Namenlos



Drittes Capitel.

Der drohende Sturm und Witterungswechsel verzog sich mit dem Anbrechen des Tages. Als der Morgen über Aldborough heraufkam, thronte die Sonne herrlich am blauen Himmelszelte, und die Wogen kräuselten sich fröhlich unter der Sommerbrise.

Zu einer Stunde, wo noch keine anderen Badegäste auf den Beinen waren, erschien der unermüdliche Hauptmann Wragge in der Thür von Nordstein-Villa und richtete seine Schritte nach Norden, mit einem feingebundenen Exemplar von Joyces »Wissenschaftlichen Gesprächen« in der Hand. Als er auf dem leeren Platze über den Häusern draußen ankam, stieg er zum Ufer hinunter und schlug sein Buch auf. Die Unterredung in der vergangenen Nacht hatte ihm die Schwierigkeiten, welche sich ihm bei der bevorstehenden Unterredung in den Weg stellen würden, recht lebhaft vor die Seele geführt. Er war jetzt doppelt entschlossen, das eigenthümliche Kunststück zu versuchen, auf das er in seinem Briefe an Magdalene hingedeutet hatte, und demnach in dem Charakter eines äußerst gelehrten Mannes die ganze Aufmerksamkeit und Theilnahme der fürchterlichen Mrs. Lecount auf sich zu lenken.

Als der Hauptmann seinen vorgeschriebenen Satz an mundrecht gemachter Wissenschaft (um einen eigenen Ausdruck zu gebrauchen) verzehrt hatte, das erste Geschäft am frühen Morgen bei leerem Magen, kam er zur Frückstücksstunde wieder in seinen kleinen Familienkreis, angefüllt mit so viel Wissenschaft, als er für den Tag brauchte. Er bemerkte, daß Magdalenens Gesicht offene Zeichen einer schlaflosen Nacht an sich trug. Sie klagte nicht, ihr Benehmen war ruhig und gefaßt und sie ganz Herrin ihrer Stimmung. Mrs. Wragge —— erfrischt durch einen dreizehnstündigen ununterbrochenen Schlaf war vortrefflich bei Laune und hatte (wunderbar aber wahr) ihre Schuhe ganz richtig an. Sie brachte verschiedene große Bogen Musterpapier mit sich, welche ganz kraus in geheimnißvolle und vielgestaltige Formen zerschnitten waren und ihren Ehegatten sofort zu der kurzen und scharfen Frage veranlaßten:

—— Was hast Du da?

—— Musterschnitte, Hauptmann, sagte Mrs. Wragge in furchtsam beschwichtigendem Tone. Ich ging in London einkaufen und ließ mir ein orientalisches Kaschmirkleid zumessen. Es kostet schweres Geld, und ich will sehen, ob ich Etwas sparen kann, indem ich mir es selbst mache. Ich habe meine Musterschnitte und meine Anweisungen zum Schneidern, die wie gedruckt geschrieben sind. Ich werde sehr artig sein, Hauptmann; ich will mich in einer Ecke halten, wenn Du so gut sein willst, mir eine einzuräumen, und ob mein Kopf brummt oder nicht, ich will die ganze Zeit gerade über meiner Arbeit sitzen.

—— Du wirst Deine Arbeit machen, sagte der Hauptmann ernst und streng, wenn Du weißt, wer Du bist, wer ich bin und wer das junge Fräulein da ist, —— nicht eher. Zeig mir Deine Schuhe: Gut. Zeig mir Deine Haube: Gut. Mach das Frühstück zurecht.

Als das Frühstück vorüber war, erhielt Mrs. Wragge ihre gemessene Weisung, sich in ein anstoßendes Zimmer zurückzuziehen und dort zu warten, bis ihr Mann käme, um sie zu erlösen. Sobald sie den Rücken gewandt hatte, nahm Hauptmann Wragge sofort den Faden der Unterhaltung, welcher auf ausdrücklichen Wunsch Magdalenens die Nacht vorher abgerissen worden war, wieder auf. Die Fragen, die er jetzt an sie richtete, bezogen sich alle auf den Gegenstand ihres Besuchs in Verkleidung bei Noël Vanstone. Es waren die Fragen eines durchaus scharfsinnigen Mannes, kurz, forschend und ohne Umschweife auf die Hauptsache losgehend. In weniger denn einer halben Stunde Zeit hatte er sich denn auch mit jeder Einzelheit des Vorgangs auf der Vauxhallpromenade vertraut gemacht.

Die Schlüsse, welche der Hauptmann zog, nachdem er sich dergestalt unterrichtet hatte, waren klar und aus der Hand liegend.

Bezüglich der ungünstigen Seite der Frage drückte er seine Ueberzeugung aus, Mrs. Lecount habe gewiß entdeckt, daß ihr Gast verkleidet war, und selbige habe auch gar nicht das Zimmer wirklich verlassen, obgleich sie die Thür geöffnet und zugemacht hatte, und es habe daher bei beiden Gelegenheiten, wo Magdalene sich durch ihre eigene Stimme verrathen hatte, Mrs. Lecount sie gehört. Was die günstige Seite der Frage anlangte, so war er ganz wohl zufrieden damit, daß das gemalte Angesicht mit den Augenlidern, die Perrücke und der auswattirte Mantel so wirksam Magdalenens Identität verborgen hatten, dergestalt, daß sie nun in ihrer eigenen Person, was die äußere Erscheinung anlangte, der schärfsten Forscherblicke der Haushälterin spotten konnte. Die Schwierigkeit, Mrs. Lecounts Ohren eben so gut als ihre Augen zu täuschen, war —— das gab er gern zu —— allerdings nicht so leicht zu beseitigen. Allein in Erwägung der Thatsache, daß Magdalene bei beiden Gelegenheiten, wo sie sich selbst vergessen hatte, in der Aufwallung des Zorns gesprochen hatte, war er der Meinung, daß sie allen Grund hatte, vor der Entdeckung ihrer Stimme sicher zu sein, wenn sie nur fein sorgsam alle Gefühlsausbrüche in Zukunft unterließe und in jenen mehr ruhigen und gewöhnlichen Tönen spräche, welche Mrs. Lecount noch nicht gehört hätte. Alles zusammengenommen war der Hauptmann mithin geneigt, die Aussicht hoffnungsvoll zu bezeichnen, wenn nur ein ernstes Hinderniß im Anfange beseitigt würde —— und dies Hinderniß war nichts weniger und nichts mehr, als: die Anwesenheit von Mrs. Wragge auf dem Schauplatze der Handlung.

Zu Magdalenens Erstaunen hörte Hauptmann Wragge, als die Reihenfolge ihrer Erzählung sie zu der Geschichte mit dem Geiste brachte, mit der Miene eines Mannes zu, welcher durch das Gehörte eher unangenehm berührt, denn ergötzt wird. Als sie fertig war, sagte er ihr offen heraus, daß ihr unglückliches zusammentreffen an der Treppe des Hotel garni mit Mrs. Wragge seiner Meinung nach das ernsteste von all den Mißgeschicken sei, welche auf der Vauxhallpromenade sich zugetragen hätten.

—— Ich kann mit der Schwierigkeit, daß meine Frau so außerordentlich beschränkten Verstandes ist, recht wohl fertig werden, sagte er, wie ich denn auch schon oft damit fertig geworden bin. Ich kann ihr ihre neue Persönlichkeit in den Kopf hineintrommeln, aber jenen Geist heraustrommeln, das vermag ich nicht. Wir haben keine Bürgschaft dafür, daß ihr nicht die Frau in dem grauen Mantel und mit dem Schaufelhute gerade in der bedeutungsschwersten Zeit und unter den kitzlichsten Umständen wieder in den Sinn kommt. Deutsch heraus gesagt [In Plain Englisch.], liebes Mädchen: Mrs. Wragge ist eine Grube zu unserm Sturz bei jedem Schritte, den unsere Füße vorwärts thun.

—— Wenn wir uns vor der Grube fein in Acht nehmen, sagte Magdalene, so können wir unsere Maßregeln nehmen, zu vermeiden. Was schlagen Sie vor?

—— Ich schlage vor, versetzte der Hauptmann, Mrs. Wragge zeitweilig zu entfernen. Wenn ich nämlich die Sache nur vom Geldpunct aus ansehe, so kann ich eine gänzliche Trennung von ihr nicht gut wünschen. Sie haben doch gewiß oft von sehr armen Leuten, die durch von entfernter und unverhoffter Seite gekommene Vermächtnisse plötzlich reich geworden waren, gelesen? Mit Mrs. Wragge war dies ebenso der Fall, als ich sie heirathete. Eine ältere weibliche Verwandte theilte bei jener Gelegenheit die Spenden des Glücksfüllhorns mit meiner Frau, und wenn ich diese Familienbeziehungen nur im Gange erhalte, so weiß ich ziemlich zuverlässig, daß Mrs. Wragge sich mir ein zweites Mal nützlich erweisen wird, für den Fall nämlich des Todes jener älteren Verwandten. Wäre dieser Umstand nicht gewesen, so würde ich wahrscheinlich schon längst meine Frau der Sorge der Gesellschaft im Großen überlassen haben, in der angenehmen Ueberzeugung, daß, wenn ich sie nicht unterstütze, jemand Anderes es thun würde. Obgleich ich mich nicht dazu verstehen kann, so zu handeln, so sehe ich doch keinen Grund ein, warum ich sie nicht auf eine gegebene Zeit uns aus dem Wege schaffen, mit aller Bequemlichkeit verpflegen lassen und irgendwo unterbringen sollte, nämlich in einem entlegenen Pächterhause in der Rolle einer etwas geistesschwachen Dame. Sie würden die Kosten unbedeutend, ich würde die Erlösung von ihr unsäglich wohlthuend finden. Was meinen Sie dazu? Soll ich sie gleich aufpacken und mit der nächsten Post wegschaffen?

—— Nein, versetzte Magdalene mit Festigkeit. Das Leben des armen Wesens ist ohnehin hart genug; ich möchte nimmer dazu beitragen, es noch härter zu machen. Sie war liebevoll, aufrichtig und gut gegen mich, als ich krank lag, und ich möchte sie um Alles in der Welt nicht unter fremden Leuten in Verschluß halten lassen, so lange ich es hindern kann. Die Gefahr, sie hier sicher zu bewahren, ist eben nur eine Gefahr mehr. Ich will ihr trotzen, Hauptmann Wragge, wenn Sie vielleicht auch nicht wollen.

—— Bedenken Sie sich noch ein Mal, sagte der Hauptmann ernst, ehe Sie sich entschließen, Mrs. Wragge bei uns zu behalten.

—— Ein Mal ist schon genug, versetzte Magdalene. Ich will sie nicht fortgeschickt wissen.

—— Sehr gut, sagte der Hauptmann mit Entsagung im Tone. Ich mag mit Gefühlssachen Nichts zu schaffen haben. Allein ich habe über mein eigenes Interesse noch ein Wort zu sagen. Wenn meine Dienste Ihnen von Nutzen sein sollen, so kann ich mir nicht die Hände von vornherein binden lassen. Dies ist ein ernster Punkt. Ich traue nicht einem Zusammentreffen meiner Frau mit Mrs. Lecount. Ich wittere Unrath, wenn Sie ihn auch nicht fürchten: — und ich mache es zur Bedingung, daß wenn Mrs. Wragge hierbleibt, sie wenigstens ihr Zimmer hütet. Wenn Sie denken, daß ihre Gesundheit es erfordert, so können Sie sie früh Morgens oder spät Abends zu einem Spaziergang mit heraus nehmen, aber Sie dürfen sie nimmer mit dem Dienstmädchen ausgehen lassen oder gar allein. Ich stelle die Sache ganz offen hin: sie ist zu wichtig, als daß wir sie obenhin behandeln dürfen. Was sagen Sie dazu, Ja oder Nein?

—— Ich sage: Ja, erwiderte Magdalene nach einem augenblicklichen Nachdenken, unter der Bedingung, daß ich sie zum Gehen mit hinaus nehmen darf, wie Sie vorschlugen.

Hauptmann Wragge verbeugte sich und gewann seine gefällige Art wieder.

—— Was sind unsere Pläne? frug er. Soll ich Ihre Unternehmung heute Nachmittag beginnen? Sind Sie bereit; sich Mrs. Lecount und ihrem Herrn vorstellen zu lassen.

—— Ja wohl.

—— Gut noch ein Mal. Wir werden sie auf der Promenade treffen, zu ihrer gewöhnlichen Ausgehstunde, um zwei Uhr. Es ist noch nicht um Zwölf. Ich habe noch zwei Stunden vor mir, gerade Zeit genug, um meine Frau in ihre »neue Haut« einzupassen. Diese Vornahme ist schlechterdings nöthig, um zu verhindern, daß sie uns gegenüber dem Dienstmädchen bloß stellt. Fürchten Sie nicht den Ausfall meiner Bemühungen, Mrs. Wragge hat sich im Laufe ihres ehelichen Lebens bereits eine reiche Auswahl angenommener Namen in ihren Kopf hämmern lassen müssen. Es kommt lediglich darauf an, derb genug zu hämmern, auf weiter Nichts. Ich denke, wir haben nun Alles und Jedes erledigt. Ist noch etwas für mich zu thun vor zwei Uhr? Haben Sie eine Beschäftigung für den Morgen?

—— Nein, sagte Magdalene; ich werde wieder auf mein Zimmer gehen und zusehen, ob ich etwas ruhen kann.

—— Sie hatten wohl eine unruhige Nacht, wie ich fürchten muß? sagte der Hauptmann, indem er ihr höflich die Thür aufmachte.

—— Ich schlief ein oder zwei Mal ein, antwortete sie gleichgültig. Ich glaube, meine Nerven sind ein wenig angegriffen. Die kühnen Blicke jenes Mannes, der mich gestern so beleidigend ansah, schienen mir im Traume wieder auf mich gerichtet zu sein. Wenn wir ihn heute sehen und er mich noch ein Mal belästigt, so muß ich Sie ersuchen, mit ihm zu sprechen. Wir wollen uns um zwei Uhr wieder hier treffen. Seien Sie nicht hart gegen Mrs. Wragge; bringen Sie ihr bei, was sie lernen soll, aber so zart als Sie können.

Mit diesen Worten verließ sie ihn und ging ins Haus hinauf.

Sie legte sich mit einem tiefen Seufzer aufs Bett und versuchte zu schlafen. Es war vergebens. Die betäubende Müdigkeit, welche sich jetzt ihrer bemächtigt hatte, war nicht die Müdigkeit, die sich durch Ruhe und Schlaf heben läßt. Sie stand wieder auf und setzte sich ans Fenster, ihre Blicke zerstreut und gegenstandlos auf das Meer gerichtet.

Eine schwächere Natur als die ihrige würde den Schlag, Franks Treulosigkeit, nicht so gefühlt haben, als sie ihn gefühlt hatte und jetzt noch fühlte. Eine schwächere Natur würde zornig aufgewallt sein und durch Thränen sich erleichtert haben. Die leidenschaftliche Stärke von Magdalenens Liebe klammerte sich verzweifelt an das sinkende Wrack ihres eigenen süßen Wahnes, klammerte sich daran, bis sie sich durch die bloße Kraft des Willens blutenden Herzens davon losriß. Sie mußte allen ihren angeborenen Stolz, ihr scharfes Gefühl für alles Unrecht zusammennehmen, um gegen die Gedanken anzukämpfen, welche immer und immer wieder aus der unauslöschlichen Glut der Leidenschaft vergangener glücklicher Tage in ihr aufstiegen, Gedanken, welche in arger Selbstbethörung Franks herzlosen Abschied jeder andern Ursache, nur nicht der angeborenen Schlechtigkeit des Mannes, der jene Worte geschrieben, beimessen wollten.

Das Weib soll noch geboren werden, das eine treue Liebe aus seinem Herzen reißen kann, bloß weil der Gegenstand seiner Liebe seiner unwerth war. Alles, was es thun kann, ist: insgeheim dagegen ankämpfen und in dem Streite erliegen, wenn es schwach ist, zu überwinden aber, wenn es stark ist, durch einen Act der Selbstpeinigung welcher von allen sittlichen, aus die weibliche Natur angewandten Mitteln das allergefährlichste und verwegenste, von allen sittlichen Wandelungen diejenige ist, welche ihre Spuren fürs ganze Leben hinterläßt.

Magdalenens starke Natur hatte sie in dem Kampfe aufrecht erhalten, und der Ausgang desselben machte sie —— so, wie sie war.

Nachdem sie wohl beinahe eine Stunde am Fenster gesessen, ihre Augen zerstreut in die Landschaft hinausschauend, ihr Geist verloren in empfindungs- und gedankenloses Hinträumen, schüttelte sie den seltsamen wachenden Schlummer, der sie überfallen hatte, ab und stand auf, um sich zu dem ernsten Werke des Tages vorzubereiten.

Sie ging zu der Garderobe und nahm von den Nägeln zwei helle feine Musselinkleider, welche vor einem Jahre für den Sommer auf Combe-Raven gemacht worden und welche von zu geringem Werthe waren, um, als sie ihre übrigen Sachen veräußert mit verkauft zu werden.

Als sie die Kleider neben einander aufs Bett gelegt hatte, sah sie noch ein Mal in den Kleiderschrank. Er enthielt nur noch ein anderes Sommerkleid, die glatte Alpacarobe, welche sie während ihrer merkwürdigen Unterredung mit Noël Vanstone und Mrs. Lecount getragen. Diese ließ sie an ihrem Platze, indem sie sich entschloß, sie nicht zu tragen, weniger etwa aus Furcht, daß die Haushälterin ein so wenig auffallendes und gewöhnliches Muster wiedererkennen würde, als aus der Ueberzeugung, daß sie nicht heiter noch passend genug für den Zweck war. Nachdem sie noch einen glatten Musselinshawl, ein Paar hellgraue Glacés und einen florentinischen Gartenstrohhut aus der Garderobe genommen, schloß sie den Schrank zu und steckte den Schlüssel sorgsam in ihre Tasche.

Anstatt sofort daran zu gehen, sich anzukleiden, saß sie unthätig da und sah die beiden Musselinkleider an. Es war ihr gleichgültig, welches sie trüge, und doch zauderte sie fort und fort, ihre Wahl zu treffen.

—— Was kommt darauf an, sprach sie zu sich selbst mit einem kalten Lachen, ich gelte mir in meiner eigenen Achtung ganz gleich wenig, welches immer ich anziehe.

Sie schauderte zusammen, als ob der Klang ihres eigenen Lachens sie erschreckt habe, und griff hastig und jäh nach dem Kleide, das ihr am nächsten lag. Die Farben desselben waren blau und weiß, gerade das Blau, welches am Besten zu ihrer herrlichen Gesichtsfarbe paßte. Sie zog das Kleid eilig an, ohne vor ihren Spiegel zu treten. Zum ersten Male in ihren Leben mied sie ihr Spiegelbild, nur ein Mal nicht, wo! sie ihr Haar unter dem Gartenhut geordnet hatte; aber sie trat sofort wieder weg von dem Spiegel. Sie warf dann den Shawl um ihre Schultern, zog die Handschuhe an, den Rücken gegen den Toilettentisch hingewendet.

—— Soll ich mich schminken? fragte sie sich, indem sie ahnend fühlte, daß sie bleich geworden war. Das Roth ist noch in meinem Koffer. Ich kann mein Gesicht nicht falscher machen, als es schon ist.

Sie sah sich nach dem Spiegel um und wandte sich hinweg.

—— Nein! sagte sie. Ich habe Mrs. Lecount entgegenzutreten, so wie ihrem Herrn. Keine Schminke.

Nachdem sie nach der Uhr gesehen, verließ sie das Zimmer und ging wieder die Treppe hinunter. Es fehlten zehn Minuten nur an zwei Uhr.

Hauptmann Wragge wartete auf sie im Wohnzimmer, anständig anzuschauen im Frack, steifer Sommercravatte und hohem weißen Hut, recht ländlich und schmuck in einer Reitweste, grauen Beinkleidern und entsprechenden Gamaschen. Seine Vatermörder waren höher denn gewöhnlich, und er führte einen funkelneuen Feldstuhl in der Hand. Jeder Kaufmann in England, der ihn in diesem Augenblicke gesehen hätte, würde ihm auf der Stelle Credit geschenkt haben.

—— Reizend! sagte der Hauptmann, indem er Magdalenen, wie sie ins Zimmer trat, mit väterlichen Blicken musterte; so frisch und kühl! Ein wenig zu bleich, meine Theure, und viel zu ernst. Sonst vortrefflich. Sehen Sie zu, ob Sie lächeln können.

—— Wenn die Zeit zum Lächeln kommen wird, sagte Magdalene herb, so verlassen Sie sich nur auf meine dramatische Uebung in jeder Veränderung der Miene, welche sich nöthig machen wird. Wo ist Mrs. Wragge?

—— Mrs. Wragge hat ihre Aufgabe gelernt, versetzte der Hauptmann, und ist nun dadurch belohnt worden, daß sie mit meiner Erlaubniß über ihrer Arbeit auf ihrem Zimmer sitzen darf. Ich heiße ihre neue Liebhaberei fürs Schneidern gut, da dieselbe sicherlich ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt und sie zu Hause erhält. Es ist nicht zu fürchten, daß sie ihre »orientalische Robe« so schnell fertig bekommt, denn es gibt wohl kein Versehen bei der Anfertigung einer solchen, daß sie nicht gewiß und wahrhaftig begehen wird. Sie wird emsig über ihrem Kleide sitzen, verzeihen sie den Ausdruck, wie eine Henne über einem Windei. Ich gebe Ihnen mein Wort, ihre neue Phantasie macht mir Vergnügen. Nichts konnte unter den gegenwärtigen Umständen gelegener kommen.

Er stolzierte zum Fenster, sah hinaus und bat Magdalenen, zu ihm zu treten.

—— Dort sind sie! sagte er und zeigte auf die Promenade.

Mr. Noël Vanstone wandelte langsam vorbei, wie sie hinsahen, angethan, wie er war, mit einem vollständigen Anzug von altmodischem Nanking. Es war augenscheinlich einer von den Tagen, wo der Zustand seiner Gesundheit am schlechtesten war. Er stützte sich aus Mrs. Lecounts Arm und wurde vor der Sonne durch einen hellen Sonnenschirm geschützt, den sie über ihn hielt. Die Haushälterin, so schmuck wie gewöhnlich angezogen, trug ein lavendelfarbenes Kleid, eine schwarze Mantille, einen einfachen Strohhut und einen gerippten blauen Schleier. Sie bewachte ihren kranken Herrn mit der zärtlichsten Sorgsamkeit, machte ihn bald mit Bescheidenheit auf die verschiedenen Gegenstände der Aussicht übers Meer aufmerksam, bald Verbeugte sie sich in dankbarer Erwiderung der Artigkeit der vorübergehenden Badegäste auf der Promenade, welche schonend zurück traten, um den Kranken vorbeizulassen. Sie machte sichtbar Eindruck auf die Spaziergänger am Ufer. Sie sahen ihr Alle mit gleicher Theilnahme nach und wechselten vertrauliche Zeichen des Beifalls aus, welche so deutlich als Worte sagten:

—— Eine sehr häusliche Person, ein wahrhaft vortreffliches Frauenzimmer!

Hauptmann Wragges verschiedenfarbene Augen folgten Mrs. Lecount mit stetiger mißtrauischer Aufmerksamkeit.

—— Eine schwere Arbeit für uns Das —— flüsterte er Magdalenen zu, schwerer, als Sie vielleicht denken: das Weib von seinem Platze zu verdrängen.

—— Warten Sie es ab, sagte Magdalene ruhig. Warten Sie es ab, und Sie werden sehen.

Sie ging zur Thür, Der Hauptmann folgte ihr, ohne weiter eine Bemerkung zu machen.

—— Ich will warten, bis Du verheirathet bist, dachte er bei sich, aber nicht einen Augenblick länger, Du möchtest mir bieten, was Du wolltest. In der Hausthür redete ihn Magdalene wieder an.

—— Wir wollen den Weg dort gehen, sagte sie, indem sie nach Süden zeigte, dann uns drehen und ihnen begegnen, wenn sie zurückkommen.

Hauptmann Wragge drückte seine Zustimmung zu diesem Vorschlage aus und folgte Magdalenen zum Gartenthore. Als sie dasselbe öffnete, um durchzugehen, wurde ihre Aufmerksamkeit durch eine Dame auf sich gezogen, welche, begleitet von einer Amme und zwei kleinen Knaben, hinter ihr auf dem Wege draußen vor der Gartenmauer einherwandelte. Die Dame blieb stehen, sah aufmerksam vor sich hin und lächelte bei sich, als Magdalene heraustrat. Die Neugier hatte bei Kirkes Schwester die Oberhand gewonnen, und sie war nach Aldborough gekommen, ausdrücklich in der Absicht, um Miss Bygrave zu sehen.

Etwas in dem Gesichtsschnitte der Dame, Etwas in dem Ausdrucke ihrer dunklen Augen erinnerte Magdalene an den Schiffscapitän, dessen unbewußtes Anstaunen sie den Abend vorher so verdrossen hatte.

Sie erwiderte augenblicklich das scharfe Ansehen der Fremden durch ein Stirnrunzeln und einen finsteren Blick. Die Dame wechselte die Farbe, gab den Blick mit Zinsen zurück und ging weiter.

—— Ein schroffes, dreistes, schlechtes Mädchen, dachte Kirkes Schwester. Was hat nur Robert gedacht, als er sie so bewundernswürdig fand? Ich bin sehr froh, daß er fort ist. Ich hoffe und bin gewiß, daß er nie wieder seine Augen auf Miss Bygrave fallen lassen wird.

—— Was für Bauern sind die Leute hier! sagte Magdalene zu Hauptmann Wragge. Jenes Frauenzimmer war noch unverschämter als der Mann von gestern Abend. Sie sieht ihm im Gesichte ähnlich. Wer mag sie wohl sein?

—— Das will ich gleich herausbekommen, sagte der Hauptmann. Wir können Fremden gegenüber nicht vorsichtig genug sein.

Er wandte sich sofort an seine Freunde, die Bootsleute. Sie waren nahe zur Hand, und Magdalene hörte ganz deutlich Fragen und Antworten.

—— Wie gehts Euch Allen diesen Morgen? sagte Hauptmann Wragge in seiner leichten scherzhaften Weise; und wie stets mit dem Winde? Nordwest und Halbwest, nicht wahr? Sehr gut. Wer ist die Dame?

—— Das ist Mrs. Strickland, Sir.

—— So, so! Des Geistlichen Frau und die Schwester des Schiffscapitäns. Wo ist heute der Capitän?

—— Unterwegs nach London, denke ich, Sir. Sein Schiff fährt Ende der Woche nach China.

China! Als das Wort dem Manne über die Lippen kam, griff ein Wehgefühl des alten Kummers Magdalenen ans Herz. So fremd er ihr war, so begann sie doch schon den bloßen Namen des Kauffahrteicapitäns zu hassen. Er hatte ihre Träume vergangene Nacht gestört und jetzt, wo sie sehr verzweifelt und rücksichtslos dabei war, ihre alten Erinnerungen ans Vaterhaus zu vergessen, war er mittelbar die Ursache gewesen, daß sie wieder an Frank dachte.

—— Kommen Sie, sagte sie heftig zu ihrem Begleiter. Was gehen uns der Mann und sein Schiff an? Kommen Sie mit fort!

—— Richtig, sagte Hauptmann Wragge. Sofern wir nur nicht Freunde von den Bygraves finden, was gehen uns da andere Leute an?

Sie schritten vorwärts nach Süden zu, so ein zehn Minuten oder etwas länger, wandten sich dann und gingen wieder zurück, um mit Noël Vanstone und Mrs. Lecount zusammenzutreffen.


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