Der Mondstein



Siebzehntes Capitel.

Die Nachricht von dem Verschwinden Rosanna’s hatte sich, wie es schien, auch schon unter den Gutsleuten außerhalb des Hauses verbreitet. Sie hatten gleichfalls ihre Nachforschungen angestellt und hatten sich eben eines behenden, kleinen Buben mit Namen Duffy bemächtigt, der gelegentlich dazu verwandt wurde, das Unkraut im Garten auszujäten, und der Rosanna Spearman noch vor einer halben Stunde gesehen hatte. Duffy versicherte, daß das Mädchen in der Tannen-Anpflanzung in der Richtung des Strandes an ihm vorüber gelaufen sei.

»Kennt der Junge den Strand hier?« fragte Sergeant Cuff.

»Er ist hier am Strande geboren und erzogen.« antwortete ich.

»Duffy!« sagte der Sergeant, »willst Du einen Shilling verdienen? Wenn Du das willst, so komme mit mir. Halten Sie den Ponywagen für die Zeit meiner Rückkehr bereit, Herr Betteredge.«

Und nun machte er sich nach dem Strande mit einer Raschheit auf den Weg, mit welcher meine, wiewohl für mein Alter recht wohl conservirten Beine nicht Schritt halten konnten.

Der kleine Duffy heulte vor Vergnügen, wie es die kleinen Wilden in unserer Gegend zu thun pflegen und trabte hinter dem Sergeanten her.

Hier befinde ich mich abermals außer Stande, deutliche Rechenschaft von dem Zustande zu geben, in welchem sich mein Gemüth befand, nachdem uns Sergeant Cuff verlassen hatte. Eine sonderbare und betäubende Ruhelosigkeit bemächtigte sich meiner. Ich fing ein Dutzend verschiedene unnütze Dinge in und außerhalb des Hauses zu thun an, von denen ich mich keines einzigen mehr entsinne. Ich weiß sogar nicht mehr, wie lange es her war, daß der Sergeant sich nach dem Strande aufgemacht hatte, als Duffy mit einer Botschaft für mich zurückgelaufen kam. Sergeant Cuff hatte dem Jungen ein aus seiner Brieftasche gerissenes Blatt übergeben, aus welchem mit Bleistift die Worte geschrieben waren: »Schicken Sie mir möglichst rasch einen von Rosanna Spearmans Stiefeln.«

Ich ließ von dem ersten Mädchen, das mir begegnete, einen Stiefel aus Rosanna’s Zimmer holen und schickte den Jungen mit der Meldung zurück, daß ich sofort mit dem Stiefel folgen würde.

Das war freilich nicht die schnellste Art der erhaltenen Weisung nachzukommen, des war ich mir wohl bewußt, aber ich beschloß; bevor ich dem Serganten Rosanna’s Stiefel auslieferte, mich mit eigenen Augen zu überzeugen, um was für eine neue Mystification es sich handle. Meine alte Grille, das Mädchen so viel wie möglich zu schützen, schien in der elften Stunde noch einmal über mich gekommen zu sein. Dieses Gefühl spornte mich, sobald ich den Stiefel in der Hand hatte, ganz abgesehen von dem Endeckungsfieber, meine Beine so in Bewegung zu sehen, wie es einem über 70 Jahre alten Manne irgend möglich ist. Als ich mich dem Strande näherte, ballten sich pechschwarze Wolken am Himmel zusammen und der Regen fing in schweren, vom Winde gepeitschten Tropfen zu fallen an. Ich vernahm das Brausen der Wellen auf der Sandbank an der Mündung der Bucht. Etwas weiter hin traf ich den Jungen, der an der Windseite der Dünen Schutz gegen den Regen suchte, und erblickte die wüthende See, den Wogendrang auf der Sandbank, den vom Sturm wie ein fliegendes Gewand über das Wasser hingefegten Regen und die gelbe Wildniß des Strandes, aus der sich nur eine einzige schwarze Gestalt, die Gestalt Sergeant Cuff’s, erhob.

Sobald er meiner ansichtig wurde, machte er mit der Hand eine Bewegung nach Norden hin.

»Halten Sie sich an der Seite,« rief er mir zu, »und kommen Sie zu mir herunter.«

Ich schleppte mich, völlig außer Athem und mit entsetzlichem Herzklopfen zu ihm hin. Ich war sprachlos. Hundert Fragen hätte ich ihm thun mögen, aber keine einzige vermochte ich über die Lippen zu bringen. Der Ausdruck seines Gesichts machte mich betroffen. Sein Blick hatte etwas Furchtbares. Er riß mir den Stiefel aus der Hand und paßte ihn in einen Fußstapfen, der in südlicher Richtung von uns gerade auf die felsigen Klippen der sogenannten Südspitze hinwies. Die Fußspur war noch nicht vom Regen verwischt und der Stiefel des Mädchens paßte auf ein Haar hinein.

Der Sergeant deutete ohne ein Wort zu sagen auf den Stiefel in der Fußspur.

Ich ergriff seinen Arm und versuchte zu reden, aber eben so erfolglos wie vorher.

Er fuhr fort den Fußstapfen Schritt für Schritt bis an die Stelle zu verfolgen, wo sich die Felsklippen mit dem Strande vereinigten.

Die Südspitze war eben von der hereinbrechenden Fluth überströmt; die Wellen ergossen sich über die nicht mehr sichtbare Fläche des Zitterstrandes. Unter einem beharrlichen Schweigen, das bleischwer auf mir lastete, mit einer eigensinnigen Geduld, die etwas Entsetzliches hatte, paßte Sergeant Cuff den Stiefel an den verschiedensten Stellen in die Fußstapfen und fand, daß sie überall dieselbe Richtung gerade auf die Felsklippe zu zeigten. Aber wie er auch suchen mochte, nirgends konnte er die Spur eines von der Felsklippe herführenden Fußstapfens finden.

Er mußte es am Ende aufgeben. Er sah mich wieder an und blickte dann auf die Wassermasse vor uns, die den Zitterstrand höher und höher mit ihren Fluthen überdeckte. Ich folgte seinen Blicken und las seine Gedanken in denselben. Plötzlich überfiel mich in meiner Sprachlosigkeit ein furchtbares Zittern. Ich sank am Strande auf meine Knie.

»Sie ist wieder an dem Ort des Verstecks gewesen,« hörte ich den Sergeanten vor sich hin sagen. »Auf dem Felsen da muß ihr ein Unglück zugestoßen sein.«

Das veränderte Aussehen und Wesen des Mädchens —— die Art von starrer Betäubung in der sie mich angehört und mit mir gesprochen, als ich sie noch vor wenigen Stunden mit dem Ausfegen des Corridors beschäftigt gefunden hatte, stiegen während der letzten Worte des Sergeanten vor mir auf und mahnten mich, daß er mit seiner Vermuthung ganz fehl gehe. Ich machte einen Versuch, ihm die Angst, die mich überkommen hatte, zu schildern; ich versuchte es zu sagen: »Sie hat den Tod, den sie gestorben ist, selbst gesucht!« Aber nein! die Worte wollten nicht heraus. Sprachlos zitterte ich fort und fort; unempfindlich für den strömenden Regen, blind für die steigende Fluth, während das arme verlorne Geschöpf mit in einem Traumgesicht heimsuchte Ich sah sie wieder, wie ich sie in vergangenen Tagen gesehen hatte an jenem Morgen, wo ich hingegangen war, sie wieder nach Hause zu holen. Ich hörte sie wieder, wie sie mir sagte, daß es ihr sei, als ob der Zitterstrand sie gegen ihren Willen an sich ziehe, und daß sie wohl wissen möchte, ob sie dort ihr Grab finden werde.

Mich ergriff ein Grausen in dem Gedanken an mein eigenes Kind. Meine Tochter war gerade von ihrem Alter. Auch meine Tochter hätte, wenn ihr die Versuchung so nahe getreten wäre wie Rosanna, vielleicht ein ebenso elendes Leben gelebt und wäre vielleicht eines ebenso schrecklichen Todes gestorben wie diese.

Der Sergeant hob mich freundlich aus und führte mich von der Stelle, wo sie ihren Tod gesunden hatte, hinweg.

Das erleichterte mich so, daß ich anfing wieder zu Athem zukommen und die Dinge um mich her wieder zu sehen wie sie wirklich waren. Als ich jetzt nach den Dünen blickte, sah ich, wie die männlichen Gutsleute und der Fischer Yolland alle zusammen rasch auf uns zugelaufen kamen und hörte sie ängstlich rufen, ob das Mädchen gefunden sei. So kurz wie möglich erklärte ihnen der Sergeant, daß ihr ein Unglück begegnet sein müsse. Dann rief er den Fischer herbei und that ihm eine auf die See bezügliche Frage:

»Sagen Sie mir, ist es möglich, daß ein Boot sie von jener Felsklippe, an der sich ihre Fußstapfen verlieren, abgeholt hat?«

Der Fischer deutete auf die über die Sandbank hinstürzenden Wogen und die gewaltigen Wellen, die sich in aufsprühenden Schaumwolken an den Felsspitzen zu unsern beiden Seiten brachen.

»Kein Boot der Welt,« antwortete er, »hätte da hindurch zu ihr gelangen können.«

Sergeant Cuff warf einen letzten Blick auf die Fußstapfen im Sande, welche der Regen jetzt rasch hinwegwusch.

»Hier,« sagte er, »haben wir den Beweis, daß sie diesen Ort zu Lande nicht wieder verlassen haben kann. Und hier,« fuhr er, mit einem Blick auf den Fischer fort, »haben wir den Beweis, daß sie nicht zur See fortgekommen sein kann.« Bei diesen Worten hielt er inne und dachte einen Augenblick nach. »Eine halbe Stunde, ehe ich vom Hause hierher kam, hat man sie hier hinunterlaufend gesehen,« sagte er zu Yolland »Seitdem ist etwas« Zeit verflossen; Alles in Allem vielleicht eine Stunde. Wie hoch kann das Wasser vor einer Stunde an dieser Seite der Felsen gestanden haben?« Er deutete nach der Südseite hin, mit andern Worten der Seite, die nicht vom Flugsand bedeckt war.

»Wie die Fluth heute herankommt,« antwortete der Fischer, »ist an der Seite der Felsspitze wohl nicht so viel Wasser gewesen, um eine junge Katze darin zu ertränken.«

Sergeant wandte sich nun nach der Nordseite in der Richtung des Flugsandes um.

»Und an dieser Seite?« fragte er.

»Noch weniger,« antwortete Yolland, »das Wasser kann eben über den Zittersand hinweggeflossen sein, mehr nicht.«

Der Sergeant wandte sich zu mir und bemerkte, der Unfall müsse sich an der Seite des Flugsandes ereignet haben. Mit diesem Worte hatte er mir die Zunge gelöst: »Kein Unfall!« sagte ich zu ihm, »sie ist ihres Lebens müde hergekommen, um demselben hier ein Ende zu machen.«

Er fuhr zurück und fragte: »Woher wissen Sie das?« Die Andern drängten sich heran. Der Sergeant faßte sich auf der Stelle wieder, schob die Andern zurück und sagte zu ihnen, ich sei ein alter Mann, die Entdeckung habe mich erschüttert, sie sollten mich einen Augenblick in Ruhe lassen. Darauf wandte er sich wieder zu Yolland und fragte ihn: »Ist irgend eine Chance sie wiederzufinden, wenn die Fluth wieder abläuft?« und Yolland antwortete: »Keine! Was der Sand einmal erfaßt hat behält er für immer.« Nach diesen Worten trat der Fischer wieder einen Schritt auf mich zu und sagte: »Herr Betteredge, ich habe Ihnen ein Wort über den Tod des jungen Mädchens zu sagen. Vier Fuß landeinwärts liegt an der Seite der Südspitze, ungefähr einen halben Faden tief unter dem Sande eine Felsbank. Nun frage ich, warum ist sie nicht darauf gestoßen? Wenn sie zufällig von der Südspitze ausgeglitten wäre, so hätte sie auf die Stelle fallen müssen, wo man in einer Tiefe, die sie kaum bis an die Taille bedeckt haben würde, Grund findet. Sie muß darüber hinaus gewatet oder gesprungen sein, sonst würden wir sie jetzt nicht vermissen. Kein Unfall, Herr! Sie liegt in der Tiefe des Flugsandes und hat sich selbst da hineingestürzt.«

Nach diesem Zeugniß eines Mannes, auf dessen Aussage man sich verlassen konnte, schwieg der Sergeant. Wir Andern hielten uns gleichfalls still. Wie auf ein gegebenes Zeichen schritten wir alle wieder den Strand hinauf.

Auf den Dünen begegneten wir dem Stalljungen, der uns vom Hause her entgegengelaufen war. Es ist das ein braver Bursche, der den gehörigen Respect vor mir hat. Er überreichte mir mit betrübtem Gesicht ein kleines Billet. »Das hat mir Penelope für Sie gegeben, Herr Betteredge sie fand es in Rosanna’s Zimmer.«

Es war ihr letztes Lebewohl an den alten Mann, der sein Bestes —— Gott sei Dank immer sein Bestes —— gethan hatte, ihr beizustehen.

»Sie haben mir in früheren Tagen oft vergeben, Herr Betteredge. Das nächste Mal, wo Sie den Zitterstrand betreten, verzeihen Sie mir wieder, wenn Sie können. Ich habe mein Grab gefunden, wo es meiner wartete. Ich bin Ihnen bis in den Tod für Ihre Güte dankbar gewesen.«

Das war Alles. Die wenigen Worte erschütterten mich auf’s Tiefste. Wir weinen leicht, wenn wir jung sind und wenn wir im Begriff stehen, die Welt zu verlassen. Ich brach in Thränen aus.

Sergeant Cuff trat mir, unfehlbar in freundlicher Absicht, einen Schritt näher, aber ich fuhr vor ihm zurück. »Rühren Sie mich nicht an!« sagte ich. »Die Furcht vor Ihnen hat sie das Leben gekostet«

»Sie irren sich, Herr Betteredge,« sagte er ruhig, »aber wir werden Zeit genug haben, darüber zu reden, wenn wir wieder zu Hause sind.«

Ich folgte den Uebrigen, auf den Arm des Stalljungen gestützt. In strömendem Regen kehrten wir nach Hause zurück, wo Verwirrung und Schrecken unserer harrten.


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