Nicht aus noch ein



Vierter Act

Das Uhrschloß.

Der freundliche Schauplatz war Neuschatel, der freundliche Monat April: der freundliche Aufenthalt das Büreau eines Notars; die freundliche Erscheinung darin, der Notar selbst; ein rosiger herzgewinnender schöner alter Mann, der erste Notar von Neuschatel, weit und breit im Canton unter dem Namen Maitre Voigt bekannt. Persönlich, wie in seinem Beruf, war der Notarius ein allgemein geliebter Mitbürger. Seine große Freundlichkeit und seine große Wunderlichkeit hatten ihn schon vor Jahren zu einem bekannten öffentlichen Charakter in der freundlichen Schweizer Stadt gemacht. Sein langer brauner Ueberrock und seine schwarze Mütze waren zum Ort gehörig und von seiner Schnupftabaksdose nahm man an, daß es, in Bezug auf ihre Gestalt, keine zweite solche in Europa gäbe. Es befand sich noch jemand im Büreau, der nicht so freundlich, wie der Notar aussah: Obenreizer.

Einen eigenthümlich ländlichen Anblick bot das Büreau dar. Es war überhaupt ein Büreau, wie es in England gar nicht vorkommen kann. Es lag auf einem hübschen Hofraum, ein Blumengarten umgab es, Ziegen weideten am Thorweg und eine Kuh hielt Von sechs Schritten Entfernung aus eine gute Freundschaft mit den Schreibern. Maitre Voigts Zimmer, ein glänzendes bunt angestrichenes kleines Gemach, sah mit seinen Holzpanelen an den Wänden wie eine Kinderstube aus. Der Jahreszeit gemäß blickten Rosen, Sonnenblumen und Malven ins Zimmer hinein. Maitre Voigts Bienen summten den ganzen Tag durch das Büreau, kamen zu einem Fenster herein, flogen zum andern wieder hinaus und statteten ihre Besuche fleißig während ihres Tagewerkes ab, als ob ans Maitre Voigts frölicher Laune Honig zu saugen wäre. Eine große Spieldose aus dem Kamin trillerte die Ouvertüre zu Fra Diavolo oder zusammengestellte Melodien aus Wilhelm Tell mit einer Lebendigkeit herunter, der beim Eintritt eines Clienten gewaltsam Einhalt gethan werden mußte; aber in dem Augenblick, wo derselbe den Rücken gewendet hatte, brachen ihre Melodien unbeirrt wieder hervor.

»Muth! Muth! mein lieber Freund!« sagte Maitre Voigt zu Obenreizer in väterliche Weise und klopfte ihm, wie um ihm gut zuzureden auf das Knie. »Sie beginnen morgen hier in meinem Büreau ein neues Leben.«

Obenreizer —— in Trauerkleidung und mit niedergeschlagenem Wesen —— legte seine Hand, die ein weißes Taschentuch hielt, auf die Stelle, wo sein Herz saß. »Die Dankbarkeit ist hier,« sagte er, »aber die Worte nicht, die sie auszudrücken vermögen.«

»Pah! pah! pah! reden Sie nicht Von Dankbarkeit. Mir ist es schrecklich jemand in Noth zu sehen. Sie sind in Noth, und ich strecke Ihnen unwillkürlich meine Hand entgegen. Uebrigens bin ich noch nicht zu alt, um mich meiner jungen Tage zu erinnern. Ihr Vater hat mir meine ersten Kunden zugesendet (Es handelte sich um den halben Morgen eines Weingartens in dem nur selten Trauben reiften.) Bin ich nicht dem Sohn Ihres Vaters verschuldet? Ich schulde ihm eine freundschaftliche Verpflichtung und zahle sie ihm hiermit zurück. Das war hübsch ausgedrückt, nicht wahr?« setzte Maitre Voigt in der besten Laune hinzu. »Erlauben Sie, daß sich mein eigenes Verdienst mit einer Prise Tabak belohne.«

Obenreizer schlug die Augen nieder, als ob er es nicht werth wäre, den Notarius nur schnupfen zusehen.

»Ich bitte Sie um eine Gunst, Sir,« sagte er, als er die Augen wieder aufschlug. »Handeln Sie nicht in der ersten Aufwallung. Sie kennen bis jetzt nur meine Lage im Allgemeinen. Erwägen Sie den Fall für und gegen mich in seinen Einzelheiten, bevor Sie mich in Ihrem Büreau anstellen. Prüfen Sie meinen Anspruch an Ihre Menschenfreundlichkeit mit Ihrem scharfen Verstande und Ihrem vortrefflichen Herzen. Wollen Sie das, so kann ich meinen Kopf gegen meine erbittertsten Feinde hoch heben und meinen Ruf auf den Trümmern der verlorenen Ehre wieder aufbauen.«

»Wie Sie wollen,« sagte Maitre Voigt. »Sie wissen gut zu sprechen, mein Sohn. Sie werden mit der Zeit ein feiner Adookat werden.«

»Der Einzelheiten sind nur wenige,« fuhr Obenreizer fort. »Mein Unglück beginnt mit dem zufälligen Tode meines Verstorbenen Reisegefährten, meines theuren verlorenen Freundes, Mr Vendale.«

Mr. Vendale,« wiederholte der Notarius. »Richtig. Ich habe verschiedene Male in den letzten zwei Monaten den Namen gehört und gelesen; den Namen des unglücklichen Engländers der auf dem Simplon getödtet wurde. Sie haben diese Narben auf Hals und Wange davongetragen.«

»—— Von meinem eigenen Messer,« sagte Obenreizer, die Narben berührend, die ihrer Zeit schreckliche Wunden gewesen sein mußten.

»Von Ihrem eignen Messer,« stimmte der Notarius ein, »als Sie ihn zu retten versuchten. Gut, gut, gut. Es war sehr gut Von Ihnen. Vendale. Ja, Ich habe in der letzten Zeit öfter daran gedacht, wie eigenthümlich es ist, daß ich einmal einen Clienten des Namens hatte.«

»Die Welt ist so eng,« erwiderte Obenreizer und machte sich innerlich einen Gedankenstrich, daß der Notarius früher einen Clienten des Namens gehabt hatte.«

»Wie ich sagte, Sir, mit dem Tode meines lieben verstorbenen Reisegefährten fängt mein Unglück an. Was darauf folgte? Ich rettete mich selbst und begab mich dann nach Mailand. Ich wurde Von Defresnier und Co. kühl empfangen und kurze Zeit darauf meiner Geschäfte bei Defresnier und Co. enthoben. Warum? Den Grund gaben Sie nicht an. Ich fragte, ob meine Ehre angegriffen werde? Keine Antwort. Ich fragte, was ist die Schuld, die mich trifft? Keine Antwort. Ich fragte, wo sind die Beweise gegen mich? Keine Antwort. Ich fragte, was ich davon denken solle? Die Erwiderung lautete: »Es steht Mr. Obenreizer frei zu denken, was er will; was Mr. Obenreizer denkt, ist für Defresnier und Co. von gar keinem Belang. Das war Alles.«

»Richtig. Das war Alles,« stimmte der Notarius eine große Prise Tabak nehmend, ein.

»Aber genügt das, Sir!«

»Das genügt nicht,« sagte Maitre Voigt. »Die Defresnier und Co., sind meine Mitbürger —— sehr geachtete und sehr geschätzte —— aber die Defresnier und Co. dürfen nicht den Ruf eines Menschen stillschweigend zerstören. Eine falsche Anschuldigung kann man zurückweisen, aber wie soll man dem Stillschweigen beikommen?«

»Ihr Sinn für Gerechtigkeit, mein theurer Beschützer,« antwortete Obenreizer, »kehrt das Empörende der Handlungsweise mit einem Wort heraus. Hat es nun damit geendet? Nein. Was folgte hinterher?«

»Es ist wahr, mein armer Junge,« sagte der Notarius mit einem Nicken des Kopfes, welches den Andern trösten sollte. »Ihre Mündel lehnt sich gegen Sie auf.«

»Auflehnen ist nicht das richtige Wort,« entgegnete Obenreizer.« Meine Mündel schreckt vor mir mit Entsetzen zurück. Meine Mündel einzieht sich meiner Autorität und sucht Schutz (und Madame Dor mit ihr) in dem Hause des Englischen Advokaten Mr. Bintrey, desselben, der auf Ihre Aufforderung an meine Nichte sich meiner Autorität zu unterwerfen, erwidert, daß meine Nichte den Aufforderung nicht Folge leisten werde.«

»—— Und der ferner schreibt,« sagte der Notarius, seine große Tabaksdose fortnehmend, um zwischen den Papieren darunter nach Mr. Bintreys Brief zu suchen, »daß er selbst kommen werde, um mit mir Rath zu pflegen.«

»So?« erwiderte Obenreizer erschrocken. »Nicht, Sir? Habe ich nicht gesetzmäßige Rechte an sie?«

»Gewiß, mein armer Junge,« entgegnete der Notarius. »Jeder außer dem Verbrecher hat gesetzmäßige Rechte.«

»Und wer kann mich einen Verbrecher nennen?« sagte Obenreizer mit auffallender Heftigkeit.

»Niemand. Bleibet Sie ruhig, trotzdem, daß man Ihnen Unrecht thut. Wenn das Haus Defresnier Sie einen Verbrecher nennen sollte, gewiß, so kennen wir das Verfahren, welches wir in dem Fall ihm gegenüber einzuschlagen hätten.«

Indem er das sagte, händigte er Bintreys kurzen Brief Obenreizern ein, der denselben durchlas und zurückgab.

»Wenn er sagt,« bemerkte Obenreizer mit wiedergewonnener Fassung, »er werde kommen, um mit Ihnen Raths zu pflegen, so meint der Englische Addokat damit, daß er kommen will und meine Autorität über meine Mündel ableugnen.«

»Glauben Sie?«

»Ich bin davon überzeugt. Ich kenne ihn. Er ist eigensinnig und streitsüchtig. Sagen Sie mir, theurer Sir, ob die Autorität, welche ich über meine Mündel besitze, unangreifbar ist.«

»Durchaus unangreifbar.«

»Ich will darauf bestehen. Ich will es durchsetzen, daß sie sich derselben unterwerfe, denn,« sagte Obenreizer seinen zornigen Ton in den dankbarster Unterwürfigkeit verwandelnd, »ich bin es Ihnen schuldig, Sir, Ihnen, der einen arg beleidigten Mann vertrauensvoll in seinen Schutz und seinen Dienst genommen hat.«

»Nun beruhigen Sie sich,« sagte Maitre Voigt. »Nichts mehr davon und keinen Dank. Ich erwarte Sie morgen früh, ehe der andre Schreiber kommt —— zwischen sieben und acht. Sie finden mich in diesem Zimmer. Ich werde Sie selbst in Ihre Geschäfte einführen. Jetzt gehen Sie! Gehen Sie! Ich habe Briefe zu schreiben. Ich will kein Wort mehr hören.«

Mit dieser großmüthigen Eilfertigkeit entlassen und befriedigt von dem günstigen Eindruck, den er auf den alten Mann gemacht hatte, benutzte Obenreizer seine Muße, auf den Gedankenstrich in seinem Geist zurückzukommen, der ihn daran erinnern sollte, daß Maitre Voigt früher einen Clienten Namens Vendale gehabt habe.

»Ich denke England jetzt genugsam zu kennen,« so war der Gang, den seine Betrachtungen nahmen, als er sich auf eine Bank im Garten niedersetzte. »Der Name ist mir dort nie vorgekommen, ausgenommen ——« er sah unwillkührlich scheu über die Schulter —— »bei ihm. Ist die Welt so eng, daß ich ihn nicht loswerden kann, selbst jetzt, nun er todt ist? Er bekannte zu guter letzt daß er das Vertrauen des Verstorbenen mißbraucht und unrechtmäßiger Weise ein Vermögen geerbt habe. Ich solle nachforschen, sagte er. Ich solle ihn ansehen; mein Antlitz erinnre ihn daran. Warum mein Antlitz, wenn es nicht mich beträfe? Es waren seine Worte; sie sind seitdem nicht aus meinem Ohr gewichen. Kann sich etwas in des alten Dummkopfs Gewahrsam befinden, was darauf Bezug hat? Etwas, das meine äußere Lage wieder herzustellen und sein Andenken zu verwischen vermöchte. Er verweilte lange Zeit in jener Nacht in Basel auf meinen frühesten Erinnerungen. Warum that er es, wenn er nicht einen Grund dazu hatte?«

Die beiden größten Ziegenböcke Maitre Voigts stießen mit den Köpfen nach Obenreizer, um ihn aus den Garten zu treiben, als wollten sie für die geringschätzende Art, mit der ihrem Herrn Erwähnung geschehen, Rache üben. Er stand anf, verließ seinen Platz und ging darauf lange Zeit mit gebeugtein Haupt, in tiefe Gedanken versunken, am Rande des Sees spazieren.

Am nächsten Morgen stellte sich Obenreizer in dem Bureau ein. Er fand den Notarius bereits fertig und mit Papieren beschäftigt, die am vergangenen Abend eingegangen waren. In wenigen klaren Worten legte Maitre Voigt die Art und Weise seines Geschäftsbetriebes dar und weihte ihn in die Pflichten ein, die, wie er erwartete, Obenreizer pünktlich erfüllen werde. Es war in fünf Minuten acht Uhr, als er die vorläufigen Instruktionen für beendet erklärte.

»Ich will Ihnen noch das Haus und die Bureau’s zeigen,« sagte« Maitre Voigt, »aber ich muß zuvor die Papiere fortlegen. Sie kommen von der Municipalbehörde und müssen mit mit besonderer Vorsicht aufbewahrt werden.«

Obenreizer erblickte darin die Gelegenheit, den Ort zu erspähen, in dem des alten Advokaten Privatpapiere lägen.

»Kann ich Ihnen nicht die Mühe abnehmen, Sir?« fragte er. »Kann ich nicht die Schriften nach Ihrer Anweisung aufbewahren?«

Maitre Voigt lachte verstohlen in sich hinein, schloß die Brieftasche, in welcher die Papiere ihm übersendet worden waren und händigte sie Obenreizern ein.

»Versuchen Sie einmal,« sagte er. »Ich bewahre alle meine Papiere von Wichtigkeit dort auf.«

Er wies auf eine schwere mit Nägeln beschlagene Eichenthür am unteren Ende des Zimmers. Als Obenreizer sich mit der Brieftasche in der Hand derselben näherte, gewahrte er zu seinem höchsten Erstaunen, daß kein Mittel irgend einer Art vorhanden war, die Thür von außen zu öffnen: keine Klinke, kein Riegel, kein Schlüssel, und was das Auffallendste war, kein Schlüsselloch.

»Es giebt noch eine andere Thür, die zu dem Zimmer führt?« sagte Obenreizer, sich an den Notar wendend.«

»Nein,« erwiderte Maitre Voigt. Rathen Sie weiter.«

»Es giebt ein Fenster?«

»Nichts derartiges. Das Fenster ist zugemauert. Der einzige Zugang zu dem Zimmer ist der durch die Thür. Geben Sie es auf!« rief Maitre Voigt triumphierend. »Horchen Sie einmal genau, mein guter Freund, und sagen Sie mir, ob Sie nichts darinnen vernehmen?«

Obenreizer horchte einen Augenblick gespannt und sprang dann von der Thür zurück.

Ich weiß!« rief er aus. »Ich hörte davon, als ich bei dem Uhrmacher in der Lehre war. Perrin Brüder haben ihr berühmtes Uhrschloß fertig, und Sie haben es gekauft.«

»Bravo!« sagte Maitre Voigt. »Es ist das Uhrschloß. Da, mein Sohn! Da haben Sie eins von jenen Dingen, die die guten Einwohner der Stadt Papa Voigts Tollheiten nennen. Aber wahr bleibt wahr. Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Kein Dieb kann meine Schlüssel stehlen; kein Räuber mein Schloß versehren. Keine Macht der Erde, es müßte denn ein Mauerbrecher oder ein Pulverfaß sein, kann die Thür öffnen, wenn nicht meine kleine Schildwache da drinnen —— mein bester Freund Tick Takt, der geht, wie ich es ihm verschreibe —— ruft: »Offen!« Das schwere Thor gehorcht dem kleinen Tick Takt, und der kleine Tick Tack gehorcht mir. Das,« rief Papa Voigt, ein Schnippchen schlagend, »schützt vor allen Dieben in der Christenheit.«

»Kann ich nicht das Uhrwerk in Thätigkeit sehen? fragte Obenreizer. »Verzeihen Sie meine Neugierde, theurer Sir. Sie wissen ja, daß ich früher ein ziemlich brauchbarer Arbeiter im Uhrmacherhandwerk gewesen bin.«

»Gewiß sollen Sie es in Thätigkeit sehen,« sagte Maitre Voigt. »Wie viel Uhr ist es? In einer Minute acht. Warten Sie noch eine Minute, und Sie werden erleben, wie sich die Thür von selber öffnet.«

In einer Minute öffnete sich wirklich das schwere Thon langsam, leise und still, als ob es von unsichtbaren Händen aufgemacht werde, und man erblickte eine dunkle Kammer dahinter. An drei Seiten füllten Büchergestelle die Wände vom Fußboden bis zur Decke, darauf befan den sich Reihen Von Kasten nach Schweizer Art aus Holz gefertigt und hübsch ausgelegt. Sie trugen Inschriften auf den Rücken (die meisten in geschwungenen farbigen Buchstaben) und wiesen die Namen der Clienten des Notarius auf.

Maitre Vogt zündete eine Kerze an und führte Obenreizer in das Zimmer.

»Sie sollen das Uhrwerk sehen,« sagte er stolz. »Ich besitze die größte Merkwürdigkeit in Europa. Nur wenigen Bevorzugten habe ich das Kunstwerk gezeigt. Dem Sohn Ihres lieben Vaters soll dieser Vorzug werden. Sie find einer der wenigen Begünstigten, die mich in das Zimmer begleiten dürfen. Sehen Sie, da ist es. An der rechten Wand, zur Seite der Thür.«

»Eine gewöhnliche Uhr!« rief Obenreizer aus. »Nein, keine gewöhnliche Uhr. Es ist nur ein Zeiger vorhanden.«

»Aha!« sagte Maitre Voigt. »Keine gewöhnliche Uhr, mein Freund. Nein, nein. Der eine Zeiger geht um das Zifferblatt herum. Wenn ich ihn stelle, so bestimme ich dadurch die Stunde, in welcher die Thür sich öffnen soll. Sehen Sie, der Zeiger steht auf acht. Um acht ist die Thür aufgegangen, wie Sie sich selbst überzeugt haben.«

»Kann sie sich öfter als einmal in vierundzwanzig Stunden öffnen?« fragte Obenreizer.«

»Oefter als einmal?« wiederholte der Notarius mit aufsteigender Heftigkeit. »Sie kennen meinen Freund Tick Tack nicht. Er öffnet mir die Thün so oft ich es verlange. Alles, was er begehrt, ist, daß ich ihn stelle. Die Anweisung zum Stellen befindet sich hier. Sehen Sie, unter dem Zifferblatt ist ein stählerner Halbkreis in die Wand eingelassen, und hier der Zeiger, der Regulator genannt, kann ihn einschreiben, gerade so wie meine Hand ihn leitet. Wollen Sie bemerken, daß sich auf dem Halbkreis Ziffern befinden, nach denen ich mich zu richten habe. Die Zahl l bedeutet: Oeffne einmal während vierundzwanzig Stunden. Die Zahl II bedeutet: Oeffne zweimal und so weiter bis zum Ende. Ich stelle den Regulator jeden Morgen, nachdem ich die Briefe gelesen und mein Tagewerk überschauen kann. Macht es Ihnen Freude, ihn stellen zu sehen? Was haben wir heute? Mittwoch. Gut! Heut ist Schützentag und wenig zu thun. Ich setze einen halben Feiertag an. Nach drei Uhr braucht Niemand mehr zu arbeiten. Erst wollen wir die Brieftasche mit den städtischen Papieren fortlegen So! Es ist kein Grund vorhanden, daß Tick Tack die Thür vor acht Uhr morgen früh wieder eröffne. Gut! Ich stelle den Zeiger des Zifferblattes auf acht und den Regulator wieder auf!. Ich mache die Thür zu, und zu bleibt sie, ohne daß es eine Möglichkeit ist, sie wieder zu öffnen bis morgen früh um acht.«

Obenreizers Scharfblick erkannte sogleich, durch welches Mittel das Uhrschloß zu zwingen war, das Zutrauen seines Herrn zu täuschen und seines Herrn Papiere Obenreizer zur Verfügung zu stellen.

»Halt, Sir!« rief er in dem Augenblick, als der Notarius die Thür schließen wollte. »Mir ist, als ob sich etwas zwischen den Kasten bewege —— dort unten am Boden.«

(Maitre Voigt wendete sich einen Augenblick nach den Büchergestellen um. Ja diesem kurzen Augenblick schob Obenreizers gewandte Hand den Regulator von der Zahl I auf die Zahl II. Wenn des Notarius Blick nicht wieder auf den stählernen Halbkreis fiel, so mußte sich die Thür Abends um acht ebenso gut, als am andern Morgen um acht öffnen und niemand als Obenreizer wußte darum.)

»Ich sehe nichts« sagte Maitre Voigt. Der Kummer hat Ihre Nerven angegriffen, mein Sohn. Die Dunkelheit an den Stellen, wo der Kerzenschein nicht hinbringt oder ein Paar kleine vom Licht gescheuchte Käfer, die zwischen den alten Geheimnissen des Advokaten ihr Wesen treiben, mögen Sie getäuscht haben. Horch! Ich höre Ihren Collegen im Büreau. An’s Werk! an’s Werk! Legen Sie heute den ersten Stein zu dem Gebäude Ihres neuen Glückes!«

Er trieb in bester Laune Obenreizern hinaus, löschte die Kerze mit einem letzten zärtlichen Blick auf seine Uhr, der harmlos den Regulator streifte, und machte die Eichenthür zu.

Um drei wurde das Büreau zugeschlossen. Der Notar und jeder in des Notar’s Dienst (einer ausgenommen) eilte fort um das Scheibenschießen mitanzusehen. Obenreizer hatte vorgegeben nicht in der Laune zu sein um eine öffentliche Lustbarkeit mitzumachen und niemand wußte was aus ihm geworden war. Man glaubte, daß er sich still entfernt habe um einsam spazieren zu gehen.

Das Haus und die Büreau’s waren kaum einige Minuten geschlossen, als sich die Thür eines hellfarbigen Kleiderschrankes in des Notarius hellfarbigem Zimmer öffnete und Obenreizer daraus hervorkam. Er ging an das Fenster, machte die Laden auf und überzeugte sich, daß er durch den Garten ungesehen entschlüpfen könne, kehrte dann vom Fenster zurück und nahm in des Notars Lehnstuhl Platz. Er war in dem Hause eingeschlossen und hatte fünf volle Stunden zu warten ehe acht Uhr herankam.

Er brachte die fünf Stunden hin, so gut er konnte. Mitunter las er in den Büchern und Zeitungen, die auf dem Tische lagen, mitunter sann er nach; mitunter ging er in dem Gemach auf und nieder. Die Sonne neigte sich zum Untergang. Er schloß die Fensterladen, ehe er Licht anzündete. Als die Kerze brannte und die ersehnte Zeit näher und näher heranrückte, saß er mit der Uhr in der Hand, die Augen fest auf die Eichenthür gerichtet.

Um acht öffnete sich die Thür langsam still und geräuschlos.

Er las die Namen, den einen nach dem andern, die auf her äußern Kastenreihe standen. Kein solcher Name wie Vendale. Er nahm die äußern Reihen fort und sah die dahinter befindlichen durch. Es waren ältere abgestoßene Kasten. Die ersten vier, die er besichtigte trugen französische und deutsche Namen, der fünfte trug einen Namen, der fast unleserlich geworden war. Er nahm den Kasten zur sorgfältigen Prüfung in das Zimmer hinein. Da stand von Stockflecken und Staub fast unkenntlich der Name: Vendale. Der Schlüssel hing am Kasten. Er schloß auf. Es befanden sich vier lose Blätter Papier darin. Obenreizer breitete dieselben auf dem Tisch aus und begann sie durchzusehen. Als er kaum eine Minute damit beschäftigt gewesen, verwandelte sich der Ausdruck von Spannung und Eifer auf seinem Gesicht in den höchster Verwunderung und Enttäuschung. Nach kurzem Besinnen schrieb er das auf den Papieren Befindliche ab, legte dieselben an ihren früheren Platz, setzte auch den Kasten an seinen früheren Platz, schloß die Thür, löschte die Kerze und stahl sich fort.

Als die Fußtritte des Diebes und Mörders durch den Garten eilten, langte der Notarius und der, der ihn begleitete, bei der vorderen Thür des Hauses an. Die Laternen anf der Straße waren angezündet. Der Notarius hielt den Hausschlüssel in der Hand.

»Bitte, gehen Sie nicht an meinem Hause vorüber, Mir. Bintrey,« sagte er, »Machen Sie mir die Freude und treten Sie ein. Die ganze Stadt hat heute einen halben Feiertag —— es ist Schützenfest —— aber meine Leute werden sogleich zurück sein. Wie drollig, daß Sie mich gerade um den Weg nach dem Hotel befragen mußten! Lassen Sie uns zusammen essen und trinken, ehe Sie dort einkehren.«

»Danke. Nicht heut Abend,« sagte Bintrey. »Darf ich morgen um zehn zu Ihnen kommen?«

»Es ist mir eine Freude, Sir, so bald Gelegenheit zu erhalten, das Unrecht, welches meinem armen Clienten angethan werden soll, von ihm abzuwehren,« erwiderte der gutmüthige Notarius.

»Ja,« entgegnete Bintrey. »Es ist Alles recht gut mit Ihrem armen Freund —— aber —— ein Wort in Ihr Ohr!«

Er flüsterte dem Notarius einige Worte zu und entfernte sich dann. Als die Wirthschafterin des Notars nach Hause kam, fand sie ihren Herrn regungslos vor der Thür stehen mit dem Schlüssel in der Hand und die Thür noch fest verschlossen.



Kapiteltrenner

Obenreizer’s Triumph.

Der Schauplatz verwandelt sich und ist wieder am Fuß des Simplon auf der Schweizer Seite.

In einem abscheulichen Zimmer des abscheulichen kleinen Gasthauses zu Brieg saßen Mr. Bintrey und Maitre Voigt zu dem Zweck einer juristischen Berathung bei einander. Mr. Bintrey suchte in seiner Schatulle umher. Maitre Voigt hielt den Blick auf eine geschlossene Thür gerichtet, welche braun angestrichen war, um Mahagoni vorzustellen und zu den inneren Räumen des Gasthauses führte.

»Könnte er nicht schon hier sein?« fragte der Notar, seine Stellung verändernd und sich nach einer zweiten Thür am andern Ende des Zimmers umsehend, welche gelb angestrichen war, um Tannenholz vorzustellen.

»Er ist da!« antwortete Bintrey, nachdem er einen Augenblick gehorcht hatte.«

Die gelbe Thür wurde von einem Kellner geöffnet und Obenreizer trat ein.

Nachdem er Maitre Voigt mit einer Vertraulichkeit begrüßt hatte, welche den Notar nicht wenig in Verlegenheit setzte, verbeugte er sich ernst und mit gemessener Höflichkeit auch vor Bintrey. »Aus welchem Grunde bin ich von Neuschatel an den Fuß der Berge gebracht worden?« fragte er, den Stuhl einnehmend, den ihm der Englische Advocat angeboten hatte.

»Sie werden über diese Frage, noch ehe unsere Unterredung beendet ist, vollständig aufgeklärt sein. Fürs Erste erlauben Sie mir, daß ich sofort zu unsern Geschäften übergehe. Zwischen Ihnen und Ihrer Nichte, Mr. Obenreizer, hat eine Correspondenz stattgefunden. Ich bin hier, um Ihre Nichte zu vertreten.«

»Mit andern Worten, Sie, ein Mann des Gesetzes, sind hier, um eine Uebertretung des Gesetzes zu vertheidigen.«

»Vortrefflich gesagt!« rief Bintrey. »Wenn alle Leute, mit denen ich zu thun habe, wie Sie wären, so würde mein Beruf noch einmal so leicht sein! Ich bin hier, um eine Uebertretung des Gesetzes zu vertheidigen —— so sehen Sie die Sache an. Ich bin hier, um einen Vergleich zwischen Ihnen und Ihrer Nichte herzustellen —— so sehe ich die Sache an.«

»Es gehören zwei Parteien zu einem Vergleich,« erwiderte Obenreizer. »Ich leugne ab, in diesem Falle eine Partei zu sein. Das Gesetz, verleiht mir ein Recht, während ihrer Minderjährigkeit meiner Nichte Handlungen zu überwachen. Sie ist noch nicht großjährig also nehme ich mein Recht in Anspruch.«

Hier wollte Maitre Voigt einen Versuch zum Reden machen, aber Mr. Bintrey beschwichtigte ihn mit liebreichem Ton und Wesen, etwa wie man ein Lieblingskind beruhigt.

»Nein, mein würdiger Freund, nicht ein Wort. Regen Sie sich nicht unnöthig auf; überlassen Sie mir die Verhandlung. Er wendete sich um und richtete seine Rede wieder an Obenreizer.

»Ich kann Sie mit nichts Anderem, als mit Granit vergleichen, Mr. Obenreizer —— und selbst der verwittert im Lauf der Zeiten. Um des Friedens und der Ruhe willen —— um Ihrer selbst willen —— geben Sie ein Weniges nach. Wie, wenn Sie Ihre Rechte auf eine andere Person übertrügen, die ich kenne und der man zutrauen kann, daß sie Ihre Nichte weder Tag noch Nacht außer Augen lassen werde?«

»Sie verschwenden meine und Ihre Zeit nutzlos,« erwiderte Obenreizer. »Wenn meine Nichte nicht binnen acht Tagen meiner Autorität zurückgegeben wird, so rufe ich die Gesetze an. Und weigern Sie sich dann noch, so hole ich sie mit Gewalt.«

Bei den letzten Worten sprang er auf. Maitre Voigt sah sich nach der braunen Thür um, die zu den inneren Räumen führte.

»Haben Sie Mitleid mit dem armen Mädchen,« bat Bintrey. »Bedenken Sie, daß sie erst vor Kurzem ihren Bräutigam durch einen gräßlichen Tod verlor. Kann nichts Sie bewegen?«

»Nichts.«

Bintrey sprang ebenfalls auf und sah Maitre Voigt an. Maitre Voigts Hand, die auf dem Tische lag, fing an zu zittern. Maitre Voigts Augen hafteten, wie durch unwiderstehlichen Zauber gefesselt, an der braunen Thür. Obenreizer, der ihn argwöhnisch beobachtete, blickte gleichfalls dahin.

»Nebenan horcht Jemand,« sagte er mit einem scharfen Seitenblick auf Bintrey.

»Zwei horchen nebenan,« antwortete Bintrey.

»Wer sind die zwei?«

»Sie werden es sehen.«

Als er die Antwort gegeben, erhob er seine Stimme und sprach die beiden Worte —— die beiden gewöhnlichen Worte, die zu jeder Stunde des Tages auf jedermanns Lippen sind: »Kommt herein!«

Die Thür öffnete sich. Von Marguerite unterstützt —— keine Spur der gebräunten Farbe mehr im Antlitz, den rechten Arm in einer Binde über der Brust befestigt —— trat Vendale vor seinen Mörder, ein vom Tode Erstandener.

In der tiefen Stille, die folgte, war der Gesang eines Vogels im Käfig draußen auf dem Hofe, der einzige Laut, der das Schweigen im Zimmer unterbrach. Maitre Voigt stieß Bintrey an und zeigte auf Obenreizer. »Sehen Sie nur!« flüsterte der Notar.

Der Schreck hatte jede Bewegung an dem Körper des Schurken gelähmt. Todtenblässe bedeckte sein Antlitz, Die einzige Spur Von Farbe lag auf den feuchten rothen Streifen, die die Stellen kennzeichneten an denen ihn sein Opfer auf Wange und Hals getroffen hatte. Sprachlos, athemlos, bewegungslos verharrten Augen und Glieder es schien, als ob der Anblick Vendale’s ihn so tödtlich getroffen habe, wie er denselben zu treffen gemeint hatte.

»Es muß ihn einer anreden,« sagte Maitre Voigt. »Soll ich?«

Selbst in diesem Augenblick bestand Bintrey darauf, daß der Notarius schweige, und er die Leitung des Verfahrens selbst in der Hand behalte. Maitre Voigt durch eine Handbewegung zurückhaltend, gab er Margueriten und Vendale in folgenden Worten die Erlaubniß sich zurückzuziehen: »Euer Erscheinen hat das Nöthige gewirkt,« sagte er. »Eure Entfernung wird jetzt dazu dienlich sein, daß Mr. Obenreizer seine Fassung wieder gewinne.«

Sie war dazu dienlich. Als die beiden das Zimmer verlassen hatten und die Thür sich hinter ihnen schloß, that er, wie von einem Druck erleichtert, einen tiefen Athemzug. Er sah sich nach dem Stuhl um, von dem er aufgesprungen war, und sank hinein.

»Lassen Sie ihm Zeit,« bat Maitre Voigt.

»Nein,« sagte Bintrey. »Ich kann nicht wissen, welchen Nutzen er daraus zieht, wenn ich es thue.« Er wendete sich wieder an Obenreizer und begann: »Ich bin es mir schuldig —— bemerken Sie wohl, ich sage nicht, ich bin es Ihnen schuldig —— Rechenschaft abzulegen für mein Eingreifen in diese Angelegenheit und festzustellen was auf meinen Rath und aus meine alleinige Verantwortlichkeit geschehen ist. Können Sie mich hören?«

»Ich höre.«

»Erinnern Sie Sich Ihrer plötzlichen Abreise mit Mr. Vendale nach der Schweiz,« fuhr Bintrey fort. »Sie hatten England kaum vierundzwanzig Stunden verlassen, als Ihre Nichte eine Unvorsichtigkeit beging, die selbst Ihr Scharfblick nicht vorher sehen konnte. Sie folgte ihrem künftigen Gatten auf seiner Reise ohne eines Menschen Rath und Erlaubniß einzuholen und ohne einen bessern Begleiter um sie zu beschützen, als den ersten Kellermeister in Mr. Vendale’s Geschäft.«

»Warum folgte sie mir auf der Reise? Und wie kam der Kellermeister dazu, sie zu begleiten?«

»Sie folgte Ihnen,« antwortete Bintrey, »weil sich der Argwohn ihrer bemächtigt hatte, daß zwischen Ihnen und Mr. Vendale ernstliche Mißhelligkeiten ausgebrochen seien, welche man vor ihr geheim gehalten habe und weil sie Sie für fähig hielt, wenn esIhrem eignen Interesse oder zur Befriedigung Ihrer Rachlust diente, auch ein Verbrechen zu begehen. Was den Kellermeister anbetrifft, so war es derjenige unter den Leuten in Mr. Vendale’s Hause, an den sie sich (in dem Augenblick, wo Sie abgereist waren) gewandt hatte, um in Erfahrung zu bringen, ob zwischen Ihnen umd dem Herrn des Geschäfts irgend etwas vorgefallen sei? Der Kellermeister wußte etwas zu berichten. Ein unverständiger Argwohn, hervorgerufen durch ein geringfügiges Ereigniß, welches seinem Herrn in den Kellerräumen begegnet war, hatte in des Mannes Kopf die Idee festgesetzt, daß sein Herr von Mörderhand bedroht sei. Ihre Nichte lockte ihm das Bekenntniß ab, durch welches das Entsetzen, was sich ihrer bemächtigt hatte, zehnfach gesteigert wurde. Der Mann, nachdem es ihm klar geworden war, welches Unheil er angerichtet hatte, bot, um wieder gut zu machen, was er sich zu Schulden kommen lassen, das einzige an, was er anzubieten vermochte. »Wenn mein Herr in Gefahr ist, Miß sagte er, »so ist es meine Pflicht ihm zu folgen und mehr als meine Pflicht, Sie zu schützen.« Beide machten sich gemeinsam auf —— und so ist zum ersten mal im Leben ein Aberglaube zu etwas gut gewesen. Er brachte Ihre Nichte zu dem Entschluß zu reisen und diente dazu, ein Menschenleben zu retten. Haben Sie mich bis hierher verstanden?«

»Ich habe Sie verstanden.«

»Die erste Kunde von dem Verbrechen, welches Sie begangen haben,« fuhr Mr. Bintrey fort, »wurde mir durch ein Schreiben Ihrer Nichte. Alles, was Sie zu wissen brauchen, ist, daß Miß Margueriten’s Liebe und Muth den Halbermordeten retteten, und sie bei den Anstrengungen getreulich half, die gemacht wurden, um ihn wieder in’s Leben zurückzurufen. Während er hilflos in Brieg darniederlag, bat sie mich schriftlich, zu ihm zu kommen. Ehe ich abfuhr, theilte ich Madame Dor mit, daß ich erfahren, habe, Miß Obenreizer sei gesund, und daß ich wisse, wo, sie sich aufhalte. Madame Dor erzählte mir dagegen, wie ein Brief an Ihre Nichte ein getroffen sei, auf dem sie Ihre Handschrift erkenne. Ich bemächtigte mich seiner und verabredete mit ihr, wohin sie alle Briefe die möglicherweise noch nachfolgen könnten, zu senden habe. In Brieg angekommen fand ich Vendale außer Gefahr und erbot mich, sogleich einen Tag herbeizuführen, an dem mit Ihnen abgerechnet werden sollte. Defresnier und Co. kündigten Ihnen, weil sie dringenden Argwohn hegten; sie handelten, von einer Erklärung beeinflußt, die ich privatim an sie habe ergehen lassen. Nachdem ich Ihren falschen Charakter dargelegt hatte, mußte es mein nächstes Streben sein, Ihnen das gesetzliche Recht über Ihre Nichte zu entziehen. Um das zu erreichen, machte ich mir kein Gewissen daraus, im Dunkeln die Grube der Ihren Füßen zu graben, —— ja, ich empfand eine gewisse Freude daran, sie mit Ihren eigenen Waffen zu bekämpfen. Auf meinen Rath wurde die Wahrheit bis zu diesem Tag sorgfältig vor Ihnen verborgen, auf meinen Rath die Falle, in die Sie sich gefangen haben, an diesen Ort aufgestellt, Sie wissen jetzt, so gut wie ich warum? Es gab nur einen sichern Weg die teuflische Selbstbeherrschung, durch die Sie unüberwindlich sind, zu erschüttern. Dieser Weg ist eingeschlagen worden und (mögen Sie mich ansehen, wie Sie wollen) hat zum Ziele geführt. Das Letzte, was nach zu thun übrig bleibt,« schloß Bintrey, zwei schmale beschriebene Zettel aus seiner Schatulle hervorziehend, »ist, Ihre Nichte von Ihnen los zu machen. Sie haben einen Mordversuch und Sie haben einen Diebstahl und eine Fälschung begangen. Wir haben in beiden Fällen die Beweise gegen Sie in Händen. Wenn Sie des Verbrechens überführt sind, so wissen Sie so gut wie ich, was aus Ihren gesetzlichen Rechten über Ihre Nichte wird. Ich für meine Person würde dieses Verfahren in der Sache eingeschlagen haben. Aber Rücksichten, denen ich mich nicht entziehen kann, bestimmen mich dahin, diese Unterredung, wie ich schon gesagt hahe, mit einem Vergleich endigen zu lassen. Unterzeichnen Sie diese Zeilen. Entsagen Sie allen Rechten über Miß Obenreizer, verpflichten Sie sich dahin, niemals wieder in England oder der Schweiz betroffen zu werden, und ich will Ihnen eine Straflosigkeitserklärung ausstellen, welche Sie vor jeder ferneren Verfolgung sicher stellt.«

Obenreizer nahm schweigend die Feder und unterzeichnete die Freigebung seiner Nichte. Bei dem Empfang der Straflosigkeitserklärung erhob er sich, aber machte keine Miene, das Zimmer zu verlassen. Er stand und sah Maitre Voigt mit seltsamem Lächeln auf den Lippen und einem seltsamen Aufleuchten in den überschatteten Augen an.«

»Worauf warten Sie noch?« fragte Bintrey.

Obenreizer deutete auf die braune Thür. »Rufen Sie sie zurück,« antwortete er. »Ich habe, ehe ich fortgehe, noch etwas in Gegenwart der Beiden zu sagen.«

»Sagen Sie es in meiner Gegenwart,« erwiderte Bintrey. »Ich verweigerte, sie zurückzurufen.«

Obenreizer wendete sich an Maitre Voigt. »Erinnern Sie sich, daß Sie mir, als ich das erste Mal bei Ihuen war, mitteilten, einst einen Clienten Namens Vendale gehabt zu haben?« fragte er.

»Nun,« antwortete der Notarius. »Was hat es damit für Bewandtniß?«

»Maitre Voigt, Ihr Uhrschloß hat Sie betrogen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Daß ich die Briefe und Certificata welche sich in dem Kasten Ihres Clienten befinden, gelesen habe. Ich habe Copien davon abgenommen. Ich habe dieselben bei mir. Ist Grund oder ist kein Grund vorhanden, die Beiden im Nebenzimmer zurückzurufen?«

Für einen Augenblick sah der Notarius vor Erstaunen rathlos, zwischen Bintrey und Obenreizer hin und her. Als er sich gesammelt hatte, nahm er seinen Collegen bei Seite und flüsterte ihm schleunig wenige Worte in’s Ohr. Bintrey’s Antlitz das genau die Verwunderung auf dem Antlitz Maitre Voigtis widerspiegelte —— fing plötzlich an seinen Ausdruck zu verändern. Er eilte mit der Behendigkeit eines Jünglings an die Thüre; die nach den inneren Gemächern führte, trat durch dieselbe in das Nebenzimmer und verweilte eine Minute darin. Darauf kehrte er von Marguerite und Vendale begleitet zurück. »Nun, Mr. Obenreizer,« sagte Bintrey. »Der letzte Zug in dem Spiele ist der Ihre. Thun Sie ihn.«

»Ehe ich aus das Amt des Vormundes dieser jungen Dame Verzicht leiste,« sagte Obenreizer, »habe ich noch ein Geheimniß zu enthüllen, bei dem sie mit interessirt ist. Ich beanspruche nicht, daß sie oder eine Von den andern hier anwesenden Personen meiner bloßen Erzählung Glauben schenken. Ich bin in Besitz von geschriebenen Beweisen, von Copien der Originale, deren Richtigkeit Maitre Voigt bezeugen kann. Behalten Sie das im Gedächtniß und erlauben Sie mir, Sie im Beginn meiner Erzählung auf ein längst vergangenes Datum zurückzuweisen —— auf den Monat Februar im Jahre ein Tausend achthundert und sechsunddreißig.«

»Merken Sie auf das Datum, Mr. Vendale,« sagte Bintrey.

»Mein erster Beweis!« fuhr Obenreizer fort, aus seinem Taschenbuch ein Blatt Papier nehmend. »Abschrift eines Briefes, der von einer englischen Dame an ihre Schwester, eine Wittwe, geschrieben ist. Den Namen der Schreiberin behalte ich für mich, bis ich geendet haben werde. Den Namen der Empfängerin dagegen bin ich willens aufzudecken. Die Adresse des Briefes lautet:

»Mrs. Jane Anne Miller, of Groombridge-wells, England.«

Vendale fuhr zurück und öffnete seine Lippen, um zu sprechen, Bintrey verhinderte ihn daran, wie er Maitre Voigt verhindert hatte. »Nein,« sagte der eigensinnige Advocat. »Ueberlassen Sie es mir.«

Obenreizer fuhr fort:

»Es ist unnütz, Sie mit der ersten Hälfte des Briefes zu langweilen,« sagte er. »Ich kann den Inhalt in zwei Worten wiedergeben. Der Schreiberin Verhältnisse sind folgende: Sie hat lange Zeit mit ihrem Mann, dessen Gesundheit es erfordern, in der Schweiz gelebt. Beide stehen im Begriff sich etwa in einer Woche an den Neuschateller See zu begeben und wollen sich bereit halten, Mrs. Miller in vierzehn Tagen nach ihrem Eintreffen am See, als Gast zu empfangen. Danach geht die Schreiberin auf wichtige häusliche Interessen ein. Ihre Ehe ist kinderlos, sie und ihr Gatte haben seht keine Aussicht mehr Kinder zu bekommen. Sie sind allein und ihnen fehlt ein Lebensinteresse. Sie haben sich entschlossen, ein Kind anzunehmen. Hier fängt der bedeutsame Theil des Briefes an, von hier ab werde ich ihn Wort für Wort vorlesen.«

Er schlug die erste Seite des Briefes um und las wie folgt:

» . . . Willst Du, meine liebe Schwester, uns bei der Ausführung unseres Planes behilflich sein? Da wir Engländer sind, so möchten wir gern ein Englisches Kind erziehen. Ein solches läßt sich, wie ich höre, aus dem Findelhause entnehmen, der Geschäftsführer meines Mannes in London wird Dir mitteilen, wie es zu bewerkstelligen ist. Ich überlasse Dir die Wahl und stelle nur die einzige Bedingung —— daß das Kind noch nicht ein Jahr alt und ein Knabe sei. Ich bitte der großen Mühe wegen, die ich Dir mache, um Verzeihung, und bitte ferner so gut zu sein, das angenommene Kind nebst Deinen eigenen Kindern mit nach Neuschatel zu bringen, wenn Du zu uns kommst.

»Ich muß noch ein Wort über die Wünsche meines Mannes in dieser Angelegenheit hinzufügen. Er ist entschlossen, dem Kinde, welches wir zu unserm eignen machen, jede Beschämung und jeden Mangel an Selbstachtung die ihm die Entdeckung seines wahren Ursprungs später verursachen könnten, zu ersparen. Es soll den Namen meines Mannes führen und in dem Glauben auferzogen werden, daß er in der That unser Sohn sei. Die Erbschaft von dem, was wir besitzen soll ihm gesichert werden —— nicht allein in der Form, die die Englischen Gesetze in solchem Fall verlangen, sondern auch in der Form, die die Schweizer Gesetze vorschreiben, denn wir haben so lange in diesem Lande gelebt, daß es die Frage ist, ob man uns nicht für in der Schweiz Ansässige betrachtet. Das einzige, was noch zu thun übrig bleibt, ist, Vorsichtsmaßregeln zu ergreifen, um eine Entdeckung, die vielleicht vom Findelhause ausgehen könnte, zu verhindern. Unser Name ist ein sehr ungewöhnlicher und wenn derselbe in den Registern der Anstalt als der Name Diejenigen aufgezeichnet wird, die das Kind angenommen haben, so wäre dabei eine Gefahr für die Folge zu fürchten. Dein Name, meine liebe Schwester, ist der Name vieler tausend Menschen, und wenn Du einwilligtest, den Deinen in das Register zu setzen, so wären wir von der Seite her vor jeder Entdeckung gesichert. Wir begeben uns, nach der Verordnung des Arztes, in einen Theil der Schweiz, wo unsere Verhältnisse gänzlich unbekannt sind und Du, wie ich verstanden habe, bist im Begriff, Dir für die Reise ein neues Kindermädchen zu miethen. Unter diesen Umständen kann das Kind für mein Kind gelten, welches unter der Obhut meiner Schwester zu mir gebracht wird. Die einzige Magd, welche ich aus der alten Behausung mit mir nehme, ist meine Jungfer, in die ich vollständiges Vertrauen setze. Was unsere Advocaten in England und der Schweiz anbelangt, so sind es Leute, deren Beruf Verschwiegenheit verlangt —— und wir können nach dieser Richtung hin ganz unbesorgt sein. Jetzt liegt unsre kleine Verschwörung ganz vor Dir. Schreibe mir umgebend, meine liebe Schwester, um mir zu versichern, daß Du mit uns im Bunde sein willst.« ....

»Halten Sie noch mit dem Namen der Schreiberin des Briefes zurück?« fragte Vendale.

»Ich behalte den Namen bis zum Schluß für mich,« antwortete Obenreizer, »und gehe zu meinem zweiten Beweise über. Ein kleines Blatt Papier diesmal, wie Sie sehen. Eine Notiz, welche dem Schweizer Advocaten gegeben worden, der die in dem von mir vorgelesenen Brief erwähnten Documente, aufgesetzt hat. Sie lautet folgender Maßen:

»Aus dem Findelhaufe in England am 3. März 1836 einen Knaben angenommen, der in der Anstalt Walter Wilding hieß. Die Person, welche das Kind adoptirt hat, ist in dem Register als Mrs. Anne Jane Millen Wittwe, verzeichnet, welche in dieser Angelegenheit für ihre verheirathete, sich in der Schweiz aufhaltende Schwester eingetreten ist. Gelduld!« fuhr Obenreizer fort, als Vendale, sich von Bintrey losmachend, aufsprang. »Ich werde den Namen nicht lange mehr verschweigen. Noch zwei kleine Blättchen Papier und ich bin zu Ende. Dritter Beweis! Certificat des Doktors Ganz, desselben, der noch in Neuschatel prakticirt, vom Juli 1838 datiert. Der Doctor stellt das Zeugnis; aus, (Sie werden es Alle gleich selbst lesen) erstens, daß er den angenommenen Knaben in seinen Kinderkrankheiten behandelt hat; zweitens, daß ein Vierteljahr vor der Ausstellung dieses Certificates der Herr, der das Kind an Sohnes statt adoptierte, gestorben ist; drittens, daß am Tage, an dem das Certificat ausgestellt ist, die Wittwe in Begleitung ihrer Jungfer und des angenommenen Knaben Neuschatel verlassen hat, um nach England zurückzukehren. Noch ein Glied ist nöthig hinzuzufügen, und die Kette meiner Beweise ist geschlossen. Die Jungfer blieb bei ihrer Herrin bis zu dem Tode derselben, der wenige Jahre nachher erfolgte. Die Magd kann die Identität des angenommenen Knaben beschwören. Sie kennt ihn von seiner Kinder- bis zu seiner Jünglingszeit, von seiner Jünglingszeit bis zum Mannesalter, in dem er jetzt steht. Hier ist ihr Adresse in England —— und, Mr. Vendale, zugleich der vierte und letzte Beweis.«

»Warum richten Sie Ihre Rede an mich »?« fragte Vendale, als Obenreizer die geschriebene Adresse auf den Tisch warf.

Obenreizer wendete sich mit plötzlich ausbrechendem, fast wahnsinnigen Triumph zu ihm hin:

»Weil Sie der Mann sind! Wenn meine Nichte Sie heirathen so heirathet sie einen Bastard, der von der öffentlichen Mildthätigkeit erzogen worden ist. Wenn meine Nichte Sie heirathet, so heirathet sie einen Betrüger ohne Namen und Abstammung, der sich für einen Gentleman von Rang und Familie ausgiebt.«

»Bravo!« rief Bintrey. »Vortrefflich ausgedacht, Mr. Obenreizer! Es fehlt nur ein Wort zur Vervollständigung des Ganzen. Sie heirathet —— wie es Dank Ihren Anstrengungen zu Tage gekommen ist —— einen Mann, der ein schönes Vermögen erbt und einen Mann, dessen Ursprung ihn stolzer, wie je auf das Bauernkind machen wird, das er sein Weib nennen will. George Vendale, als gemeinsame Testamentsvollstrecker wollen wir uns gegenseitig Glück wünschen. Unsres theuren verstorbenen Freundes letzter Wunsch auf Erden ist erfüllt. Wir haben den verlorenen Walter Wilding aufgefunden. Wie Mr. Obenreizer sagte —— Sie sind der Mann!«

Die Worte blieben von Vendale unbeachtet. Er war sich für den Augenblick nur einer Empfindung bewußt und hörte nur eine Stimme. Marguerites Hand drückte die seinige, Marguerites Stimme flüsterte ihm zu! »Ich habe Dich nie so geliebt, George, wie ich Dich jetzt liebe!«



Kapiteltrenner

Der Vorhang fällt.

Maitag. Ein vergnügtes Treiben ist in Cripple Corner, die Kamine rauchen, der patriarchalische Speisesaal ist mit Blumenkränzen geschmückt und Mrs. Goldstraw, die ehrenwerthe Haushälterin äußerst geschäftig, denn an diesem strahlenden Morgen wird der junge Herr von Cripple Cornet mit seiner jungen Gattin getraut, weit von hier: in der Schweiz, in dem kleinen Städtchen Brieg, am Fuße des Simplon, auf dem sie ihrem Geliebten das Leben gerettet hat.

Lustig läuteten die Glocken in dem Städtchen Brieg, Fahnen waren in den Straßen aufgesteckt Büchsenschüsse wurden gehört und Musik von Blechinstrumenten ertönte. Mit Wimpeln geschmückte Weinfässer rollte man unter ein großes Zeltdach auf den Platz vor dem Gasthaus; es sollte umsonst geschmaust und in Saus und Braus gelebt werden. Welche Fülle von Glockengeläut und Fahnen! Teppiche hängen aus den Fenstern, Schüsse knallen, Blechmusik hallt von allen Seiten wieder. Die kleine Stadt Brieg ist im Taumel, wie die Herzen ihrer einfachen Bewohner.

Die letzte Nacht war eine stürmische gewesen, sie hatte die Berge mit Schnee bedeckt. Aber heute scheint die Sonne glänzend, die milde Luft ist klar, die blanken Kirchthumspitzen der kleinen Stadt Brieg strahlen wie Silber und die Alpen sehen aus, wie weiße Wolkenreihen, die sich auf dem blauen Himmel abheben.

Die einfachen Bewohner der kleinen Stadt Brieg haben eine Ehrenpforte aus grünen Zweigen auf der Straße errichtet, durch welche das neuvermählte Paar, wenn es aus der Kirche kommt im Triumph hindurchziehen soll. Sie trägt nach der Kirchenseite hin die Inschrift: Ehre und Liebe Margueriten Vendale! denn die Leute sind stolz auf sie und für sie begeistert. Die Begrüßung unter ihrem neuen Namen ist eine gut gemeinte Ueberraschung und darum war die Einrichtung getroffen, daß sie, ohne zu wissen warum, auf einem Seitenweg in die Kirche geführt werden sollte; ein Vorhaben, was in der kleinen bergigen Stadt Brieg nicht leicht auszuführen war.

Alles ist in Ordnung, Alles geht und kommt zu Fuß. Im besten Zimmer des Gasthauses, welches festlich ausgeschmückt ist, sind versammelt: die Braut und der Bräutigam, der Neuschateller Notar, der Londoner Advocat, Madame Dor und ein gewisser geheimnißvoller Engländer, allgemein unter dem Namen Monsieur Zhoe —— Ladella bekannt. Seht Madame Dor in einem Paar fleckenloser Handschuhe, die ihr selbst gehören, nicht mit einer Hand in der Luft, sondern beide Arme unt den Hals der Braut geschlungen! Bei dieser Umarmung hatte Madame Dor den Versammelten ihren breiten Rücken zugekehrt, der noch in voller Kraft bestand.

»Vergeben Sie mir, meine Einzige,« bat Madame Dor, »daß ich jemals die Katze gespielt habe.«

»Die Katze, Madame Dor?«

»Eigens dazu angenommen, um mein liebes Mäuschen zu bewachen,« lautete Madame Dor’s Erklärung, welche sie mit einem Seufzer der Reue abgab.

»Aber, Sie sind unsre beste Freundin gewesen! Lieber George, versichere es Madame Dor. Ist sie nicht unsre beste Freundin gewesen?«

»Ohne Zweifel, mein Liebling. Wie wäre es uns ohne Sie ergangen?«

»Sie sind beide großmüthig,« rief Madame Dor, den Trost gern vernehmend und ihn doch zu gleicher Zeit von sich weisend. »Anfänglich habe ich doch die Katze gespielt.«

»Aber die Katze im Feenmärchen, liebe Madame Dor,« sagte Vendale ihre Wange küssend. »Sie sind eine redliche Frau und weil Sie eine redliche Frau sind, so fühlt Ihr Herz Theilnahme für wahre Liebe.«

»Ich möchte Madame Dor ihres Antheiles an den Umarmungem die hier vor sich gehen, nicht berauben,« warf Mr. Bintrey, der die Uhr in der Hand hielt, ein, »und ich bin fern davon, Einwendungen zu machen gegen die Art, sich in der Ecke, wie die drei Grazien zusammenzudrängen; ich will nur bemerken, daß es wohl an der Zeit wäre, sich auf den Weg zu machen. Wie sind Ihre Ansichten über den Gegenstand, Mr. Ladle?«

»Sehr klar, Sir,« erwiderte Joey mit seinem anmuthigsten Grinsen. Ich bin im Ganzen genommen jetzt viel klarer, weil ich so lange auf der Oberfläche gelebt habe. Ich bin niemals halb so lange Zeit auf der Oberfläche gewesen, Sir, aber es hat mir gut gethan. In Cripple Corner bin ich zu tief unten und auf der Spitze des Simplon ein gutes Stück zu weit oben gewesen. Die richtige Mitte, glaube ich, ist hier, Sir und wenn ich je in gesellige Lustbarkeit einstimme während den Tagen, die ich noch zu leben habe, so denke ich es heut zu thun, bei dem Toast: Gott segne Beide.«

»Ich auch!« sagte Bintrey. »Und jetzt Monsieur Voigt wollen wir beide zwei Marsellaiser darstellen: Allons, marchons Arm in Arm!«

Sie gingen zur Thür hinaus, wo Andre sie erwarteten und sie begaben sich friedlich in die Kirche, in der die Trauung des glücklichen Paares statt fand. Während die Ceremonie vor sich ging, wurde der Notar herausgerufen und kehrte erst zurück als sie beendet war. Sich hinter Vendale stellend klopfte er demselben auf die Schulter.«

»Gehen Sie einen Augenblick an die Seitenthür der Kirche, Monsieur Vendale. Allein. Lassen Sie Madame bei mir zurück.«

Vor der bezeichneten Thür standen die beiden uns wohlbekannten Männer aus dem Hospiz. Sie waren mit Schnee bedeckt und den der Wanderung ermüdet. Sie wünschten ihm Glück, dann legte jeder seine große Hand auf Vendales Brust und während der eine demselben fest in’s Auge sah; sagte der andere mit leiser Stimme:«

»Sie ist hier, Monsieur. Ihre Bahre. Ganz dieselbe.«

»Meine Bahre? Warum?«

»Still! daß Madame es nicht höre. Ihr Reisegefährte ——«

»Was ist mit ihm?«

Der Mann sah seinen Cameraden an, der Camerad fuhr in dem Bericht fort. Sie ließen die Hände auf Vendale’s Brust liegen.

»Er hat mehrere Tage im ersten Schutzhaus zugebracht, Monsieur. Das Wetter war bald gut, bald schlecht.«

»So?«

»Er langte vorgestern in unserm Hospiz an und, nachdem er sich auf dem Boden vor dem Feuer liegend in seinen Mantel eingehüllt, durch Schlaf erfrischt hatte, war er entschlossen weiter zu gehen, um noch vor Eintritt der Dunkelheit das andere Hospiz zu erreichen. Er hatte große Furcht vor jenem Theil des Weges und glaubte, es würde schlechtes Wetter geben.«

»So?«

»Er machte sich allein auf den Weg und hatte kaum die Galerie durchschritten, als eine Lawine —— gerade wie die, welche unfern der Gantherbrücke hinter Ihnen niederfiel ——«

»Ihn tödtete?«

»Wir gruben ihn aus. Er war erstickt und alle Glieder waren ihm gebrochen. Aber, Monsieur, um auf Madame zu kommen. Wir haben ihn auf einer Bahre hergetragen, weil wir ihn hier begraben wollen. Wir müssen mit ihm die Straße herauf, aber Madame darf es nicht sehen. Es würde Unheil bringen, wenn wir die Leiche durch die Ehrenpforte trügen, ehe Madame hindurch gegangen ist. Wir wollen die Bahre auf das Pflaster niedersetzen, von hier gerechnet in der zweiten Querstraße rechter Hand. Wir wollen uns alle vorstellen. Daß Madame sich nicht umsieht nach der zweiten Querstraße rechter Hand! »Es ist keine Zeit zu verlieren. Madame wird sich über Ihr Ausbleiben beunruhigen. Adieu!«

Vendale kehrte zu seiner Braut zurück und zog ihre Hand unter seinen völlig geheilten Arm. Ein hübsches Gefolge wartete ihrer vor dem Hauptportal der Kirche. Sie nahmen ihren Platz an der Spitze des Zuges ein und stiegen die Straße hinab unter dem Läuten der Glocken, dem Abfeuern der Gewehre, dem Flattern der Fahnen, dem Schmettern der Instrumente, dem Vivatrufen, Lachen und Weinen der ganzen aufgeregten Stadt. Die Hüte flogen ab, wo sie vorübergingen, man küßte der Braut die Hände, das ganze Volk jubelte ihr zu: »Des Himmels Segen über das theure Kind! Sieh, dort geht sie in Schönheit und Jugend, sie, die so großherzig sein Leben gerettet hat!«

Nicht weit von der zweiten Straße, rechter Hand, sprach er mit ihr und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Fenster der entgegengesetzten Seite. Als sie bei der Ecke vorüber waren sagte er: »Sieh Dich nicht um, mein Liebling. Ich habe meine Gründe zu der Bitte,« und wendete den Kopf zurück. Da, wie er die Straße hinauf sah, erblickte er die Bahre und ihre Träger allein durch den grünen Bogen gehen, während er und sie und der Hochzeitszug hinab schritten dem glänzenden Thal entgegen.

E n d e



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