Glückes verschaffen oder einen Augenblick des Kummers ersparen kann, wollen Sie sich da des armen Zeichenlehrers erinnern, der Ihnen Unterricht gab? Miß Halcombe hat versprochen, mir zu vertrauen, wollen Sie es mir auch versprechen?«

Die Abschiedstrauer der lieben blauen Augen leuchtete matt durch ihre Thränen hindurch.

»Ich verspreche es,« sagte sie in gebrochenen Tönen. »O, sehen Sie mich nicht so an! Ich verspreche es von ganzem Herzen!«

Ich wagte einen Schritt näher zu ihr heranzutreten und streckte meine Hand aus.

»Sie haben viele Freunde, die Sie lieben, Miß Fairlie. Ihre glückliche Zukunft ist ihre theuerste Hoffnung. Darf ich Ihnen zum Abschied sagen, daß sie auch mir die theuerste Hoffnung ist?«

Die Thränen strömten über ihre Wangen, sie stützte eine Hand auf den Tisch, um sich festzuhalten, während sie die andere mir reichte. Ich nahm sie und hielt sie fest in der meinigen. Ich beugte das Haupt – meine Thränen fielen darauf herab, ich drückte sie an meine Lippen – nicht in Liebe, o Gott, nein, nicht in Liebe, sondern in dem bitteren Selbstvergessen der Verzweiflung jenes letzten Augenblickes.

»O! um Gotteswillen, verlassen Sie mich!« sagte sie mit schwacher Stimme.

Das Bekenntniß des Geheimnisses ihres Herzens brach in tiefen flehenden Worten von ihren Lippen. Ich hatte nicht das Recht, sie zu hören, sie zu beantworten: sie waren die Worte, die mich im Namen ihrer heiligen Schwäche aus dem Zimmer verbannten. Es war Alles vorüber; ich ließ ihre Hand sinken und sagte Nichts mehr. Die Thränen entzogen mir ihren Anblick, und ich zerdrückte sie schnell, um sie zum letzten Male zu sehen. Noch einen Blick, als sie auf einen Sessel sank, ihre Arme auf den Tisch und auf sie ihr mattes Haupt fiel. Einen letzten Blick, und die Thür schloß sich – der große Abgrund der Trennung hatte sich zwischen uns aufgethan – Laura Fairlie’s Bild war schon eine Erinnerung vergangener Zeit.



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