Ein tiefes Geheimnis



Fünftes Kapitel

Im Hause

Mistreß Pentreaths Überraschung, als sie durch das Fenster schauend eine Dame gesehen, stieg noch weit höher als sie, nachdem sie die Tür geöffnet, einen Herrn vor sich sah. Onkel Joseph war, nachdem er die Klingel gezogen, dicht an dem Klingelgriff stehen geblieben und stand daher dem Hause so nahe, daß er von Mistreß Pentreaths Fenster aus nicht hatte gesehen werden können. Der aufgeregten Phantasie der Haushälterin zeigte er sich auf der Schwelle mit der Plötzlichkeit einer Erscheinung – der Erscheinung eines kleinen, rotbäckigen, alten Herrn, welcher sich lächelnd verbeugte und seinen Hut mit einer Schwenkung abnahm, in deren Gewandtheit und Schwung sozusagen etwas Übermenschliches lag.

„Gehorsamer Diener! Wie befinden Sie sich? Wir kommen, um uns das Innere des Schlosses anzusehen“, sagte Onkel Joseph, indem er in dem Augenblick, wo die Tür geöffnet ward, sein untrügliches Auskunftsmittel, Zutritt zu erlangen, versuchte.

Mistreß Pentreath war sprachlos vor Erstaunen. Wer war dieser familiäre alte Herr mit dem fremdländischen Akzent und der phantastischen Verbeugung? Und was meinte er damit, daß er zu ihr sprach als ob sie seine intime Freundin wäre? Mistreß Franklands Brief enthielt von Anfang bis zu Ende nicht ein Wort über ihn.

„Wie befinden Sie sich? Wir kommen, um uns das Innere des Schlosses anzusehen“, wiederholte Onkel Joseph, indem er seine unwiderstehliche Form der Begrüßung zum zweiten Male versuchte.

„Das haben Sie schon einmal gesagt, Sir“, bemerkte Mistreß Pentreath, indem sie so viel Selbstbeherrschung wiedergewann, daß sie sich ihrer Zunge zu ihrer eigenen Verteidigung bedienen konnte. „Wünscht die Dame“, fuhr sie fort, indem sie über die Schulter des alten Mannes auf die Stufe hinunterblickte, wo seine Nichte stand, „wünscht die Dame auch das Innere des Schlosses zu sehen?“

Saras sanft gesprochene Antwort überzeugte, so kurz sie auch war, die Haushälterin, daß die in Mistreß Franklands Brief beschriebene Frau wirklich und wahrhaftig vor ihr stand. Außer der saubern, bescheidenen Kleidung war auch die sanfte, wohlklingende Stimme da und, als sie eine Sekunde lang aufblickte, auch die schüchternen Augen, woran sie so leicht zu erkennen war.

In Bezug auf diese von den beiden fremden Personen konnte Mistreß Pentreath, wie aufgeregt und überrascht sie auch sein mochte, hinsichtlich des von ihr einzuschlagenden Verfahrens keine Ungewißheit hegen.

In Bezug auf den anderen Besucher, den unbegreiflichen, alten Ausländer aber, würde sie sofort von den verworrensten Zweifeln gequält. War es am geratensten, sich an den Buchstaben von Mistreß Franklands Instruktionen zu halten und ihn zu bitten, draußen zu warten, während erst die Dame im Hause herumgeführt würde? – oder war es am besten, wenn sie auf ihre eigene Verantwortlichkeit hin handelte und es riskierte, ihn ebenso einzulassen wie seine Begleiterin? Dies zu entscheiden, war ein schwieriger Punkt und mußte deshalb der höhern Weisheit Mr. Munders unterbreitet werden.

„Wollen Sie hereinkommen und einen Augenblick warten, während ich mit dem Kastellan spreche?“ sagte Mistreß Pentreath, indem sie absichtlich von dem familiären alten Ausländer keine Notiz nahm, sondern über ihn hinweg direkt mit der auf der untern Stufe stehenden Dame sprach.

„Sehr schön“, sagte Onkel Joseph lächelnd und sich verneigend, ohne das auf ihn berechnete Benehmen der Haushälterin zu beachten. „Was sagte ich dir?“ flüsterte er triumphierend seiner Nichte zu, während sie an ihm vorüber in das Haus hineinging.

Mistreß Pentreaths erster Impuls war, sofort wieder in ihr Zimmer zu gehen und mit Mr. Munder zu sprechen. Sie entsann sich jedoch noch rechtzeitig der Stelle in Mistreß Franklands Brief, welche ihr einschärfte, die Frau in der bescheidenen Kleidung nicht aus den Augen zu lassen, und deshalb blieb sie sofort wieder stehen.

Die Erinnerung an diesen speziellen Teil ihrer Instruktion ward in ihr besonders durch eine merkwürdige Änderung in dem Benehmen der Fremden selbst erweckt, welche in dem Augenblick, wo sie die Schwelle überschritten, alle Schüchternheit zu verlieren schien und in überraschend ungeduldiger Weise nach dem Innern des Hauses vorangehen wollte.

„Betsey!“ rief Mistreß Pentreath, indem sie vorsichtig die Magd rief, nachdem sie sich bloß einige Schritte von den beiden Fremden entfernt. „Betsey, sage Mr. Munder, er möchte die Güte haben, hierher zu kommen.”

Mr. Munder erschien mit großer Gemessenheit und mit einer gewissen drohenden Würde in seinen Zügen. Er war gewohnt, stets rücksichtsvoll behandelt zu werden, und deshalb unzufrieden mit der Haushälterin, daß sie ihn so ohne weitere Umstände in dem Augenblick verlassen, wo die Klingel gezogen ward, ohne ihm Zeit zu geben, eine Meinung über Mistreß Franklands Brief auszusprechen.

Als ihn daher jetzt Mistreß Pentreath in großer Aufregung beiseite nahm und ihm flüsternd die vertrauliche und erstaunliche Mitteilung machte, daß die Frau, für welche Mr. und Mistreß Frankland sich auf so geheimnisvolle Weise interessierten, in diesem Augenblick leibhaftig vor ihm stünde, nahm er diese Mitteilung mit der Miene der verletzendsten Gleichgültigkeit hin.

Noch schlimmer ward die Sache, als die Haushälterin ihm ihre Verlegenheit mitteilte, wobei sie nicht vergaß, die beiden fremden Personen fortwährend wachsam im Auge zu behalten. Mochte sie so ehrerbietig als sie wollte an Mr. Munders höhrere Weisheit appellieren, so beharrte er dennoch dabei, ihr mit geringschätzendem Stirnrunzeln zuzuhören, und widersprach ihr sogar zuletzt auf herausfordernde Weise, als sie zum Schlusse hinzuzufügen wagte, daß ihre eigenen Ansichten sie geneigt machen, keine Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen, sondern den fremdländischen Herrn zu bitten, draußen zu warten, während die Dame in Übereinstimmung mit Mistreß Franklands Instruktionen im Schlosse herumgeführt würde.

„Das kann wohl Ihre Meinung sein, Madame“, entgegnete Mr. Munder in strengem Tone, „aber es ist nicht die meinige.“

Die Haushälterin sah ihn erschrocken an.

„Vielleicht“, meinte sie nachgiebig, „vielleicht glauben Sie, daß der fremde alte Herr darauf bestehen würde, das Haus mit der Dame zugleich in Augenschein zu nehmen?“

„Versteht sich, denke ich das“, sagte Mr. Munder.

Er hatte durchaus nichts der Art gedacht, denn sein einziger Gedanke war in diesem Augenblick der, sein eigene Übergewicht dadurch zu behaupten, daß er sich jedem von Mistreß Pentreath beabsichtigten Arrangement hartnäckig widersetzte.

„Dann würden Sie also die Verantwortlichkeit auf sich nehmen, beide Personen im Hause herumzuführen, weil sie beide gleichzeitig Einlaß begehrt haben?“ fragte die Haushälterin.

„Versteht sich, würde ich das“, antwortete der Kastellan mit der wunderbaren Schnelligkeit des Entschlusses, welche alle höher begabten Leute auszeichnet.

„Wohlan, Mr. Munder, ich lasse mich stets gern von Ihrer Meinung leiten und will mich auch jetzt nach derselben richten“, sagte Mistreß Pentreath. „Da nun aber zwei Personen im Auge zu behalten sind – denn dem Ausländer traue ich nicht über den Weg – so muß ich Sie wirklich bitten, die Mühe des Herumführens mit mir zu teilen. Ich bin so aufgeregt und nervenschwach, daß es mir ist, als wäre ich halb vor Besinnung – noch niemals bin ich in einer solchen Lage gewesen – ich sehe mich mitten in Geschehnisse hineinversetzt, die ich nicht verstehe – und mit einem Worte, wenn ich nicht auf Ihren Beistand rechnen kann, Mr. Munder, so stehe ich nicht dafür, daß ich nicht irgend einen Mißgriff begehe. Das aber sollte mir sehr leid tun, nicht bloß meinetwegen, sondern auch –“

Hier stockte die Haushälterin und sah Mr. Munder scharf an.

„Fahren Sie fort, Madame“, sagte Mr. Munder mit grausamer Gelassenheit.

„Nicht bloß um meinetwillen“, hob Mistreß Pentreath schüchtern wieder an, „sondern auch um Ihretwillen, Mr. Munder, denn Mistreß Franklands Brief legt die Verantwortlichkeit bei Führung dieser delikaten Angelegenheit nicht bloß auf meine Schultern, sondern auch auf die Ihrigen.“

Mr. Munder prallte einige Schritte zurück, ward rot, öffnete entrüstet die Lippen, zögerte und schloß sie wieder. Er sah sich in seiner eigenen Falle gefangen. Er konnte sich der Verantwortlichkeit, die Handlungsweise der Haushälterin zu leiten, nicht entziehen, nachdem er einmal diese Verantwortlichkeit freiwillig auf sich genommen hatte, und er konnte auch nicht leugnen, daß Mistreß Franklands Brief bestimmt und wiederholt mit Nennung seines Namens auf ihn Bezug nahm.

Es gab nur einen Weg, um mit Würde aus dieser Schwierigkeit herauszukommen, und Mr. Munder schlug in dem Augenblick, wo er Selbstbeherrschung genug gewonnen, um sich für diese Aufgabe zu sammeln, ohne Erröten diesen Weg ein.

„Ich bin ganz erstaunt, Mistreß Pentreath“, begann er mit der größten Würde. „Ja, ich sage nochmals, ich bin ganz erstaunt, daß Sie mich für fähig halten, Sie unter den eigentümlichen Umständen, in welche wir jetzt versetzt sind, das Haus allein mit diesen fremden Personen durchwandern zu lassen. Nein, Madame, von welcher Art auch meine übrigen Fehler sein mögen, so gehört doch jedes Zurückweichen von meinem Anteil an einer Verantwortlichkeit nicht zu denselben. Ich brauche nicht an Mistreß Franklands Brief erinnert zu werden – und nein – ich brauche auch keine Entschuldigungen. Ich bin vollkommen bereit, Madame, ich bin vollkommen bereit, die Wanderung anzutreten, sobald Sie es sind.“

„Je eher wir dies dann tun, desto besser wird es sein, Mr. Munder, denn dieser kecke alte Ausländer schwatzt schon mit Betsey, als ob er sie sein ganzes Leben lang gekannt hätte.“

Diese Behauptung war vollkommen wahr. Onkel Joseph übte seine Gabe der Vertraulichkeit an der Magd – welche, anstatt in die Küche zurückzukehren, stehen geblieben war, um die Fremden anzugaffen – gerade so wie er sie schon an der alten Dame in dem Personenwagen und an dem Kutscher des Einspänners geübt hatte, welcher seine Nichte und ihn nach der Poststadt von Porthgenna gebracht hatte. Während die Haushälterin und der Kastellan ihre geheime Konferenz hielten, versetzte er Betsey durch die sonderbaren Fragen, die er in Bezug auf das Haus an sie richtete und wie sie mit ihrer Arbeit darin zu Stande käme, in fortwährendes unterdrücktes Kichern. Seine Fragen hatten natürlich von der Südseite des Gebäudes, zu welcher er und seine Begleiterin hereingekommen waren, nach der Westseite, welche sie nun bald explorieren sollten, und von da nach der Nordseite geführt, welche für jedermann im Hause ein verbotenes Terrain war.

Als daher Mistreß Pentreath mit dem Kastellan sich näherte, hörte sie folgenden Austausch von Fragen und Antworten zwischen dem alten Ausländer und der Magd:

„Aber sagt mir, liebe Betsey“, sagte Onkel Joseph, „warum geht denn niemand in jene modrigen alten Zimmer?“

„Weil ein Gespenst darin umgeht“, antwortete Betsey lachend, als ob eine Reihe von gespenstischen Zimmern und eine Reihe von vortrefflichen Späßen genau ein und dasselbe wäre.

„Du schweigst augenblicklich und gehst wieder in deine Küche!“ rief Mistreß Pentreath entrüstet. „Die unwissenden Leute hier“, fuhr sie fort, indem sie immer noch Onkel Joseph absichtlich ignorierte und ihre Worte bloß an Sara richtete, „erzählen abgeschmackte Geschichten von einigen alten Zimmern auf der verfallenen Seite des Hauses, die seit länger als einem halben Jahrhundert nicht bewohnt gewesen sind – abgeschmackte Geschichten von einem Gespenst, und meine Magd ist so albern, daran zu glauben.“

„Nein, das ist nicht wahr“, sagte Betsey, indem sie sich mit Protest in die untern Regionen zurückzog. „Ich glaube kein Wort von dem Gespenst – wenigstens nicht am hellen Tage.“

Indem Betsey diesen wichtigen Vorbehalt flüsternd hinzufügte, zog sie sich ungern von dem Schauplatz zurück.

Mistreß Pentreath bemerkte mit einiger Überraschung, daß die geheimnisvolle Fremde in der saubern, bescheidenen Kleidung bei Erwähnung der Gespenstergeschichte sehr bleich ward und keinerlei Bemerkung darüber machte.

Während sie sich noch fragte, was dies zu bedeuten habe, trat Mr. Munder in würdevoll hervorragender Weise heran und wendete sich stolz, nicht an Onkel Joseph und nicht an Sara, sondern an die leere Luft zwischen ihnen.

„Wenn Sie das Haus zu sehen wünschen“, sagte er, „so werden Sie die Güte haben, mir zu folgen.“

Mit diesen Worten bog Mr. Munder feierlich in den Korridor ein, der nach dem Fuße der westlichen Treppe führte, indem er mit jenem eigentümlichen gespreizten Schritte ging, der allen ernsten Engländern eigen ist, wenn sie eine Sonntagspromenade machen.

Die Haushälterin paßte ihren Schritt mit weiblicher Fügsamkeit dem Schritte des Kastellans an und machte die nationale Sonntagspolonaise, als ob sie zwischen Vor- und Nachmittagskirche mit ihm die frische Luft zu schöpfen ginge.

„So wahr ich ein armer sündhafter Mensch bin, das ist gerade, als wenn wir einem Leichenbegängnis folgten“, flüsterte Onkel Joseph seiner Nichte zu. Er zog ihren Arm durch den seinigen und fühlte, während er dies tat, daß sie zitterte.

„Was fehlt dir?“ fragte er sie leise.

„Onkel! Es liegt etwas Unnatürliches in der Bereitwilligkeit dieser Leute, uns das Innere des Hauses zu zeigen“, war die matt geflüsterte Antwort. „Was sprachen diese Leute soeben heimlich miteinander? Warum hielt diese Frau ihre Augen so fortwährend auf uns geheftet?“

Ehe der alte Mann antworten konnte, drehte die Haushälterin sich herum und bat in ernst nachdrücklichem Tone, daß sie die Güte haben möchten, zu folgen. Binnen weniger als einer Minute standen sie alle am Fuße der westlichen Treppe.

„Ah!“ rief Onkel Joseph so ungewzungen und redselig wie je, selbst in Gegenwart des würdevollen Mr. Munder. „Ein schönes großes Haus und eine sehr gute Treppe!“

„Wir sind nicht gewohnt, von dem Geäuder oder der Treppe in solchen Ausdrücken sprechen zu hören, Sir“, sagte Mr. Munder, indem er sich vornahm, die Vertraulichkeit des Ausländers im Keime zu ersticken. Der ‚Führer durch Westcornwall’, mit welchem Buche Sie wohlgetan haben würden sich bekannt zu machen, ehe Sie hierher kamen, nennt Porthgenna Tower ein Schloß und bedient sich, indem er von der westlichen Treppe spricht, des Wortes grandios. Ich bedaure zu finden, daß Sie den ‚Führer durch Westcornwall’ nicht zu Rate gezogen haben.“

„Warum sollte ich das?“ entgegnete der Deutsche, ohne sich einschüchtern zu lassen. „Was brauche ich ein Buch, wenn ich Sie zum Führer habe? Ach, mein werter Herr, Sie sind nicht gerecht gegen sich selbst. Ist nicht ein lebendiger Führer wie Sie, welcher spricht und einhergeht, für mich viel besser als tote Blätter, gedruckte Buchstaben? Nein, nein! Lassen Sie mich dies nicht wieder hören – begehen Sie keine weitere Ungerechtigkeit an sich selbst.“

Hier machte Onkel Joseph eine zweite phantastische Verbeugung, blickte lächelnd in das Gesicht des Kastellans empor und schüttelte mit der Miene freundlichen Vorwurfs mehrmals den Kopf.

Mr. Munder war es zumute, als sollte ich der Schlag rühren. Und wenn dieser obskure Ausländer ein englischer Herzog gewesen wäre, so hätte er von ihm nicht mit ungezwungenerer und gleichgültigerer Vertraulichkeit behandelt werden können. Oft hatte er von dem Gipfelpunkt der Keckheit gehört, und hier sah er ihn auf sichtbare, wunderbare Weise in einem einzigen, kleinen, ältlichen Individuum verkörpert, welches den Boden, auf dem es stand, nicht ganz um fünf Fuß überragte.

Während der Kastellan von einem Gefühl beleidigter Würde schwoll, welchem er vergebens versucht haben würde, Worte zu leihen, ging die Haushälterin, von Sara gefolgt, langsam die Treppe hinauf.

Als Onkel Joseph sie hinaufgehen sah, eilte er seiner Nichte nach und Mr. Munder folgte, nachdem er eine Weile auf der Binsendecke gewartet, um sich zu fassen, dem kecken Ausländer mit der Absicht, sein Benehmen scharf im Auge zu behalten und seine Unverschämtheit bei der ersten Gelegenheit durch einen eindringlichen Verweis zu züchtigen. Die auf diese Weise gebildete, sich die Treppe hinauf bewegende Prozession ward jedoch nicht von dem Kastellan geschlossen, sondern fernerweit durch Betsey, die Magd, geschmückt und vervollständigt, welche sich aus der Küche stahl, um den Fremden auf ihrer Wanderung durch das Haus so dicht zu folgen als sie dies tun konnte, ohne von Mistreß Pentreath bemerkt zu werden. Betsey besaß auch ihren Anteil von angeborener menschlicher Neugier und Liebe zur Veränderung. Noch niemals hatte ein solches Ereignis, wie die Ankunft von Fremden – so lange wenigstens sie sich erinnern konnte – Leben und Abwechslung in die schauerliche Eintönigkeit von Porthgenna Tower gebracht und sie war daher entschlossen, nicht allein in der Küche zu beliben, solange es Gelegenheit gab, ein wenig Konversation zu hören, oder zu sehen, was die Gesellschaft da oben wohl beginnen würde.

Mittlerweile war die Haushälterin bis auf den Vorplatz der ersten Etage vorangeschritten, zu dessen beiden Seiten die größeren Zimmer der westlichen Front lagen.

Durch Furcht und Mißtrauen geschärft, entdeckten Saras Augen sofort die Reparaturen, welche an dem Geländer und an den Stufen der zweiten Treppe bewirkt worden waren.

„Sie haben Arbeitsleute im Haus gehabt“, sagte sie rasch zu Mistreß Pentreath.

„Sie meinen auf der Treppe?“ entgegnete die Haushälterin. „Ja, da haben wir Arbeitsleute gehabt.“

„Anderswo nicht?“

„Nein, aber sie wären an vielen anderen Orten sehr nötig. Selbst hier, in dem besten Teile des Hauses, ist die Hälfte der Schlafzimmer kaum zu benutzen. Dieselben waren, wie ich gehört habe, schon zur Zeit der seligen Mistreß Treverton nicht im besten Zustande, und seitdem diese tot ist –“

Die Haushälterin schwieg, die Stirn runzelnd und mit einem Blick der Überraschung. Die Frau in dem saubern, bescheidenen Anzuge machte, anstatt den Ruf guter Manieren, welcher ihr in Mistreß Franklands Brief zuerkannt worden, zu rechtfertigen, sich der unverzeihlichsten Unhöflichkeit schuldig, indem sie sich von Mistreß Pentreath abwendete, ehe dieselbe ausgeredet hatte. Entschlossen, sich auf diese Weise nicht zum Schweigen bringen zu lassen, wiederholte die Haushälterin kalt und deutlich die Worte:

„Und seitdem Mistreß Treverton tot ist –“

Sie ward zum zweiten Male unterbrochen. Die Fremde drehte sich rasch herum, trat ihr mit sehr bleichem Gesicht und unruhigem Blick gegenüber und tat auf die abgebrochenste Weise eine ganz unerhebliche Frage.

„Erzählen Sie mir doch etwas von jener Gespenstergeschichte“, sagte sie. „Meint man, es sei der Geist eines Mannes oder einer Frau?“

„Ich sprach von der verstorbenen Mistreß Treverton“, entgegnete die Haushälterin im strengsten Tone der Zurechtweisung, „und nicht von der Gespenstergeschichte, die man von den nördlichen Zimmern erzählt. Dies würden Sie wissen, wenn Sie mir die Gefälligkeit erzeigt hätten, auf das zu hören, was ich sagte.“

„Ich bitte um Verzeihung – ich bitte tausendmal um Verzeihung für meine scheinbare Unaufmerksamkeit. Es fiel mir gerade ein – oder ich wünschte wenigstens zu wissen-“

„Nun“, sagte Mistreß Pentreath, durch die augenscheinliche Aufrichtigkeit der an sie gerichteten Entschuldigung erweicht, „wenn Ihnen daran gelegen ist, etwas so Abgeschmacktes zu wissen, so kann ich Ihnen sagen, daß das Gespenst der Sage nach der Geist einer Frau ist.“

Das Gesicht der Fremden ward bleicher als je und sie wendete sich wieder nach dem offenen Fenster des Vorplatzes.

„Wie heiß es ist!“ sagte sie, indem sie das Gesicht hinaus ins Freie hielt.

„Heiß, bei Nordostwind!“ rief Mistreß Pentreath erstaunt.

Hier näherte sich Onkel Joseph mit der höflichen Frage, wann man die Zimmer in Augenschein nehmen werde. Während der letzten wenigen Minuten hatte er alle Arten Fragen an Mr. Munder gerichtet, und da er keine Antwort erhalten, die nicht von der kürzesten und unfreundlichsten Art gewesen wäre, die Unterhaltung mit dem Kastellan verzweifelt aufgegeben.

Mistreß Pentreath schickte sich an, in das Frühstückszimmer, die Bibliothek und das Gesellschaftszimmer voranzugehen. Diese drei Zimmer standen alle miteinander in Verbindung und jedes hatte noch eine zweite Tür, die in einen langen Korridor führte, zu welchem der Eingang sich auf der rechten Seite des Vorplatzes der ersten Etage befand.

Ehe die Haushälterin in diese Zimmer voranging, berührte sie Sara an der Schulter, um ihr zu verstehen zu geben, daß es Zeit sei, weiterzugehen.

„Was die Gespenstergeschichte betrifft“, hob Mistreß Pentreath wieder an, während sie die Tür des Frühstückszimmers öffnete, „so müssen Sie sich, wenn Sie dieselbe vollständig hören wollen, an die unwissenden Leute wenden, welche daran glauben. Ob das Gespenst ein alter Geist oder ein neuer Geist ist und warum man von ihm glaubt, daß er umgehe, dies ist mehr als ich Ihnen sagen kann.“

Trotzdem daß die Haushälterin auf diese Weise die größte Gleichgültigkeit gegen den volkstümlichen Aberglauben leugnete, hatte sie doch von der Gespenstergeschichte genug gehört, um sich zu fürchten, obschon sie es nicht gestehen wollte. In dem Hause sowohl als außer demselben wäre niemand zu finden gewesen, der weniger geneigt gewesen wäre, sich allein in die nördlichen Zimmer zu wagen, als eben Mistreß Pentreath selbst.

Während die Haushälterin in dem Frühstückszimmer die Fenstergardinen aufzog und Mr. Munder die Tür öffnete, welche von hier in die Bibliothekszimmer führte, stahl Onkel Joseph sich an die Seite seiner Nichte und sprach in seiner seltsamen, freundlichen Weise einige Worte der Ermutigung zu ihr.

„Mut, Mut!“ flüsterte er, „sei ruhig und besonnen und erfasse die Gelegenheit, sobald du kannst.“

„Meine Gedanken, meine Gedanken!“ antwortete Sara in demselben leisen Tone. „Dieses Haus erweckt sie alle gegen mich. O, warum habe ich mich wieder hereingewagt!“

„Sie werden wohltun, wenn Sie jetzt die Aussicht von dem Fenster aus betrachten“, sagte Mistreß Pentreath, nachdem sie die Gardine aufgezogen. „Sie wird sehr bewundert.“

Während so die Dinge in dem ersten Stockwerk des Hauses in Gange waren, hielt Betsey, welche sich bis jetzt von der Hausflur aus Stufe um Stufe hinaufgestohlen und dazwischen mit angestrengter Aufmerksamkeit gehorcht, da sie fand, daß jetzt kein Schall von Stimmen mehr zu ihr drang, es für das Beste, wieder in ihre Küche zurückzukehren und nach dem Mittagsmahl der Haushälterin zu sehen, welches am Feuer warm gehalten werden sollte. Sie ging deshalb wieder in die untern Regionen herab, fragte sich, welchen Teil des Hauses die Fremden zunächst zu sehen wünschen würden und zerbrach sich den Kopf, um einen Vorwand zu ersinnen, welcher ihr erlaubte, sich der Expedition anzuschließen.

Nachdem die Aussicht von dem Fenster des Frühstückszimmers aus gebührend in Augenschein genommen worden, betrat man das Bibliothekszimmer.

In diesem kam Mistreß Pentreath, da sie Muße hatte, sich umzuschauen, und diese Muße dazu anwendete, das Benehmen des Kastellans zu beobachten, zu der unangenehmen Überzeugung, daß Mr. Munder in der wichtigen Aufgabe, das Tun und Treiben der beiden Fremden scharf zu überwachen, ihren Erwartungen keineswegs entsprach. Durch Onkel Josephs familiäres, respektwidriges Benehmen doppelt zur Behauptung seiner eigenen Würde angestachelt, schien Mr. Munder auf nichts weiter bedacht zu sein, als sich so vollständig als möglich des Charakters eines Führers zu entäußern, womit der rücksichtslose Ausländer ihn zu bekleiden gesucht hatte.

Er schlenderte daher schwerfällig mit der Miene eines zufälligen Besuchers in den Zimmern umher, sah zum Fenster hinaus, blätterte in den auf den Tischen liegenden Büchern herum, betrachtete sich stirnrunzelnd in den Kaminspiegeln und sah mit einem Wort überall hin, nur nicht dahin, wo er sollte.

Die durch diese affektierte Gleichgültigkeit erbitterte Haushälterin flüsterte ihm ärgerlich zu, er solle den fremden Mann im Auge behalten, da sie selbst genug zu tun habe, um die Frau in dem bescheidenen Kleide zu überwachen.

„Schon gut, schon gut“, sagte Mr. Munder in mürrisch nachlässigem Tone. „Und wo werden Sie hingehen, Madame, nachdem wir im Gesellschaftszimmer gewesen sind? Wieder durch die Bibliothek zurück in die Frühstückszimmer? Oder sogleich hinaus in den Korridor? Haben Sie die Güte, dies zu bestimmen, da Sie einmal im Begriff zu sein scheinen, Alles zu bestimmen.“

„Natürlich hinaus auf den Korridor“, antwortete Mistreß Pentreath, „um die nächsten drei Zimmer, welche auf diese folgen, zu zeigen.“

Mr. Munder schlenderte aus dem Bibliothekszimmer durch die Verbindungstür hinaus in das Gesellschaftszimmer, schloß die in den Korridor führende Tür auf, ging dann zum großen Ärger der Haushälterin nach dem Kamin und betrachtete sich in dem Spiegel über demselben gerade so aufmerksam, wie er sich kaum eine Minute vorher in dem Spiegel des Bibliothekszimmers betrachtet hatte.

„Dies ist das westliche Gesellschaftszimmer“, sagte Mistreß Pentreath zu den beiden Fremden. „Die Bildhauerarbeit an dem Kamin“, setzte sie in der boshaften Absicht hinzu, die Fremden in die unmittelbare Nähe des Kastellans zu bringen, „wird als das Schönste in dem ganzen Zimmer betrachtet.“

Durch dieses Manöver von dem Spiegel hinweggemaßregelt, ging Mr. Munder langsam nach dem Fenster und sah hinaus.

Sara näherte sich, immer noch bleich und schweigsam – aber mit einer gewissen ungewohnten Entschlossenheit, die sich gleichsam in den Linien um ihren Mund herum sammelte – nachdenklich dem Kamin, als die Haushälterin sie darauf aufmerksam machte.

Onkel Joseph, der sich in seiner zerstreuten Weise im ganzen Zimmer ringsumschaute, erspähte in der Ecke, welche von der auf den Korridor führenden Tür am weitesten entfernt war, einen schönen Tisch von Ahornholz und ein Schränkchen von sehr eigentümlicher Form. Sein Tischlerenthusiasmus ward dadurch sofort erweckt und er eilte quer über das Zimmer hinüber, um das Schränkchen möglichst genau in Augenschein zu nehmen. Der Tisch, auf dem es stand, ragte ein wenig nach vorn hervor und auf dem flachen Raume dieses Vorsprungs erblickte er eine prachtvolle Spieluhr, die wenigstens dreimal so groß war als die seinige.

„Ei! Ei! Ei!“ rief Onkel Joseph mit immer höher steigender Bewunderung, „lassen Sie doch dieses Ding einmal los – ich möchte hören, was es spielt.“

Er schwieg, weil es ihm an Worten fehlte, um seine Ungeduld auszudrücken, und trommelte mit einem Ausbruch unbezähmbarer Begeisterung mit beiden Händen auf dem Deckel der Spieluhr.

„Mr. Munder“, rief die Haushälterin, indem sie mit großer Entrüstung quer über das Zimmer hinüber eilte, „warum passen Sie nicht auf? Warum lassen Sie so etwas zu? Er will die Spieluhr erbrechen. Verhalten Sie sich ruhig, Sir! Wie können Sie sich unterstehen, mich anzurühren?“

„Lassen Sie das Ding los! Lassen Sie das Ding los!“ wiederholte Onkel Joseph, indem er Mistreß Pentreaths Arm, den er in seiner Aufregung ergriffen, fallen ließ. „Schauen Sie! Dies da, was ich an der Seite trage, ist auch eine Spieluhr! Lassen Sie das Ding los! Spielt es vielleicht irgend etwas von Mozart? Es ist drei Mal größer als irgend eine, die ich bis jetzt gesehen. Sehen Sie, diese meine Spieluhr, die sich neben der Ihrigen ganz winzig ausnimmt, ward meinem Bruder von dem König der Komponisten, der jemals gelebt, von dem göttlichen Mozart selbst geschenkt. Lassen Sie das große Ding los und dann sollen Sie mein kleines auch klimpern hören. Ach, meine liebe, gute Madame, wenn Sie mich lieben –“

„Sir!!!“ rief die Haushälterin, vor tugendhafter Entrüstung bis an die Wurzeln ihres Haares errötend.

„Was soll das heißen, Sir, daß Sie einer achtbaren Dame auf so beleidigende Weise begegnen?“ fragte Mr. Munder, zur Hilfe herbeieilend. „Glauben Sie, wir brauchen hier Ihr ausländisches Geschwätz und Ihre ausländische Moral und Ihre ausländische Lästerung? Ja, Sir, Lästerung. Jeder, der ein menschliches Wesen, sei es nun ein musikalisches oder ein anderes, göttlich nennt, ist ein Lästerer. Wer sind Sie, Sie kecker Mensch? Sind Sie ein Heide?“

Ehe noch Onkel Joseph ein Wort zur Rechtfertigung seiner Grundsätze sagen, ehe noch Mr. Munder seiner Entrüstung weitere Worte leihen konnte, wurden sie beide durch einen Ausruf des Schreckens von der Haushälterin zu augenblicklichem Stillschweigen bewogen.

„Wo ist sie?“ rief Mistreß Pentreath, in der Mitte des Zimmers stehend, indem sie sich mit verblüfften Augen rings umsah.

Die Frau in der saubern, netten Kleidung war verschwunden.

Sie war nicht in dem Bibliothekszimmer, sie war nicht in dem Frühstückszimmer, sie war nicht draußen auf dem Korridor. Nachdem die Haushälterin an diesen drei Orten gesucht, kehrte sie mit der Miene der Angst und des Entsetzens zu Mr. Munder zurück und blieb, einen Augenblick ihn anstierend, vollkommen hilflos und vollkommen schweigend vor ihm stehen.

Sobald als sie sich einigermaßen wieder gefaßt hatte, wendete sie sich grimmig zu Onkel Joseph herum.

„Wo ist sie? Ich will wissen, was aus ihr geworden ist! Sie hinterlistiger, abscheulicher, unverschämter alter Mann, wo ist sie?“ rief Mistreß Pentreath mit bleichen Wangen und unbarmherzigen Augen.

„Wahrscheinlich sieht sie sich allein im Hause um“, sagte Onkel Joseph. „Ganz gewiß werden wir sie wiederfinden, wenn wir unsern Weg durch die andern Zimmer weiter fortsetzen.“

So schlicht der alte Mann auch war, so besaß er doch Schlauheit genug, um zu bemerken, daß er seiner Nichte zufällig gerade den Dienst geleistet hatte, dessen sie bedurfte. Wäre er selbst der listigste aller Menschen gewesen, so hätte er kein besseres Mittel ersinnen können, Mistreß Pentreaths Aufmerksamkeit von Sara auf sich selbst zu leiten, als gerade das Mittel, dessen er sich in vollkommener Unschuld gerade in dem Augenblick bediente, wo seine Gedanken von der eigentlichen Absicht, womit er und seine Nichte das Haus betreten, am weitesten entfernt waren.

„Aha“, dachte Onkel Joseph bei sich selbst; „während diese beiden zornigen Personen mich ohne allen Grund ausschelten, hat Sara sich fortgeschlichen, um nach dem Zimmer zu eilen, wo der Brief liegt. Gut. Dann brauche ich bloß zu warten, bis sie wiederkommt und diese beiden zornigen Personen mich schelten zu lassen, so lange es ihnen beliebt.“

„Was sollen wir beginnen, Mr. Munder! Was ums Himmels willen sollen wir beginnen?“ fragte die Haushälterin. „Wir könenn die kostbaren Minuten nicht damit vergeuden, daß wir hier stehen bleiben und einander angaffen. Diese Frau muß ausfindig gemacht werden. Halt – sie fragte wegen der Treppe – sie schaute, sobald wir auf dem Vorplatze angelangt waren, nach der zweiten Etage hinauf. Mr. Munder! Warten Sie hier und lassen Sie diesen Ausländer nicht aus den Augen. Warten Sie hier, während ich hinaufeile und in den Korridor der zweiten Etage schaue. Die Türen der Schlafzimmer sind alle verschlossen. Verstecken kann sie sich nicht darin, wenn sie da hinaufgegangen ist.“

Mit diesen Worten eilte die Haushälterin aus dem Gesellschaftszimmer hinaus und atemlos die zweite Treppe hinauf.

Während Mistreß Pentreath auf diese Weise in dem westlichen Teil des Hauses suchte, eilte Sara so schnell sie konnte die einsamen Korridore entlang, welche nach den nördlichen Zimmern führten.

Durch ihre verzweifelte Lage zu entscheidendem Handeln getrieben, war sie in dem Augenblick, wo sie sah, daß Mistreß Pentreath ihr den Rücken zukehrte, aus dem Gesellschaftszimmer hinaus in den Korridor geschlüpft. Ohne erst zu überlegen, ohne sich zu fassen zu suchen, eilte sie die Treppe der ersten Etage hinab und ohne Weiteres nach dem Zimmer der Haushälterin. Sie hatte keine Entschuldigungen in Bereitschaft, wenn sie jemanden hier angetroffen hätte oder wenn ihr jemand unterwegs begegnet wäre. Sie hatte keinen Plan entworfen, wo sie die Schlüssel zu den nördlichen Zimmern zunächst suchen sollte, dafern sie nicht an dem Platze hingen, an welchem sie sie noch zu finden erwartete. Ihr Gemüt war verworren, ihre Schläfe pulsierten, als ob sie von der Hitze des Gehirns zu bersten drohten. Der eine blinde, abenteuerliche, rücksichtslose Vorsatz, in das Myrtenzimmer zu gelangen, trieb sie weiter, lieh ihren zitternden Füßen übernatürliche Schnelligkeit, ihren bebenden Händen übernatürliche Kraft und ihrem verzagenden Herzen übernatürlichen Mut. Sie eilte in das Zimmer der Haushälterin hinein, ohne auch nur die gewöhnliche Vorsicht zu gebrauchen, einen Augenblick an der Tür zu horchen.

Es war niemand darin. Ein einziger Blick nach dem wohlbekannten Nagel in der Wand zeigte ihr, daß die Schlüssel noch in einem Bündel daran hingen, gerade so, wie sie in längst vergangener Zeit daran gehangen hatten. In einem Augenblick war sie im Besitz derselben und dann wieder fort, die einsamen Gänge entlang eilend, welche nach den nördlichen Zimmern führten, durch alle Biegungen und Windungen hindurch, als ob sie dieselben erst den Tag zuvor verlassen, ohne stehen zu bleiben, um zu horchen oder hinter sich zu schauen und ohne ihre Schritte zu mäßigen, bis sie auf der obersten Stufe der Hintertreppe stand und die Hand an die verschlossene Tür legte, welche in den nördlichen Flügel führte.

Als sie in dem Schlüsselbunde suchte, um den ersten Schlüssel zu finden, welcher jetzt nötig war, entdeckte sie – was sie in ihrer Eile bis jetzt nicht bemerkt, die numerierten Anhängsel, welche der Baumeister systematisch an sämtlichen Schlüsseln befestigt, als er von Mr. Frankland nach Porthgenna geschickt worden, um das Schloß zu besichtigen.

Bei dem ersten Anblick dieser Nummern machten ihre suchenden Hände augenblicklich Halt und sie schauderte am ganzen Körper, als ob sie von einem plötzlichen Frost gepackt würde.

Wäre sie weniger heftig aufgeregt gewesen, so würde die Entdeckung der neuen Nummern und der Argwohn, der durch ihren Anblick sofort erweckt werden mußte, ihrem weitern Fortgang höchstwahrscheinlich Einhalt getan haben. Die Verwirrung ihres Gemütes war aber jetzt zu groß, als daß sie im Stande gewesen wäre, auch nur die kleinsten Bruchteile ihrer Gedanken in Zusammenhang zu bringen. Sich bloß unklar einer neuen Angst und eines gesteigerten Mißtrauens bewußt, welches die rücksichtslose Ungeduld, die sie so weit getrieben, verdoppelte und verdreifachte, begann sie verzweifelt wieder in dem Schlüsselbunde herumzusuchen.

Einer der Schlüssel hatte keine Nummer. Er war größer als die übrigen – es war der Schlüssel, der in das Schloß der Verbindungstür paßte, vor welcher sie stand. Sie drehte ihn in dem rostigen Schlosse mit einer Kraft herum, welche sie zu jeder andern Zeit nicht im Stande gewesen wäre aufzubieten, und öffnete die Tür mit einem Stoß ihrer Hand, der sie auf einmal von dem Gewände löste, an welchem sie festklebte.

Nach Atem keuchend, eilte nun Sara durch das Erdgeschoß des verlassenen nördlichen Flügels hindurch, ohne erst die Tür wieder hinter sich zuzuschlagen. Die ekelhaften Gewürme und Insekten, welche sich in verlassenen feuchten Räumen anzusammeln pflegen, krochen gespensterhaft zu beiden Seiten hinweg nach der Wand.

Sara achtete nicht darauf und scheuete sich nicht davor. Durch die Halle hindurch und die Treppe am Ende derselben hinauf eilte sie, bis sie den offenen Vorplatz oben erreichte, und hier blieb sie plötzlich vor der ersten Tür stehen.

Es war die erste Tür der langen Reihe von Zimmern, die auf den Vorplatz herausführten – die Tür, welche sich der obersten Treppenstufe gegenüber befand. Sie blieb davor stehen, sie sah sie an – es war nicht die Tür, welche sie zu öffnen gekommen war, und dennoch konnte sie sich nicht davon losreißen. Mit weißer Kreide stand die Zahl I. darauf geschrieben. Und als sie auf das Schlüsselbund in ihren Händen herabschaute, sah sie auf einem der kleinen Schilde ebenfalls die entsprechende Zahl I.

Sie versuchte zu denken, einen einzigen der mißtrauischen Gedanken, die sich ihr aufdrängten, bis zu dem Schlusse fortzuspinnen, zu welchem vielleicht dadurch zu gelangen war. Die Bemühung war vergeblich. Ihre Denkkraft war entschwunden; ihre körperlichen Sinne des Sehens und Hörens – Sinne, die jetzt eine peinliche und unbegreifliche Schärfe erlangt hatten – schienen die einzigen Überbleibsel von Intelligenz zu sein, die ihr zur Führund dienen konnten. Sie hielt die Hand auf die Augen und wartete so eine Weile, dann ging sie langsam den Vorplatz entlang und sah die Türen an.

„Nr. II“, „Nr. III“, „Nr. IV“ stand an denselben mit derselben weißen Kreide geschrieben und entsprach den numerierten Schildchen an den Schlüsseln, die mit Tinte geschrieben waren. „Nr. IV“ war das mittelste Zimmer der ersten, acht zählenden Reihe. Hier blieb sie, an allen Gliedern zitternd, wieder stehen.

Es war die Tür des Myrtenzimmers.

Hörten die Kreidenummern hier auf? Sie sah den Vorplatz auf und ab. Nein. Die noch übrigen vier Türen waren regelmäßig weiter numeriert bis „VIII“.

Sie kehrte wieder an die Tür des Myrtenzimmers zurück, suchte den mit der Zahl IV. bezeichneten Schlüssel – zögerte und schaute mißtrauisch zurück in die verlassene Halle.

Die Leinwand der alten Familienporträts, welche sie zu der Zeit, wo sie den Brief versteckte, sich aus ihren Rahmen hatte blähen sehen, war jetzt größtenteils ganz herausgemodert und lag in großen schwarzen Fetzen auf dem Fußboden der Halle.

Inseln und Kontinente von Feuchtigkeit breiteten sich wie die Landkarte einer unbekannten Region über die hohe gewölbte Decke. Von Staub schwer gewordene Spinnweben bildeten die Draperie der zerbrochenen Simse. Schmutzflecken bedeckten das steinerne Pflaster wie plumpe Widerspiegelungen der feuchten Flecke an der Decke. Die nach dem freien Platz vor den Zimmern der ersten Etage führende breite Treppe hatte sich auf die eine Seite gesenkt. Das Geländer, welches den äußern Rand des Vorplatzes schützte, war von zackigen Lücken durchbrochen. Das Tageslicht erschien hier in der nördlichen Halle nur trüb, die Luft des Himmels war still, das Geräusch der Erde verstummt.

Verstummt? War wirklich jedes Geräusch verstummt? Oder bewegte sich etwas, was den Hörsinn nur eben berührte und die schauerliche Stille nur um so fühlbarer machte?

Sara horchte, indem sie das Gesicht immer noch nach der Halle zu gewendet hielt – sie horchte und hörte ein schwaches Geräusch hinter sich.

War es außerhalb der Tür, welcher sie mit dem Rücken zugewendet stand? Oder war es innerhalb derselben – in dem Myrtenzimmer?

Innerhalb war es. Mit der ersten Überzeugung hiervon verließ sie jeder Gedanke, jede Empfindung. Sie vergaß das verdächtige Numerieren der Türen; sie ward unempfindlich gegen den Flug der Zeit; sie dachte nicht an die Gefahr der Entdeckung. Jede Ausübung ihrer andern Fähigkeiten verschmolz sich jetzt in die Ausübung der einen Fähigkeit des Horchens.

Es war ein schwaches, verstohlen raschelndes Geräusch und es bewegte sich in Zwischenräumen hin und her, bald an dem einen, bald an dem andern Ende des Myrtenzimmers. Es gab Augenblicke, wo es plötzlich ganz deutlich ward, und dann wieder andere, wo es so hinwegstarb, daß es nicht mehr verfolgt werden konnte. Zuweilen schien es mit einem Satze über den Fußboden hinzufegen – zuweilen kroch es mit langsamem, anhaltendem Geraschel, welches an die Grenze absoluten Schweigens streifte.

Wie fest gewurzelt an der Stelle, auf welcher sie stand, wendete Sara ihren Kopf langsam Zoll für Zoll nach der Tür des Myrtenzimmers herum. Einen Augenblick vorher, während sie sich des schwachen, sich darin hin und her bewegenden Geräusches noch unbewußt war, hatte sie rasch und schwer geatmet. Jetzt war sie wie tot – unbeweglich war ihre Brust, so geräuschlos ihr Atemzug.

Über ihr Gesicht kam dieselbe geheimnisvolle Veränderung, die sich darin bemerkbar gemacht, als es in dem kleinen Ladenstübchen in Truro dunkel zu werden begann. Derselbe furchtsame, forschende Blick, den sie damals auf den fernen Winkel des Zimmers geheftet, zeigte sich auch jetzt wieder in ihren Augen, als sie dieselben langsam nach der Tür herumdrehte.

„Herrin!“ flüsterte sie. „Komme ich zu spät? Bist du schon vor mir da?“

Das verstohlen raschelnde Geräusch verstummte – erneuerte sich – starb wieder matt hinweg – hinweg an dem andern Ende des Zimmers. Ihre Augen, die immer noch auf die Tür des Myrtenzimmers geheftet waren, öffneten sich immer weiter und weiter, als ob sie erwarteten, daß das feste dunkle Holz durchsichtig werden und zeigen würde, was dahinter sei.

„Über den einsamen Boden, über den einsamen Boden – wie leicht es sich bewegt!“ flüsterte sie wieder. „Herrin, raschelt das Leichentuch, in welchem man dich begraben, nicht lauter?“

Das Geräusch verstummte abermals und kam dann wieder mit einem einzigen verstohlenen Satze dicht bis an die innere Seite der Tür. Hätte sie sich in diesem Augenblick bewegen, hätte sie, als das leise Geraschel ihr am nächsten kam, auf die schmale Spalte zwischen dem untern Rande der Tür und dem Fußboden heruntersehen können, so hätte sie vielleicht die unbedeutende Ursache, die es hervorbrachte, sich selbst verratend, teils außerhalb, teils innerhalb der Tür in der Gestalt eines Stückes verschossener roter Papiertapete von der Wand des Myrtenzimmers liegen sehen.

Zeit und Feuchtigkeit hatten nämlich die Tapete in dem ganzen Zimmer gelockert. Zwei oder drei Ellen waren von dem Baumeister abgerissen worden, während er die Wände untersuchte – zuweilen in großen, zuweilen in kleinen Stücken, gerade wie es sich nun zufällig machte – und dann hatte er sie auf den kahlen Fußboden geworfen, wo der Wind, wenn er zufällig durch die zerbrochenen Fensterscheiben blies, sein Spiel damit trieb.

Wenn Sara sich nur bewegt, wenn sie nur eine einzige kleine Sekunde lang ihren Blick abwärts gesenkt hätte! Aber sie konnte sich weder bewegen noch sehen. Der Paroxismus abergläubischer Furcht, von welchem sie besessen war, hielt sie noch an jedem Glied gefangen.

Sie fuhr nicht zusammen, sie stieß keinen Schrei aus, als ihr das Geraschel am nächsten kam. Das einzige äußere Zeichen, welches verriet, wie die Furcht vor dieser Annäherung sie bis in die tiefste Seele erschütterte, gab sich bloß in der veränderten Bewegung ihrer rechte Hand zu erkennen, in welcher sie die Schlüssel hielt.

In dem Augenblick, wo der Wind den Tapetenfetzen am dichtesten an die Tür wehete, verloren ihre Finger die Kraft der Zusammenziehung und wurden so schlaff und hilflos, als ob sie in Ohnmacht gefallen wäre.

Das schwere Schlüsselbund entglitt ihrer plötzlich sich öffnenden Hand, fiel neben ihr auf den äußern Rand des Vorplatzes, rollte durch eine Lücke des zerbrochenen Geländers und fiel hinunter auf das Steinpflaster mit einem Geklirr, bei welchem das schlafende Echo laut aufkreischte, als ob es eibn sich unter der Tortur des Schalles krümmendes fühlendes Wesen wäre.

Das Klirren der fallenden Schlüssel, welches durch die Totenstille hindurch hallte, erweckte Sara gleichsam zum augenblicklichen Bewußtsein gegenwärtiger Ereignisse und gegenwärtiger Gefahren. Sie fuhr zusammen, taumelte zurück und hob beide Hände mit wilder Gebärde zum Kopf empor – blieb so einige Sekunden stehen und eilte dann nach der obersten Stufe der Treppe in der Absicht, wieder in die Halle hinabzueilen, um die Schlüssel aufzuheben.

Ehe sie aber noch drei Schritte getan, ließ sich der gellende Ton einer kreischenden Frauenstimme von der Verbindungstür an dem entgegengesetzten Ende der Halle vernehmen. Dieses Gekreisch wiederholte sich in größerer Entfernung zwei Mal und dann folgte ein verworrenes Geräusch von rasch nahenden Stimmen und Tritten.

Verzweifelt taumelte Sara noch einige Schritte und erreichte die erste der Reihe von Türen, welche auf den Vorplatz herausführte. Hier aber sank die Natur erschöpft zusammen – die Knie wankten – Atem, Gesicht und Gehör schien alles miteinander sie in einem und demselben Augenblick zu verlassen und sie sank an der obersten Treppenstufe ohne Besinnung nieder.


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