Der Mondstein



Achtes Capitel.

Noch spät am Abend wurde ich in meiner Wohnung durch einen Besuch des Herrn Bruff überrascht.

Das Benehmen des Advocaten war merklich verändert. Seine gewöhnliche zutrauliche Lebhaftigkeit war verschwunden. Zum ersten Male in seinem Leben gab er mir schweigend die Hand.

»Gehen Sie jetzt nach Hampstead hinaus?« fragte ich, um nur etwas zu sagen.

»Ich komme eben von Hampstead her,« antwortete er. »Ich weiß, Herr Franklin, daß Sie endlich die Wahrheit erfahren haben. Aber, ich sage Ihnen gradeheraus, daß ich, wenn ich den Preis hätte voraussehen können, um den Sie diese Kunde würden zu erkaufen haben, es vorgezogen haben würde, Sie im Dunkeln zu lassen.«

»Haben Sie Rachel gesehen?«

»Ich habe sie eben nach Portland-Place zurückbegleitet; es war unmöglich, sie allein in ihrem Wagen nach Hause fahren zu lassen. Ich kann Sie, wenn ich bedenke, daß Sie sie in meinem Hause und mit meiner Erlaubniß gesehen haben, für die Erschwerung, welche diese unglückliche Zusammenkunft bei ihr bewirkt hat, kaum verantwortlich machen. Alles was ich thun kann, ist, einer Wiederholung dieses Unheils vorzubeugen. Sie ist jung, sie hat einen entschlossenen Geist, sie wird es mit Hilfe der Zeit überwinden. Ich möchte mich aber überzeugt halten können, daß Sie nichts thun werden, ihre Wiederherstellung zu verzögern. Kann ich mich darauf verlassen, daß Sie ohne meine Genehmigung keinen zweiten Versuch machen werden, sie zu sehen?«

»Nach dem was sie gelitten hat und was ich gelitten habe,« sagte ich, »können Sie sich darauf verlassen.«

»Sie geben mir Ihr Wort?«

»Ich gebe es Ihnen.«

Herr Bruff schien sich durch diese Auseinandersetzung erleichtert zu fühlen. Er stellte seinen Hut bei Seite und rückte seinen Stuhl näher zu mir heran.

»Das wäre abgemacht!« sagte er. »Reden wir jetzt von der Zukunft, von Ihrer Zukunft meine ich. Nach meiner Ansicht muß die Folge der unerwarteten Wendung, welche die Angelegenheit jetzt genommen hat, kurz die sein. Vor allen Dingen sind wir sicher, daß Rachel Ihnen, so vollständig wie es in Worten geschehen kann, die volle Wahrheit gesagt hat. Zweitens können wir, obgleich wir wissen, daß irgend ein schreckliches Mißverständniß hier obwalten muß, doch Rachel kaum tadeln, daß sie Sie auf das Zeugniß ihrer eigenen Augen hin für schuldig hält, um so mehr als dieses Zeugniß durch Umstände unterstützt wird, welche Sie auf den ersten Blick unbedingt zu verurtheilen scheinen.«

Hier unterbrach ich Herrn Bruff.

»Ich tadle Rachel nicht,« sagte ich. »Ich bedauere nur, daß sie es nicht über sich vermocht hat, sich seiner Zeit deutlicher gegen mich auszusprechen.«

»Sie könnten eben so gut bedauern, daß Rachel nicht eine andere Person ist,« erwiderte Herr Bruff. »Und selbst dann —— ich zweifle, ob irgend ein Mädchen von einigem Zartgefühl, das Sie geliebt und Ihnen gern die Hand gereicht hätte, es über sich vermocht haben würde, Sie in Ihr Angesicht des Diebstahls zu beschuldigen. Wie dem aber auch sei, für Rachel war es vermöge ihrer Natur unmöglich, das zu thun. In einer von der Ihrigen sehr verschiedenen Angelegenheit, welche Rachel gleichwohl in eine Lage brachte, die ihrer Lage Ihnen gegenüber nicht ganz unähnlich war, ließ sie sich, wie ich zufällig erfahren habe, von einem ähnlichen Motiv leiten, wie das ist, welches ihr Benehmen gegen Sie bestimmt hat. Ueberdies würde sie, wie sie mir diesen Abend auf unserem Wege in die Stadt selbst gesagt hat, auch wenn sie sich früher gegen Sie ausgesprochen hätte, Ihrem Leugnen damals nicht mehr Glauben geschenkt haben, als sie es jetzt thut. Was können Sie darauf erwiedern? Es giebt keine Antwort darauf. Sehen Sie lieber Freund, meine Ansicht von dem Fall hat sich zwar, wie ich zugeben muß, als durchaus falsch erwiesen, aber wie die Dinge stehen, kann Ihnen mein Rath, glaube ich, trotzdem von Nutzen sein. Ich sage Ihnen gerade heraus, wir vergeuden unsere Zeit und zerbrechen uns unnützerweise den Kopf, wenn wir den Versuch, diese schreckliche Complication zu entwirren, wiederholen wollen. Lassen Sie uns entschlossen allem Dem, was im vorigen Jahr in Lady Verinder’s Landhaus vorgefallen ist, den Rücken kehren; und anstatt in der Vergangenheit nach dem zu forschen, was wir nicht aufhellen können, sehen, was für Entdeckungen wir etwa dem Schoß der Zukunft entlocken können.«

»Aber Sie vergessen« sagte ich, »daß die ganze Angelegenheit, soweit sie mich betrifft, wesentlich in der Vergangenheit wurzelt.«

»Beantworten Sie mir folgende Frage,« entgegnete Herr Bruff. »Ist der Mondstein die Wurzel alles Unheils oder nicht?«

»Gewiß ist er es!«

»Nun wohl! Was ist nach unserer Ansicht mit dem Mondstein geschehen, als er nach London gebracht wurde?«

»Er ist an Herrn Luker verpfändet worden.«

»Wir wissen, daß Sie nicht die Person gewesen sind, die ihn verpfändet hat. Aber wissen wir, wer diese Person war?«

»Nein«

»Wo, glauben wir, daß sich der Mondstein jetzt befindet?«

»Wir glauben ihn in dem Gewölbe des Bankiers Herrn Luker deponiert.«

»Vollkommen richtig. Nun geben Sie Acht! Wir sind bereits im Monat Juni. Gegen Ende des Monats, —— ich vermag den Tag nicht genau anzugeben, —— wird ein Jahr seit der Zeit verflossen sein, zu welcher nach unserer Annahme der Edelstein verpfändet worden ist. Es ist also mindestens eine Aussicht vorhanden, daß die Person, welche den Diamanten verpfändete, die Absicht hat, ihn nach Verlauf eines Jahres wieder auszulösen. Wenn das geschieht, so muß Herr Luker, den von ihm selbst getroffenen Bestimmungen gemäß, in eigener Person den Diamanten aus den Händen seines Bankiers wieder entgegennehmen. Unter diesen Umständen mache ich den Vorschlag, gegen Ende dieses Monats eine Wache vor der Bank aufzustellen und so zu erfahren, wer die Person ist, welcher Herr Luker den Mondstein wieder einhändigen wird. Verstehen Sie mich jetzt?«

Ich mußte, wenn auch etwas widerwillig, zugeben, daß die Idee auf alle Fälle neu sei.

»An dieser Idee hat Herr Murthwaite einen ganz so großen Antheil, wie ich,« sagte Herr Bruff. »Vielleicht wäre ich nie darauf verfallen, wenn ich nicht vor einiger Zeit Gelegenheit gehabt hätte, mich mit dem genannten Herrn zu unterhalten. Wenn Herr Murthwaite Recht hat, so werden wahrscheinlich auch die Indier gegen Ende des Monats vor der Bank Posto fassen und die Sache kann eine ernste Wendung nehmen. Was aber auch daraus entstehen mag, Ihnen und mir kann es einerlei sein, wenn es uns nur gelingt der mysteriösen Person dabei habhaft zu werden, welche den Diamanten verpfändet hat. Und ich behaupte fest, wenn ich auch den Zusammenhang der Sache nicht zu durchschauen vermag, daß diese Person für Ihre augenblickliche Lage verantwortlich ist und daß die Auffindung dieser Person allein Ihnen Rachel’s Achtung wiederverschaffen kann.«

»Ich kann nicht leugnen,« sagte ich, »daß Ihr Plan sehr kühn, sehr sinnreich und sehr neu ist. Aber ——«

»Aber Sie haben doch etwas dagegen einzuwenden?«

»Ja. Mein Einwand ist der, daß Ihr Vorschlag uns zu warten zwingt.«

»Zugegeben. Aber nach meiner Rechnung haben Sie ungefähr vierzehn Tage zu warten. Ist das so lang?«

»Für Jemand, der sich in meiner Lage befindet, eine Ewigkeit, Herr Bruff. Mein Dasein wird mir vollkommen unerträglich sein, wenn ich nicht auf der Stelle etwas unternehmen kann, meinen Ruf zu reinigen.«

»Das kann ich Ihnen wohl nachfühlen Aber haben Sie schon etwas erdacht, was Sie thun könnten?«

»Ich habe daran gedacht, Sergeant Cuff zu consultiren.«

»Er hat sich von seinen Berufsgeschäften ganz zurückgezogen. Es wäre daher vergeblich, auf die Unterstützung des Sergeanten zu rechnen.«

»Ich weiß ihn zu finden und es gilt doch immer einen Versuch.«

»Versuchen Sie es,« sagte Herr Bruff, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte. »Der Fall hat sich seit der Zeit, wo Sergeant Cuff sich mit demselben befaßte, so merkwürdig gestaltet, daß es Ihnen vielleicht gelingt, sein Interesse an der Untersuchung wieder zu erwecken. Versuchen Sie es und lassen Sie mich das Resultat erfahren. Wollen Sie mich inzwischen,« fuhr er aufstehend fort, »wenn Sie bis zu Ende des Monats zu keiner Entdeckung gelangen, autorisiren, meinerseits zu versuchen, was mit der Aufstellung einer Wache vor der Bank zu erreichen ist?«

»Gewiß,« antwortete ich, »wenn es mir nicht in der Zwischenzeit gelingt, Sie der Notwendigkeit, das Experiment zu machen, ganz zu überheben.«

Herr Bruff lächelte und nahm seinen Hut.

»Sagen Sie Sergeant Cuff,« erwiderte er, »daß ich behaupte, die Entdeckung der Wahrheit hänge von der Entdeckung der Person ab, welche den Diamanten verpfändet hat. Und lassen Sie mich wissen, was Sergeant Cuff mit seiner reichen Erfahrung dazu sagt.«

So trennten wir uns an diesem Abend.

In der Frühe des nächsten Tages machte ich mich nach der kleinen Stadt Dorking aus den Weg, wohin sich, nach Betteredge’s Mittheilung, Segeant Cuff zurückgezogen hatte.

Auf meine Erkundigung im Hotel wurde mir das Landhaus des Sergeanten genau bezeichnet. Es lag in einer kleinen Entfernung von der Stadt, in der Nähe eines einsamen Feldweges freundlich inmitten eines Gartens, welcher von hinten und an den Seiten von einer Backsteinmauer und vorn von einer lebendigen Hecke um geben war. Die Pforte, deren oberen Theil sauber bemaltes Gitterwerk verzierte, war verschlossen. Nachdem ich geklingelt hatte blickte ich durch das Gitterwerk und sah die Lieblingsblume des großen Cuff überall; Rosen blühten in seinem Garten, hingen über seiner Thür, rankten sich an seinen Fenstern empor. Entfernt von den Verbrechen und den Mysterien der großen Stadt, verlebte der berühmte Diebsfänger seine letzten Lebensjahre in einer stillen sybaritischen Zurückgezogenheit, auf Rosen gebettet!

Eine anständig gekleidete ältliche Frau öffnete mir die Pforte und vernichtete sofort alle meine Hoffnungen, mir Sergeant Cuff’s Beistand zu sichern. Gerade Tags zuvor war er nach Irland abgereist.

»Ist Herr Cuff in Geschäften dahin gereist?« fragte ich.

Die Frau lächelte. »Er kennt nur noch ein Geschäft, Herr,« sagte sie, »und das sind die Rosen. Der Gärtner eines großen Herrn in Irland hat eine neue Erfindung in Betreff der Rosenzucht gemacht und Herr Cuff ist nach Irland gereist, um steh näher darnach zu erkundigen.«

»Wissen Sie, wann er zurückkommt?«

»Das ist ganz ungewiß, Herr. Herr Cuff sagte, die Dauer seiner Abwesenheit werde ganz von dem Werth der neuen Erfindung abhängen. Wenn sie ihm irgend eine Bestellung zu machen haben, so werde ich sie sicher ausrichten.«

Ich gab ihr meine Karte, nachdem ich mit Bleistift Folgendes auf dieselbe geschrieben hatte: »Ich habe Ihnen etwas in Betreff des Mondsteins mitzutheilen. Lassen Sie mich von Ihnen hören, sobald Sie zurückgekehrt sind.« Darnach war für mich weiter nichts zu thun, als mithin das Unvermeidliche zu ergeben und nach London zurückzukehren.

In der reizbaren Stimmung, in der ich mich zu jener Zeit befand, war das Fehlschlagen meiner Reise nach dem Landsitze des Sergeanten nur dazu geeignet, den ruhelosen Trieb, irgend etwas zu thun, in mir zu steigern. Noch an demselben Tage, wo ich von Dorking zurückkehrte, beschloß ich, schon am nächsten Morgen einen Versuch zu wagen, mir durch alle Hindernisse hindurch einen Weg aus dem Dunkel zum Licht zu bahnen.

Aber worin sollte dieser Versuch bestehen?

Wenn der vortreffliche Betteredge bei mir und in das Geheimniß meiner Gedanken eingeweiht gewesen wäre, als ich diese Frage erwog, so würde er ohne Zweifel erklärt haben, daß die deutsche Seite meines Charakters einmal wieder die Oberhand bei mir gewonnen habe. Im Ernst, vielleicht trug meine deutsche Erziehung theilweise die Schuld an dem Labyrinth unnützer Speculationen, in dem ich jetzt umherirrte. Den größeren Theil der Nacht saß ich rauchend auf und sann über Lösungen des Problems nach, von denen eine immer unwahrscheinlicher war als die andere. Als ich endlich einschlief, verfolgten mich meine Hirngespinste im Traum. Als ich am andern Morgen aufstand, war ich in einer unentwirrten Verknüpfung des Objectiv-Subjcctiven und Subjectiv-Objectiven begriffen, und ich fing den Tag, der Zeuge meines nächsten Versuchs irgend einer Art von praktischem Handeln sein sollte, damit an, zu zweifeln, ob ich von einem rein philosophischen Standpunkte aus ein Recht habe, irgend etwas, den Diamanten mit einbegriffen, als überhaupt existent zu betrachten.

Wie lange ich in dem Nebel dieser metaphysischen Betrachtungen verharrt haben würde, wenn ich mir selbst überlassen geblieben wäre, vermag ich nicht zu sagen. Glücklicher Weise erlöste mich der Zufall. Ich trug an jenem Morgen gerade denselben Rock, den ich an dem Tage meiner Zusammenkunft mit Rachel getragen hatte. Indem ich in einer der Taschen nach etwas suchte, stieß ich auf ein zerknittertes Stück Papier und fand, als ich näher zusah, Betteredge’s vergessenen Brief in meiner Hand.

Es schien mir hart, meinen guten alten Freund ohne Antwort zu lassen. Ich ging an meinen Schreibtisch und überlas seinen Brief noch einmal. Ein ganz unwichtiger Brief ist oft nicht ganz leicht zu beantworten.

Betteredge’s Brief an mich gehörte in diese Kategorie. Herrn Candy’s Assistent, alias Ezra Jennings, hatte seinem Principal erzählt, daß er mich gesehen habe, und Herr Candy seinerseits wünschte mich zu sehen und mir etwas mitzutheilen, sobald ich wieder in die Nähe von Frizinghall kommen würde. Was sollte ich darauf antworten, was auch nur das Papier werth gewesen wäre? Müßig dasitzend, zeichnete ich aus dem Gedächtnis; Portraits des merkwürdig aussehenden Assistenten des Herrn Candy auf das Blatt Papier, welches der Correspondenz mit Betteredge gewidmet sein sollte, bis mir endlich einfiel, daß sich mir hier wieder der unvermeidliche Ezra Jennings in den Weg dränge! Ich warf gewiß ein Dutzend Potraits des Mannes mit dem scheckigen Haar, an deren jedem wenigstens das Haar außerordentlich ähnlich war, in den Papierkorb und schrieb dann sofort meine Antwort an Betteredge Es war ein ganz gewöhnlicher Brief, der aber in einer Beziehung eine vortreffliche Wirkung aus mich übte. Die Anstrengung, die es erforderte, ein paar klare Sätze niederzuschreiben, befreite meinen Geist vollständig von dem trüben Unsinn, mit dem derselbe seit dem vorhergehenden Tage angefüllt gewesen war.

Indem ich mich aufs Neue mit der Lösung des undurchdringlichen Räthsels beschäftigte, welches meine eigne Lage für mich darbot, versuchte ich es jetzt, der Sache durch eine Betrachtung von einem rein praktischen Gesichtspunkte aus näher zu kommen. Da die Ereignisse der merkwürdigen Nacht mir noch immer unerklärlich waren, ging ich noch etwas weiter in der Zeit zurück und durchstöberte meine Erinnerungen an die früheren Stunden des Geburtstages nach irgend einem Umstande, der mir bei der Lösung des Räthsels behilflich sein könnte.

War irgend etwas Bemerkenswerthes vorgefallen, während Rachel und ich die Malerei an der Thür beendeten? oder später, als ich nach Frizinghall hinüberritt? oder noch später, als ich mit Godfrey Ablewhite und seinen Schwestern zurückkam? oder wieder später, als ich den Mondstein in Rachel’s Hand legte? oder noch später endlich, als die Gesellschaft sich versammelte und wir uns Alle zu Tisch setzten? Mein Gedächtniß wußte mir alle diese Fragen noch klar genug zu beantworten, bis ich an die letzte kam. Bei meinem Rückblick auf das Geburtstags-Diner befand ich mich meiner eigenen Frage gegenüber in Verlegenheit. Ich konnte mich nicht einmal der Zahl der Gäste, die an demselben Tisch mit mir gesessen hatten, genau mehr erinnern.

Mich hier von meinem Gedächtniß verlassen finden und daraus den Schluß ziehen, daß der Hergang dieses Diners eine besonders genaue Untersuchung verdiene, war das Werk eines Augenblicks für meinen geschäftig arbeitenden Geist. Wenn die Verfolgung unserer Zwecke uns selbst zu Gegenständen unserer Untersuchung macht, so sind wir mit Recht mißtrauisch gegen unsere eigenen Beobachtungen. Ich beschloß, nachdem ich mir zuerst die Namen der bei dem Diner anwesenden Personen wieder verschafft haben würde, um die Lücken meines eigenen Gedächtnisses zn ergänzen, an das Gedächtniß der übrigen Gäste mit der Bitte zu appelliren, alle ihre Erinnerungen der Hergänge in der Geburtstagsgesellschaft niederzuschreiben: und das Ergebniß dieser Auszeichnungen in dem Licht der Vorgänge nach dem Auseinandergehen der Gesellschaft zu prüfen.

Dieses letzte und neueste meiner vielen in Aussicht genommenen Experimente in der Kunst der Untersuchung, welche Betteredge vermuthlich der klaren oder französischen Seite meines Wesens, die augenblicklich in mir überwog, zugeschrieben haben würde, hat wohl Anspruch daraus, seines inneren Werthes wegen hier erwähnt zu werden. So unglaublich er scheinen mag, hier hatte ich endlich tappend den Weg gefunden, der Sache aus den Grund zu kommen. Alles was ich noch brauchte, war ein Wink, um mir die rechte Richtung auf meinem Wege an die Hand zu geben. Und, ehe noch ein weiterer Tag vergangen war, erhielt ich diesen Wink von einem Mitgliede der Gesellschaft, die zur Feier des Geburtstags versammelt gewesen war!

Für meinen jetzigen Plan mußte ich mich vor allen Dingen in den Besitz der Liste der Gäste setzen. Diese Liste konnte ich leicht von Gabriel Betteredge erhalten. Ich beschloß, noch selbigen Tages nach Yorkshire zurückzugehen und am nächsten Morgen mit meiner Nachforschung zu beginnen.

Die Abgangszeit des Vormittagszuges war eben vorüber. Ich hatte also fast drei Stunden auf den Abgang des nächsten Zuges zu warten. Konnte ich diese Zeit in London noch mit irgend etwas Nützlichem ausfüllen?

Meine Gedanken wandten sich hartnäckig wieder dem Geburtstags-Diner zu. Obgleich ich die Zahl und vielfach die Namen der Gäste vergessen hatte, erinnerte ich mich doch deutlich genug, daß weitaus die meisten derselben von Frizinghall oder dessen Umgebung gekommen waren. Aber nicht Alle. Einige Wenige gehörten zu den Bewohnern der Grafschaft. Zu diesen Letzteren zählten, außer mir selbst, Herr Murthwaite und Herr Ablewhite. Herr Bruff, —— nein. Ich erinnerte mich, daß Geschäfte diesen daran verhindert hatten, von der Partie zu sein. Waren Damen zugegen gewesen, die gewöhnlich in London wohnten? Als zu diesen gehörig wollte mir nur Miß Clack einfallen. Jedenfalls waren aber hier doch drei von den damaligen Gästen, die, bevor ich London verließ, aufzusuchen mir unbedingt räthlich erscheinen mußte. Ich fuhr auf der Stelle nach Herrn Bruff’s Bureau, da mir die Adressen der Personen, die ich aufsuchen wollte, nicht bekannt waren und da ich es für wahrscheinlich hielt, daß er mir dieselben würde nachweisen können.

Herr Bruff war zu beschäftigt, um mir mehr als eine Minute seiner kostbaren Zeit schenken zu können. Diese eine Minute war jedoch hinreichend für ihn, mir auf alle an ihn gerichteten Fragen die entmuthigendsten Antworten zu geben.

Vor allen Dingen betrachtete er meine neu entdeckte Methode, einen Schlüssel zu dem Räthsel zu finden, als etwas zu haltlos Phantastisches als daß man es nur einer ernsten Erwägung werth halten könne. Zweitens, drittens und viertens war Herr Murthwaite bereits wieder auf dem Wege nach dem Schauplatz seiner früheren Abenteuer; war Miß Clack in Folge von Geldverlusten nach Frankreich übergesiedelt; und war endlich Herr Godfrey Ablewhite vielleicht in London aufzufinden, vielleicht aber auch nicht. Ob ich nicht in seinem Club nachfragen und Herrn Bruff entschuldigen wolle, wenn er wieder zu seinen Geschäften zurückkehre und mir »Guten Morgen« wünsche?

Da das Feld meiner Nachforschungen in London nunmehr so eingeengt war, daß sich seine Ausbeute auf die Nothwendigkeit beschränkte, Godfrey’s Adresse aufzufinden, folgte ich der Weisung des Advokaten und fuhr nach seinem Club

In der Vorhalle begegnete ich einem der Mitglieder des Clubs, der ein alter Freund meines Vaters und auch ein Bekannter von mir war. Nachdem dieser Herr mir Godfrey’s Adresse mitgetheilt, erfuhr ich von ihm von zwei neuerlichen nicht uninteressanten Ereignissen in dem Leben desselben, von denen ich noch nichts gehört hatte.

Einmal erzählte man, daß Godfrey, weit entfernt, durch die Aufhebung seiner Verlobung mit Rache! entmuthigt zu sein, bald nachher einer andern jungen Dame, die für eine reiche Erbin galt, den Hof gemacht habe.

Seine Werbung war erfolgreich gewesen und die Heirath galt bereits für eine abgemachte Sache. Aber wiederum war die Verlobung unerwarteter Weise plötzlich aufgehoben worden, und zwar dieses Mal, wie es hieß, in Veranlassung einer ernsten Differenz zwischen dem Bräutigam und dem Vater des Mädchens über pecuniäre Fragen.

Für dieses abermalige Scheitern eines Heirathsprojects hatte Godfrey bald nachher einen Ersatz in einem Vermächtniß von einer seiner vielen Anbeterinnen gefunden. »Eine reiche alte Dame, die bei dem »mütterlichen Hosenverein« in hohem Ansehen stand und eine große Freundin von Miß Clack war (der sie aber nichts hinterlassen hatte, als einen Trauring), hatte dem bewundernswerthen und verdienstvollen Godfrey ein Legat von 5000 Lstr. vermacht.

Nachdem er in den Besitz dieser Vermehrung seiner eigenen bescheidenen Hilfsquellen gelangt war, hatte man ihn sagen hören, daß er das Bedürfniß einer kleinen Erholung von seinem anstrengenden mildthätigen Wirken fühle und daß sein Arzt ihm eine Reise nach dem Continent als sehr wünschenswerth für seine Gesundheit verordnet habe. Wenn ich ihn daher zu sehen wünsche, so dürfe ich keine Zeit verlieren.

Ich ging auf der Stelle, ihm meinen Besuch abzustatten, aber dasselbe Verhängniß, welches mich gerade einen Tag zu spät bei Sergeant Cuff hatte eintreffen lassen, ließ mich auch meinen Besuch bei Godfrey einen Tag zu spät machen.

Er hatte London Tags zuvor mit dem nach Dover gehenden Frühzug verlassen. Von hier wollte er nach Ostende und, wie sein Diener glaubte, weiter nach Brüssel gehen. Die Zeit seiner Rückkehr sei nicht ganz bestimmt, aber seine Abwesenheit werde mindestens drei Monate dauern.

Ich kehrte etwas desappointirt in meine Wohnung zurück. Drei von den Gästen bei dem Geburtstagsdiner und zwar alle drei besonders intelligente Leute, waren unerreichbar für mich gerade in dem Augenblick wo es von der höchsten Wichtigkeit für mich gewesen wäre, mit ihnen zu verkehren. Meine letzten Hoffnungen beruhten jetzt auf Betteredge und auf den Freunden der verstorbenen Lady Verinder, die ich etwa noch in der Nähe von Rachel’s Landhaus lebend antreffen möchte.

Ich reiste daher direct nach Frizinghall, das jetzt der Centralpunkt meines Erforschungsgebietes war. Ich kam zu spät am Abend an, um mich noch mit Betteredge in Verbindung setzen zu können. Am nächsten Morgen schickte ich einen Boten mit einem Billet an ihn ab, in welchem ich ihn bat, mich so bald als möglich im Hotel zu besuchen.

Da ich, theils um Zeit zu sparen, theils zu Betteredge’s Bequemlichkeit meinen Boten in einem Einspänner abgesandt hatte, so durfte ich, wenn nichts Besonderes dazwischen kam, den Alten in zwei Stunden erwarten.

Während dieser Zeit schickte ich mich an, meine beabsichtigte Nachforschung bei den Geburtstagsgästen, die mir persönlich bekannt und leicht erreichbar waren zu eröffnen.

Dies waren meine Verwandten, die Ablewhite’s, und Herr Candy. Der Doctor hatte, wie erwähnt, den besonderen Wunsch ausgesprochen, mich zu sehen, und da ich in der nächsten Straße wohnte, so ging ich zuerst zu ihm.

Nach dem, was Betteredge mir erzählt hatte, mußte ich erwarten, in dem Aussehen des Doctors Spuren der schweren Krankheit zu finden, an der er gelitten hatte; aber ich war durchaus nicht auf eine Veränderung seines ganzen Wesens gefaßt, wie sie mir entgegentrat, als er in’s Zimmer kam und mir die Hand gab. Seine Augen waren trübe, seine Haare ganz grau geworden, sein Gesicht war voll Runzeln, seine Gestalt zusammengeschrumpft. Ich betrachtete den einst so lebendigen, geschwätzigem gut gelaunten kleinen Docter, der in meiner Erinnerung mit der unverbesserlichen Vollführung gesellschaftlicher Indiscretionen und unzähliger knabenhafter Scherze unzertrennlich verknüpft war, und ich fand von dem Mann, wie er in meiner Vorstellung lebte, nichts mehr übrig als die alte Neigung zu einer geschmacklos barocken Toilette. Der Mann war eine Ruine; aber seine Kleider und sein Schmuck an Ringen, Tuchnadeln und Ketten waren so bunt und glänzend wie immer und erschienen wie eine grausame Ironie aus die mit ihm vorgegangene Veränderung.

»Ich habe oft an Sie gedacht, Herr Blake,« sagte er, »und ich freue mich herzlich, Sie endlich einmal wieder zu sehen. Wenn ich irgend etwas für Sie thun kann, bitte, disponiren Sie über mich —— disponiren Sie ganz über mich!«

Er sagte diese höflichen Redensarten mit einer ganz unmotivirten Eile und Beflissenheit und mit einem Ausdruck der Neugierde, zu erfahren, was mich nach Yorkshire geführt habe, die er zu verbergen vollkommen unfähig war.

Bei dem Zweck, den ich verfolgte, hatte ich natürlich die Nothwendigkeit vorausgesehen, eine Art persönlicher Erklärung voran zuschicken, bevor ich Leute, die meistentheils Freunde für mich waren, für eine eifrige Unterstützung meiner Untersuchung würde gewinnen können. Auf meiner Reise nach Frizinghall hatte ich mich auf eine solche Erklärung vorbereitet und ergriff die sich mir darbietende Gelegenheit, ihre Wirkung an Herrn Candy zu erproben.

»Es ist eine ziemlich romantische Geschichte,« sagte ich, »die mich kürzlich nach Yorksfhire geführt hat und die mich jetzt wieder herführt. Es ist eine Angelegenheit, Herr Candy, für die sich alle Freunde der verstorbenen Lady Verinder interessiren. Erinnern Sie sich des geheimnißvollen Verschwindens des indischen Diamanten vor ungefähr einem Jahr? Gewisse neuerdings eingetretene Umstände berechtigen zu der Hoffnung, daß derselbe noch wiedergefunden werten könnte, und ich interessire mich als Mitglied der Familie für die Wiederauffindung. Unter den Schwierigkeiten, die sieh mir bei meinen Bemühungen zu diesem Zweck entgegenstellen, besteht eine darin, daß ich mir nothwendiger Weise alle ihrer Zeit angesammelten Zeugenaussagen verschaffen muß. Gewisse Umstände machen es mir wünschenswerth meine Erinnerungen an alles Das, was an dem Abend von Fräulein Verinder’s Geburtstage vorging, wieder aufzufrischen, und ich wage es nun, mich an die damals anwesenden Freunde der verstorbenen Lady Verinder mit der Bitte zu wenden, mir dabei mit ihrem Gedächtniß behilflich zu sein.«

Soweit war ich mit der Probe meiner erklärenden Phrasen gekommen, als ich bei einem Blick auf Herrn Candy plötzlich inne ward, däß mein Experiment bei ihm total fehlgeschlagen war.

Der kleine Doctor saß, während ich sprach, unruhig und fortwährend an seinen Nägeln kauend da. Seine trüben wässerigen Augen heftete er mit einem starren fragenden Ausdruck, der sehr peinlich anzusehen war, auf mich. Woran er dachte, war unmöglich zu errathen. Nur so viel war klar ersichtlich, daß ich nach den ersten zwei oder drei Worten seine Aufmerksamkeit nicht mehr zu concentriren vermocht hatte. Die einzige Möglichkeit, ihn wieder zur Besinnung zu bringen, schien in einer Veränderung des Gegenstandes der Unterhaltung zu liegen. Ich versuchte es sofort damit.

»Soviel,« sagte ich leichthin, »von dem was mich nach Frizinghall führt! Jetzt aber ist die Reihe an Ihnen, Herr Candy. Sie haben mir durch Gabriel Betteredge etwas bestellen lassen ——«

Auf einmal ließ er seine Nägel los und wurde wieder aufmerksam.

»Ja! ja! ja!« rief er eifrig aus. »Jawohl! ich habe Ihnen etwas bestellen lassen!«

»Und Betteredge hat es mir pflichtschuldigst brieflich mitgetheilt,« fuhr ich fort, »Sie wünschten mich zu sprechen, sobald ich wieder in Ihre Nähe käme. Nun, Herr Candy, da bin ich!«

»Da sind Sie!« sprach mir der Doctor nach, »und Betteredge hatte ganz recht, ich« wünschte Sie zu sprechen, das war meine Bestellung Betteredge ist ein merkwürdiger Mann! Dieses Gedächtniß in seinem Alter!«

Er verstummte wieder und fing wieder an, an seinen Nägeln zu kauen. Ich erinnerte mich dessen, was ich von Betteredge über die Wirkung des Fiebers auf das Gedächtniß des Doctors gehört hatte und fuhr daher in der Hoffnung, seine Erinnerungen wieder allmälig auffrischen zu können, in der Unterhaltung fort.

»Es ist lange her, daß wir uns nicht gesehen haben,« sagte ich. »Das letzte Mal war bei dem letzten Geburtstagsdiner, das meiner armen Tante zu geben beschieden sein sollte.«

»Richtig« rief Herr Candy aus, »das Geburtstagsdiner!«

Er sprang unwillkürlich auf und sah mich an. Ein tiefes Roth überflog plötzlich sein blasses Gesicht und er setzte sich rasch wieder nieder, als ob er sich bewußt war, eine Schwäche verrathen zu haben, die er gern verbergen wollte. »Es war klar, zum Erbarmen klar, daß er seine eigene Gedächtnißschwäche wohl kannte und daß er sich bemühte, diesen Mangel der Beobachtung seiner Freunde zu entziehen.

Bisher hatte er nur mein Mitleid rege gemacht. Aber die wenigen Worte, die er eben ausgesprochen, reizten meine Neugierde auf’s Höchste. Das Geburtstagsdiner war bereits für mich das einzige Ereigniß der Vergangenheit geworden, aus welches ich mit einer eigenthümlichen Mischung von Hoffnung und Mißtrauen zurückblickte. Und jetzt gab sich dieses Diner unzweideutiger Weise als den Gegenstand kund. in Betreff dessen Herr Candy mir etwas Wichtiges zu sagen hatte!«

Ich versuchte es, seinem Gedächtniß noch einmal aufzuhelfen. Aber dieses Mal war meine mitleidige Theilnahme der Ausfluß meines eigenen Interesses, das mich für den Zweck, den ich im Auge hatte, etwas zu rasch vorgehen ließ.

»Es ist fast ein Jahr her,« sagte ich,« »daß wir bei jenem heiteren Mittagsmahl versammelt waren. Haben Sie sich in Ihrem Tagebuch oder sonst über das, was Sie mir sagen wollten, irgend eine Notiz gemacht?«

Herr Candy verstand diese Andeutung und zeigte mir, daß er sie als eine Insulte auffasse.

»Ich bedarf keiner Notizen,« sagte er in sehr scharfem Ton. »Ich bin noch nicht so alt und kann mich, Gott sei Dank, durchaus auf mein Gedächtniß verlassen.«

Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich mich stellte, als ob ich seine Empfindlichkeit nicht sehe.

»Ich wollte, ich könnte dasselbe von meinem Gedächtnisse sagen,« antwortete ich. »Wenn ich an Dinge zurückdenke, die vor einem Jahre geschehen sind, so finde ich meine Erinnerungen selten so frisch, wie ich es möchte. So geht es mir zum Beispiel mit dem Diner bei Lady Verinder.«

Diese Anspielung heiterte Herrn Candy sofort wieder auf.

»Ja, das Diner —— das Diner bei Lady Verinder!« rief er noch eifriger als vorher aus. »Ich habe Ihnen in Betreff desselben etwas zu sagen.«

Seine Augen sahen mich wieder mit dem starren, suchenden Ausdruck an, der mir so peinlich war. Er bemühte sich offenbar eifrigst, aber vergebens, die verlorene Erinnerung wieder zu finden. »Es war ein sehr heiteres Diner,« brach er plötzlich mit einer Miene aus, als ob es das sei, was er habe sagen wollen. »Ein sehr heiteres Diner, Herr Blake, nicht wahr? Das arme Männchen nickte und lächelte und schien zu glauben, daß es ihm durch eine rechtzeitige Anstrengung seines Geistes gelungen sei, das gänzliche Versagen seines Gedächtnisses zu verbergen.

Die Sache war so betrübend, daß ich trotz meines lebhaften Interesses, seine Erinnerungen wieder wach werden zu sehen, die Unterhaltung sofort auf Gegenstände von localem Interesse brachte.

Hier ging es ganz gut. Elende kleine Scandalgeschichten und Zänkereien in der Stadt, von denen einige schon Wochen alt waren, schienen ihm rasch genug wieder einzufallen. Er plauderte mit einem Rest der fließenden Geschwätzigkeit früherer Tage. Aber selbst mitten in diesem Strom seiner plappernden Beredtsamkeit gab es Momente, wo er plötzlich stockte und mich wieder mit dem starren Ausdruck des Suchens ansah, sich dann wieder zusammennahm und fortfuhr. Ich ergab mich geduldig in mein Märtyrerthum, —— denn so darf man es wohl nennen, wenn ein Mann von kosmopolitischen Interessen sich dazu verurtheilt sieht, sich in schweigender Resignation die Neuigkeiten einer Landstadt erzählen zu lassen ——, bis die Uhr auf dem Kamin mir zeigte, daß mein Besuch schon über eine halbe Stunde gedauert habe. Jetzt durfte ich mein Opfer als vollendet betrachten und stand auf, um mich zu verabschieden. Als ich ihm die Hand reichte, spielte Herr Candy unaufgefordert wieder auf das Geburtstagsfest an.

»Es freut mich sehr, daß wir uns wieder gesehen haben,« sagte er, »es lag mir am Herzen, es lag mir wirklich am Herzen, Herr Blake, Sie zu sprechen. Ueber das Diner bei Lady Verinder, wissen Sie! Ein heiteres Diner! Wirklich, ein sehr heiteres Diner! Nicht wahr?«

Bei der Wiederholung dieser Frage schien er jetzt nicht mehr so ganz sicher, daß es ihm gelungen sei, seine Gedächtnißschwäche vor mir zu verbergen, wie er es vorher gewesen war. Der starre Blick umwölkte sein Auge wieder, und, nachdem er anfänglich anscheinend beabsichtigt hatte, mich bis an die Hausthür zu begleiten, änderte er plötzlich seinen Sinn, klingelte nach dem Diener und blieb im Wohnzimmer zurück.

Ich ging die Treppe des Doctors in der peinlichen Ueberzeugung langsam hinunter, daß er mir wirklich etwas von für mich entscheidender Wichtigkeit zu sagen habe, und daß er unfähig sei, es auszusprechen. Die Anstrengung der Erinnerung an die Thatsache, daß er mir etwas zu sagen habe, war nur zu ersichtlich die einzige Anstrengung, deren sein geschwächtes Gedächtniß noch fähig war.

Gerade als ich am Fuß der Treppe angelangt und eben um die Ecke gebogen war, um in den äußeren Vorplatz zu treten, öffnete sich leise eine Thür zur ebenen Erde, aus der eine sanfte Stimme hinter mir hervorklang und die Worte sprach:

»Ich fürchte, mein Herr, Sie haben Herrn Candy traurig verändert gefunden?«

Ich drehte mich um und fand mich von Angesicht zu Angesicht Ezra Jennings gegenüber.


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