Ein tiefes Geheimnis



Sechstes Kapitel

Mr. Munder auf dem Richterstuhle

Die murmelnden Stimmen und die eilenden Tritte kamen näher und näher, dann machten sie plötzlich Halt. Nach einigem Schweigen rief eine Stimme laut:

„Sara, Sara! Wo bist du?“

Im nächsten Augenblicke erschien Onkel Joseph allein an der in die nördliche Halle führenden geöffneten Tür und schaute sich begierig ringsum.

Anfangs blieb die auf dem Vorplatz oben an der Tür liegende Gestalt von ihm unbemerkt. Als er aber zum zweiten Male nach dieser Richtung hinschaute, gewahrte er das dunkle Kleid und den Arm, der auf dem Rande der obersten Stufe lag. Mit einem lauten Schrei des Schreckens und der Erkennung eilte er quer durch die Halle und die Treppe hinauf. Gerade als er neben Sara niederkniete und ihren Kopf in seinem Arm emporhob, drängten sich der Kastellan, die Haushälterin und die Magd, alle drei hinter ihm durch die geöffnete Tür.

„Wasser!“ schrie der alte Mann, indem er mit seiner freien Hand wilde Gebärden machte. „Sie ist hier – sie ist gefallen – sie ist ohnmächtig! Wasser! Wasser!“

Mr. Munder sah Mistreß Pentreath an, Mistreß Pentreath sah Betsey an, Betsey sah den Fußboden an. Alle drei standen stockstill; alle drei schienen eins wie das andere nicht im Stande zu sein, durch die Halle zu gehen.

Wenn die Wissenschaft der Physiognomik keine gänzliche Täuschung ist, so stand die Ursache dieser wunderbaren Einmütigkeit leserlich auf den Gesichtern dieser drei Personen geschrieben, oder mit andern Worten, sie fürchteten sich alle, eins wie das andere, vor dem Gespenst!

„Wasser, sage ich, Wasser!“ wiederholte Onkel Joseph mit der Faust drohend. „Sie ist ohnmächtig geworden! Steht ihr euer drei dort an der Tür, ohne daß eins von euch Erbarmen hat? Wasser! Wasser! Wasser! Soll ich schreien, daß ich Krämpfe bekomme, ehe eins von euch hört?“

„Holen will ich das Wasser, Madame“, sagte Betsey, „wenn Sie oder Mr. Munder es dann von hier die Treppe hinauftragen wollen.“

Sie eilte in die Küche und kam mit einem Glas Wasser zurück, welches sie mit einem ehrerbietigen Knix erst der Haushälterin und dann dem Kastellan präsentierte.

„Wie kannst du dir unterstehen, von uns zu verlangen, daß wir etwas für dich tragen?“ rief Mistreß Pentreath, indem sie sich, rückwärts gehend, von der Tür hinwegbewegte.

„Ja, wie kannst du dir unterstehen, so etwas von uns zu verlangen?“ setzte Mr. Munder hinzu, indem er Mistreß Pentreath folgte.

„Wasser!“ schrie der alte Mann zum dritten Male. Er zerrte seine Nichte ein wenig rückwärts, sodaß er sie mit dem Oberkörper an die Wand hinter ihr anlehnen konnte. „Wasser! Oder ich trete diese alte Gefängnis von einem Schlosse euch über den Köpfen zusammen!“ schrie er, vor Wut und Ungeduld mit dem Fuße stampfend.

„Erlauben Sie, Sir, wissen Sie gewiß, daß es wirklich die Dame ist, die da oben liegt?“ fragte Betsey, indem sie zitternd mit dem Glas Wasser einige Schritte näher kam.

„Ob ich es gewiß weiß?“ rief Onkel Joseph, indem er ihr die Treppe herab entgegenging. „Was ist das für eine dumme Frage? Wer soll es denn sonst sein?“

„Das Gespenst, Sir“, sagte Betsey, indem sie langsam immer näher kam. „Das Gespenst der nördlichen Zimmer.“

Onkel Joseph ging ihr am Fuße der Treppe einige Schritte entgegen, nahm ihr mit verächtlicher Gebärde das Glas Wasser ab und eilte dann zurück zu seiner Nichte.

Während Betsey sich herumdrehte, um ihren Rückzug anzutreten, fiel ihr Auge auf das Schlüsselbund, welches unterhalb des Vorplatzes auf dem Steinpflaster lag. Nach einigem Zögern sammelte sie so viel Mut, daß sie das Schlüsselbund aufhob und dann damit so schnell als ihre Füße tragen wollten, aus der Halle hinwegrannte.

Mittlerweile befeuchtete Onkel Joseph die Lippen seiner Nichte mit Wasser und besprengte ihre Stirn damit. Nach einigen Minuten begann sie langsam und matt seufzend zu atmen, die Muskeln ihres Gesichts bewegten sich ein wenig und sie schlug die Augen auf. Dieselben hefteten sich scheu auf den alten Mann ohne einen Ausdruck von Erkennung. Er ließ sie ein wenig Wasser trinken und sprach ihr freundlich zu und brachte sie auf diese Weise endlich wieder zu sich selbst.

Ihre ersten Worte waren: „Verlaß mich nicht.“ Ihre erste Bewegung, als sie einer solchen fähig war, bestand darin, daß sie sich fester an ihn schmiegte.

„Fürchte nichts, mein Kind“, sagte er beschwichtigend, „ich bleibe bei dir. Sage mir, Sara, worüber bist du ohnmächtig geworden? Was hat dich so erschreckt?“

„O, frage mich nicht! Um Gottes willen, frage mich nicht!“

„Na, na – dann will ich nichts sagen. Noch einen Schluck Wasser? – noch einen kleinen Schluck?“

„Hilf mir auf, Onkel – hilf mir versuchen, ob ich stehen kann.“

„Noch nicht – noch nicht – gedulde dich noch eine kleine Weile.“

„O hilf mir, hilf mir! Ich mag diese Türen nicht sehen! Wenn ich nur bis an die Treppe kommen könnte, dann würde mir besser werden.“

„So, so!“ sagte Onkel Joseph, indem er sie stützte, während sie aufstand. „Warte jetzt und tritt leicht auf. Stütze dich auf mich, immer stütze dich, so schwer du willst. Obschon ich ein hagerer und kleiner Mann bin, so bin ich doch fest wie ein Felsen. Bist du in dem Zimmer gewesen?“ setzte er flüsternd hinzu. „Hast du den Brief?“

Sie seufzte bitterlich und legte mit dem Ausdruck der Ermüdung und Verzweiflung ihren Kopf auf seine Schulter.

„Wie, Sara, Sara!“ rief er, „du bist so lange weggewesen und doch nicht in das Zimmer gekommen?“

Sie hob ihren Kopf ebenso plötzlich, als sie ihn niedergelegt, wieder empor, schauderte und versuchte dann schwach, Onkel Joseph nach der Treppe hin zu ziehen.

„Ich werde das Myrtenzimmer nie wiedersehen – niemals, niemals, niemals!“ sagte sie. „Laß uns gehen; ich kann gehen; ich bin wieder kräftig. Onkel Joseph, wenn du mich liebst, so führe mich aus diesem Hause hinaus, irgendwohin, damit wir wieder in die freie Luft und ins Tageslicht kommen – irgendwohin, dafern wir nur Porthgenna Tower nicht mehr sehen.“

Erstaunt die Augenbrauen emporziehend, aber sich rücksichtsvoll aller weitern Fragen enthaltend, half Onkel Joseph seiner Nichte die Treppe herabsteigen. Sie war noch so schwach, daß sie, als sie an den Fuß derselben kam, stehen bleiben mußte, um erst wieder Kräfte zu sammeln. Dies sehend und, während er sie durch die Halle hindurchführte, fühlend, daß sie sich bei jedem neuen Schritt immer schwerer auf seinen Arm stützte, fragte der alte Mann, als er Mr. Munder und Mistreß Pentreath so weit sich genähert hatte, daß sie ihn verstehen konnte, ob sie nicht vielleicht stärkende Tropfen hätte, die er seiner Nichte eingeben könnte.

Mistreß Pentreaths bejahende Antwort war, obschon sie nicht in eben freundlichem Tone gesprochen ward, doch von einer Schnelligkeit des Handelns begleitet, welche bewies, daß sie mit großer Begier den ersten schicklichen Vorwand ergriff, um nach dem bewohnten Teile des Schlosses zurückkehren zu können. Indem sie murmelte, sie wolle nach dem Orte vorangehen, wo die Hausapotheke sich befand, lenkte sie ihre Schritte sofort den Korridor entlang nach ihrem Zimmer, während Onkel Joseph, ohne auf Saras geflüsterte Versicherungen zu hören, daß sie sich wohl genug fühle, um ohne einen Augenblick Verzug das Schloß verlassen zu können, ihr schweigend und seine Nichte am Arm führend, folgte.

Mr. Munder wartete kopfschüttelnd und mit gänzlich aus der Fassung gebrachter Miene bis zuletzt, um die Verbindungstür zu schließen. Als er dies getan und die Schlüssel Betsey gegeben hatte, damit diese sie wieder an ihren bestimmten Platz trüge, zog er sich seinerseits von dem Schauplatz mit einem Schritte zurück, der eine fast unanständige Ähnlichkeit mit Laufen hatte.

Nachdem er aber einaml aus der nördlichen Halle hinaus war, erlangte er seine Selbstbeherrschung wunderbar schnell wieder. Er ging plötzlich langsamer, sammelte seine zerstreute Besinnung und dachte anscheinend mit vollkommener Selbstzufriedenheit nach, denn als er in das Zimmer der Haushälterin trat, hatte er den gewöhnlichen, selbstgefälligen, feierlichen Ernst im Blick und Haltung wiedergewonnen.

Wie die überwiegende Mehrzahl sehr dummer Menschen, fand er ein inniges Vergnügen daran, sich selbst sprechen zu hören, und erkannte jetzt eine Gelegenheit, sich nach den Ereignissen, die sich soeben im Hause zugetragen hatten, diesen Wonnegenuß auf eine Weise hinzugeben, wie sie sich nur selten darbot. Es gibt bloß einen Redner, der vollkommen sicher ist, niemals dem Drange der Umstände zu erliegen, und dies ist der, dessen Fähigkeit, Worte zu machen, nicht zugleich die gefährliche Fähigkeit einschließt, zu wissen, was er sagen will.

Unter dieser bevorzugten Gattung von Naturrednern nahm Mr. Munder einen hervorragenden Rang ein und er war nun rachsüchtig entschlossen, seine Fähigkeiten an den beiden fremden Personen unter dem Vorwand zu erproben, daß er ihnen, ehe er ihnen gestattete, das Haus zu verlassen, eine Erklärung ihres Benehmens abverlangte.

Als er in das Zimmer trat, sah er Onkel Joseph mit seiner Nichte am untern Ende desselben sitzend und beschäftigt, etwas Salzgeist in ein Glas Wasser zu tröpfeln. An dem andern Ende stand die Haushälterin mit einem offenen Medizinkasten auf dem Tische vor sich.

Nach diesem Teile des Zimmers lenkte Mr. Munder mit wichtiger Miene langsam seine Schritte, zog einen Lehnstuhl an den Tisch, setzte sich, indem er sorgfältig und gemessen seine Rockschöße auseinander schlug, und ward sofort allem äußern Anschein nach das leibhafte Ebenbild oder Muster eines Lord Oberrichters in Zivilkleidern.

Mistreß Pentreath, wleche aus diesen Vorbereitungen abnahm, daß etwas Außerordentliches bevorstand, nahm ein wenig hinter dem Kastellan Platz. Betsey hing die Schlüssel wieder an ihren Nagel in der Wand und stand eben im Begriff, sich bescheiden wieder in ihre Küchensphäre zurückzuziehen, als Mr. Munder sie aufhielt.

„Wartet, wenn es Euch beliebt“, sagte der Kastellan. „Ich werde sogleich Gelegenheit haben, Euch aufzufordern, junges Frauenzimmer, Eure Aussage zu tun.“

Die gehorsame Betsey wartete in der Nähe der Türe, erschreckt durch den Gedanken, daß sie etwas Unrechtes getan haben müsse und daß der Kastellan gesetzlich ermächtigt sei, sie wegen dieser Übeltat zu verhören, zu verurteilen und auf der Stelle zu bestrafen.

„Nun, Sir“, sagte Mr. Munder, indem er Joseph anredete, als ob er der Sprecher des Unterhauses wäre, „wenn Sie mit Ihrer Mischung fertig sind, und wenn die Person neben Ihnen hinreichend wieder zur Besinnung gekommen ist, um hören zu können, möchte ich ein paar Worte mit Ihnen beiden sprechen.“

Bei dieser Einleitung versuchte Sara erschrocken, sich von ihrem Stuhle zu erheben, ihr Onkel aber ergriff sie bei der Hand und drängte sie wieder darauf nieder.

„Warte und bleibe“, flüsterte er. „Ich nehme alle Scheltworte auf meine eigene Schulter und werde alles Sprechen mit meiner eigenen Zunge besorgen. Sobald du im Stande bist, wieder gehen zu können, verspreche ich dir, daß wir, mag nun dieser lange Mann ein Wort oder zwei Worte oder gar keins gesagt haben, ganz ruhig aufstehen und unserer Wege zum Hause hinausgehen.“

„Bis zu diesem Augenblicke“, begann Mr. Munder, „habe ich mich enthalten, eine Meinung auszusprechen. Jetzt ist, wie mir und Mistreß Pentreath scheint, die Zeit gekommen, wo bei dem Vertrauensamt, welches ich in diesem Hause bekleide und weil ich für das, was darin geschieht, verantwortlich bin, sowie weil ich fühle, daß die Dinge nicht so bleiben dürfen wie sie sind – meine Pflicht verlangt, zu erklären, daß ich Ihr Benehmen sehr außerordentlich finde.“

Indem Mr. Munder diese Schlußworte seiner Rede direkt an Sara richtete, lehnte er, voll von Worten und vollständig leer an Bedeutung, sich in seinem Stuhl zurück, um sich bequem zu seiner nächsten Anstrengung zu sammeln.

„Mein einziger Wunsch“, hob er mit sanfter, fast wehmütiger Unparteilichkeit wieder an, „ist, gegen alle Teile gerecht zu verfahren. Ich wünsche nicht, jemanden zu erschrecken, oder jemanden einzuschüchtern, oder jemandem Angst zu machen. Ich wünsche, merkwürdige Tatsachen eigentümlicher Art zu erörtern. Ich wünsche, die stattgefundenen Ereignisse zu sondieren, oder, um mich eines bessern und allgemeiner verständlichen Ausdrucks zu bedienen, denselben auf den Grund zu kommen. Nachdem dies geschehen sein wird, werde ich Ihnen, Madame, und Ihnen, Sir, anheimgeben, ob Sie – das heißt, ich werde Ihnen diese Frage ruhig, unparteiisch und höflich – wenn ich sage höflich, so meine ich mit aller gebührenden Rücksicht – das heißt – das heißt – ich wollte sagen – kurz, ich werde Ihnen anheimgeben, ob Sie nicht beide verbunden sind, sich näher zu erklären.“

Mr. Munder schwieg, um diese letzte, unwiderstehliche Ansprache erst ihre gehörige Wirkung auf das Gewissen der Personen, zu welchen er sprach, äußern zu lassen. Die Haushälterin benutzte das Schweigen, um zu husten, gerade so wie die Leute in der Kirche vor der Predigt zu husten pflegen, um sich ihrer körperlichen Gebrechen im Voraus zu entledigen und dem Geiste freien Spielraum zu ungestörtem intellektuellem Genusse zu geben.

Betsey hustete, Mistreß Pentreaths Beispiele folgend, ebenfalls, obschon auf schwache, schüchterne Weise.

Onkel Joseph saß vollkommen unbefangen und unerschrocken da, hielt die Hand seiner Nichte in der seinigen und drückte sie von Zeit zu Zeit leicht, wenn der Vortrag des Redners ganz besonders verwickelt und eindringlich ward.

Sara bewegte sich nicht, blickte nicht auf und blieb bei dem Ausdruck scheuer Zurückhaltung, der sich ihres Gesichts von dem ersten Augenblick an bemächtigt, wo sie das Zimmer der Haushälterin betreten.

„Also, woein bestehen die Tatsachen, Umstände und Ereignisse?“ fuhr Mr. Munder fort, indem er sich im ruhigen Genuß des Klanges seiner eigenen Stimme in seinem Stuhl zurücklehnte. „Sie Madame, und Sie, Sir, ziehen die Klingel an der Tür des Schlosses“ – hier sah er Onkel Joseph scharf an, als ob er sagen wollte: „Ich bleibe, wie du siehst, selbst auf meinem Richterstuhle dabei, daß dieses Haus nicht ein Haus, sondern ein Schloß ist. – Sie werden eingelassen, Sir. Sie versichern, daß Sie das Schloß in Augenschein zu nehmen wünschen – Sie sagten wörtlich, Sie wollten das Haus sehen, da Sie aber ein Ausländer sind, so wundern wir uns weiter nicht darüber, wenn Sie einen kleinen Irrtum dieser Art begehen. Sie, Madame, sind mit dem Verlangen dieses Herrn einverstanden, ja Sie treten denselben bei. Was folgt nun? Sie werden in dem Schlosse herumgeführt. Es ist sonst nicht gebräuchlich, fremde Personen darin herumzuführen, zufällig aber haben wir gewisse Gründe –“

Sara stutzte.

„Was für Gründe“, fragte sie rasch aufblickend.

Onkel Joseph fühlte, wie ihre Hand in der seinigen kalt ward und zitterte.

„Still, still!“ sagte er, „überlaß das Reden mir.“

In demselben Augenblick zupfte Mistreß Pentreath den Kastellan verstohlen am Rockschoße und flüsterte ihm zu, er möge vorsichtig sein.

„Mistreß Franklands Brief“, sagte sie ihm ins Ohr, „befiehlt uns ausdrücklich, uns nicht merken zu lassen, daß wir einer erhaltenen Instruktion gemäß handeln.“

„Glauben Sie nicht, Mistreß Pentreath, daß ich vergesse, was ich im Gedächtnis behalten soll“, entgegnete Mr. Munder, der es nichtsdestoweniger vergessen hatte. „Glauben Sie auch ferner nicht, daß ich jetzt im Begriff gestanden, mich zu kompromittieren“ – obschon er ganz nahe daran gewesen war, dies zu tun. „Überlassen Sie diese Sache ganz mir, wenn Sie die Güte haben wollen. Was für Gründe, sagten Sie, Madame?“ setzte er zu Sara gewendet laut hinzu. „Lassen Sie sich nur um die Gründe unbekümmert; damit haben wir jetzt nichts zu tun – wir haben jetzt bloß mit Tatsachen, Umständen und Ereignissen zu tun. Haben Sie die Güte, dies zu bedenken, anzuhören, was ich Ihnen sage und mich nicht wieder zu unterbrechen. Ich wollte also bemerken, daß Sie, Sir, und Sie, Madame, in diesem Schlosse herumgeführt wurden. Man führte Sie die westliche Treppe – die grandiose westliche Treppe, Sir – hinauf, man zeigte Ihnen in der zuvorkommendsten und artigsten Weise das Frühstückszimmer, das Bibliothekszimmer und das Gesellschaftszimmer. In diesem Gesellschaftszimmer erlauben Sie, Sir, sich auf einmal die ungeziemendsten und, ich kann hinzusetzen, beleidigendsten Ausdrücke, während Sie, Madame, gänzlich daraus verschwinden, oder mit andern Worten, sich unsichtbar machen. Eine solche beispiellose, noch nie dagewesene, höchst ungewöhnliche Handlungsweise erfüllt natürlich Mistreß Pentreath und mich mit –“

Hier stockte Mr. Munder und war zum ersten Mal um ein Wort verlegen.

„Mit Erstaunen“, ergänzte Mistreß Pentreath nach einer langen Pause.

„Nein, Madame“, entgegnete Mr. Munder streng. „Nichts der Art. Wir waren durchaus nicht erstaunt, wir waren bloß – überrascht. Und was folgte und geschah dann? Was hörten Sie und ich, Sir, in der ersten Etage?“ fuhr er, Onkel Joseph finster ansehend, fort. „Und was hörten Sie, Mistreß Pentreath, während Sie die fehlende und abwesende Person in der zweiten Etage suchten? Was hörten Sie?“

Auf diese Weise persönlich aufgefordert, antwortete die Haushälterin kurz:

„Einen Schrei.“

„Nein! Nein! Nein!“ rief Mr. Munder ärgerlich, mit der Hand auf den Tisch pochend. „Ein Gekreisch war es, Mistreß Pentreath – ein Gekreisch. Und was ist die Bedeutung, der Zweck oder Ursache dieses Gekreisches? Junges Frauenzimmer“ – hier wendete Mr. Munder sich plötzlich zu Betsey – „nun haben wir diese außerordentlichen, eigentümlichen und seltsamen Tatsachen und Umstände bis auf Euch zurückverfolgt. Habt daher die Güte, vorzutreten und uns in Gegenwart dieser beiden Personen zu sagen, was Euch veranlaßte, diesen Schrei, wie Mistreß Pentreath sich ausdrückt, oder dieses Gekreisch, wie ich es nenne, auszustoßen, oder von Euch zu geben. Eine einfache, schlichte Erklärung genügt, mein gutes Mädchen, eine ganz einfache, schlichte Aussage. Und, junges Frauenzimmer, noch ein Wort – sprecht ungescheut – versteht Ihr mich? Sprecht ungescheut!“

Durch diese öffentliche und feierliche Anrede in die größte Verwirrung versetzt, folgte Betsey, indem sie mit ihrer Aussage begann, unwillkürlich dem rednerischen Beispiel des großen Mr. Munder selbst, das heißt, sie sprach nach dem Prinzip, die möglich kleinste Dosis von Gedanken mit dem möglich größten Aufguß von Worten zu verdünnen. Entwirrte man ihre Aussage aus dem Wortnetze, in welches sie sich mit denselben verwickelte, so lieferte dieselbe einfach die folgenden Tatsachen.

Erstens hatte Betsey zu erzählen, daß sie zufällig gerade den Deckel von einer Bratpfanne über dem Küchenfeuer abnahm, als sie in der Nähe des Zimmers der Haushälterin das Geräusch von eiligen Fußtritten hörte.

Zweitens hörte Betsey, als sie die Küche verließ, um zu ermitteln, was dieses Geräusch zu bedeuten habe, wie die Tritte sich rasch den Korridor entlang entfernten, der nach der nördlichen Seite des Hauses führte, und von Neugier getrieben, folgte sie dem Geräusch eine gewisse Strecke lang.

Drittens blieb Betsey bei einer scharfen Biegung des Korridors stehen, weil sie die Hoffnung aufgab, die Person, deren Tritte sie hörte, einzuholen, weil sie ferner ein gewisses Gefühl von Furcht bei dem Gedanken empfand, sich – wenn auch am hellen Tage – allein in das gespenstische Quartier des Hauses zu wagen.

Viertens hörte Betsey, während sie noch an der Biegung des Korridors stand, das Schloß einer Tür gehen, und trat, von neuem durch Neugier angestachelt, noch einige Schritte näher – blieb dann wieder stehen und erörterte bei sich selbst die schwierige und furchtbare Frage: Ob die Geister im allgemeinen, wenn sie sich von einem Ort nach dem andern begeben, jede geschlossene Tür, die sich ihnen in den Weg stellt, aufzuschließen pflegen, oder ob sie, um sich diese Mühe zu ersparen, ganz einfach hindurchschweben.

Fünftens kam Betsey nach langer Beratung mit sich selbst, und nachdem sie wiederholt bald nach der nördlichen Halle, bald wieder zurück nach der Küche eilen gewollt, zu dem Schlusse, daß es seit undenklichen Zeiten die Gewohnheit aller Geister sei, durch Türen hindurchzuschweben, ohne sie erst aufzuschließen.

Sechstens ging Betsey durch diese Überzeugung ermutigt, kühn bis dicht an die Tür, als sie plötzlich ein lautes Dröhnen hörte, als ob ein schwerer Körper zu Boden fiele.

Siebentens ward Betsey durch dieses Geräusch so erschreckt, daß sie die Besinnung und fast die Fähigkeit, zu atmen, verlor.

Achtens und letztens stieß Betsey, sobald sie wieder hinreichend zu Atem gekommen war, einen lauten Schrei (oder ein Gekreisch) aus, und rannte, so schnell ihre Füße sie tragen wollten, während ihr das Haar zu Berge stand, und sie fühlte, wie ihr vom Wirbel bis zur Sohle die Gänsehaut auflief, nach der Küche zurück.

„Sehr richtig! Sehr richtig!“ sagte Mr. Munder, als Betsey mit ihrer Aussage fertig war – gerade als ob der Anblick eines jungen Frauenzimmers, welchem das Haar zu Berge steht und dem am ganzen Leibe die Gänsehaut aufläuft, das gewöhnliche Ergebnis seiner täglichen Erfahrung in Bezug auf den weiblichen Teil der Menschheit wäre. „Sehr richtig. Ihr könnt zurücktreten, mein gutes Mädchen, Ihr könnt zurücktreten. Es gibt hier gar nichts zu lachen, Sir“, fuhr er in strengem Tone zu Onkel Joseph fort, dem die Art und Weise, wie Betsey ihre Aussage getan, außerordentlichen Spaß gemacht hatte. „Sie würden viel besser tun, wenn Sie Ihre Gedanken auf das zurückführten, oder vielmehr leiteten, was auf das Gekreisch dieses jungen Frauenzimmers folgte. Was taten wir alle, Sir? Wir eilten zur Stelle, wir begaben uns schnell an den fraglichen Ort. Und was sahen wir, Sir? Wir sahen Sie, Madame, horizontal ausgestreckt auf dem Vorplatze über der Treppe des nördlichen Teils des Schlosses liegen und wir sahen jene Schlüssel, die jetzt wieder dort hängen, von ihrem Orte entwendet, entfremdet und gleichsam hinweggerissen, ebenfalls horizontal ausgestreckt auf dem Fußboden der Halle liegen. Das sind die Tatsachen, die Umstände, die Ereignisse, welche wir Ihnen vor augen stellen oder legen, man könnte auch sagen setzen. Was haben Sie dazu zu bemerken? Jawohl, was haben Sie dazu zu bemerken. Ich fordere Sie feierlich und ich will hinzufügen in allem Ernste auf – in meinem eigenen Namen, in Mistreß Pentreaths Namen, in dem Namen unserer Vorgesetzten, im Namen des Anstandes fordere ich Sie auf zu sagen, was dies alles bedeuten soll.“

Bei diesen feurigen Schlußworten schlug Mr. Munder mit der Faust auf den Tisch und wartete mit einem unverwandten Blick schonungsloser Erwartung auf etwas in Form eienr Antwort, einer Erklärung, oder einer Verteidigung, was die Verbrecher am andern Ende des Zimmers geneigt sein möchten, vorzubringen.

„Sag ihm irgendetwas“, flüsterte Sara dem alten Manne zu. „Sag ihm irgendetwas, damit er ruhig ist und uns gehen läßt. Nach dem, was ich gelitten, machen diese Menschen mich vollends wahnsinnig.“

Im Erfinden einer Ausrede niemals sehr geschickt und überdies mit dem, was seiner Nichte wirklich begegnet, während sie allein in der nördlichen Halle war, völlig unbekannt, kostete es Onkel Joseph, trotz des besten Willens von der Welt, sich den Umständen gewachsen zu zeigen, bedeutende Mühe zu einem Entschluß darüber zu kommen, was er sagen oder tun sollte.

Indessen auf alle Fälle entschlossen, seiner Nichte jede nutzlose Behelligung zu ersparen und sich sobald als möglich aus dem Hause hinauszubringen, erhob er sich, um die Verantwortlichkeit des Sprechens auf sich zu nehmen, indem er, ehe er sprach, Mr. Munder scharf ansah, der sich sogleich die Hand hinter das Ohr haltend vorwärts über den Tisch neigte.

Onkel Joseph erkannte diese höfliche Aufmerksamkeit durch eine seiner phantastischsten Verbeugungen an und beantwortete dann die ganze lange Rede des Kastellans mit den sieben, keine weitere Antwort zulassenden Worten:

„Ich wünsche Ihnen wohl zu leben, Sir.“

„Wie können Sie sich unterstehen, mir so etwas zu wünschen!“ rief Mr. Munder, mit heftiger Entrüstung von seinem Stuhle aufspringend. „Wie könne Sie mit einer ernsten Sache und einer ernsten Frage auf diese Weise zu spielen wagen! Sie wünschen mir wohl zu leben? Glauben Sie, ich werde Sie aus diesem Haus gehen lassen, ohne erst von Ihnen oder dieser Person, welche eben in diesem Augenblick auf so ungebührende Weise Ihnen etwas zuflüstert, eine Erklärung des Entwendens, Entfremdens und Hinwegreißens der Schlüssel zu den nördlichen Zimmern zu hören?“

„Ah, das wünschen Sie also zu hören?“ sagte Onkel Joseph, durch die steigende Aufregung und Angst seiner Nichte angestachelt, sich kopfüber in irgendeine Entschuldigung zu stürzen. „Nun sehen Sie, ich will Ihnen die Sache erklären. Was, mein guter, werter Herr, war es, was wir sagten, als wir eingelassen wurden? Wir sagten: - Wir sind gekommen, um uns das Innere des Hauses zu besehen. Nun hat dieses Haus eine nördliche Seite und eine westliche Seite. Gut! Das sind zwei Seiten, und ich und meine Nichte wir sind zwei Personen und wir teilten uns, um die beiden Seiten zu sehen. Ich bin die Hälfte, welche mit Ihnen und der lieben, guten Dame dorthinten westlich geht. Meine Nichte hier ist die andere Hälfte, welche ganz allein nördlich geht und die Schlüssel fallen läßt und in Ohnmacht fällt, weil es in jenem alten Teile des Hauses müffig und modrig ist, und weil es dort nach Gräbern und Spinnen riecht. Dies ist die ganze Erklärung, Sir, die wohl auch hinreichen wird. Ich wünsche Ihnen also nochmals wohl zu leben, Sir.“

„Ich will verdammt sein, wenn mir jemals so etwas vorgekommen ist!“ schrie Mr. Munder, in der Erbitterung des Augenblicks seine Würde, seine Respektabilität und seine langen Worte gänzlich vergessend. „Sie wollen wohl, daß alles nach Ihrem Kopfe geht, Herr Ausländer? Sie wollen fortgehen wie und wann es Ihnen beliebt, Herr Ausländer? Wir wollen aber doch sehen, was der Friedensrichter deises Ortes dazu sagt!“ rief Mr. Munder, wieder in sein feierliches Wesen und seine hochtrabende Redeweise verfallend. „Das Eigentum in diesem Hause ist meiner Obhut anvertraut und wenn ich in Bezug auf die Entfremdung dieser hier vor Ihren Augen an der Wand hängenden Schlüssel nicht eine genügende Erklärung höre, so werde ich es als meine Pflicht betrachten, Sie und Ihre Begleiterin hier festzuhalten, bis ich mich gesetzlichen Rats, gerichtlichen Rats und obrigkeitlichen Rats erholen kann. Hören Sie das, Sir?“

Onkel Josephs rote Wangen nahmen eine noch dunklere Farbe und seine Züge einen Ausdruck an, welcher die Haushälterin ein wenig beunruhigte und auf von Mr. Munders Zornesglut eine unwiderstehlich kühlende Wirkung äußerte.

„Sie wollen uns nicht fortlassen, Sir?“ sagte der alte Mann sehr rasch sprechend und indem er den Kastellan unverwandt ansah. „Wohlan, schauen Sie her. Ich nehme die Dame – Mut, mein Kind, Mut! Du brauchst nicht zu zittern – ich nehme diese Dame mit mir; ich öffne diese Tür – so! ich stehe und warte davor und ich sage Ihnen: Wehren Sie uns, diese Tür zu passieren, wenn Sie es wagen!“

Bei dieser Herausforderung tat Mr. Munder einige Schritte vorwärts und blieb dann stehen. Wäre der feste Blick, den Onkel Joseph auf ihn heftete, nur eine Sekunde lang schwankend geworden, so hätte der Kastellan die Tür geschlossen.

„Ich sage nochmals“, wiederholte der alte Mann, „wehren Sie uns den Austritt, wenn Sie es wagen. Die Gesetze und Gebräuche Ihres Landes, Sir, haben auch mich zum Engländer gemacht. Wenn Sie einem Beamten in das eine Ohr sprechen können, so kann ich ihm in das andere sprechen. Wenn er Ihnen, einem Bürger diese Landes, Gehör schenken muß, so muß er mir, der ich ebenfalls ein Bürger diese Landes bin, ebenfalls Gehör schenken. Sprechen Sie sich gefälligst aus, Sir. Klagen Sie an, oder drohen Sie, oder schließen Sie die Tür?“

Ehe noch Mr. Munder auf eine dieser direkten drei Fragen antworten konnte, bat ihn die Haushälterin, auf seinen Stuhl zurückzukehren und mit ihr zu sprechen. Während er seinen Platz wieder einnahm, flüsterte sie ihm im warnenden Tone zu:

„Denken Sie doch an Mistreß Franklands Brief!“

In demselben Augenblick näherte Onkel Joseph in der Meinung, daß er nun lange genug gewartet, sich der Tür um einen Schritt. Er ward gehindert, sich ihr noch weiter zu nähern, indem seine Nichte ihn plötzlich beim Arme faßte und ihm ins Ohr sagte:

„Schau, jetzt flüstern sie wieder über uns.“

„Nun“, sagte Mr. Munder, der Haushälterin antwortend, „ich denke an Mistreß Franklands Brief, Madame – was ist damit?“

„Still! Nicht so laut!“ flüsterte Mistreß Pentreath. „Ich will durchaus nicht eine andere Meinung aussprechen als Sie, Mr. Munder, aber ich möchte einige Fragen an Sie richten. Glauben Sie, daß wir irgend eine Beschuldigung, welcher ein Beamter Gehör schenken würde, gegen diese Leute vorzubringen haben?“

Mr. Munder machte ein verblüfftes Gesicht und schien wenigstens für den Augenblick um eine Antwort verlegen zu sein.

„Macht Sie das, was Ihnen noch aus Mistreß Franklands Brief erinnerlich ist“, fuhr die Haushälterin fort, „geneigt, zu glauben, daß sie durch öffentliche Bloßstellung dessen, was in dem Hause geschehen ist, sich angenehm berührt fühlen würde? Sie sagte uns, wir sollen im Stillen das Tun und Treiben dieser Frau beobachten und ihr, wenn sie fortgeht, unbemerkt folgen. Ich will mir nicht erlauben, Ihnen einen Rat zu geben, Mr. Munder, was aber mich selbst betrifft, so lehne ich alle Verantwortlichkeit ab, wenn wir irgend etwas anderes tun als Mistreß Franklands Instruktion – wie sie selbst sagt – buchstäblich befolgen.“

Mr. Munder zögerte.

Onkel Joseph, der eine Minute still gestanden, als Sara seine Aufmerksamkeit auf das Geflüster am obern Ende des Zimmers lenkte, zog sie jetzt langsam mit sich fort nach der Tür.

„Betsey, mein gutes Mädchen“, sagte er, sich mit vollkommener Kaltblütigkeit und Gelassenheit an die Magd wendend, „wir sind hier fremd; wollt Ihr so freundlich sein, uns den Weg hinaus zu zeigen?“

Betsey sah die Haushälterin an, welche ihr durch einen Wink zu verstehen gab, daß sie den Kastellan um Verhaltungsbefehle bitten solle. Mr. Munder fühlte sich sehr versucht, um seines eigenen Ansehens willen auf sofortiger Ausführung der angedrohten Gewaltmaßregeln zu bestehen, Mistreß Pentreaths Einwendungen aber bewogen ihn, wider Willen damit Anstand zu nehmen – nicht etwa wegen ihrer Gültigkeit als Einwendungen an und für sich, sondern bloß wegen ihres engen Zusammenhangs mit seinem eigenen persönlichen Interesse, seine Stellung nicht durch einen Mißgriff zu gefährden, den seine Vorgesetzten ihm vielleicht niemals verziehen.

„Betsey, liebes Kind“, wiederholte Onkel Joseph, „hat dieses viele Geschwätz Eure Ohren der Fähigkeit zu hören beraubt? Hat es Euch taub gemacht?“

„Warten Sie!“ rief Mr. Munder ungeduldig. „Ich bestehe darauf, daß Sie wrten, Sir!“

„Sie bestehen darauf. Wohlan, wenn Sie ein unhöflicher Mensch sind, so ist dies für mich kein Grund, ebenfalls ein unhöflicher Mensch zu sein. Wir wollen noch ein wenig warten, Sir, wenn Sie noch etwas zu sagen haben.“

Nachdem Onkel Joseph der Höflichkeit zu Liebe dieses Zugeständnis gemacht, ging er mit seiner Nichte in dem Gange draußen vor der Tür langsam auf und ab.

„Sara, mein Kind, ich habe den Mann, der so das große Wort führt, eingeschüchtert“, flüsterte er. „Bemühe dich, nicht so sehr zu zittern – wir werden bald wieder draußen in der frischen Luft sein.“

Mittlerweile setzte Mr. Munder seine leise Unterhaltung mit der Haushälterin fort und machte, trotz seiner Verlegenheit, eine verzweifelte Anstrengung, seine gewohnte gönnerhafte Miene zu behaupten.

„Es liegt“, begann er sanft, „allerdings sehr viel Wahres in dem, was Sie sagen, Madame. Sie sprechen aber von der Frau, während ich von dem Manne spreche. Meinen Sie, ich solle ihn nach dem, was geschehen ist, gehen lassen, ohne wenigstens darauf zu bestehen, daß er mir seinen Namen und seine Adresse angebe?“

„Haben Sie zu dem Ausländer so viel Vertrauen, daß Sie glauben, er würde Ihnen seinen rechten Namen und seine rechte Adresse nennen, wenn Sie ihn danach fragen?“ entgegnete Mistreß Pentreath. „Ohne Ihrem bessern Urteil vorgreifen zu wollen, muß ich doch gestehen, daß ich es nicht glaube. Gesetzt aber, Sie wollten ihn zurückhalten und bei der Behörde anklagen – wie Sie dies tun wollen, da die Wohnung des Friedensrichters ungefähr zwei Stunden weit von hier entfernt ist, weiß ich freilich nicht – so müssen Sie es auf die Gefahr ankommen lassen, Mistreß Frankland auch durch Gefangenhaltung und Anklage der Frau zu beleidigen, denn, Mr. Munder, obschon ich glaube, daß der Ausländer zu allem fähig ist, so war es doch die Frau, welche die Schlüssel wegnahm – nicht wahr?“

„Ganz recht, ganz recht“, sagte Mr. Munder, dessen schläfrige Augen sich jetzt erst dieser schlichten und klaren Ansicht des Falles öffneten. „Seltsamerweise stand ich, gerade als Sie anfingen zu sprechen, im Begriff, mir diese Frage selbst vorzulegen. Ja, ja – so ist es, so ist es.“

„Ich kann nicht umhin zu glauben“, fuhr die Haushälterin mit geheimnisvollem Flüstern fort, „daß das Allerbeste, was wir in Übereinstimmung mit unsern Instruktionen tun können, darin besteht, daß wir beide gehen lassen und tun, als ob wir es verschmähten uns noch weiter mit ihnen herumzustreiten, und daß wir ihnen dann bis an den nächsten Platz, wo sie einkehren, jemanden nachschicken. Jakob, der kleine Sohn des Gärtners, jätet heute nachmittag den breiten Gang im westlichen Garten. Diesen Knaben haben diese Leute hier im Hause nicht gesehen und brauchen ihn nicht zu sehen, wenn wir sie zu der südlichen Tür hinauslassen. Jakob ist ein ganz gewitzter Junge, wie Sie wissen, und wenn er gehörig instruiert würde, so sehe ich wirklich nicht ein, warum –“

„Es ist ein höchst eigentümlicher Umstand, Mistreß Pentreath“, unterbrach sie Mr. Munder mit dem Ernste vollendeter Dreistigkeit, „aber in dem ersten Augenblick, wo ich mich an diesen Tisch niedersetzte, fiel mir dieser Gedanke wegen Jakob auch ein. Durch die Anstrengungen des Sprechens und die Hitze des Streites bin ich wieder auf höchst unerklärliche Weise davon abgekommen –“

Hier steckte Onkel Joseph, dessen Vorrat an Geduld und Höflichkeit allmälig zur Neige ging, seinen Kopf wieder in das Zimmer.

„Ich wünsche bloß noch ein letztes Wort an Sie zu richten, Sir“, sagte Mr. Munder, ehe der alte Mann sprechen konnte. „Glauben Sie nicht, daß ihr Poltern irgendwelche Wirkung auf mich geäußert hat. So etwas mag wohl bei Ausländern angewendet sein, gegen Engländer aber richten Sie nichts damit aus, das versichere ich Ihnen!“

Onkel Joseph zuckte die Achseln, lächelte und begab sich wieder hinaus zu seiner Nichte. Während die Haushälterin und der Kastellan sich miteinander beraten hatten, war Sara eifrig bemüht gewesen, ihren Onkel zu bereden, ihre Kenntnis des Ganges, welcher nach der südlichen Tür führte, zu benutzen und unbemerkt zu entschlüpfen. Der alte Mann weigerte sich aber hartnäckig diesem Rate zu folgen.

„Ich will nicht als Schuldiger aus einem Hause gehen, wo ich nichts verbrochen habe“, sagte er. „Nichts soll mich bewegen, dir oder mir etwas von unserm Rechte zu vergeben. Ich besitze nicht viel Scharfsinn, wohl aber lasse ich mich stets von meinem Gewissen leiten und solange ich dies tue, gehe ich auch den rechten Weg. Man hat uns freiwillig hier hereingelassen, Sara, und freiwillig muß man uns auch wieder hinauslassen.“

„Mr. Munder, Mr. Munder”, flüsterte die Haushälterin, indem sie sich einmischte, um einer abermaligen Explosion zuvorzukommen, mit welcher die Entrüstung des Kastellans wegen der Verachtung drohete, die in Onkel Josephs Achselzucken auf ihn lag. „Soll ich, während Sie mit diesem kecken Manne sprechen, in den Garten hinauseilen und Jakob instruieren?“

Mr. Munder dachte eine Weile nach, ehe er antwortete. – Er bemühte sich sehr, einen würdevolleren Ausweg aus dem Dilemma, in welches er sich gebracht, zu entdecken, als der von der Haushälterin vorgeschlagene war. Es gelang ihm jedoch durchaus nicht, etwas der Art zu ermitteln – deshalb schluckte er seine Entrüstung auf einen einzigen heldenmütigen Ruck hinunter und antwortete nachdrücklich und pathetisch:

„Ja, gehen Sie, Madame.“

„Was soll das heißen? Warum geht sie dort hinaus?“ sagte Sara rasch und mißtrauisch flüsternd zu ihrem Onkel, als die Haushälterin auf ihrem Wege nach dem westlichen Garten rasch an ihnen vorbeeilte. Ehe noch Zeit war, diese Frage zu beantworten, folgte eine zweite von Mr. Munder gestellte.

„Nun, Sir“, sagte der Kastellan, indem er sich, mit den Händen unter den Rockschößen und den Kopf stolz emporrichtend, unter die Tür stellte. „Nun, Sir, nun, Madame, hören Sie mein letztes Wort. Soll ich eine angemessene Erklärung über das Entfremden und Wegnehmen dieser Schlüssel erhalten oder nicht?“

„Jawohl, Sir, sollen Sie diese Erklärung haben“, entgegnete Onkel Joseph. „Es ist, wenn es Ihnen recht ist, dieselbe Erklärung, die ich die Ehre hatte, Ihnen vor einer kleinen Weile zu geben. Wünschen Sie dieselbe noch einmal zu hören? Es ist die ganze Erklärung, die wir bei uns haben.“

„So? Wirklich?“ entgegnete Mr. Munder. „Dann habe ich zu Ihnen beiden weiter nichts zu sagen, als: Verlassen Sie augenblicklich dieses Haus! – augenblicklich!“ setzte er in dem gröbsten, beleidigendsten Tone hinzu, indem er zur Insolenz Zuflucht nahm, denn das unklare Bewußtsein der Ungereimtheit seiner eigenen Stellung drängte sich ihm auf, während er noch sprach. „Ja, Sir“, fuhr er fort, indem er über die Gelassenheit, womit Onkel Joseph ihm zuhörte, immer entrüsteter ward; „Sie können Ihre Kratzfüße machen und Ihr elendes Englisch radebrechen wo Sie wollen, nur hier nicht. Ich habe mir überlegt und bin mit mir zu Rate gegangen und ich habe mich gefragt – ruhig – wie Engländer stets tun – ob es etwas nützen könnte, wenn ich weiteres Aufhebens mit Ihnen machte, und ich bin zu einem Schluß gekommen und dieser Schluß lautet: Nein, es könnte nichts nützen. Glauben Sie deshalb ja nicht, daß Ihr Poltern und Ihre Unverschämtheiten die mindeste Wirkung auf mich geäußert haben. – Zeige diesen Leuten den Weg hinaus, Betsey! – Sie sind nicht wert, Sir, daß ich weiter Notiz von Ihnen nehme. – Zeige ihnen den Weg hinaus, Betsey! – Ich entlasse Sie und betrachte, sehe und beschaue Sie mit Verachtung!“

„Und ich, Sir“, antwortete der Gegenstand der vernichtenden Erklärung mit der herausforderndsten Höflichkeit, „ich werde für Ihre Verachtung etwas sagen, was ich für Ihre Achtung ganz gewiß nicht sagen würde, nämlich – meinen Dank. Ich, der kleine Ausländer, nehme die Verachtung des aufgeblasenen Engländers als das größte Kompliment hin, welches von einem Manne Ihrer Art einem Manne meiner Art gemacht werden kann.“

Mit diesen Worten machte Onkel Joseph eine letzte phantastische Verbeugung, nahm seine Nichte beim Arm und folgte Betsey die Gänge entlang, welche nach der südlichen Tür führten, und Mr. Munder konnte nun eine angemessene Entgegnung mit Muße ersinnen.

Zehn Minuten später kehrte die Haushälterin atemlos in ihr Zimmer zurück und fand den Kastellan in einem Zustand gewaltiger Entrüstung darin auf- und abgehen.

„Beruhigen Sie sich, Mr. Munder“, sagte sie. „Sie sind nun endlich beide aus dem Hause, Jakob folgt ihnen über das Moorland und läßt sie nicht aus den Augen.“


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