Mann und Weib



Erster Band.

Vorspiel - Die irische Heirath.

Erster Theil - Die Villa in Hampstead.

I.

Vor etwa vierzig Jahren saßen an einem Sommermorgen zwei Mädchen bitterlich weinend bei einander in der Kajüte eines in Gravesend vor Anker liegenden zur Abfahrt nach Bombay bereiten Passagierschiffes.

Beide waren in demselben Alter, achtzehn Jahre alt. Von frühester Jugend an waren sie die intimsten Schulfreundinnen gewesen. Zum ersten Male in ihrem Leben stand ihnen jetzt eine Trennung, vielleicht auf immer, bevor. Die eine hieß Blanche, die andere Anne.

Beide waren die Kinder armer Eltern, Beide hatten bereits als erwachsene Schülerinnen Unterricht in ihrer Schule gegeben, und Beide waren bestimmt, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu erwerben. Darauf beschränkte sich aber auch die Aehnlichkeit zwischen Beiden.

Blanche war von leidlich angenehmem Aeußern und mäßig begabt, mehr ließ sich von ihrer Person nicht sagen; Anne dagegen war von seltener Schönheit und ungewöhnlicher Begabung. Blanche’s Eltern waren ehrenwerthe Leute, die entschlossen waren, kein Opfer zu scheuen, um das künftige Wohlergehen ihres Kindes zu sichern. Anne’s Eltern waren herzlose und verderbte Menschen Ihre einzige Sorge in Betreff ihrer Tochter war, wie sie möglichst großen Vorteil aus ihrer Schönheit und ihren Talenten ziehen könnten.

Die beiden Mädchen traten unter ganz verschiedenen Verhältnissen in das Leben ein. Blanche stand im Begriff nach Indien zu reisen, um dort eine Stelle als Gouvernante in dem Hause eines Richters anzunehmen. Für Anne sollte die erste Gelegenheit, sie billig nach Mailand zu schicken, abgewartet werden, um sie dort zur Schauspielerin und Sängerin ausbilden und dann nach England zurückkehren zu lassen, wo sie auf die Bühne gehen und das Glück ihrer Familie gründen sollte.

Das waren die Aussichten der beiden Mädchen, als sie, einander fest umschlungen haltend und bitterlich weinend, in der Kajüte des Ostindienfahrers saßen. Die zärtlichen Abschiedsworte die sie sich einander zuflüsterten, kamen Beiden von Herzen.

»Blanche! Vielleicht verheirathest Du Dich in Indien, dann mußt Du sehen, daß Dein Mann Dich nach England zurückbringt.«

»Anne! Vielleicht gefällt es Dir nicht auf der Bühne, dann mußt Du nach Indien kommen.«

»Wo und wie wir uns auch nach Jahren wieder treffen mögen, wir wollen nichts vor einander verborgen halten»und uns als Freundinnen und Schwestern in alter Liebe beistehen. Das mußt Du mir geloben, Blanche!«

»Ich gelobe es Dir, Anne!«

»Von ganzem Herzen und ganzer Seele?«

»Von ganzem Herzen und ganzer Seele!«

Die Segel wurden bereit gemacht, das Schiff fing an sich in Bewegung zu setzen. Es bedurfte der persönlichen Dazwischenkunft des Capitains, um die Mädchen zu vermögen, sich das letzte Lebewohl zu sagen. Der Capitain machte von seiner Autorität einen milden, aber entschiedenen Gebrauch. »Kommen Sie, liebes Kind«, sagte er den Arm um Anne schlingend, »lassen Sie sich das nicht anfechten, ich habe selbst eine Tochter.« Anne ließ ihren Kopf auf die Schulter des Capitains sinken. Er ließ sie an seiner Hand in das Boot hinabsteigen, das sie an Land bringen sollte. Fünf Minuten später war das Schiff in der Fahrt, das Boot an der Landungsbrücke —— und die beiden Mädchen hatten sich für lange Jahre zum letzten Male gesehen.

Das geschah im Sommer 1831.



II.

Vierundzwanzig Jahre später, im Sommer 1855, war eine meublirte Villa in Hampstead zu vermiethen.

Augenblicklich war das Haus noch von den Leuten, die es vermiethen wollten, bewohnt. An dem Abend, an welchem die gegenwärtige Scene unsers Vorspiels beginnt, saßen eine Dame und zwei Herren bei Tische. Die Dame war zweiundvierzig Jahre alt, aber noch immer eine Frau von seltener Schönheit. Ihr einige Jahre jüngerer Mann, Mr. Vanborough, saß ihr schweigend und ersichtlich zurückhaltend gegenüber, ohne sie auch nur ein einziges Mal während der ganzen Mahlzeit anzusehen. Der zweite am Tisch sitzende Herr war ein Gast, Mr. Kendrew.

Das Diner ging seinem Ende entgegen. Früchte und Wein standen bereits auf dem Tisch. Vanborough schob die Flaschen schweigend Mr. Kendrew zu. Die Frau vom Hause sah sich nach dem aufwartenden Diener um, und sagte: »Lassen Sie die Kinder kommen.«

Die Thür ging auf und ein zwölfjähriges Mädchen trat, ein kleines fünfjähriges Mädchen an der Hand haltend, herein. Beide trugen frische weiße Kleider mit hellblauen Schleifen. Sie sahen sich aber einander durchaus nicht ähnlich. Das ältere Mädchen war von zartem Körperbau und blaß. Die Jüngere hatte ein blühendes Aussehen, schöne rothe Wangen und helle, keck in die Welt blickende Augen, —— ein reizendes Bild der Gesundheit und des kindlichen Glücks.

Mr. Kendrew sah mit einem fragenden Blick nach dem jüngeren Mädchen. »Diese junge Dame«, sagte er, »ist mir völlig fremd.«

»Wenn Sie nicht ein ganzes Jahr lang ein Fremder in unserem Hause gewesen wären«, antwortete Mrs. Vanborough, »so würden Sie die Bekanntschaft des Kindes früher gemacht haben. Es ist die kleine Blanche, das einzige Kind meiner besten Freundin. Als Blanche’s Mutter und ich uns zum letzten Male sahen, waren wir zwei arme Mädchen, die eben die Schule verlassen hatten, und sich ihren Weg durch’s Leben selbst suchen sollten. Meine Freundin ging nach Indien und verheirathete sich dort in schon reiferen Jahren. Vielleicht haben Sie von ihrem Manne, einem ausgezeichneten Offizier, Sir Thomas Lundie, gehört.« »Jawohl, dem sogenannten reichen Sir Thomas.« »Lady Lundie kehrt eben jetzt zum erstenmal, seit sie, —— ich scheue mich zu sagen, vor wie viel Jahren —— England verließ, von Indien wieder in ihre Heimath zurück. Ich erwarte sie schon seit gestern, sie kann jeden Augenblick eintreffen. Wir haben uns auf dem Schiffe, mit dem sie nach Indien fuhr, nach guter alter Sitte treue Freundschaft gelobt. Sie können sich vorstellen, wie verändert wir uns bei unserem bevorstehenden Wiedersehen finden werden!«

»Inzwischen«, sagte Mr. Kendrew, »scheint Ihre Freundin Ihnen eine Stellvertreterin in der Person ihrer kleinen Tochter geschickt zu haben? Eine lange Tour für eine so jugendliche Reisende.«

»Die Reise ist dem Kinde vor einem Jahre von den Aerzten in Indien verordnet«, erwiderte Mrs. Vanborough »Die Doctoren fanden, daß die Gesundheit des Kindes einen Aufenthalt in England wünschenswerth mache. Sir Thomas war damals krank, und seine Frau konnte ihn nicht verlassen. Sie mußte also das Kind nach England schicken, und wem anders hätte sie es hier wohl anvertrauen sollen, als mir? Sehen Sie sie an und sagen Sie selbst, ob ihr die englische Luft nicht trefflich bekommen ist. Wir beiden Mütter scheinen buchstäblich zum zweiten Mal in unseren Kindern zu leben. Die kleine Anne hier, meine einzige Tochter, gleicht ihrer Mutter, wie sie in demselben Alter aussah, auf ein Haar, und die kleine Blanche ist das leibhaftige Ebenbild ihrer Mutter. Und, um die Aehnlichkeit vollkommen zu machen, lieben die beiden Kinder sich mit derselben Zärtlichkeit, mit der meine Freundin und ich einst als Schulkinder an einander hingen. Man hört oft von erblichem Familienhaß, giebt es auch eine erbliche Liebe?«

Noch bevor der Gast diese Frage beantworten konnte, wurde seine Aufmerksamkeit durch den Herrn vom Hause in Anspruch genommen.

»Kendrew«, sagte Herr Vanborough, »wie wäre es, wenn Sie es an diesen zärtlichen Jugenderinnerungen genug sein ließen und jetzt ein Glas Wein tränken?«

Er sprach diese Worte mit dem Ausdruck unverhohlener Geringschätzung in Ton und Bewegung. Mrs. Vanborough erröthete, aber sie wußte ihre sehr natürliche Gereiztheit zu beherrschen und schwieg eine Weile. Als sie ihren Mann wieder anredete, geschah es ersichtlich mit dem Wunsch, ihn zu beschwichtigen und zu versöhnen. »Ich fürchte, lieber Mann«, sagte sie, »Du bist nicht ganz Wohl«

»Es wird mir besser werden, wenn die Kinder mit ihrem Messer- und Gabelgeklapper fertig sind.«

Die Kinder waren damit beschäftigt, sich Aepfel zu scheiden. Das jüngere ließ sich durch die Worte des Mr. Vanborough nicht stören, das ältere aber hielt inne und sah seine Mutter an. Mrs. Vanborough winkte Blanche zu sich heran und deutete nach der in den Garten führenden Glasthür. Möchtest Du Deine Früchte nicht im Garten verzehren, Blanche?«

»O ja,« antwortete Blanche, »wenn Anne mitgeht.«

Anne sprang sofort auf und die beiden Mädchen gingen Hand in Hand zusammen in den Garten. Als sie fortgegangen waren, brachte Mr. Kendrew weislich einen neuen Gegenstand auf’s Tapet. Er führte das Gespräch auf die beabsichtigte Vermiethung des Hauses.

»Die beiden jungen Mädchen«, sagte er, »werden den Garten schmerzlich vermissen Es ist wirklich schade, daß Sie das hübsche Haus aufgeben wollen.«

»Das Aufgeben ist nicht das Schlimmste dabei«, antwortete Mrs. Vanborough. »Wenn mein Mann Hampstead zu entfernt von London findet, so müssen wir es natürlich verlassen. Das einzige, was ich dabei beklage, ist, daß das Haus vermiethet werden soll.«

Herr Vanborough warf seiner Frau einen möglichst unfreundlichen Blick zu und fragte: »Was kümmert denn Dich die Vermiethung?«

Mrs. Vanborough versuchte es, die Wolken am Horizont des ehelichen Himmels durch ein Lächeln zu verscheuchen.

»Lieber John!«, sagte sie sanft, »Du vergißt, daß, während Du den Tag über im Geschäft bist, ich den ganzen Tag hier bin und alle die Leute, die das Haus in Augenschein nehmen, sehen muß. Und was für Leute!« fuhr sie gegen Mr. Kendrew gewandt fort, »sie sehen Alles mit mißtrauischen Augen an, vom Fußkratzer vor der Hausthür bis zu den Kaminen auf dem Dach. Sie dringen zu allen Tagesstunden ein, thun alle erdenklichen unverschämten Fragen und geben Ihnen deutlich zu verstehen, daß sie Ihren Antworten nicht glauben, noch bevor Sie Zeit gehabt haben, sie auszusprechen. Eine Frau hatte neulich die Ungezogenheit, mich zu fragen, ob ich glaube, daß die Abzugsröhren in Ordnung seien und schnüffelte dabei argwöhnisch umher, noch ehe ich ihre Frage bejahen konnte. Ein flegelhafter Mensch fragte mich, »Sind sie auch sicher, daß das Haus solide gebaut ist«, und stampfte dabei wieder, ehe ich ihm eine Antwort geben konnte, mit aller Gewalt mit beiden Füßen auf den Fußboden. Kein Mensch will an den festen Grund unserer Gartenwege und an unsere Aussicht nach Süden glauben, kein Mensch will etwas von dem, was wir zur Verbesserung des Hauses angeschafft haben, übernehmen. Sobald sie von John’s artesischem Brunnen hören, machen sie ein Gesicht, als ob sie niemals Wasser tränken; Und wenn sie zufällig über meinen Hühnerhof gehen, so thun sie, als wenn sie nie gewußt hätten, daß ein frisches Ei ein gutes Ding ist.«

Mr. Kendrew lachte. »Ich habe das meiner Zeit auch Alles durchmachen müssen« sagte er. »Die Leute, die ein Haus miethen wollen, sind die gebotnen Feinde der Vermiether. Komisch genug, —— nicht wahr, Vanborough?«

Die üble Laune Vanboroughs wich vor der Anrede seines Freundes so wenig, wie vor den Worten seiner Frau. »Sie werden wohl Recht haben«, sagte er, »ich habe nicht zugehört.«

Diesesmal war sein Ton fast grob. Mrs Vanborough sah ihren Mann mit einem Ausdruck unverhohlener Ueberraschung und Verstimmung an. »John«, sagte sie. »Was ist Dir nur? Hast Du Schmerzen?

Man kann doch wohl verdrießlich sein, ohne gerade Schmerzen zu haben.«

»Es thut mir leid, daß Du Verdruß gehabt hast, im Geschäft?«

»Jawohl, im Geschäft.«

»Du solltest Mr. Kendrew zu Rathe ziehen.«

»Ich warte nur auf den Moment, wo ich das werde thun können.«

Mrs Vanborough erhob sich auf der Stelle. »Bitte, willst Du klingeln«, sagte sie »wenn der Caffee gebracht werden soll.« Als sie an ihrem Mann vorüberging, blieb sie stehen und legte ihm die Hand zärtlich an die Stirn. »Wenn ich nur die Falte da glätten könnte«, flüsterte sie ihm zu. Vanborough schüttelte ungeduldig den Kopf, Mrs Vanborough ging seufzend nach der Thür. Aber bevor sie das Zimmer verließ, rief ihr ihr Mann nach: »Sorge dafür, daß wir nicht gestört werden.«

»Ich will thun, was ich kann, John. Aber«, fuhr sie, mit einem Blick auf Mr. Kendrew, der ihr die Thür geöffnet hatte, fort, indem sie sich bemühte, wieder heiter zu erscheinen, »denkst Du auch an unsere geborenen Feinde? Auch zu dieser späten Tagesstunde können noch Leute kommen, die das Haus sehen wollen.«

Die beiden Herren waren nun allein. Ihre äußere Erscheinung bildete den schärfsten Contrast Vanborough war groß gewachsen und von dunklem Teint —— ein auffallend schöner Mann, mit einem Ausdruck großer Energie, der Niemandem entging und einer angeborenen Falschheit des Wesens, deren Spuren nur ein scharfer Beobachter in seiner Physiognomie entdecken mochte. Kendrew dagegen war klein und schmächtig und von unbeholfenem, ungeschicktem Benehmen, außer wenn ihn etwas in Affect versetzte. Dem Auge des oberflächlichen Betrachters mußte er als ein häßlicher und unbedeutender kleiner Mann erscheinen, ein Menschenkenner aber, dessen Blick unter die Oberfläche zu dringen versteht, würde eine auf Wahrheit und Treue beruhende, edle Natur gefunden haben.

Vanborough eröffnete die Unterhaltung. »Wenn Sie sich je verheirathen, Kendrew«, sagte er, »so lassen Sie sich meine Thorheit zur Warnung dienen, nehmen Sie keine Frau von der Bühne.«

»Wenn ich eine Frau, wie die Ihrige finden könnte«, erwiderte Kendrew, »so würde ich sie auf der Stelle nehmen, gleichviel ob sie auf der Bühne gewesen wäre, oder nicht. Eine schöne, kluge Frau von tadellosem Rufe, und die Sie zärtlich liebt! Was, in aller Welt, wollen Sie mehr?«

»Was ich mehr will? Sehr viel. Ich will eine Frau von vornehmer Familie und von feiner Erziehung und Bildung, die die beste Gesellschaft in England bei sich sehen und ihrem Manne zu einer distinguirten Stellung in der Welt verhelfen kann!«

»Was? eine Stellung in der Welt« rief Kendrew. »Sie, ein Mann, dem sein Vater ein Vermögen von einer halben Million unter der einzigen Bedingung hinterlassen hat, daß er die Führung eines der größten kaufmännischen Geschäfte in England übernehme?! Und Sie reden von einer Stellung, als wenn Sie nicht der Chef Ihres Hauses, sondern ein junger Commis in dem Geschäft Ihres Vaters wären. Was in aller Welt kann Ihr Ehrgeiz denn noch anstreben?«

Vanborough leerte sein vor ihm stehendes Glas und sah seinem Freund gerade in’s Gesicht. »Mein Ehrgeiz trachtet nach einer parlamentarischen Carriere, die mir ohne Zweifel offen stehen und mich in’s Oberhaus führen würde, wenn nicht meine geschätzte Gattin mir im Wege stände.

Kendrew erhob die Hand zu einer warnenden Bewegung »Reden Sie nicht so«, sagte er, »wenn es Scherz sein soll, so gestehe ich, für einen solchen Scherz keinen Sinn zu haben. Wenn Sie aber ernsthaft sprechen, so drängen Sie mir einen Argwohn auf, den ich lieber nicht hegen möchte. Lassen Sie uns lieber von etwas Anderem reden!«

»Im Gegentheil! Sprechen Sie gerade heraus. Was argwöhnen Sie?«

»Ich argwöhne, daß Sie anfangen, Ihrer Frau überdrüssig zu werden.«

»Sie ist zweiundvierzig und ich bin fünfunddreißig Jahre alt, und wir sind jetzt dreizehn Jahre mit einander verheirathet. Das Alles wissen Sie und argwöhnen nur, daß ich ihrer überdrüssig bin. Wie unschuldig! Haben Sie mir noch mehr zu sagen?«

»Wenn Sie in mich dringen, Alles zu sagen, was ich denke, so mache ich von dem Rechte eines alten Freundes Gebrauch und sage Ihnen, Sie benehmen sich gegen Ihre Frau nicht, wie Sie sollten. Es sind jetzt ungefähr zwei Jahre her, daß Sie nach langer Abwesenheit auf die Nachricht von Ihres Vaters Tode nach England zurückkehrten. Außer mit mir und ein paar anderen alten Freunden haben Sie Ihre Frau bis heute noch mit keinem Menschen bekannt gemacht. Ihre Stellung in der Geschäftswelt verschafft Ihnen den Zutritt in die Kreise der besten Gesellschaft, aber nirgends führen Sie Ihre Frau ein. Sie gehen in die Welt, als wären Sie Junggeselle. Ich weiß aus sicherer Quelle, daß Sie wirklich in den Kreisen, die Sie frequentiren, von mehr als Einem für einen Junggesellen gehalten werden. Verzeihen Sie mir, daß ich meine Meinung so offen heraus sage. Es ist Ihrer unwürdig, Ihre Frau hier vor den Augen der Welt zu verbergen, als ob Sie sich ihrer schämten.«

»Und wenn ich mich nun wirklich ihrer schämte?«

»Vanborough!«

»Gemach, gemach! Die Sache steht nicht ganz so, wie Sie sie mir darzustellen belieben, lassen Sie sich einmal ruhig die Thatsachen, wie sie sind, vorführen. Vor dreizehn Jahren verliebte ich mich in eine schöne Sängerin und heirathete sie. Mein Vater zürnte mir deshalb, und ich mußte mich entschließen, mit ihr in’s Ausland zu gehen und dort zu leben. Mein Vater vergab mir auf seinem Totenbett, und ich konnte nun mit ihr nach England zurückkehren. Im Auslande war die Vergangenheit meiner Frau für mich von keiner Bedeutung, zu Hause aber war sie mir im Wege. Einer großen Carriere gegenüber, die sich vor mir eröffnete, fand ich mich durch die engsten Bande an eine Frau geknüpft, deren Familie, wie Sie sehr gut wissen, der niedrigsten Gesellschaftsschicht angehört, mit einer Frau, deren Manieren nichts weniger als distinguirt sind, und die nichts Höheres kennt, als ihre Kinderstube, ihre Küche, ihr Piano und ihre Bücher. Ist das eine Frau, die mir dazu verhelfen kann, mir eine angemessene Stellung in der Gesellschaft zu verschaffen, die mir die socialen und politischen Hindernisse hinwegräumen und mir den Weg zum Oberhause bahnen kann? Bei Gott! Wenn je ein Mann Ursache gehabt hat, seine Frau vor den Augen der Welt zu verbergen, wie Sie es nennen, so bin ich es. Und wenn Sie die ganze Wahrheit wissen wollen, nur weil ich sie hier nicht hinreichend verborgen halten kann, will ich dieses Haus verlassen. Sie hat eine verwünschte Art, überall, wohin wir kommen, Bekanntschaften zu machen. Wenn ich noch lange hier bleibe, so wird sie auch hier bald einen Kreis von Freunden um sich versammelt haben, von Freunden, die sich ihrer als der berühmten Opernsängerin erinnern, und die sehen werden, wie ihr schuftiger Schwindler von Vater, sobald ich den Rücken kehre, betrunken in’s Haus kommt, um Geld von ihr zu borgen. Ich sage Ihnen, meine Heirath hat meine Aussichten vernichtet. Es nützt mir nichts, daß man mir von den Tugenden meiner Frau erzählt. Mit all’ ihren Tugenden ist sie für mich nur ein Block am Bein. Wenn ich nicht ein Schwachkopf gewesen wäre, hätte ich gewartet und eine Frau geheirathet, die mir etwas hätte nützen können; eine Frau von vornehmer Familie ——.«

Kendrew unterbrach seinen Wirth, indem er ihm plötzlich die Hand auf den Arm legte, mit den Worten: »Um es kurz zu machen, eine Frau wie Lady Jane Parnell.«

Vanborough stutzte. Zum ersten Mal wichen seine Blicke denen seines Freundes aus.

»Was wissen Sie von Lady Jane?« fragte er.

»Nichts. Ich verkehre nicht mit Lady Janes Gesellschaft, —— aber ich besuche bisweilen die Oper, und da habe ich Sie gestern Abend mit ihr in ihrer Loge sitzen gesehen und mit angehört, was im Parquet um mich her gesprochen wurde. Man sprach ungenirt von Ihnen als dem Begünstigten, den Lady Jane vor allen andern Männern auszeichnet. Sagen Sie sich selbst, was daraus entstehen müßte, wenn Ihrer Frau das zu Ohren käme. Sie thun Unrecht, Vanborough, in jeder Weise Unrecht, Sie beunruhigen Sie betrüben mich. Ich habe diese Erklärung nicht gesucht, aber jetzt, wo ich dazu gedrängt worden bin, mich auszusprechen, scheue ich mich nicht, meine ganze Meinung zu sagen. Prüfen Sie selbst Ihr Benehmen, bedenken Sie als gewissenhafter Mann, was Sie gegen mich geäußert haben, sonst kann ich nicht länger Ihr Freund sein. Nein! Ich wünsche jetzt nicht weiter über die Sache zu reden. Wir ereifern uns Beide und würden uns zu Aeußerungen hinreißen lassen, die besser unausgesprochen bleiben. Noch einmal, lassen Sie uns von etwas Anderem reden. Sie schrieben mir, daß Sie meine Gegenwart heute wünschten, weil Sie meines Raths in einer wichtigen Angelegenheit bedürfen. Um was handelt es sich?«

Es entstand eine Pause. In Vanboroughs Zügen verrieth sich eine gewisse Verlegenheit Er schenkte sich ein zweites Glas Wein ein und leerte es aus einen Zug, bevor er antwortete.

»Nach der Art, wie Sie mit mir über meine Frau gesprochen haben, ist es nicht ganz leicht für mich Ihnen zu sagen, um was es sich handelt«

Kendrew sah ihn erstaunt an. »Betrifft die Sache Mrs. Vanborough?« fragte er.

»Ja«

»Weiß sie davon?«

»Nein.«

»Haben Sie die Sache um ihretwillen bis jetzt geheim gehalten?«

»Ja«

»Habe ich ein Recht, Ihnen dabei einen Rath zu ertheilen?«

»Sie haben das Recht eines alten Freundes.«

»Warum geh’n Sie dann nicht offen mit der Sprache heraus?«

Vanborough war ersichtlich wieder verlegen. »Sie erfahren«, antwortete er, »die Sache besser aus dem Munde eines Dritten, den ich hier jeden Augenblick erwarte. Er kennt alle in Betracht kommenden Thatsachen ganz genau und kann sie Ihnen besser mittheilen, als ich.«

»Und wer ist dieser Dritte?

»Mein Freund Delamayn.«

»Ihr Advokat?«

»Ja, der jüngere Associé in der Firma Delamayn, Hawke und Delamayn. Kennen Sie ihn?«

»Oberflächlich. Die Familie seiner Frau war vor seiner Verheirathung mit der meinigen befreundet. Ich mag ihn nicht.«

»Sie sind heute schwer zu befriedigen. Wenn je ein Mensch eine große Zukunft vor sich hatte, so ist es Delamayn. Ein Mann, vor dem sich eine bedeutende Carriére eröffnet und der die nöthige Energie hat, um sie zu verfolgen. Er ist im Begriff, aus der Firma auszutreten und sein Glück als plaidirender Advokat zu versuchen. Jedermann ist überzeugt, daß er es weit bringen wird. Was haben Sie gegen ihn?«

»Durchaus nichts. Es begegnet ja uns Allen, daß wir Menschen schon bei der ersten Bekanntschaft nicht mögen, ohne uns über unsere Antipathie Rechenschaft geben zu können. Und so geht es mir mit Delamayn, ich mag ihn nicht, ohne recht zu wissen, warum.«

»Und doch müssen Sie sich ihn heute Abend gefallen lassen, er wird gleich hier sein.«

Und in demselben Augenblick öffnete der Diener die Thür und meldete: —— Mr. Delamayn.«



III.

Schon in der äußeren Erscheinung des Mr. Delamayn kündigte sich der Mann an, der seinen Weg im Leben unbeirrt zu verfolgen entschlossen ist. Sein bartloses Gesicht mit den scharfen Zügen, seine klaren grauen Augen, seine dünnen, fest geschlossenen Lippen sprachen deutlich: »Ich bin entschlossen, in der Welt fortzukommen; und, wenn Ihr mir im Wege seid, so müßt Ihr mir gutwillig oder mit Gewalt weichen.«

Mr. Delamayn war in der Regel gegen Jedermann höflich, aber kein Mensch hatte ihn je, auch nicht zu seinem besten Freunde, ein einziges überflüssiges Wort sagen hören. Er war ein Mann von seltener Begabung, ein Mann von nach den Gesetzen der Welt unbescholtenem Ruf, aber kein Mann, dem man vertraulich hätte die Hand reichen mögen. Es wäre Niemandem zu rathen gewesen, sich wegen eines Darlehns an ihn zu wenden, aber unbedenklich hätte man ihm eine Summe ungezählten Goldes anvertrauen dürfen. In Verlegenheiten privater und persönlicher Natur würde man Abstand genommen haben, ihn um seinen Beistand zu bitten; aber bei Verlegenheiten, die sich zu einer öffentlichen Verhandlung eigneten, würde Jeder sich gern an Delamayn gewandt und gesagt haben: »Das ist mein Mann« Er war ein Mann des sichern Erfolgs, man brauchte ihn nur anzusehen, um davon überzeugt zu sein.

»Mr. Kendrew ist einer meiner ältesten Freunde«, sagte Mr. Vanborough, zu dem Advokaten gewandt. »Was Sie mir auch zu sagen haben, sprechen Sie es ruhig vor ihm aus. Nehmen Sie ein Glas Wein?«

»Nein, ich danke.«

»Bringen Sie mir etwas Neues?«

»Ja.«

»Haben Sie die Gutachten der beiden von uns consultirten Advokaten bei sich?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil wir ihrer nicht bedürfen. Wenn die von Ihnen angegebenen Thatsachen richtig sind, so kann über die Anwendbarkeit des betreffenden Gesetzes auf dieselben nicht der geringste Zweifel obwalten.«

Mit diesen Worten zog Mr. Delamayn ein Schriftstück aus der Tasche und legte es vor sich auf den Tisch.

»Was ist das?« fragte Mr. Vanborough.

»Die schriftliche Darlegung der Ihre Verheirathung begleitenden Umstände.«

Mr. Kendrew stutzte und fing erst jetzt an, sich für die Unterhaltung zwischen Vanborough und seinem Advokaten zu interessiren, von der er bisher keine Notiz genommen hatte.

Mr. Delamayn sah ihn einen Augenblick an und fuhr dann fort:

Es ist die Darlegung Ihres Falls, wie Sie ihn selbst vorgetragen haben und wie ihn unser erster Schreiber zu Papier gebracht hat.«

»Wozu soll uns das jetzt noch nützen?« fragte Vanborough; »Sie haben ja die nöthigen Erkundigungen über die Nichtigkeit meiner Angaben eingezogen, nicht wahr?«

»Und haben gefunden, daß ich im Rechte bin?«

»Ich habe gefunden, daß Sie im Rechte sind, wenn die hier niedergeschriebenen Angaben richtig sind. Ich möchte mich darüber vergewissern, daß kein Mißverständnis; zwischen Ihnen und meinem Schreiber stattgefunden hat. Es handelt sich hier um eine sehr ernste Angelegenheit. Ich soll die Verantwortlichkeit für eine von mir auszusprechende Ansicht übernehmen, die zu den nachhaltigsten Consequenzen führen kann, und ich wünsche mir daher, vor allen Dingen die feste Ueberzeugung zu verschaffen, daß meine Ansicht unbestreitbare Thatsachen zu ihrer Grundlage hat. Ich muß einige Fragen an Sie richten. Bitte, werden Sie nicht ungeduldig, es soll nicht lange dauern.«

Er blickte auf das vor ihm liegende Schriftstück und fing an zu fragen.

»Sie wurden vor dreizehn Jahren in Inchmallok in Irland getraut?

»Ja«

»Ihre Frau, damals Miß Anne Silvester, war katholisch?«

»Ja«

»Die Eltern Ihrer Frau waren gleichfalls katholisch?«

»Ihre Eltern gehörten der englischen Hochkirche an und Sie wurden auf den Glauben dieser Kirche getauft und in demselben erzogen?«

»Vollkommen richtig.«

»Miß Anne Silvester weigerte sich, Sie zu heirathen, weil sie zu einer andern Kirche, als Sie, gehörte?«

»So ist es.«

»Sie überwanden ihre Bedenken durch Ihre Bereitwilligkeit, zum Katholicismus überzutreten?«

»Es war der sicherste Weg, sie zu einer Verbindung mit mir zu bestimmen, und mir war die Sache gleichgültig.«

Sie wurden förmlich in den Schooß der katholischen Kirche aufgenommen?«

»Ich machte alle dazu erforderlichen Ceremonien durch.«

»Im Ausland oder in England?«

»Im Ausland.«

»Wie lange vor dem Tage Ihrer Heirath fand Ihr Uebertritt statt?«

»Sechs Wochen.«

Den Blick fortwährend auf das Schriftstück geheftet, verglich Mr. Delamayn diese letzte Antwort Vanborough’s besonders genau mit der desfallsigen von dem Schreiber aufgenommenen Angabe.

»Ganz in Ordnung«, sagte er, und fuhr fort zu fragen.

»Der Priester, der Sie traute, war ein gewisser Ambrosius Redman, ein junger Mann, der sein Amt erst seit kurzer Zeit übernommen hatte?«

»Fragte er Sie, ob Sie beide katholisch seien?«

»Ja.«

»That er noch weitere Fragen?

»Nein.«

»Sind Sie ganz sicher, daß er Sie nicht gefragt hat, ob Sie beide, bevor Sie sich von ihm trauen ließen, seit länger als einem Jahr katholisch seien?«

»Vollkommen sicher.«

»Dann muß er einen Theil seiner Obliegenheiten vergessen haben, oder hat sie vielleicht als Anfänger gar nicht gekannt. Fiel es weder Ihnen, noch Ihrer Braut ein, ihn über diesen Punkt aufzuklären?

Weder meine Braut noch ich wußten, daß es einer Aufklärung bedürfe.«

Mr. Delamayn faltete das Schriftstück zusammen und steckte es wieder in die Tasche.

»Es stimmt«, sagte er, »bis in die kleinsten Einzelheiten.«

Vanborough’s dunkelfarbiger Teint vermochte doch eine gewisse Blässe nicht zu verbergen. Er sah Kendrew verstohlen an und wandte sich dann wieder ab.

»Nun«, sagte er zu Mr. Delamayn; »bitte ich um Ihre Ansicht. Was sagt das Gesetz?«

»Die Bestimmungen des Gesetzes«, antwortete dieser, »sind vollkommen klar und unzweideutig. Ihre Heirath mit Miß Anne Silvester ist null und nichtig.«

Kendrew sprang auf.

»Was wollen sie damit sagen?« fragte er finster.

Der Advokat sah ihn mit höflichem Erstaunen an. Wenn Mr. Kendrew eine Auskunft wünschte, warum erbat er sie sich in diesem Ton? »Wünschen Sie eine nähere Mittheilung über die Bestimmungen des Gesetzes?« fragte er.

»Allerdings.«

Mr. Delamayn gab nun den Inhalt des Gesetzes an, wie es noch heutigen Tages zur Schande der englischen Gesetzgebung und der englischen Nation besteht.

»Durch ein irisches Statut Georg’s II.«, sagte er, »wird jede von einem katholischen Priester vollzogene Heirath zwischen zwei Protestanten oder einem Katholiken und einer Person, die innerhalb der letzten zwölf Monate vor der Heirath Protestant gewesen ist, für null und nichtig erklärt. Und in Gemäßheit zweier anderer, unter derselben Regierung erlassenen Acte macht sich der Priester, der eine solche Heirath vollzieht, eines schweren Verbrechens schuldig. Für die irische Geistlichkeit der übrigen Confessionen sind diese Bestimmungen aufgehoben, für die katholischen Priester aber bestehen sie unveränderlich fort.«

»Das ist ja ein in unserer Zeit undenkbarer Zustand der Dinge!« rief Kendrew aus.

Delamayn lächelte. Die Illusion, daß wir in einem besonders erleuchteten Zeitalter leben, bestand für ihn schon lange nicht mehr.

»Das irische Ehegesetz«, fuhr er fort, »erscheint noch in anderen Beziehungen als eine merkwürdige Anomalie. Ein katholischer Priester macht sich, wie gesagt, eines schweren Verbrechens schuldig, wenn er eine Heirath vollzieht, die von einem Geistlichen jeder anderen Confession mit vollkommen gesetzlicher Gültigkeit vollzogen werden könnte. Nach einem anderen Gesetz kann ein katholischer Priester mit gesetzlicher Gültigkeit eine Heirath vollziehen, durch deren Vollziehung ein Geistlicher einer anderen Confession sich eines Verbrechens schuldig machen würde. Und nach noch einem anderen Gesetz begehen ein presbyterianischer und ein nonconformistischer Geistlicher ein Verbrechen, wenn sie eine Heirath vollziehen, die ein Geistlicher der Staatskirche ohne Anstand vollziehen dürfte. Ein sonderbarer, in den Augen von Ausländern vielleicht scandalöser Zustand der Dinge! In England scheint man keinen Anstoß daran zu nehmen. Um auf unseren Fall zurückzukommen, steht es damit so: Mr. Vanborough ist ein unverheiratheter Mann, Mrs. Vanborough ist ein unverheirathetes Frauenzimmer, ihr Kind ist ein uneheliches, und der Priester Ambrosius Redman hat die auf das Verbrechen ihrer Trauung stehende gesetzliche Strafe verwirkt.«

»Ein schmachvolles Gesetz« sagte Kendrew.

»Aber ein Gesetz«, lautete die ganze Antwort Delamayn’s.

Bis jetzt hatte Vanborough noch kein Wort geäußert. Mit fest geschlossenen Lippen, die Augen unverwandt aus den Tisch geheftet, saß er da. Nach einer Pause wandte sich Kendrew an ihn und brach das Schweigen mit der Frage: »Bezog sich der Rath, den Sie von mir wünschten, auf diese Angelegenheit?«

»Ja.«

»Soll ich das dahin verstehen, daß Sie in der Voraussicht dieser Conferenz und ihres möglichen Ergebnisses noch irgend welche Zweifel über das Verfahren, das Sie einzuschlagen verpflichtet sind, hegten? Soll ich wirklich glauben, daß Sie einen Augenblick zaudern können, diesen schrecklichen gesetzlichen Mangel Ihrer Ehe zu beseitigen und die Frau, die Ihr Weib vor Gott ist, auch vor dem Gesetz zu ihrem Weibe zu machen?«

»Wenn Sie die Sache in diesem Lichte auffassen, wenn Sie keine Rücksicht darauf nehmen wollen ——«

»Ich wünsche eine präcise Antwort, auf meine Frage, Ja oder Nein.«

»Lassen Sie mich reden, wenn ich bitten darf; jeder Mensch hat doch wohl das Recht, sich über seine Intentionen zu erklären?«

Kendrew unterbrach ihn durch eine Handbewegung, in der sich der Abscheu, der ihn erfüllte, deutlich aussprach. »Ich will Sie der Mühe weiterer Erklärungen überheben«, sagte er, »indem ich Ihr Haus verlasse. Sie haben mir eine Lehre gegeben, die ich nicht vergessen werde. Ich weiß jetzt, daß ein Mensch den andern von Jugend auf gekannt und sich doch vollständig in ihm geirrt haben kann. Ich schäme mich, jemals Ihr Freund gewesen zu sein. Von diesem Augenblick an sind Sie für mich ein Fremder.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

»Ein sonderbar aufgeregter Mann«, bemerkte Mr. Delamayn. »Ich bitte jetzt doch um ein Glas Wein.«

Vanborough erhob sich, ohne Notiz von Delamayn’s Worten zu nehmen, und ging ungeduldig im Zimmer auf und ab. Bei aller Niedrigkeit seiner Gesinnung machte ihn doch der Verlust seines ältesten Freundes einen Augenblick stutzig.«

»Das ist ’ne verfluchte Geschichte, Delamayn«, sagte er. »Was würden Sie mir rathen zu thun?«

Delamayn schüttelte den Kopf und schlürfte ruhig seinen Rothwein. »Ich muß mich jedes Raths in dieser Sache enthalten«, antwortete er. »Ueber die Feststellung der Anwendbarkeit des bestehenden Gesetzes auf Ihren Fall hinaus, übernehme ich keinerlei Verantwortlichkeit.«

Vanborough setzte sich wieder an den Tisch, um sich den verhängnißvollen Schritt einer Lösung seiner ehelichen Bande nochmals zu überlegen. Bis jetzt hatte er zu einer solchen Erwägung nicht viel Zeit gehabt. Hätte er nicht so lange auf dem Continent gelebt, so wäre ihm die Frage des gesetzlichen Mangels seiner Ehe vielleicht längst nahe getreten. Nun aber war sie erst bei Gelegenheit einer im Laufe dieses Sommers zufällig stattgehabten Unterhaltung mit Delamayn vor ihm aufgetaucht.

So saßen beide Männer eine Weile schweigend da. Das Schweigen wurde erst durch das Erscheinen eines Dieners im Eßzimmer unterbrochen.

Vanborough sah auf und brach in die ärgerlichen Worte aus: »Was willst Du hier?«

Der so Angeredete war ein wohlerzogener englischer Diener, mit andern Worten eine menschliche Maschine, die, einmal aufgezogen, unbeirrt ihre Functionen vollzieht. Er hatte gewisse Worte zu sagen und sagte sie.

»Es hält eine Dame vor der Thür, Herr, die das Haus zu besehen wünscht.«

»Das Haus ist zu dieser späten Abendstunde nicht zu besehen.«

Die Maschine hatte eine Bestellung auszurichten und richtete sie aus.

»Die Dame läßt sich entschuldigen, Herr. Ich soll bestellen, daß sie sehr eilig sei. Dieses Haus sei das letzte auf der Liste ihres Hausmaklers, und ihr Kutscher, der die Gegend nicht kenne, habe ungeschickter Weise den Weg verfehlt.«

»Halt’s Maul! und sag’ der Dame, sie soll zum Teufel gehen.«

Delamayn legte sich, theilweise im Interesse seines Clienten, theilweise aus Schicklichkeitsgefühl in’s Mittel.

»Sie legen«, sagte er, »glaub’ ich, einigen Werth darauf, dieses Haus zu vermiethen.«

»Gewiß thue ich das!«

»Thun Sie unter diesen Umständen Recht, einer augenblicklichen Verstimmung wegen sich die Gelegenheit, vielleicht einen Miether zu finden, entgehen zu lassen?«

»Recht oder nicht, es ist unerträglich, sich von einem Fremden stören zu lassen.«

»Wie Sie wollen, ich denke nicht daran, mich in Ihre Angelegenheiten zu mischen. Ich will Sie nur noch bitten, bei Ihrem Entschluß auf mich als Ihren Gast keine Rücksicht zu nehmen.«

Der Diener stand noch immer unbeweglich wartend da. Vanborough gab widerwillig nach. »Nun gut, laß sie hereinkommen. Aber sorge dafür, daß, wenn sie hier an’s Zimmer kommt, sie nur hineinsieht und gleich weiter geht. Wenn sie Fragen zu thun hat, muß sie sich an ihren Makler wenden.«

Delamayn ergriff abermals das Wort, diesmal im Interesse der Frau vom Hause. »Scheint es Ihnen nicht gerathen, Mrs. Vanborough um ihre Meinung zu fragen, bevor Sie sich entscheiden?

»Wo ist Mrs. Vanborough?«

»Im Garten oder im Park, Herr, ich weiß es nicht; ganz gewiß.«

»Ich kann sie nicht erst überall suchen lassen. Sag’ dem Hausmädchen Bescheid und führe die Dame in’s Haus.«

Der Diener ging hinaus. Delamayn schenkte sich ein zweites Glas Wein ein.

»Vortrefflicher Rothwein!« sagte er. »Beziehen Sie ihn direct von Bordeaux?«

Vanborough antwortete nicht. Er war wieder in Gedanken über seine Sitution versunken. Er hatte den Kopf auf die eine Hand gestützt, während er an den Nägeln der andern nagte, und zwischen den Zähnen murmelte: »Was soll ich thun?« In diesem Augenblick ließ sich das Rauschen eines seidenen Kleides auf dem Corridor vernehmen. Die Thür öffnete sich, und die Dame, welche das Haus besehen wollte, trat in das Eßzimmer.



IV.

Die Dame war von schlankem Wuchs und sehr eleganter Erscheinung, höchst geschmackvoll in prächtige Stoffe, aber einfach gekleidet. Ueber dem Gesicht hing ihr ein leichter Sommerschleier. Sie lüftete denselben und entschuldigte sich in der ungezwungenen Weise einer vornehmen Frau dafür, daß sie die Herren beim Nachtisch störe.

»Verzeihen Sie mir, bitte, daß ich zu so ungelegener Zeit bei Ihnen eindringe. Aber ich brauche nur einen Blick in das Zimmer zu thun, um Sie dann nicht weiter zu belästigen.«

Diese Worte hatte sie an Mr. Delamayn gerichtet, der ihr zufällig zunächst stand. Als sie aber den Blick über das Zimmer schweifen ließ, fiel ihr Auge auf Vanborough. Sie stutzte mit einem lauten Ausruf des Erstaunens.

»Sie!« sagte sie. »Guter Gott! Wer hätte denken sollen, daß ich Sie hier treffen würde?

Vanborough seinerseits stand wie versteinert da.

»Lady Jane!« rief er aus. »Ist es möglich ?«

Dabei aber sah er sie kaum an. Mit Blicken, in denen sich sein Schuldbewußtsein nur zu deutlich malte, sah er nach der Gartenthür. Er mußte sich sagen, daß seine Situation gleich schrecklich wäre, wenn seine Frau erfuhr, wer Lady Jane sei, oder wenn Lady Jane erfuhr, daß er ein verheiratheter Mann sei.

Im Augenblick war Niemand im Garten sichtbar. Wenn ihm das Glück nur irgend günstig war, so mußte es ihm gelingen, Lady Jane noch rechtzeitig zum Fortgehen zu bewegen. Sie, die keine Ahnung von dem wahren Sachverhalt hatte, reichte ihm freundlich die Hand.

»Heute zum ersten Mal muß ich an Magnetismus glauben«, sagte sie, »Unsere Begegnung ist ein Beweis des Wirkens geheimnißvoller Kräfte, Mr. Vanborough. Eine kranke Freundin wünscht ein möblirtes Haus in Hampstead, ich übernehme es, ein solches Haus für sie zu suchen, und an dem Tage, wo ich nach langem Umherfahren das letzte auf meiner Liste stehende Haus betrat, essen Sie zufällig in demselben bei einem Freunde zu Mittag. Merkwürdig. »Ich vermuthe«, fuhr sie zu Mr. Delamayn gewandt, fort, daß ich die Ehre habe, in Ihnen den Eigenthümer des Hauses zu begrüßen.« Noch bevor einer der Herren ein Wort antworten konnte, fiel ihr Blick auf den Garten. »Was für reizende Anlagen! Aber sehe ich da nicht eine Dame im Garten? Ich hoffe, ich habe sie nicht vertrieben.« Sie sah sich um und wandte sich an Vanborough mit der Frage: »Vermuthlich die Frau Ihres Freundes?« und wartete dieses Mal auf eine Antwort.«

Was konnte Vanborough in seiner augenblicklichen Situation antworten?

Mrs. Vanborough hatte sich dem Hause bereits so weit genähert, daß man deutlich hören konnte, wie sie im Tone der Frau vom Hause einem der Gartenarbeiter ihre Ordres gab. Wenn er gesagt hätte, daß sie nicht die Frau seines Freundes sei, so würde Lady Jane unzweifelhaft weiter gefragt haben, wer sie denn sei.

Eine Ausflucht zu erfinden würde Zeit gekostet und seiner Frau Gelegenheit gegeben haben, Lady Jane’s Anwesenheit zu entdecken. Vanborough, der diese Schwierigkeiten mit dem raschen Scharfblick eines Verzweifelten überschaute, ergriff den kürzesten und kühnsten Weg der furchtbaren Verlegenheit zu entgehen. Er beantwortete Lady Jane’s Frage bejahend mit einem schweigenden Kopfnicken, durch welches er seine Frau, in der Hoffnung, daß Delamayn nichts davon merken werde, rasch zu dessen Frau machte.

Aber dem scharfen Auge Delamayn’s war das bedeutungsvolle Kopfnicken Vanborough’s nicht entgangen.

»Er hielt zwar die erste Regung des Erstaunens über das, was sich Vanborough gegen ihn erlaubte, zurück, begriff aber sofort, daß hier ein falsches Spiel gespielt werde und daß Vanborough den keinen Augenblick zu duldenden Versuch mache, ihn in die Sache zu verwickeln. Entschlossen, seinen Clienten in’s Gesicht Lügen zu strafen, trat er auf denselben zu. Die gesprächige Lady Jane unterbrach ihn, noch ehe er den Mund öffnen konnte.

»Dürfte ich mir eine Frage erlauben? Liegt das Haus nach Süden? Ach gewiß, ich sehe es ja aus dem Stand der Sonne. Diese und die beiden andern Zimmer die ich gesehen habe, sind wohl die einzigen zu ebner Erde. Und ist es ruhig hier? Ach natürlich, ein reizendes Haus. Es wird meiner Freundin sicher viel besser gefallen, als alle die ich bisher gesehen habe. Wollen Sie es mir bis morgen an der Hand lassen?« Hier unterbrach sie ihren Redefluß einen Augenblick, um Athem zu schöpfen und gewährte dadurch Mr. Delamayn zum ersten Mal die Möglichkeit auch seinerseits etwas zu sagen.

»Ich bitte um Vergebung, gnädige Frau«, fing er an. »Ich kann in der That nicht —— ——«

In diesem Augenblick trat Vanborough von rückwärts dicht an den Advokaten heran und verhinderte ihn weiter zu reden, indem er ihm im Vorübergehen in’s Ohr flüsterte:

»Um Gottes willen widersprechen Sie mir nicht! Meine Frau kommt eben herein!«

Lady Jane aber, die Delamayn noch immer für den Herrn vom Hause hielt, fuhr fort die Hausangelegenheiten zu betreiben, indem sie sagte:

»Sie scheinen zu schwanken, verlangen Sie zuverlässige Auskunft über uns?« Mit einem spöttischen Lächeln forderte sie ihren Freund auf ihr zu Hilfe zu kommen, »Mr. Vanborough!«

Vanborough, der sich ängstlich immer näher an das Fenster heranschlich, entschlossen seine Frau auf jede Weise aus dem Zimmer fern zu halten, schien diese Anrede ganz zu überhören Lady Jane ging ihm nach und klopfte ihm ungeduldig mit dem Sonnenschirm auf die Schulter.

In diesem Augenblick erschien Mrs. Vanborough an der Außenseite der Glasthür.

»Ich störe doch nicht?« fragte sie ihren Mann, nachdem sie Lady Jane einen Augenblick scharf in’s Auge gefaßt hatte. »Die Dame scheint eine alte Bekannte von Dir sein.« Der Ton, in dem sie diese Worte sprach, war vermuthlich in Folge des Schlags mit dem Sonnenschirme so sarkastisch, daß man darauf gefaßt sein mußte, im nächsten Augenblick eine Aeußerung der Eifersucht zu vernehmen.

Lady Jane fühlte sich aber nicht einen Augenblick unangenehm berührt. —— Durch ihr vertrautes Verhältniß zu dem Mann ihrer Neigung und durch ihre Stellung als eine vornehme junge Wittwe, durfte sie sich doppelt geschützt glauben. Sie verneigte sich gegen; Mrs. Vanborough mit der vollendeten Höflichkeit der Frauen ihres Standes. Ich habe wohl die Ehre die Frau vom Hause vor mir zu sehen?« sagte sie mit einem graziösen Lächeln.

Mrs. Vanborough verneigte sich kühl, trat in’s Zimmer und antwortete erst dann: »Ja.«

»Wollen Sie mich gefälligst vorstellen«, sagte Lady Jane zu Vanborough gewandt.

Vauborough gehorchte, ohne seine Frau dabei anzusehen und ohne ihren Namen zu nennen.

»Lady Jane Parnell«, sagte er leichthin. »Erlauben Sie mir, Sie an Ihren Wagen zu geleiten«, fügte er hinzu, indem er ihr seinen Arm bot. »Ich will schon dafür sorgen, daß Sie das Haus an der Hand behalten, Sie können mir die Sache getrost überlassen.«

Aber Lady Jane war nicht gewohnt von dannen zu gehen, ohne einen angenehmen Eindruck hinterlassen zu haben, sie verstand es immer und überall, —— wenn auch in einer gegen die verschiedenen Geschlechter sehr verschiedenen Weise ——, liebenswürdig zu sein. Lady Jane wollte nicht fortgehen, bevor es ihr gelungen war, die eisige Kälte der Hausfrau in eine mildere Stimmung zu verwandeln.

»Ich muß mich wiederholt dafür entschuldigen daß ich zu so ungelegener Zeit hier eingedrungen bin«, sagte sie zu Mrs. Vanborough, »und, wie es scheint, die Behaglichkeit der beiden Herren so unangenehm gestört habe. Mr. Vanborough machte ein Gesicht, als ob er mich hundert Meilen wegwünschte, und Ihr Mann ——« bei diesen Worten hielt sie inne und sah auf Mr. Delamayn, »verzeihen Sie, daß ich mich so vertraulich ausdrücke, ich habe noch nicht die Ehre den Namen Ihres Herrn Gemahls zu kennen.«

In sprachlosem Staunen folgte Mrs. Vanborough mit ihrem Blick den Augen Lady Jane’s und ließ denselben auf dem Advokaten ruhen, der ihr persönlich vollkommen fremd war.

Delamayn, der schon lange auf einen Moment harrte, wo er sich erklären könnte, ließ die sich ihm zum zweiten Mal darbietende Gelegenheit diesmal nicht unbenützt vorübergehen.

»Ich bitte um Vergebung«, sagte er, »hier waltet ein Mißverständniß ob, an dem ich völlig unschuldig bin. Ich bin nicht der Mann dieser Dame.«

Jetzt war die Reihe an Lady Jane, erstaunt zu sein. Sie sah Delamayn fragend an, aber vergebens. Er hatte sich aus dem Spiel gezogen und das war ihm genug, er wollte nichts weiter mit der Sache zu thun haben. Er zog sich schweigend in einen entfernten Winkel des Zimmers zurück. Jetzt wandte sich Lady Jane an Vanborough.

»Wenn ich einen Mißgriff gemacht habe«, sagte sie, »so sind jedenfalls Sie verantwortlich dafür. Sie haben meine Frage, ob diese Dame die Frau Ihres Freundes sei, ganz bestimmt bejahend beantwortet.

»Wie?!!« rief Mrs Vanborough laut in finster ungläubigen Tone.

Der angeborene Stolz der großen Dame fing an, die leichte Hülle äußerer Höflichkeit zu durchbrechen.

»Ich kann noch lauter reden, wenn Sie es wünschen«, sagte sie. Ich habe es von Mr. Vanborough daß Sie die Frau jenes Herrn seien.«

Vanborough flüsterte seiner Frau wüthend durch die Zähne die Worte zu: »Die ganze Geschichte ist ein Mißverständnis, geh’ wieder in den Garten.«

Mrs. Vanborough wich einen Augenblick dem Entsetzen über den Ausdruck der furchtbaren Leidenschaftlichkeit und des Schreckens, die sich in den Zügen ihres Mannes walten.

»Wie siehst Du mich an?! Wie sprichst Du mit mir?!«

Er aber wiederholte nur die Worte: »Geh’ in den Garten.«

Lady Jane fing an zu merken, was Delamayn schon einige Minuten früher klar geworden war, daß hier in der Villa in Hampstead etwas nicht in Ordnung sei. Mit der Stellung der Frau vom Hause mußte es unter allen Umständen eine eigenthümliche Bewandtniß haben. Und da das Haus allem Anscheine nach Mr. Vanboroughs Freund gehörte, so mußte dieser Freund, trotz seiner ablehnenden Erklärung, in einer oder der anderen Weise für diese Stellung verantwortlich sein. Von dieser falschen aber sehr natürlichen Voraussetzung ausgehend ließ Lady Jane ihr Auge einen Augenblick auf Mrs. Vanborough mit einem geringschätzig, spöttisch fragenden Ausdruck ruhen, der das schüchternste Weib außer sich gebracht haben würde. Die in diesem Blick liegende Insulte traf die fein empfindende Frau wie ein Stich in’s Herz. Wieder wandte sie sich an ihren Mann, dieses Mal mit der ganz rückhaltlosen Frage:

»Wer ist die Dame da?«

Lady Jane war nicht die Frau, sich durch einen solchen Vorfall einschüchtern zu lassen. Im Vollgefühl ihrer Würde sagte sie:

»Mr. Vanborough, Sie haben mir vorhin angeboten, mich an meinen Wagen zu führen. Ich fange an zu begreifen, daß ich besser gethan hätte, von Ihrem Anerbieten sofort Gebrauch zu machen. Geben Sie mir Ihren Arm, wenn ich bitten darf.

»Halt!« rief Mrs. Vanborough. »Ihre Blicke sprachen Verachtung aus, Ihre Worte lassen nur eine einzige Erklärung zu. Ich bin hier das Opfer einer schändlichen Täuschung, die ich mir noch nicht zu erklären vermag. So viel aber weiß ich gewiß, ich dulde keine Beleidigung in meinem eigenen Hause. Ich verbiete meinem Manne, Ihnen den Arm zu geben!«

»Ihrem Manne?«

Lady Jane sah Vanborough an, Vanborough, den sie liebte, den sie für unverheirathet gehalten hatte, gegen den sie bis zu diesem Augenblick keinen schlimmeren Verdacht gehegt hatte, als daß er die Schwächen seines Freundes zu beschönigen suche.

Mit einem Male waren ihr vornehmer Ton und ihr vornehmes Benehmen verschwunden. Das Gefühl der Beleidigung, die ihr angethan war, die Eifersucht, die sich in ihr regen mußte, wenn diese Frau wirklich Vanborough’s Gattin war, ließ plötzlich die menschliche Natur unverhüllt bei ihr hervortreten. Mit hochgerötheten Wangen und funkelnden Blicken rief sie in hochfahrendem Ton:

»Wenn Sie mir noch etwas zu sagen haben, so thun Sie es gefälligst auf der Stelle. Haben Sie sich der Welt, haben Sie sich mir fälschlich als einen unverheiratheten Mann präsentirt? Ist diese Dame Ihre Frau?«

»Höre sie nur, sieh sie nur an!« rief Mrs. Vanborough gegen ihren Mann gewandt. Aber schaudernd fuhr sie zurück. »Er zaudert«, sagte sie zitternd vor sich hin, »Gerechter Gott, er zaudert.«

Lady Jane wiederholte in strengem Ton ihre Frage:

»Ist diese Dame Ihre Frau?«

Er raffte sich mit dem verzweifelten Muth der Niederträchtigkeit auf und antwortete:

»Nein!«

Mrs. Vanborough wankte und mußte sich an den weißen Fenstervorhängen halten um nicht zu fallen. Sie starrte ihren Mann an und fragte sich: »Wer von uns Beiden ist hier wahnsinnig geworden? er oder ich?«

Lady Jane athmete tief auf: Er war nicht verheirathet, er war nur ein liederlicher Junggeselle und die Liederlichkeit eines Junggesellen ist zwar tadelnswerth aber nicht unbesserlich. Man kann ihm seinen Lebenswandel scharf vorhalten und mit Entschiedenheit darauf bestehen, daß er ihn ändere. Man kann ihm aber dann auch vergeben und ihn heirathen. Mit vollkommen richtigem Tact sprach Lady Jane gegen Vanborough ihre Mißbilligung seines Verhaltens aus, ohne ihm jede Hoffnung für die Zukunft abzuschneiden.

»Ich habe hier eine für mich sehr peinliche Entdeckung machen müssen«, sagte sie zu ihm, »ich muß es Ihnen überlassen, mich dieselbe vergessen zu machen! Leben Sie wohl.«

Der Blick mit dem sie diese Abschiedsworte begleitete, machte Mrs. Vanborough rasend. Sie stürzte an die Thür und versperrte Lady Jane den Weg.

«Nein«, rief sie, »noch dürfen Sie nicht fort von hier.«

Vanborough trat vor, um sich in’s Mittel zu legen. Seine Frau warf ihm einen fürchterlichen Blick der Verachtung zu. »Dieser Mensch lügt«, sagte sie, »ich bin es mir selbst schuldig Ihnen das zu beweisen.« Sie zog an einer neben ihr befindlichen Klingel und hieß den darauf eintretenden Diener ihre Schreibmappe aus dem anstoßenden Zimmer hereinbringen.

Sie verharrte in ihrer Stellung und hielt den Blick fest auf Lady Jane gerichtet, während sie ihrem Manne den Rücken zukehrte Schutzlos und verlassen stand sie da auf den Trümmern ihres ehelichen Glücks, erhaben über den Verrath ihres Mannes, die Gleichgültigkeit des Advokaten und die Verachtung ihrer Nebenbuhlerin In diesem schrecklichen Augenblick erschien sie wie verklärt in dem Glanze ihrer ehemaligen Schönheit. Die große Künstlerin, welcher einstmals in den Tagen ihres Ruhmes, wenn sie fremde Leiden auf der Bühne darstellte, eine athemlose Menge gelauscht hatte, stand jetzt, in ihrem eigenen Leiden größer da als je, während die drei Anwesenden sie athemlos betrachtetem bis sie aufs Neue das Wort ergriff.

Der Diener trat mit der Schreibmappe ein, sie nahm ein Papier aus derselben und reichte es Lady Jane.

»Ich war als Mädchen Opernsängerin und um dem bösen Leumund, dem Frauen in dieser Stellung ausgesetzt sind, zu begegnen, habe ich mich bei meiner Heirath mit diesem Document versehen, das für sich selbst spricht. Selbst in der höchsten Gesellschaft werden. solche Papiere respectirt!«

Lady Jane betrachtete das Document, es war ein Trauschein. Sie erbleichte und winkte Vanborough zu sich heran indem sie ihn fragte: »Wollen Sie mich hintergehen?«

Vanborough wandte sich nach dem Advokaten um, der noch immer in seinem Winkel saß und mit unerschütterlicher Ruhe der Dinge harrte, die da kommen würden. »Darf ich Sie bitten einen Augenblick herzukommen«, sagte er.

Delamayn erhob sich und trat heran. Jetzt wandte sich Vanborough an Lady Jane und sagte:

»Wenden Sie sich gefälligst an meinen Advokaten der kein Interesse dabei haben kann, Sie zu hintergehen.«

»Ich werde mich auf eine Darlegung des Thatbestandes beschränken«, sagte dieser, »und würde jede weitere Erklärung ablehnen müssen.«

»Mehr wird auch nicht von Ihnen verlangt.«

Mrs. Vanborough, die diesem kurzen Gespräch mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt war, trat jetzt schweigend einen Schritt vor. Der stolze Muth, der sie der offenen Insulte gegenüber beseelt hatte, verließ sie, als sie inne ward, daß eine ungeahnte Enthüllung über sie hereinzubrechen drohe. Eine namenlose Angst bemächtigte sich ihrer.

Lady Jane überreichte dem Advokaten den Trauschein.

»Beantworten Sie mir bitte«, sagte sie ungeduldig, »kurz die Frage, was bedeutet dieser Schein?«

»Ganz kurz, gnädige Frau«, antwortete Delamayn, »dieser Schein ist ein werthloses Stück Papier.«

»Er ist also nicht verheirathet?«

»Nicht verheirathet.«

Nach einer kurzen Pause warf Lady Jane der schweigend neben ihr stehenden Mrs. Vanborough einen durchdringenden Blick zu und fuhr entsetzt zurück. »Bringen Sie mich fort«, rief sie mit dem Ausdruck des Schauders vor dem geisterhaft bleichen Antlitz mit den starren unheimlich funkelnden Augen, das ihr gegenüber stand. »Bringen Sie mich fort von hier, das Weib will mir an’s Leben!«

Mr. Vanborough reichte ihr seinen Arm und führte sie hinaus. Im Zimmer herrschte Todtenstille. Mrs Vanborough folgte den Fortgehenden mit demselben furchtbar starren Blick, bis sich die Thür hinter ihnen schloß. Der Advokat, der sich nun mit der verleugneten und verlassenen Frau allein befand, legte den werthlosen Schein schweigend auf den Tisch. Eine kurze Weile hatte sie abwechselnd auf den Schein und auf ihn geblickt, als sie plötzlich, ohne einen Schrei auszustoßen und ohne daß sie einen Versuch gemacht hätte, sich aufrecht zu erhalten, bewußtlos dicht vor ihm zu Boden sank.

Er hob sie auf und legte sie, in der Erwartung, daß Vanborough gleich wieder kommen werde, auf das Sopha. Bei dem Anblick ihres, noch in diesem Zustande der Bewußtlosigkeit schönen Gesichts, mußte selbst dieser Mann in seiner unerschütterlichen Kälte sich gestehen, daß ein hartes Schicksal diese Frau betroffen habe.

Aber die Verantwortlichkeit dafür hatte allein das Gesetz zu tragen.

Draußen ließ sich das Rollen eines Wagens vernehmen. Lady Jane fuhr weg. Delamayn fragte sich, ob der Mann dieser unglücklichen Frau zurückkommen werde; der Mann dieser Frau! So mächtig ist die Gewohnheit, selbst Delamayn sah trotz des Gesetzes und des eben Vorgefallenen noch immer in Vanborough den Mann dieser Frau.

Aber er kam nicht! Eine Minute nach der andern verging und noch immer erschien er nicht.

Es schien nicht gerathen, das Haus zu arlarmiren. Nur ungern mochte er allein die Verantwortlichkeit dafür übernehmem daß die Dienstboten von Dem, was vorgefallen war, Kenntniß erhielten. Aber noch immer lag sie bewußtlos da. Die kühle Abendluft drang durch das geöffnete Fenster in’s Zimmer und bewegte die leichten Bänder ihrer Spitzenhaube und die kleine Haarlocke, die sich gelöst hatte und auf den Hals herabhing. Da lag sie, das Weib, das Vanborough geliebt hatte, die Mutter seines Kindes.

Endlich mußte Delamayn sich entschließen, Hilfe herbeizurufen. Aber in dem Augenblick, wo er sich anschickte, die Glocke zu ziehen, wurde die Stille dieses Sommerabends noch einmal unterbrochen. Wieder ließ sich das Rolleii eines Wagens vernehmen, der sich rasch dein Hause näherte und plötzlich hielt.

War es Lady Jane, die zurückkam?

War es Vanborough?«

Die Hausglocke wurde stark angezogen, die Thür öffnete sich rasch und das Rauschen weiblicher Kleidung ließ sich auf dem Corridor vernehmen. Die Thür des Zimmers öffnete sich und eine Dame trat ein. Nicht Lady Jane, sondern eine Fremde, die um viele Jahre älter war, als Lady Jane. Eine Frau, die vielleicht zu andern Zeiten häßlich erschienen wäre, die aber jetzt in der Freude, die ihr Gesicht. verklärte, fast schön aussah.

Bei dem Anblick der bewußtlosen Gestalt auf dem Sopha eilte sie mit einem Schrei des Entsetzens auf dieselbe zu. Sie sank auf die Knie, drückte. das hilflose Haupt an ihr Herz und bedeckte die kalten, bleichen Wangen mit schwesterlichen Küssen.

»O, mein Herz!« rief sie, müssen wir uns so wiedersehen?«

Ja, nach den langen, seit dem Abschiede in der Schiffskajüte verflossenen Jahren, sahen sich die beiden Schulfreundinnen zum ersten Male so wieder.



Zweiter Theil - Der Gang der Ereignisse.

V.

Das Vorspiel geht von dem Zeitpunkt der zuletzt geschilderten Begebenheiten im Sommer "1855 zu einem zwölf Jahre späteren Zeitpunkt über, nachdem die Erlebnisse der mit dem Trauerspiel in der Villa zu Hampstead verknüpften Personen rasch vor den Augen des Lesers vorüber geführt sind, und derselbe bis an die Schwelle der Erzählung, die im Frühjahr 1868 beginnt, geleitet sein wird.

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Zu melden ist zunächst die Verheirathung des Mr. Vanborough mit Lady Jane Parnell. —— —— Drei Monate nach jenem denkwürdigen Tage konnte Vanborough, nachdem er von seinem Advokaten die Gewißheit erlangt hatte, daß er ein freier Mann sei und daß die Gesetzgebung Großbritanniens seinen schmählichen Verrath sanctionire, die Frau, deren Besitz er erstrebt hatte, sein eigen nennen.

Er wurde in’s Parlament gewählt, er gab, Dank der Stellung seiner Frau, sechs der größten Diners und zwei der fashionabelsten Bälle in der Saison; seine erste Rede im Unterhause wurde beifällig aufgenommen; er stiftete eine Kirche in einer armen Gegend der Nachbarschaft; er schrieb einen Artikel in einer Vierteljahrsschrift, der die allgemeine Aufmerksamkeit aus sich zog; er entdeckte und denuncirte einen schreienden Mißbrauch in der Verwaltung einer öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalt und bewirkte dessen Abstellung; er konnte —— ebenfalls Dank der Stellung seiner Frau —— während der Herbstferien auf seinem Landhause unter seinen Gästen ein Mitglied der königlichen Familie begrüßen. Das waren seine Triumphe, das seine Fortschritte auf dem Wege zum Oberhause während der ersten Jahre seiner Ehe mit Lady Jane.

Es gab nur noch eine Gunst, welche das Glück seinem Schooßkind gewähren konnte, und auch diese Gunst gewährte es ihm. So lange die Frau, die er verleugnet und verlassen hatte, am Leben war, haftete ein Makel an Vanborough’s vergangenem Leben. Gegen Ende des ersten Jahres aber starb diese Frau und der Makel war getilgt.

Sie hatte die ihr angethane schimpfliche Beleidigung mit seltener Geduld, mit bewundernswerthem Muthe hingenommen. Man darf Vanborough die Anerkennung nicht versagen, daß er ihr Herz unter strengster Beobachtung der Gebote der Schicklichkeit brach. Er ließ ihr durch seinen Advokaten ein sehr anständiges Jahrgehalt für sie und ihre Tochter anbieten. Sie lehnte das Anerbieten, ohne sich einen Augenblick zu bedenken, ab. Sie wollte weder seinen Namen mehr tragen, noch sein Geld annehmen. Unter dem Namen, den sie als Mädchen getragen und der sie in der Kunstwelt berühmt gemacht hatte, waren Mutter und Tochter von nun an allen Denen bekannt, die es noch der Mühe werth hielten, sich um sie zu kümmern, seit sie in stiller Verborgenheit lebten.

Es war kein falscher Stolz in dieser Haltung, zu der sie sich entschloß, nachdem ihr Gatte sie verlassen hatte. Mrs. Silvester, wie sie sich jetzt nannte, nahm die Unterstützung der theuren alten Freundin, die sie in ihrem Unglück wiedergefunden hatte, und die ihr bis an das Ende ihres Lebens treu blieb, für sich und ihre Tochter Anne dankbar an.

Sie lebten bei dieser Freundin Lady Lundie, bis Mrs. Silvester sich stark genug fühlte, ihren künftigen Lebensplan, ihr Brot als Gesanglehrerin zu verdienen, zur Ausführung zu bringen. Dem äußern Anschein nach erholte sie sich und war nach Verlauf weniger Monate wieder ganz die Alte. Sie kam in ihrem neuen Beruf sehr gut fort, überall erwarb sie sich Sympathie, Vertrauen und Achtung, als plötzlich im Beginn ihrer neuen Laufbahn ihre Kräfte zu schwinden anfingen. Niemand wußte sich ihren Zustand zu erklären. Selbst die Aerzte waren verschiedener Ansichten. Medicinisch gesprochen, war kein Grund dieser verzehrenden Krankheit erfindlich, und für die Männer der Wissenschaft war es eine reine Redensart, wenn Lady Lundie erklärte, ihre Freundin habe den Todesstoß an dem Tage erhalten, wo ihr Gatte sie verlassen habe. Fest stand nur die Thatsache, die man sich erklären mag wie man will, daß Mrs. Silvester ungeachtet nicht nur der Anwendung aller physischen Mittel, sondern auch des ganzen Aufgebots ihrer Energie und des muthigen Entschlusses, für ihr Kind zu leben, hinsiechte und starb.

In den letzten Tagen ihrer Krankheit fing ihre Geisteskraft nachzulassen an. Die Jugendfreundin, die an ihrem Bette saß, hörte sie reden, als ob sie sich in jene Stunde des Abschieds in der Schiffskajüte zurückversetzt glaube. Die arme Sterbende hatte in ihrer Stimme wieder den Ton und in ihrem Auge fast wieder den Blick, wie in jener Stunde, in der die beiden Mädchen sich getrennt hatten, um so verschiedene Lebenswege zu betreten. »Liebste Freundin«, sagte sie, »wir wollen uns mit all’ der alten Liebe im Herzen wiedersehen«, und sprach diese Worte genau in demselben Ton, wie sie diese vor fast einem Menschenalter gesprochen hatte. Aber vor ihrem Ende erlangte sie wieder ein völlig klares Bewußtsein. Sie überraschte den Arzt und die Wärterin durch die freundlich ausgesprochene Bitte, das Zimmer zu verlassen. Als sie und Lady Lundie allein waren, sah sie diese an, als ob sie plötzlich aus einem Traum erwache und sich ihres Zustandes wieder klar bewußt werde.

»Blanche!« sagte sie, »willst Du Dich meines Kindes annehmen?«

»Sie soll mein Kind sein, Anne, wenn Du uns verlassen hast.«

Die Sterbende hielt inne und schien einen Augenblick nachzudenken. Plötzlich fing sie an zu zittern. »Im strengsten Vertrauen«, sagte sie, »ich fürchte für mein Kind.«

»Warum das?«

»Ist nicht Anne mein vollkommenes Ebenbild?«

»Ja.«

»Liebt sie nicht Dein Kind wie ich Dich geliebt habe?«

»Ja.«

»Sie trägt nicht den Namen ihres Vaters, sondern den meinigen. Ist sie nicht Anne Silvester, wie ich es gewesen bin? —— Blanche! Wird sie auch enden wie ich?«

Sie that diese Frage mit dem schweren Athem und dem Lallen der Zunge, welche den nahen Tod verkünden. Die Freundin fühlte sich aufs tiefste erschüttert.

»Wie kommst Du auf solche Gedanken?« rief sie entsetzt »Um Gotteswillen, denke so etwas nicht!«

»Die Augen der Sterbenden nahmen wieder den Ausdruck der Bewußtlosigkeit an. Sie versuchte, eine ungeduldige Handbewegung zu machen. Lady Lundie beugte sich über sie und vernahm die kaum hörbar geflüsterten Worte »Richte mich auf!«

Als sie nun in den Armen ihrer Freundin lag und in deren Augen blickte, kam sie wieder auf ihre qualvolle Angst vor dem Schicksal ihres Kindes zurück.

»Laß sie nicht erzogen werden wie ich! Sie muß Gouvernante werden, sie muß ihr Brod verdienen. Laß sie nicht Schauspielerin, nicht Sängerin werden! Laß sie nicht auf die Bühne gehen!« Sie hielt inne, aber plötzlich fügte sie mit einem Lächeln und mit einer Stimme, deren Anmuth an frühere Zeiten erinnerte, die einst als Mädchen gesprochenen Worte hinzu: »Gelobe es mir, Blanche! Lady Lundie küßte sie und antwortete, wie sie damals auf dem Schiff geantwortet hatte, »ich gelobe es, Anne!«

Da ließ die Sterbende dass Haupt sinken, um es nie wieder zu erheben. Der letzte Lebensfunke flackerte noch einmal in den schon verdüsterten Blicken auf und verlosch. Noch einen Augenblick bewegten sich ihre Lippen. Lady Lundie legte ihr Ohr dicht an dieselben und hörte die schreckliche Frage noch einmal in denselben schrecklichen Worten ausgesprochen »Sie ist Anne Silvester, —— wie ich es war. Wird sie auch enden wie ich?«



VI.

Fünf Jahre waren vergangen und die Lebensschicksale der drei Männer, welche in der Villa in Hampstead zusammen beim Dessert gesessen hatten, fingen an, in ihrem wechselvollen Verlauf den Fortschritt der Zeit zu bekunden. Die drei Männer waren, wie sich der Leser erinnert, die Mrs. Kendrew, Delamayn und Vanborough.

Wie der Freund Vanborough’s, Mr. Kendrew, seine Empfindungen bei dem Verrath des Gatten geäußert hatte, ist bereits erzählt worden. Wir haben noch zu berichten, welchen Eindruck die Nachricht von dem Tode der verlassenen Frau auf ihn machte. Das Gerücht, welches den Menschen in’s innerste Herz zu schauen versteht und sich darin gefällt, dieses Innerste dem Auge der Menge blos zu legen, hatte immer behauptet, daß über dem Leben Krendrew’s ein Geheimniß walte, und daß dieses Geheimniß in einer hoffnungslosen Leidenschaft für die schöne Frau bestehe, die sein Freund geheirathet hatte. Keine gegen ein lebendes Wesen geschehene, noch so entfernte Anspielung, kein jemals zu der Frau selbst gesprochenes Wort konnte, so lange diese lebte, zum Beweise jener Behauptung angeführt werden. Als sie starb, tauchte das Gerücht mit größerer Bestimmtheit als je zuvor wieder aus und berief sich auf das Benehmen des Mannes als Beweis für seine Behauptung.

Er wohnte dem Leichenbegängniß bei, obgleich er kein Verwandter war. In einem Augenblick, wo er unbeobachtet glaubte, pflückte er einige Grashalme von dem Rasen, mit dem ihr Grab zugedeckt wurde. Man sah ihn nicht mehr in seinem Club, er ging auf Reisen. Als er zurückkehrte, erklärte er, daß er Englands überdrüssig sei und bewarb sich mit Erfolg um eine Anstellung in einer der Colonien. Was mußte man aus alle Dem, schließen? War es nicht klar, daß sein bisheriges Leben allen Reiz für ihn verloren hatte, seit der Gegenstand seiner Neigung verschwunden war? Vielleicht war dem so, es sind schon weniger wahrscheinliche Vermuthungen aufgestellt worden, die doch das Wahre getroffen haben. Wie dem aber auch sein mag, gewiß ist, daß er England verließ, um nie wieder dahin zurückzukehren.

Mr. Delamayn ließ sich von der Liste der Rechtsanwalte streichen, um sich durch ernste juristische Studien auf die Carriere eines plaidirenden Advocaten vorzubereiten. Drei Jahre lang erfuhr man nichts von ihm, als daß er eifrig studire. Als seine Studien zu Ende waren, fand er alsbald Gelegenheit dieselben zu verwerthen. Seine früheren Associé wußten, daß er ihr Vertrauen verdiene und übergaben ihm die Verhandlung ihrer Sachen vor Gericht. Im Verlaufe von zwei Jahren hatte er sich eine angesehene Stellung als Sachwalter gegründet. Am Schluß dieser zwei Jahre wußte er sich außerhalb der engeren juristischen Kreise eine Stellung zu gewinnen. Er erschien als einer der beiden Anwälte in einem berühmten Fall, in welchem die Ehre einer großen Familie und der Anspruch auf einen großen Grundbesitz auf dem Spiele standen. Am Vorabend der Hauptverhandlung erkrankte sein älterer College. Er hatte daher die Sache des Beklagten allein zu vertreten und gewann dieselbe. Auf die Frage seines dankbaren Clienten, was er für ihn thun könne, antwortete Delamayn, »Verhelfen Sie mir zu einem Parlamentssitz.« Sein Client ein Landedelmann, brauchte nur die nöthigen Befehle an seine Pächter zu erlassen, und siehe da, Delamayn wurde in’s Parlament gewählt!

Im Hause der Gemeinen traf das neue Mitglied mit Vanborough zusammen.

Sie saßen auf derselben Bank und gehörten zu derselben Partei. Delamayn fiel es alsbald auf, daß Vanborough grau geworden sei und alt und abgenutzt aussehe Er zog bei wohlunterrichteten Personen Erkundigungen über ihn ein. Die Befragten schüttelten den Kopf. Vanborough war reich, hatte durch seine Frau die einflußreichsten Verbindungen und war ein wohlbehaltener Mann in jedem Sinne des Worts, aber —— Niemand mochte ihn. Im ersten Jahre seines öffentlichen Auftretens war es ihm sehr gut gegangen, aber seitdem war ein Stillstand eingetreten. Er war unleugbar ein gescheidter Mann, aber der Eindruck seiner Persönlichkeit im Hause war ein unangenehmer. Er gab glänzende Gesellschaften, war aber doch in der Gesellschaft nicht beliebt. Seine Partei respectirte ihn, aber, wenn sie irgend eine Gunst zu gewähren hatte, überging sie ihn. Was ihm im Wege stand, konnte in Wahrheit nur sein eigenthümliches Temperament sein; man konnte nichts gegen ihn sagen, Alles sprach zu seinen Gunsten; und doch konnte er sich keine Freunde erwerben, er war mit einem Wort ein verbitterter Mensch, in seinem ganzen Wesen in und außer dem Hause verbittert.



VII.

Es vergingen fernere fünf Jahre seit dem Tage, wo die verlassene Frau begraben worden war. Es war im Jahre 1866.

An einem Tage dieses Jahres las man zwei bemerkenswerthe Nachrichten in den Blättern, die Nachricht einer Erhebung zum Pair, und die Nachricht von einem Selbstmord.

War es Mrs Delamayn schon in seiner Laufbahn als Advocat gut gegangen, so erreichte er doch noch größere Erfolge im Parlament. Er wurde eines der hervorragendsten Mitglieder des Hauses; er sprach klar, verständlich und bescheiden, —— und niemals zu lang, wußte das Haus zu fesseln, wo noch begabtere Männer es langweilten. Die Häupter seiner Partei sprachen ihre Anerkennung offen in der Erklärung aus, daß etwas für Delamayn geschehen müsse. Die Gelegenheit bot sich dar, und die Parteiführer hielten ihr Wort. Ihr Staatsanwalt wurde zu einer höheren Stelle befördert, und sie machten Delamayn zu seinem Nachfolger. Unter den ältern Advokaten rief diese Ernennung große Aufregung hervor. Das Ministerium aber antwortete: »Wir brauchen einen Mann, dem man im Hause der Gemeinen zuhört, und wir haben ihn gefunden.« Die Zeitungen sprachen sich zu Gunsten der neuen Ernennung aus. Bei einer bald darauf entstehenden großen Debatte rechtfertigte der neue Staatsanwalt die Wahl des Ministeriums und die Unterstützung der Zeitungen. Seine Feinde sagten spöttisch: »Der wird in ein bis zwei Jahren Lordkanzler werden«, und seine Freunde machten in seinem häuslichen Kreise harmlose Scherze, die auf dieselbe Prophezeiung hinausliefen. Sie warnten seine beiden Söhne, Julius und Geoffrey, die damals im college waren, mit ihren Bekanntschaften vorsichtig zu sein, da sie jeden Augenblick Söhne eines Lords werden könnten.

Der Verlauf der Ereignisse schien der Prophezeiung Recht geben zu wollen. Der nächste Schritt, den Mr. Delamayn auf der Stufenleiter hoher Staatsämter machte, war seine Ernennung zum Kronanwalt. Ungefähr um dieselbe Zeit —— so wahr ist es, daß nichts den Erfolg so sehr befördert, wie der Erfolg -—, starb ein kinderloser Verwandter Delamayn’s und hinterließ ihm sein Vermögen. Im Sommer 1866 wurde die Stelle eines Oberrichters vacant. Das Ministerium hatte eine Wiederbesetzung dieser Stelle beabsichtigt, die allgemeines Mißfallen erregte. Als dasselbe daher einen Ersatzmann für die Stelle des Kronanwalts fand, offerirte es Delamayn die Stelle des Oberrichters. Er zog es aber vor, im Hause der Gemeinen zu bleiben und lehnte die angebotene Stelle ab. Das Ministerium seinerseits aber weigerte sich, die ablehnende Erklärung anzunehmen. Man fragte vertraulich bei ihm an, ob er die Stelle unter Erhebung zum Pair aceeptiren würde. Delamayn berieth die Sache mit seiner Frau und acceptirte die Stelle mit einer Erhebung zur Pairswürde. Die »London Gazette« verkündete der Welt seine Erhebung unter dem Namen eines Barons Holchester of Holchester. Und die Freunde der Familie rieben sich vergnügt die Hände und sagten: »Seht Ihr, haben wir es Euch nicht vorausgesag!? Jetzt sind unsere beiden jungen Freunde, Julius und Geoffrey, die Söhne eines Lords!«

Und wo war Mr. Vanborough während dieser ganzen Zeit? Genau da, wo wir ihn fünf Jahre früher verlassen haben.

Er war noch ebenso reich, vielleicht noch reicher, als zuvor. Er hatte noch dieselben einflußreichen Verbindungen; er war noch ebenso ehrgeizig, wie vordem, aber das war auch Alles. Seine Stellung im Hause der Gemeinen und seine Stellung in der Gesellschaft blieben unverändert, mit dem einzigen Unterschied, daß der verbitterte Mann noch verbitterter, sein graues Haar noch grauer und sein reizbares Temperament noch unerträglichen als zuvor geworden waren. Seine Frau bewohnte ihre eigenen Gemächer im Hause und er die seinigen, —— und die Kammerfrau und der Kammerdiener sorgten dafür, daß sie sich niemals auf der Treppe begegneten. Sie hatten keine Kinder und sahen sich nur bei den großen Diners und Bällen, die sie von Zeit zu Zeit gaben. Die Leute aßen an ihrem Tische und tanzten auf ihrem Parquetboden und unterhielten sich nachher darüber, wie langweilig es gewesen sei. Während der Mann, der einst Vanborough’s Advokat gewesen war, eine Staffel nach der anderen auf der Leiter der Staatsämter emporstieg, bis er in’s Oberhaus gelangte und nicht höher steigen konnte, blieb Vanborough am Fuß der Leiter stehen und sah den Andern vor sich aufsteigen, ohne trotz all’ seines Reichthums und seiner vornehmen Familie mehr Aussicht zu haben, ihm in’s Haus der Lords zu folgen, als der Geringste aus dem Volk.

Die Carriere des Mannes war zu Ende, und an dem Tage, wo die Ernennung des neuen Pairs verkündet wurde, endete auch das Leben des Mannes.

Er legte die Zeitung, ohne irgend eine Bemerkung zu machen, bei Seite und fuhr aus. Er verließ den Wagen da, wo im Nordwesten von London noch heute grünes Weideland liegt, in der Nähe des Fußsteiges, der nach Hampstead führt. Er ging allein nach der Villa, in der er einst mit der Frau gelebt, die er so grausam behandelt hatte. Neue Häuser waren um dieselbe her emporgestiegen, selbst ein Theil des alten Gartens war verkauft und bebaut worden. Einen Augenblick zauderte er, dann trat er an’s Gitter und zog die Glocke. Er händigte dem Diener seine Karte ein. Dem Herrn des Hauses war der auf der Karte befindliche Name als der eines sehr reichen Mitgliedes des Parlaments bekannt. Er empfing den Fremden mit der höflichen Frage, welchem glücklichen Umstände er die Ehre dieses Besuches verdanke. Vanborough antwortete kurz und einfach: »Ich habe vor Jahren hier gewohnt, und knüpfen sich für mich Erinnerungen an diesen Platz, mit deren genauerer Mittheilung ich Sie nicht zu behelligen brauche. Sie müssen entschuldigen, wenn ich mich mit einer sehr sonderbaren Bitte an Sie wende; ich möchte gern das Eßzimmer einmal wieder sehen, wenn ich Niemanden störe und Sie nichts dagegen haben.«

Die »sonderbaren Bitten« reicher Leute genießen des Vorrechts einer freundlichen Aufnahme, aus dem sehr triftigen Grunde, daß man bei ihnen sicher ist, nicht um sein Geld gebracht zu werden.

In das Eßzimmer geführt ging Vanborough direct auf einen Fleck auf dem Teppich zu, in der Nähe der in den Garten führenden Glasthür, der Eingangssthür ungefähr gegenüber. Auf diesem Fleck blieb er, das Haupt auf die Brust gesenkt, schweigend und nachdenklich stehen. Tsar das vielleicht die Stelle, auf der er sie an jenem Tage, wo er das Zimmer auf immer verließ, zum letzten Male gesehen hatte? Ja, sie war es. Nachdem er so eine Zeitlang in Gedanken versunken dagestanden hatte, schien er wieder zur Besinnung zu kommen, sah aber noch immer träumerisch und abwesend aus. Er äußerte, es sei ein hübscher Landsitz, dankte dem Besitzer, blickte noch einmal um sich, bevor sich die Thür hinter ihm schloß und ging dann wieder seines Weges. An derselben Stelle, wo er seinen Wagen verlassen hatte, bestieg er ihn wieder. Er fuhr bei dem neuen Lord Holchester vor, gab seine Karte ab und kehrte dann nach Hause zurück. Hier erinnerte ihn sein Secretär daran, daß er in zehn Minuten Jemanden zu empfangen habe. Er dankte dem Secretair in demselben träumerisch abwesenden Tone, in welchem er dem Besitzer der Villa gedankt hatte und ging in sein Ankleidezimmer. Die Person, die er zu sich beschieden hatte, kam, und der Secretair schickte den Kammerdiener hinauf, bei dem Herrn anzuklopfen. Es erfolgte keine Antwort. Als man mit einem Schlüssel zu öffnen versuchte, fand sich, daß das Zimmer von innen verschlossen sei. Man erbrach endlich die Thür und fand Vanborough auf dem Sopha liegen. Man trat näher heran und fand, daß er sich selbst das Leben genommen hatte.



VIII.

Seinem Ende rasch entgegengehend hat das Vorspiel noch zu zeigen, wie die beiden Mädchen, Anne und Blanche, die verflossenen Jahre verlebt hatten. Lady Lundie löste das feierliche Wort, das sie ihrer Freundin gegeben hatte, voll ein. Sorgfältig vor jeder Versuchung bewahrt, die das Verlangen, dieselbe Laufbahn wie ihre Mutter zu betreten, in ihr hätte erwecken können, mit allen für Geld erreichbaren Mitteln für das Leben einer Erzieherin vorbereitet, durfte Anne ihre ersten und einzigen Versuche auf dem Felde der Erziehung unter Lady Lundie’s eigenem Dach, an Lady Lundies eigenem Kinde machen. Die Verschiedenheit des Alters der beiden Mädchen, sieben Jahre, und ihre gegenseitige Liebe, die mit jedem Tage zuzunehmen schien, Begünstigten diesen ersten Versuch. In der zwiefachen Eigenschaft einer Lehrerin und Freundin der kleinen Blanche flossen die Mädchenjahre Anne Silvester’s sicher, glücklich und ereignißlos, in dem stillen Heiligthum einer bescheidenen Häuslichkeit dahin. Ein schärferer Contrast zwischen ihrem und ihrer Mutter Jugendleben war nicht denkbar. Niemand, der das Leben dieses Mädchens beobachtete, hätte in der schrecklichen Frage, welche die Mutter in ihren letzten Augenblicken gemartert hatte: »Wird sie auch enden wie ich? etwas Anderes als das Wahngebilde einer Sterbenden erblicken können.

Indessen wurde doch das friedliche Familienleben im Lauf der Jahre, die wir jetzt an uns vorüberziehen lassen, durch zwei wichtige Ereignisse unterbrochen. Im Jahre 1858 brachte die Ankunft Sir Thomas Lundie’s neues Leben in das Haus, und im Jahre 1865 wurde der Haushalt in Folge der Rückkehr Sir Thomas Lundie’s nach Indien in Begleitung seiner Frau ganz aufgehoben.

Lady Lundie’s Gesundheit war seit einiger Zeit schwankend geworden. Die zu Rathe gezogenen Aerzte erklärten, zufällig gerade zu der Zeit, wo Sir Thomas wieder nach Indien zurückkehren mußte, daß eine Seereise gerade das geeignete Mittel sei, die Kräfte ihrer Patientin wiederherzustellen. Um seiner Frau willen fand sich Sir Thomas bereit, seine Rückkehr zu verschieben, um die Seereise mit ihr machen zu können.

Die einzige Schwierigkeit, die bei dieser Reise zu überwinden war, bestand darin, daß man Blanche und Anne während der Zeit in England zurücklassen mußte.

Die Aerzte hatten nämlich erklärt, daß sie es nicht für gerathen halten könnten, Blanche in dem kritischen Zeitpunkt ihrer Entwickelung mit ihrer Mutter nach Indien zurückkehren zu lassen. Gleichzeitig erboten sich nahe und liebe Verwandte, freundschaftlichst bereit, Blanche und ihre Erzieherin bei sich aufzunehmen, während sich Sir Thomas seinerseits verpflichtete seine Frau in anderthalb, höchstens zwei Jahren nach England zurückzubringen. Von allen Seiten bestürmt, mußte Lady Lundie endlich ihre Abneigung, die Mädchen zu verlassen, überwinden Sie entschloß sich zu der Reise mit schwerem Herzen und sorgenvollen Gedanken an die Zukunft.

Im letzten Augenblick nahm sie Anne Silvester mit sich in einen Winkel des Zimmers, wo Niemand von den Anwesenden sie hören konnte. Anne war jetzt zweiundzwanzig, Blanche fünfzehn Jahr alt.

»Mein liebes Kind«, sagte sie ruhig, »ich muß Dir etwas anvertrauen, was ich meinem Mann nicht sagen kann, und was ich mich Blanche zusagen scheue. Ich verlasse Euch mit schlimmen Ahnungen. Ich fühle, daß ich nicht wieder nach England zurückkehren werde, und ich glaube, mein Mann wird sich nach meinem Tode wieder verheirathen. Vor Jahren war Deine Mutter auf ihrem Totenbett besorgt für Deine Zukunft, jetzt bin ich für Blanches Zukunft besorgt. Damals versprach ich meiner theuren verstorbenen Freundin, daß ich für Dich wie für mein eigenes Kind sorgen wolle, und das beruhigte sie. Beruhige Du jetzt mich, Anne, vor meiner Abreise. Was auch im Lauf der Zeit geschehen möge, versprich mir, immer für Blanche zu sein, was Du ihr jetzt bist, eine Schwester.« Zum legten Male reichte sie ihr die Hand. Mit ganzer Innigkeit küßte Arme Silvester diese Hand und versprach es.



IX.

Zwei Monate später war eine der bösen Ahnungen, die auf Lady Lundie’s Gemüth gelastet hatten, in Erfüllung gegangen. Sie starb während der Reise und fand ihr Grab in der kalten See.

Ein Jahr später hatte sich auch ihre zweite Befürchtung bestätigt. Sir Thomas Lundie verheirathete sich zum zweiten Mal. Gegen Ende des Jahres 1866 kam er mit seiner zweiten Frau nach England zurück.

Das Leben schien in dem neuen Haushalt ebenso ruhig wie in dem alten verlaufen zu sollen. Sir Thomas ehrte das Vertrauen, das seine erste Frau auf Anne gesetzt hatte. Die neue Lady Lundie richtete ihr Benehmen in dieser Angelegenheit kluger Weise nach dem ihres Mannes und ließ die Dinge, wie sie dieselben in dem neuen Hause fand. Im Beginn des Jahres 1867 war das Verhältniß zwischen Anne und Blanche das zweier mit inniger Zuneigung aneinanderhängender Schwestern. Die Aussichten in die Zukunft waren die freundlichsten.

Von den mit dem Trauerspiel, das vor zwölf Jahren in der Villa in Hampstead gespielt hatte, verknüpften Personen waren um diese Zeit drei bereits gestorben, und eine in freiwilliger Verbannung im Auslande. In England lebten nur noch Anne und Blanche, die damals Kinder gewesen waren, und der Advocat, der die Ungültigkeit der irischen Heirath entdeckt hatte. —— damals Mr. Delamayn, jetzt Lord Holchester.

Ende des Vorspiels.



Die Erzählung

Der Garten-Pavillon

Erstes Kapitel - Die Eulen

Im Frühling des Jahres 1868 lebten in einer schottischen Grafschaft zwei ehrwürdige weiße Eulen.

Sie bewohnten einen verfallenen und verlassenen Garten-Pavillon. Dieser stand in einem Garten, der zu einem unter dem Namen Windygates bekannten Landsitz in Perthshire gehörte.

Windygates lag nach der wohlüberlegten Wahl des Erbauers in jenem Theil der Grafschaft, wo die fruchtbare Ebene in hügeliches Land überzugehen anfängt. Das Herrenhaus war mit Umsicht erbaut und prächtig eingerichtet. Die Ställe waren ein Muster von lustiger Geräumigkeit, und Garten und Park waren eines fürstlichen Besitzers würdig.

Trotz dieser ausgezeichneten Vorzüge gerieth Windygates nicht lange nach seiner Erbauung in Verfall. Der Fluch eines Prozesses lag auf dem Hause und den dazu gehörigen Ländereien. Länger als zehn Jahre umfing ein endloser Rechtsstreit den Landsitz enger und enger mit seinen unbarmherzigen Armen und machte denselben nicht nur unbewohnbar, sondern auch völlig unnahbar. Das Haus war geschlossen. Der Garten wurde zu einer von üppigem Unkraut überwucherten Wildniß. Der Garten-Pavillon ward von Schlingpflanzen fast erdrückt und den Schlingpflanzen folgten die Nachtvögel.

Jahrelang lebten die Eulen ungestört auf dem Grund und Boden, den sie kraft des ältesten aller bestehenden Rechte, der Besitzergreifung, erworben hatten. Den Tag über saßen sie in feierlichem Schweigen mit geschlossenen Augen in dem kühlen Dunkel, mit welchem der Epheu sie umgab. Mit Anbruch der Dämmerung gingen sie auf ihr eigentliches Geschäft. In weiser Verbrüderung flogen sie geräuschlos über die friedlichen Gartenwege hin, sich den Stoff für ihre Mahlzeit zu suchen. Einmal jagten sie wie ein Hühnerhund über ein Feld hin und stürzten sich auf eine nichts Böses ahnende Maus; ein andermal flogen sie zur Abwechselung gespensterhaft über die schwarze Oberfläche eines Teiches hin und erbeuteten einen Barsch. In ihrer Nahrung nicht wählerisch, nahmen sie auch mit Ratten und Insecten fürlieb; es gab aber Momente, stolze Momente in ihrem Leben, wo sie einen schlafenden Vogel zu fangen wußten. In solchen Fällen erfüllte sie das Gefühl der Ueberlegenheit über die kleinen Vögel, welches die großen überall empfinden, mit einem Behagen, dem sie durch heiseres Gekreisch in der Stille der Nacht Ausdruck gaben.

So verlebten die Eulen Jahre lang die Tage in glücklichem Schlaf, die Nächte in Erbeutung ihrer Nahrungsmittel. Sie hatten sich gleichzeitig mit den Schlingpflanzen in den Besitz des Garten-Pavillons gesetzt, folglich bildeten die Schlingpflanzen einen wesentlichen Bestandtheil der Verfassung des Garten-Pavillons, und folglich waren die Eulen die Wächter dieser Verfassung. Es giebt menschliche Eulen, die ebenso raisonniren, wie unsere Nachtvögel, und die ihnen nicht nur in dieser Beziehung, sondern auch in Betreff des Schnappens nach kleineren schlafenden Vögeln wunderbar gleichen.

Die Verfassung des Garten-Pavillons hatte bis zum Frühjahr 1868 bestanden, als sich plötzlich die ruchlosen Tritte der Neuerung dem Platze näherten, und die ehrwürdigen Privilegien der Eulen zum ersten Mal einen Angriff erfuhren.

Uneingeladen erschienen zwei ungefiederte zweibeinige Wesen an den Pforten des Garten-Pavillons, nahmen die verfassungsmäßigen Schlingpflanzen in Augenschein und sprachen zu einander: »Die Schlingpflanzen da müssen herunter,« blickten in das entsetzliche Tageslicht und sprachen: »das muß hineindringen,« kamen überein, daß das morgen geschehen müsse und gingen wieder fort.

Und die Eulen sprachen: »Haben wir das Sommerhaus darum Jahrelang mit unserer Gegenwart beehrt, daß das entsetzliche Tageslicht nun doch endlich auf uns eindringe? Mylords und meine Herren vom Hause der Gemeinen, die Verfassung ist in ihren Grundfesten erschüttert!«

Sie faßte eine Resolution in diesem Sinn, wie es bei ihresgleichen gebräuchlich ist. Und darauf schlossen sie in dem Bewußtsein treuer Pflichterfüllung wieder ihre Augen.

Noch in derselben Nacht beobachteten sie bei ihrem Fluge über die Felder mit Schrecken ein Licht an einem der Fenster des Hauses. Was hatte das Licht zu bedeuten?

Es bedeutete erstens, daß der Prozeß endlich sein Ende erreicht hatte, zweitens, daß der Eigenthümer von Windygates der Geld brauchte, beschlossen hatte, dasselbe zu vermiethen, und drittens, daß sich ein Miether gefunden hatte und daß das Haus im Begriff stand, von innen und außen wieder in Stand gesetzt zu werden. Die Eulen erhoben, während sie über die dunklen Feldwege dahinflogen kreischend ihre Stimme. Der Fang einer Maus mißlang ihnen.

Am nächsten Morgen wurden die bei ihrer Ueberwachung der Verfassung in tiefen Schlaf versunkenen Eulen durch Stimmen ungefiederter Wesen, die rund um sie her erschallten aus ihrem Schlummer aufgeschreckt. Unter Protest öffneten sie die Augen und sahen Zerstörungswerkzeuge gegen die Schlingpflanzen gerichtet. Bald hier, bald dort bahnten diese Werkzeuge dem Tageslicht einen Weg in den Garten-Pavillon. Aber die Eulen waren dem großen über sie hereinbrechenden Ereigniß gewachsen. Mit zu Berge stehendem Gefieder schrieen sie: »Keine Ergebung!« Die ungefiederten Wesen aber arbeiteten ruhig weiter und antworteten mit dem Rufe: »Reform!« Die Schlingpflanzen wurden unbarmherzig herabgerissen; das entsetzliche Tageslicht drang heller und heller hinein. Die Eulen hatten kaum Zeit gehabt, eine neue Resolution des Inhalts zu fassen, daß sie fest zur Verfassung ständen, als ein Sonnenstrahl ihnen von außen her blendend in die Augen drang und sie in eiligem Fluge den nächsten schattigen Platz aufsuchen ließ. Hier blieben sie blinzelnd sitzen, während das Gartenhaus von dem erdrückenden Schlinggewächs gesäubert, das verfaulte Holzwerk erneuert und dem ganzen in feuchtem Dunkel verfallenden Gemäuer wieder frische Luft und heiteres Tageslicht zugeführt wurde. Und als die Menschen sich es nun betrachteten und sprachen: »so wird es gehen!« schlossen die Eulen in frommer Erinnerung an das ehemalige Dunkel ihre Augen und antworteten: »Mylords und meine Herren vom Hause der Gemeinen, die Verfassung ist in ihren Grundfesten erschüttert!«



Zweites Kapitel - Die Gäste

Wer hatte die Umgestaltung des Garten-Pavillons angeordnet?

Der neue Miether von Windygates Und wer war dieser?

Der Leser mag sich selbst überzeugen.

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Im Frühling 1868 war, wie wir gesehen haben, der Garten-Pavillon der trübselige Aufenthaltsort eines Eulenpaars gewesen. Im Herbst desselben Jahres war er der anmuthige Sammelpunkt einer aus Herren und Damen, den Gästen des Miethers von Windygates, bei einem Gartenfeste bestehenden Gesellschaft.

Die Scene war beim Beginn des Festes so lieblich anzuschauen, wie heiteres Sonnenlicht, weibliche Schönheit und muntere Bewegung es nur machen können.

Im Innern des Garten-Pavillons hob sich die anmuthige Eleganz der bunten weiblichen Sommertoiletten von dem finstern Hintergrunde trübseliger moderner Herrenkleidung leuchtend ab. Von dem Garten-Pavillon aus sah man durch drei bogenförmige Oeffnungen hindurch über einen saftig grünen Rasen hinweg auf Blumenbeete und Gebüsch, und weiterhin durch eine in den Bäumen künstlich hergestellte Lichtung auf ein großes, die Aussicht abschließendes steinernes Haus, an dessen Vorderseite eine Fontaine plätscherte, deren Wasserstrahlen im Sonnenlicht bunt erglänzten.

Die ganze Gesellschaft war eben in einem oft von hellem Gelächter unterbrochenen heiteren und lebhaften Geplauder begriffen, als eine laute, das Gesumme der Gäste übertönende Stimme, Schweigen gebot. Im nächsten Augenblick trat eine junge Dame an die Schwelle des Garten-Pavillons und überschaute die Menge der Gäste, wie ein commandirender General ein Regiment überschaut, das er Revue passiren läßt.

Die junge Dame schien nicht im Mindestens verlegen, sie war hübsch und nach der neuesten Mode gekleidet. Ihre Stirn überdeckte ein Hut in Form eines Tellers. An ihrem Hinterkopf erhob sich ein weit aufgeblähter Ballon von hellbraunem Haar. Ueber ihre Brust ergoß sich ein wahrer Wasserfall von Perlen. Iu ihren Ohren glänzten ein Paar den lebendigen Originalen zum Erschrecken ähnlich sehende Käfer. Ihre enganliegenden Röcke glänzten im schönsten Himmelblau. Ihre Fußgelenke schimmerten durch die Hülle gestreifter Strümpfe hindurch. Ihre Schuhe waren sogenannte »Watteaus,« mit Hacken von einer Höhe, bei deren Anblick Männer schaudern.

Die junge Dame, die sich so der Gesamtheit der Gäste präsentirte, war Miß Blanche Lundie. Die ehemals rosige, kleine Blanche, die der Leser bereits aus dem Vorspiel kennt, war jetzt achtzehn Jahr alt, in einer ausgezeichneten gesellschaftlichen Stellung, reich, von lebhaftem Temperament und sehr wechselnden Neigungen, mit einem Worte, ein Kind unserer Zeit, mit den Vorzügen und Fehlern unserer Tage und mit einer Grundlage von echten Gesinnungen und wahrem Gefühl.

»Ruhig lieben Leute, wenn ich bitten darf,« rief Fräulein Blanche, »wir müssen uns für das Croquet-Spiel in zwei Parteien theilen; an die Arbeit, an die Arbeit.«

Nach diesen Worten trat eine zweite Dame aus der Menge der Gäste hervor, und antwortete der jungen Dame, die eben gesprochen hatte, mit einem vorwurfsvollen Blick und in einem Tone wohlwollenden Protestes.

Diese Dame war hoch gewachsen, kräftig gebaut und etwa fünf und dreißig Jahre alt; in ihrer Erscheinung boten sich den auf sie gerichteten Blicken eine grausame Adlernase, ein eigensinniges spitzes Kinn, prächtige schwarze Haare und gleichfarbige Augen, eine glänzende, sorgfältige Toilette und eine lässige Grazie in der Bewegung, die im ersten Augenblick etwas Anziehendes, aber bei längerer Betrachtung etwas unaussprechlich Monotones und Ermüdendes hatte. Das war die zweite Lady Lundie, nach viermonatlicher Ehe jetzt die Wittwe des verstorbenen Sir Thomas Lundie, mit andern Worten die Stiefmutter Blanche’s und die beneidenswerthe Besitzerin von Haus und Garten von Windygates.

»Liebes Kind,« sagte Lady Lundie, »Worte bedeuten etwas, selbst im Munde eines jungen Mädchens, nennst Du das Croquet-Spiel eine Arbeit?«

»Sie wollen es doch wohl nicht Vergnügen nennen?« rief eine ernst ironische Stimme aus dem Hintergrunde des Garten-Pavillons.

Die Gäste traten vor diesem letzten Sprecher zurück, der inmitten der modernen Gesellschaft ein Bild vergangener Zeiten darbot.

Das Wesen dieses, Mannes zeichnete sich durch eine geschmeidige Anmuth und Höflichkeit aus, die unserm heutigen Geschlecht abhanden gekommen zu sein scheinen. Seine Toilette bestand aus einer viel gefalteten weißen Cravatte, einem dicht zugeknöpften blauen Frack und nankingenen Kniehosen nebst entsprechenden Gamaschen; einem für unsere Augen lächerlichen Anzuge. In seiner bequemen Art zu reden gab sich eine unabhängige Art zu denken und eine hochentwickelte feine Gabe satyrischer Repliken kund, die bei der heutigen Generation gleich sehr gefürchtet und unbeliebt ist; er war von kleiner und schmächtiger Gestalt, mit einem schönen weißen Kopf und funkelnden schwarzen Augen; um seine Lippen spielte ein humoristischer Zug; an dem einen Bein hatte er einen Klumpfuß, trug aber dieses körperliche Gebrechen wie seine Jahre mit heiterm Muthe. In der Gesellschaft war er bekannt als Besitzer eines elfenbeinernen Spazierstockes mit einer in der Krücke desselben angebrachten Schnupftabaksdose, und gefürchtet wegen seines Hasses der modernen Institutionen, dem er zu passender und unpassender Zeit Luft machte, indem er immer dieselbe verhängnißvolle Neigung kund gab, geschickt die schwächsten Punkte der Gegner zu treffen. Das war Sir Patrick Lundie, der Bruder des verstorbenen Baronets Sir Thomas und nach dessen Tode der Erbe der Titel und Güter desselben. ——

Blanche nahm weder von dem Vorwurf ihrer Mutter, noch von dem Commentar ihres Onkels Notiz, deutete vielmehr auf einen Tisch, auf dein Croquet-Bälle und Hämmer bereit lagen, und lenkte die Aufmerksamkeit auf das Spiel zurück. »Ich führe die eine Seite an, meine Damen und Herren,« nahm sie wieder auf und Lady Lundie führt die andere Seite. Wir wählen unsere Spieler abwechselnd.« »Mama ist die ältere und muß daher auch zuerst wählen.« Mit einem Blick auf ihre Stieftochter, der so viel bedeutete als »wenn ich nur dürfte, würde ich dich in die Kinderstube schicken« drehte sich Lady Lundie um und ließ ihre Blicke über die Gäste hinschweifen Sie war offenbar bereits mit sich einig, welchen Spieler sie berufen wollte »Ich wähle zuerst Miß Silvester,« sagte sie mit einer besonders scharfen Betonung des Namens. Bei diesen Worten theilte sich die Menge abermals und hervortrat die uns bereits bekannte Anne Silvester. —— Fremden, die sie heute zum ersten Male sahen, erschien sie als eine einfache, schmucklos in Weiß gekleidete junge Dame in der Blüthe ihrer Jahre. Langsam trat sie vor die Dame des Hauses hin.

»Das ist ja ein reizendes Mädchen,« flüsterte einer der fremden Gäste einem der Freunde des Hauses zu; »wer ist sie?« Der Freund erwiderte flüsternd »,Miß Lundies Gouvernante, weiter nichts.«

Der Fremde sah die beiden Damen an und flüsterte wieder: »Da ist etwas nicht in Ordnung zwischen der Dame und der Gouvernante.«

Der Freund sah gleichfalls auf, die beiden Frauen und antwortete mit einem sehr ausdrucksvollen Worte: »Offenbar.«

Es giebt Frauen, deren Einfluß auf die Männer ein unergründliches Geheimniß für weibliche Beobachter ist.

Die Gouvernante gehörte zu diesen Frauen. Sie hatte die Reize, aber nicht die Schönheit ihrer unglücklichen Mutter geerbt.

Wenn man sie nach dem Maßstabe berühmter weiblicher Schönheiten und Illustrationen an den Schaufenstern der Kunsthändler beurtheilth so konnte das Erkenntniß nur dahin lauten: »sie hat keinen einzigen regelmäßigen Zug im Gesicht.« Auch hatte die ganze Erscheinung nichts besonders Bemerkenswerthes, so lange sie im Zustande der Ruhe verharrte. Sie war von gewöhnlicher Größe, nicht besser gebaut, als die meisten jungen Mädchen; Haar und Teint waren weder hell noch dunkel, sondern von einer indifferenten Farbe; noch schlimmer, sie hatte in ihrer Gesichtsbildung positive Mängel, ein nervöses Zucken des einen Mundwinkels verzog die Lippen, sobald sie sich bewegten; eine nervöse Unsicherheit des Blickes an derselben Seite des Gesichts kam einem Schielen sehr nahe, und doch, trotz dieser unbestreitbaren Mängel, war sie eines jener furchtbaren weiblichen Wesen, die über die Herzen der Männer und den Frieden der Familie nach Willkür gebieten.

Sie brauchte sich nur zu rühren und sie entwickelte in jeder ihrer Bewegungen etwas so unsagbar Reizendes, daß Jedermann sich nach ihr umschaute, seine Unterhaltung mit dem Nachbar unterbrach und sie beobachtete. Wenn sie bei Einem saß und sich mit Einem unterhielt, so übten der zuckende Mundwinkel und die Unsicherheit des Blickes in dem sanften grauen Auge einen eigenthümlichen Zauber, welcher körperliche Mängel in Schönheit verwandelte, die Sinne gefangen nahm, die Nerven dessen, den sie zufällig berührte, zucken und sein Herz höher schlagen machte.

Alles das widerfuhr wohlverstanden nur Männern, die Augen der Frauen gelangten bei ihrem Anblick zu ganz ganz anderen Resultaten. Die beobachtende Dame pflegte sich an die nächste weibliche Freundin zu wenden und im Tone aufrichtigen Mitleids mit dem andern Geschlecht zu sagen: »Was können die Männer nur an ihr finden.«

Die Augen der Frau vom Hause und die Augen der Gouvernante begegneten sich mit offenbarem Mißtrauen. Wenigen Beobachtern hatte entgehen können, was jener Fremde und der Freund des Hauses Beide bemerkt hatten, daß hier etwas unter der Oberfläche gähre.

Miß Silvester ergriff zuerst das Wort.

»Besten Dank, Lady Lundie,« sagte sie, »ich möchte lieber nicht mitspielen.«

Lady Lundie erwiderte mit einem Ausdruck äußerster Ueberraschung, der die Grenzen des gesellschaftlich Erlaubten überschritt und in scharfem Ton:

»Wirklich, ich muß gestehen, da wir doch Alle hier zusammen gekommen sind, um zu spielen, finde ich das auffallend; fehlt Ihnen etwas, Miß Silvester?«

Das zarte, bleiche Gesicht Miß Silvester? erröthete, aber sie war sich ihrer Pflicht als Dame und als Gouvernante bewußt, fand sich in das unvermeidliche und hielt so für dieses Mal das gute Einvernehmen äußerlich aufrecht.

»O, mir fehlt eigentlich nichts,« antwortete sie, »ich fühlte mich nur diesen Morgen nicht ganz wohl, aber ich werde mitspielen wenn Sie es wünschen.«

»Ich wünsche es!« entgegnete Lady Lundie.

Miß Silvester trat bei Seite, stellte sich an eine der Eingangsthüren des Gartenhauses und erwartete das Weitere, indem sie ihre Blicke mit sichtlicher innerer Unruhe, die sich durch das Heben ihres Busens deutlich kundgab, über den Rasen schweifen ließ.

Jetzt war die Reihe an Blanche, den nächsten Spieler zu wählen. Mit einem etwas unsicheren Blick überschaute sie die Gäste, bis ihr Auge auf einen Herrn in der vordersten Reihe fiel. Er stand neben Sir Patrick, ein echter Repräsentant der jetzt lebenden Generation, wie Sir Patrick der Repräsentant einer vergangenen Generation war.

Der moderne junge Mann war jung und blond, hoch gewachsen und kräftig; der Scheitel seines gelockten, blonden Haares fing in der Mitte der Stirn an und ging über den Hinterkopf bis zum Nacken hinunter. Seine Züge waren so vollkommen regelmäßig und so vollkommen unintelligent, wie menschliche Züge es nur sein können. Der Ausdruck seines Gesichts war der einer wunderbar unerschütterlichen Ruhe. Die Muskeln seiner kräftigen Arme waren durch die Hülle seines leichten Sommerrockes hindurch sichtbar; er hatte eine breite Brust, eine feine Taille und stand fest auf seinen Füßen. Mit einem Wort, er war ein prachtvolles, vom Scheitel bis zur Sohle zur höchsten Entwickelung seiner physischen Kräfte gelangtes menschliches Thier. Das war Mr. Geoffrey Delamayn, gemeiniglich der »Ehrenwerthe« genannt, eine Bezeichnung, die er in mehr als einer Hinsicht verdiente. Er war erstens »ehrenwerth« als der zweite Sohn des uns aus dem Vorspiel bekannten Advocaten, der jetzt Lord Holchester hieß; er war zweitens »ehrenwerth« als der Erringer des höchsten Siegespreises, welcher bei dem gegenwärtigen Erziehungs-System des modernen Englands erreicht werden kann, er hatte bei einem »Universitäts Wettrudern« den Preis davon getragen. Wenn man hinzunimmt, daß ihn nie Jemand etwas anders als eine Zeitung lesen gesehen, und daß er niemals eine Wette refüsirt hatte, so werden diese Züge zur Schilderung dieses ausgezeichneten jungen Engländers für jetzt genügen. Blanches Augen blieben sehr natürlich auf ihm haften, und sie wählte ihn als den ersten Spieler auf ihrer Seite: »Ich wähle Mr. Delamayn.«

Kaum hatte sie den Namen ausgesprochen, als die Röthe von Miß Silvester’s Gesicht verschwand und einer tödtlichen Blässe Platz machte. Sie schien den Garten-Pavillon verlassen zu wollen, hielt aber plötzlich inne und legte die eine Hand auf die Lehne einer neben ihr befindlichen Gartenbank; ein hinter ihr stehender Herr, der die Hand betrachtete, sah wie sich dieselbe so krampfhaft und gewaltsam zusammenballte, daß der Handschuh auf derselben platzte. Der Herr merkte sich das wohl und fand in diesem Zug den Beweis eines furchtbar leidenschaftlichen Temperament. Inzwischen beobachtete Mk. Delamayn sonderbarer Weise dasselbe Verfahren, zu welchem vor ihm Fräulein Silvester ihre Zuflucht genommen hatte, auch er suchte sich dem gemeinschaftlichen Spiel zu entziehen.

»Vielen Dank,« sagte er, »Sie würden mir eine noch größere Freude erweisen, wenn Sie einen andern Herrn wählen wollten, ich spiele nicht gern.«

Vor fünfzig Jahren würde man diese einer Dame ertheilte Antwort als eine nicht zu entschuldigende Impertinenz betrachtet haben, nach den gesellschaftlichen Regeln unserer Tage wurde die Antwort als ein Beweis einer liebenswürdigen Offenheit beifällig aufgenommen.

Die Gesellschaft lachte, aber Blanche wurde ungeduldig.

»Interessiren Sie sich denn für gar nichts Anderes, als für gewaltsame Körperübungen, Mr. Delamayn,« fragte sie in scharfem Ton, »muß es durchs aus ein Wettrudern oder ein Wettlaufen sein? wenn Sie etwas wie Geist besäßen, so würden Sie das Bedürfniß empfinden, sich ein wenig Ruhe zu gönnen; nun haben Sie zwar keinen Geist, aber Muskeln, warum wollen Sie diesen nicht auch ein wenig Ruhe gönnen?«

Die Spitzen von Blanche’s scharfem Witz glitten aber an Mr. Delamayn völlig ab.

»Wie es Ihnen gefällig ist,« erwiderte er mit unerschütterlichem Gleichmuth, »nehmen Sie es mir nicht übel, ich bin hier in Gesellschaft von Damen, die mich nicht rauchen lassen wollen und ich vermisse meine Pfeife schmerzlich, ich dachte ich könnte mich einen Augenblick davon machen und ein paar Züge thun, aber wenn Sie es wünschen, will ich auch spielen.«

»O bitte, rauchen Sie doch ja,« erwiderte Blanche, »ich werde einen Anderen wählen, ich will Sie gar nicht.«

Dem »ehrenwerthen« jungen Manne sah man an, wie sehr ihn diese Antwort erfreute.

Die ungestüme junge Dame wandte ihm den Rücken zu und sah sich nach den Gästen an der andern Seite des Pavillons um. »Wen soll ich wählen?« fragte sie sich selbst.

Ein junger Mann mit einer von der Sonne gebräunten Haut, der in Ausdruck und Wesen etwas von einem Seemann hatte, trat schüchtern auf sie zu und sagte flüsternd: »Wählen Sie mich.«

Auf Blanche’s Gesicht riefen diese Worte ein reizendes Lächeln hervor; allem Anschein nach war der dunkle junge Mann sehr gut bei ihr angeschrieben.

»Sie?« sagte sie kokett, »Sie verlassen uns ja in einer Stunde.«

Er wagte sich noch einen Schritt näher und sagte: Ich komme übermorgen wieder.«

»Aber Sie spielen ja so schlecht?«

»Ich könnte mich aber bessern, wenn Sie es mich lehren wollten!«

»Glauben Sie? dann will ich es mit Ihnen versuchen.«

Sie wandte sich mit heiterer Miene zu ihrer Stiefmutter und sagte: »ich wähle Mr. Arnold Brinkworth!«

Abermals schien hier in einem den Gästen unbekannten Namen etwas zu liegen, was gleichwohl einen besonderen Eindruck, dieses Mal nicht auf Miß Silvester, sondern auf Sir Patrick hervorbrachte. —— Er sah Mr. Brinkworth plötzlich mit einem Ausdruck von Interesse und Neugierde an, und würde, hätte nicht die Frau vom Hause in diesem Augenblicke seine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, unfehlbar mit dem jungen Manne gesprochen haben. Die Reihe war an Lady Lundie, ihrerseits einen zweiten Spieler zu wählen. Ihr Schwager war für sie eine wichtige Person, und sie hatte ihre besonderen Gründe, sich bei dem Haupte der Familie beliebt zu machen. Sie setzte die ganze Gesellschaft in Erstaunen, als sie Sir Patrick zu ihrem Mitspieler erwählte.

»Mama,« rief Blanche, »wo denkst Du hin? Sir Patrick spielt gewiß nicht mit, Croquet war ja zu seiner Zeit noch gar nicht erfunden.«

Sir Patrick gestattete der jungen Generation nie, eine verletzende Bemerkung über seine Zeit zu machen, ohne dieser Generation mit gleicher Münze heimzuzahlen.

»Zu meiner Zeit,« sagte er zu seiner Nichte gewendet, »erwartete man von den Leuten, daß sie zu einer Gesellschaft, wie diese, einige liebenswürdige Eigenschaften mitbringen würden, in neuerer Zeit habt Ihr aber solche Anforderungen aufgegeben; das ist,« bemerkte der alte Herr, indem er einen der Croquethämmer vom Tische nahm, »eines der Erfordernisse des Erfolgs in der modernen Gesellschaft und hier,« fügte er hinzu, indem er einen Ball in die Hand nahm, »ist ein anderes; man lernt so lange man lebt, ich spiele mit.«

Lady Lundie, die gegen jede ironische Bemerkung gefeit war, lächelte anmuthig und sagte: »Ich wußte, daß Sir Patrick mir zu Gefallen mitspielen würde.«

Sir Patrick verneigte sich verbindlich.

»Lady Lundie,« antwortete er, »meine Gedanken sind für Sie kein Geheimniß und liegen offen vor Ihnen.«

Zum Erstaunen aller noch nicht vierzigjährigen Gäste gab er diesen Worten einen besonderen Nachdruck. Indem er die Hand aufs Herz legte und einen Vers citirte, sagte er: »Ich darf mit Dryden ausrufen: »Alt wie ich bin, für Frauenlieb’ nicht mehr gemacht, Fühl’ ich doch immer noch der Schönheit Macht.«

Lady Lundie war durch diese Galanterie ersichtlich beleidigt.

Mr. Delamayn ging noch einen Schritt weiter, mit der Miene eines Mannes, der sich gebieterisch berufen fühlt, eine Pflicht zu erfüllen, nahm er das Wort und sagte: »Das hat Dryden nicht gesagt, darauf lasse ich meinen Kopf.«

Mit Hilfe seines elfenbeinernen Spazierstockes drehte sich Sir Patrick rasch um und sah Mr. Delamayn scharf in’s Gesicht.

»Wollen Sie Dryden besser kennen als ich?« sagte er.

Der »ehrenwerthe« Geoffrey antwortete bescheiden: »Ich glaube wohl, denn ich habe drei Mal mit ihm um die Wette gerudert und wir haben uns zusammen auf’s Rudern eingeübt.«

Sir Patrick sah mit einem bitter triumphirenden Lächeln umher.

»Dann erlauben Sie mir, Ihnen zu bemerken, daß Sie mit einem Manne um die Wette gerudert haben, der vor ungefähr zweihundert Jahren gestorben ist.«

Mr. Delamayn wandte sich mit unverhohlenem Erstaunen an die ganze Gesellschaft.

»Was will der alte Herr,« fragte er. »Ich spreche von Tom Dryden vom Corpus-Chrifti-College, jeder Mensch auf der Universität kennt ihn.«

»Und ich,« entgegnete Sir Patrick, »spreche von dein Dichter John Dryden, den ersichtlich nicht Jeder auf der Universität kennt.«

Mr. Delamayn antwortete ganz ernsthaft: »Auf mein Ehrenwort, von dem habe ich mein Leben lang noch nichts gehört.«

Er lächelte und zog seine Rosenholzpfeife aus der Tasche.

»Haben Sie vielleicht ein Zündholz?« fragte er den alten Herrn in dem unbefangen freundlichsten Tone.

Sir Patrick aber antwortete in einem durchaus nicht freundlichen Tone: »Ich rauche nicht, Sir.«

Herr Delamayn sah ihn an, ohne im mindesten beleidigt zu sein.

»Sie rauchen nicht?« wiederholte er, »dann Begreife ich nicht, wie Sie Ihre Mußestunden hinbringen.«

Sir Patrick machte der Unterhaltung ein Ende.

»Das muß Ihnen allerdings unbegreiflich sein,« sagte er mit einer sehr leichten Verbeugung.

Während dieses»kleine Scharmützel vor sich ging, hatte Lady Lundie das Spiel arrangirt und die Gesellschaft, Spieler wie Zuschauer, fing an, sich nach dem Rasen hinzubewegen.

Sir Patrick hielt seine Nichte, die im Begriff war, sich in Gesellschaft des dunklen jungen Mannes« gleichfalls in den Garten zu begeben, zurück und sagte: »Laß Mr. Brinkworth bei mir, ich habe mit ihm zu reden.«

Blanche ertheilte demgemäß ihre Ordre Mr. Brinkworth wurde verurtheilt, bei Sir Patrick zu bleiben, bis sie seiner bei dem Spiel bedürfen würde.

Mr. Brinkworth war erstaunt, aber er gehorchte.

Während dieser Ausübung eines Actes der Autorität von Seiten Blanche’s begab sich etwas Bemerkenswerthes an der anderen Ecke des Garten-Pavillons. Mrs. Silvester benutzte die durch die allgemeine Bewegung nach dem Rasen hin verursachte Verwirrung, um dicht an Mr. Delamayn heranzutreten.

»In zehn Minuten,« flüsterte sie ihm zu, wird der Gartenpavillon leer sein, dann triff mich dort.«

»Der ehrenwerthe Geoffrey fuhr zusammen und sah sich verstohlen nach den Gästen in seiner Nähe um.

»Glaubst Du, daß wir da unbeachtet sein werden?« flüsterte er leise.

Die Lippen des Mädchens zitterten, es war schwer zu sagen, ob vor Zorn oder vor Furcht.

»Ich bestehe darauf,« antwortete sie, und verließ ihn.

Mr. Delamayn blickte ihr mit zusammengezogenen Augenbrauen nach und verließ auch seinerseits den Garten-Pavillon.

Der Rosengarten hinter dem kleinen Gebäude war in diesem Augenblick ganz leer; Geoffrey zündete seine Pfeife an und verbarg sich hinter den Rosen. Er rauchte in raschen, ungeduldigen Zügen; in der Regel war er für seine Pfeife ein äußerst milder Herr; wenn er den vertrauten Diener hetzte, so war das bei ihm ein sicheres Zeichen innerer Aufregung.



Drittes Kapitel - Die Entdeckung

So waren denn nur noch zwei Personen im Garten-Pavillon Sir Patrick und Amold Brinkworth.

»Mr. Brinkworth«, fing der alte Herr an, »ich habe bis jetzt noch keine Gelegenheit gehabt, mich mit Ihnen zu unterhalten und da Sie, wie ich höre, uns noch heute verlassen wollen, würde ich auch später keine Gelegenheit finden, mit Ihnen zu reden. Ich muß mich Ihnen zunächst vorstellen. Ihr Vater gehörte zu meinen vertrauten Freunden, wollen Sie, als sein Sohn, sich ebenfalls zu meinen Freunden zählen?« Dabei reichte er ihm die Hand und nannte seinen Namen. Arnold schlug sofort in die dargereichte Hand ein.

»Sir Patrick,« sagte er warm, »wenn mein armer Vater Ihren Rath befolgt hätte, würde er es sich zweimal überlegt haben, bevor er sein Vermögen beim Rennen verspielt hätte.....«

»Und er wäre vielleicht noch jetzt unter uns, und nicht als Verbannter in einem fremden Lande gestorben,« sagte Sir Patrick, den von Arnold begonnenen Satz vollendend »Reden wir nicht mehr davon, sondern von etwas Anderem.«

»Lady Lundie hat mir kürzlich über Sie geschrieben sie theilte mir mit, daß Ihre Tante gestorben sei und Ihnen ihr Gut in Schottland hinterlassen habe. Ist dem wirklich so, dann wünsche ich Ihnen von ganzem Herzen Glück.«

Aber warum sind Sie hier zum Besuch, statt auf Ihrem Gute nach dem Rechten zu sehen? Freilich ist es nur dreiundzwanzig Meilen von hier entfernt und Sie wollen wohl noch heute mit dem nächsten Zuge hinreisen? Recht so! Wie, und dann wollen Sie übermorgen wiederkommen? Aber warum denn das? Vermuthlich fesselt Sie etwas hier? Sie sind sehr jung, Sie sind Versuchungen aller Art ausgesetzt. Sind Sie denn ein leidlich verständiger Mensch? Wenn Sie einen soliden Grund von gesundem Menschenverstand haben, so verdanken Sie das nicht Ihrem armen Vater! Sie müssen noch ganz jung gewesen sein, als er die Aussichten seiner Kinder zerstörte. Womit haben Sie Ihre Zeit seitdem hingebracht? Was war Ihre Beschäftigung, als das Testament Ihrer Tante Sie für Lebenszeit zu einem Müßiggänger machte?«

Diese Fragen hatten etwas Inquisitorisches, aber Arnold beantwortete sie, ohne einen Augenblick zu zaudern und sprach mit einer Einfachheit, durch die er sich sofort Sir Patricks Herz gewann.

»Ich war auf der Schule zu Eton, als die Verluste meines Vaters ihn ruinirten; ich mußte die Schule verlassen und mir selbst mein Brot verdienen, und ich habe das sauer genug bis zu diesem Tage gethan. Ich habe auf Kauffahrteischiffen als Seemann gedient.«

»Kurz, Sie haben das Unglück wie ein braver Kerl getragen und das Ihnen zugefallene Glück reichlich verdient«, entgegnete Sir Patrick, »geben Sie mir die Hand, Sie gefallen mir! Sie sind nicht wie die andern jungen Leute in unsern Tagen; ich will Sie bei Ihrem Vornamen nennen, aber Sie dürfen das nicht erwidern und mich Patrick nennen wollen, denn ich bin zu alt dazu. —— Nun, wie gefallen Sie sich hier? Was ist meine Schwägerin für eine Art Frau und wie finden Sie das ganze Haus?«

Arnold brach in lautes Lachen aus.

»Das sind sonderbare Fragen aus Ihrem Munde an mich gerichtet, Sie sprechen ja, als ob Sie hier fremd wären!«

Sir Patrick drückte auf die Feder in der Krücke seines elfenbeinernen Spazierstockes. Ein kleiner goldener Deckel flog auf und es zeigte sich eine kleine im Innern verborgene Schnupftabacksdose. Er nahm eine Prise und lachte satyrisch in sich hinein über eine ihm durch den Kopf fahrende Idee, die er seinem jungen Freunde mitzutheilen nicht für nöthig hielt.

»Sie finden, daß ich wie ein Fremder rede«, nahm er wieder auf, »das bin ich auch. Lady Lundie und ich stehen in freundschaftlichem brieflichen Verkehr, aber wir gehen verschiedene Wege und sehen uns so selten wie möglich.«

»Meine Lebensgeschichte«, fuhr der liebenswürdige alte Herr mit einer reizenden Offenheit fort, welche alsbald alle Schranken der Verschiedenheit des Alters und Standes zwischen ihm und Arnold hinwegräumte, »ist nicht ohne Aehnlichkeit mit der Ihrigen, obgleich ich alt genug wäre, Ihr Großvater zu sein.«

»Ich verdiente mir mein Brod als schottischer Advocat, als sich mein Bruder zum zweiten Male verheirathete. Als er starb, ohne einen Sohn zu hinterlassen, avancirte ich plötzlich in der Welt wie Sie. Hier bin ich zu meinem eigenen aufrichtigen Bedauern als der jetzige Baronet, Ja, ja, zu meinem aufrichtigen Bedauern. Alle Arten von Verantwortlichkeit, an die ich nie gedacht hatte, werden mir jetzt aufgebürdet, ich bin das Haupt der Familie, der Vormund meiner Nichte. Ich muß hier bei diesem Gartenfeste erscheinen und fühle mich, unter uns gesagt, so vollständig aus meinem Element gerissen, wie es ein Mensch nur sein kann. Unter all’ diesen eleganten Leuten finde ich keinen einzigen, der mir gefällt »— Kennen Sie irgend Jemand hier?«

»Ich habe einen Freund hier in Windygates, der ebenfalls diesen Morgen angekommen ist,« antwortete Arnold, —— »Geoffrey Delamayn!«

Bei diesen Worten erschien Miß Silvester in der Thür des Garten-Pavillons. Ihr Gesicht überflog etwas wie Verdruß, als sie den Platz besetzt fand, sie verschwand unbemerkt und schlüpfte wieder zu den Spielenden hin.

Jetzt sah Sir Patrick den Sohn seines alten Freundes auf einmal mit dem Ausdruck vollständiger Enttäuschung an.

»Die Wahl Ihres Freundes überrascht mich etwas,« sagte er.

Arnold faßte die Worte arglos als eine Aufforderung zu einer näheren Mittheilung auf. »Ich bitte um Vergebung«, sagte er, »die Sache hat durchaus nichts Ueberraschendes. Wir waren vor Jahren Schulkameraden in Eton, und seitdem begegneten wir uns einmal, als ich mit meinem Schiffe und Geoffrey mit seiner Yacht fuhr. Geoffrey hat mir das Leben gerettet, Sir Patrick«, fügte er mit einer Stimme und einem Blick hinzu, in dem sich die höchste Bewunderung für seinen Freund aussprach»»wenn er mich nicht gerettet hätte, so wäre ich bei einem Schiffsunfall um’s Leben gekommen! War das nicht ein guter Grund, ihn zu meinem Freunde zu machen?«

»Das kommt ganz darauf an, wie hoch Sie Ihr Leben schätzen.«

»O«, antwortete Arnold, »natürlich sehr hoch!«

»Wenn das der Fall ist, so sind Sie allerdings Mr. Delamayn zu Dank verpflichtet und in seiner Schuld ——«

»Die ich nicht wieder abtragen kann.«

»Die Sie aber noch einmal mit Zinsen abtragen werden, wenn ich mich noch irgend wie auf menschliche Charaktere verstehe«, entgegnete Sir Patrick in einem sehr zuversichtlichen Tone.

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als Delamayn —— gerade wie kurz vorher Miß Silvester —— in der Thür des Garten-Pavillons erschien; auch er verschwand unbemerkt, wie Miß Silvester, aber sehr Verschieden von den Empfindungen dieser, fühlte sich der »ehrenwerthe« Geoffrey bei der Entdeckung, daß der Pavillon besetzt sei, sichtlich erleichtert.

Dieses Mal hatte Arnold die Sprache und den Ton Sir Patrick’s richtig aufgefaßt und unternahm eifrig die Vertheidigung seines Freundes.

»Sie sagen das in einem etwas bittern Tone,« bemerkte er, »was hat Geoffrey Ihnen zu Leide gethan?«

»Mir zu Leide gethan? er hat die Prätension zu existiren«, antwortete Sir Patrick »Erschrecken Sie nicht, ich spreche im Allgemeinen. Ihr Freund ist das Muster eines jungen Engländers unserer Tage und ich liebe diese Gattung nicht. Ich habe keinen Sinn für, den Enthusiasmus, mit dem man sie als ein herrliches nationales Product feiert, weil sie groß und stark ist, und das ganze Jahr hindurch kalte Sturzbäder nimmt, ohne sich Schaden zu thun. Nach meiner Ansicht werden die rein physischen Eigenschaften, welche die Engländer mit den Wilden und Thieren theilen, viel zu hoch geschätzt, und die schlimmen Resultate jener falschen Bewunderung fangen schon an, sich zu zeigen; wir sind geneigter als je, Allem, was in unsern nationalen Sitten roh ist, die Zügel schießen zu lassen, und Alles zu entschuldigen, was in unsern nationalen Handlungen gewaltsam und brutal ist. Lesen Sie doch unsre beliebtesten Schriftsteller, gehen Sie an die öffentlichen Vergnügungsorte, Sie werden überall auf eine Abnahme der Achtung vor den feineren Sitten des civilisirten Lebens und auf eine wachsende Bewunderung alles Oberflächlichen stoßen.«

Arnold hörte dem alten Herrn mit unverhohlenem Erstaunen zu: er hatte die unschuldige Veranlassung bieten müssen, Sir Patric’s Gemüth von einem Protest gegen eine Richtung unserer Zeit zu befreien, den er schon lange mit sich herum getragen hatte.

»Wie heiß nehmen Sie die Sache, Sir Patrick!« sagte Arnold mit rückhaltslosem Erstaunen.

Sir Patrick nahm sich sofort wieder zusammen.

»Beinahe so heiß,« erwiderte er, »wie die Leute, die bei einem Wettrudern in lauten Jubel ausbrechen oder sich in die Lectüre ihres Wettbuches vertiefen. Ja, ja, zu meiner Zeit ereiferten wir uns so leicht über viel geringfügigere Dinge! —— Doch lassen Sie uns von etwas Andern reden.«

»Ich weiß nichts Ungünstiges über Ihren Freund Delamayn, aber mich verdrießt die Dreistigkeit," rief Sir Patrick, wieder auf seine Betrachtungen zurückkommend, »mit der man es heutzutage überall aussprechen hört, diese körperlich gesunden Menschen müßten auch ohne Weiteres sittlich gesunde Menschen sein. Die Zeit wird lehren, ob diese dreiste Behauptung begründet ist oder nicht.

»Sie wollen also nach einem flüchtigen Besuch auf Ihrem Gute wieder hierherkommen? Ich kann nur wiederholen, daß das für einen Gutsbesitzer ein höchst sonderbares Verfahren ist. Was zieht Sie denn hierher?«

Noch bevor Arnold antworten konnte, rief ihn Blanche vom Rasen her; er erröthete und schickte sich eifrig an, dem an ihn ergangenen Rufe zu folgen.

Sir Patrick nickte mit dem Kopfe, wie Jemand, der eine ihn völlig befriedigende Antwort erhalten hat. »Oh,«, sagte er, »dahin fühlen Sie sich gezogen!«

Arnold’s Leben als Seemann hatte ihn in den Sitten und Gebräuchen des festen Landes sehr unbewandert gelassen. Statt ruhig auf den Scherz einzugehen, wurde er betroffen und ein tiefes Roth überflog sein Gesicht.

»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte er in gereiztem Tone.

Sir Patrick klopfte dem Seemann mit seiner weißen runzeligen Hand auf die Wange.

»Das haben Sie allerdings gethan, mein lieber Freund, und zwar in einer feurigen Sprache!«

Der kleine goldene Deckel in der Krücke seines Stockes sprang wieder auf und der alte Herr belohnte sich für diese treffende Antwort mit einer Prise.

In diesem Augenblick erschien Blanche »Mr. Brinkworth«, sagte sie, »Sie kommen gleich an die Reihe und Du kommst schon jetzt, lieber Onkel.«

»Gott sei mir gnädig! ich habe gar nicht mehr an das Spiel gedacht« Er sah sich um und fand seinen Hammer und seinen Ball noch auf dem Tische liegen. »Wo sind die modernen Ersatzmittel für Conversation?« rief er aus. »Da sind sie!« Und mit diesen Worten nahm er den Hammer wie einen Regenschirm unter den Arm und warf den Ball vor sich her, daß er dem Rasen zurollte »Wer mag Wohl«, sagte er bei sich, als er munter hinaus humpelte, »der erste Narr gewesen sein, der das Leben für eine ernste Sache erklärte! Da steh’ ich alter Thor mit einem Fuße im Grabe und die dringendste Frage, die mich diesen Augenblick beschäftigt, ist: »Werde ich meinen Ball durch die Ringe bringen?«

Arnold und Blanche blieben allein! Unter den persönlichen Vorzügen, welche die Natur den Frauen gewährt hat, giebt es keine beneidenswertheren, als die, am reizendsten auszusehen, wenn sie dem Mann ihrer Neigung gegenüberstehen. Als Blanche’s Augen, nachdem Sir Patrick den Gartenpavillon verlassen hatte, sich Arnold zuwandten, konnte selbst die abscheuliche Entstellung eines mächtigen Chignons und eines tellerartigen Hutes den dreifachen Reiz der Jugend, der Schönheit und der Zärtlichkeit, die aus ihren Augen strahlten, nicht schmälern; Arnold sah sie an und empfand bei dem Gedanken, daß er mit dem nächsten Zuge fortgehen und sie in der Gesellschaft von mehr als einem Bewunderer seines Alters zurücklassen müsse, eine Besorgniß, die ihm bisher noch nicht aufgestiegen war. In den vierzehn Tagen, die er unter demselben Dache mit Blanche verlebt hatte, war die Ueberzeugung in ihm reif geworden, daß sie das reizendste Geschöpf auf der Welt sei. Vielleicht, dachte er, würde sie es gar nicht so übel nehmen, wenn er ihr das sagte und er beschloß, es ihr in diesem günstigen Augenblick zu sagen. Aber wer hat je die Tiefe des Abgrundes gemessen, der zwischen Absicht und Ausführung liegt? Arnold’s Entschluß zu reden, war so fest, wie ein Entschluß nur sein kann und was wurde daraus? Zur Schande der menschlichen Schwäche sei es gesagt —— nichts als Schweigen.

»Sie scheinen nicht ganz wohl zu sein, Mr. Brinkworth«, sagte Blanche »Wovon hat Sir Patrick mit Ihnen gesprochen? Mein Onkel erprobt seinen Witz an Jedermann, haben Sie ihm auch als Zielscheibe dienen müssen?«

Arnold glaubte eine Gelegenheit gefunden zu haben, zwar in weiter Ferne, aber doch eine Gelegenheit. Sir Patrick ist ein gefährlicher alter Herr«, antwortete er; »gerade in dem Augenblick, als Sie eintraten, hat er mir ein Geheimnis; vom Gesicht abgelesen!« Arnold hielt inne, faßte sich aber ein Herz und ging gerade auf sein Ziel los. »Ich möchte wohl wissen«, fragte er geradezu, »ob Sie dieselbe Gabe besitzen, wie Ihr Onkel.«

Blanche verstand ihn auf der Stelle. Hätte sie Zeit gehabt, so würde sie sich wahrscheinlich seiner angenommen und ihn Schritt für Schritt sanft an sein Ziel geleitet haben, aber in höchstens zwei Minuten war Arnold an der Reihe zu spielen.

»Er will mir einen Antrag machen«, sagte Blanche bei sich, »und da hat er eine Minute Zeit dazu; er soll es in dieser Minute thun.«

»Wie!« rief sie aus, »meinen Sie, daß die Gabe des Errathens ein Familienerbtheil ist?«

Arnold stürzte sich Hals über Kopf auf die nächstliegende Antwort. »Ich wünschte, dem wäre so.«

Blanche sah wie ein Bild des Erstaunens aus »Wenn Sie in meinem Gesicht lesen könnten, was Sir Patrick darin gelesen hat« —— er hätte den Satz nur zu vollenden brauchen und die Sache wäre gethan gewesen, aber die Liebesleidenschaft gefällt sich darin, sich selbst tückischer Weise Hindernisse in den Weg zu legen. —— Gerade in diesem ungelegenen Augenblick wurde Arnold von einer plötzlichen Schüchternheit ergriffen und hielt in der denkbar ungeschicktesten Weise inne.

Blanche hörte vom Rasen her den Schlag des Hammers auf den Ball und das, Lachen der Gesellschaft über die Ungeschicklichkeit Sir Patricks. Die kostbarsten Secunden eilten dahin; sie hätte Arnold wegen seiner entsetzlichen Zaghaftigkeit schlagen mögen.

»Nun»sagte sie ungeduldig, »was soll ich denn in Ihrem Gesichte lesen?«

Arnold setzte noch einmal an und sagte: »Sie sollen darin lesen, daß ich ein bischen Aufmunterung brauche.«

»Von mir?«

»Ja wohl, von Ihnen.«

Blanche sah über ihre Schultern weg hinaus in den Garten. Der Garten-Pavillon stand auf einer kleinen Anhöhe, zu welcher Stufen führten. Die Spieler auf dem Rasen unten waren hörbar, aber nicht sichtbar. Jeden Augenblick konnte Jemand ganz unerwartet erscheinen. Blanche horchte, aber kein nahender Schritt war zu vernehmen. Jetzt war es wieder still, und dann erklang wieder ein Schlag des Hammers auf den Ball und dann ein allgemeines Händeklatschen. Sir Patrick war eine priviligirte Person, man hatte ihm vermuthlich erlaubt, das Spiel noch einmal zu versuchen, und er war bei dem zweiten Versuch glücklicher gewesen. Dadurch war ein kleiner Aufschub entstanden.

Blanche sah Arnold wieder an.

»Nun wohl, ich ermuthige Sie«, flüsterte sie, »das heißt,« fügte sie mit dem unvertilgbaren weiblichen Instinct der Selbstvertheidigung hinzu, »in den gehörigen Grenzen!«

Arnold setzte zum letzten Mal an und dieses Mal mit Erfolg. »Nun also. Ich liebe Sie, und zwar —— grenzenlos.«

Es war geschehen, die Worte waren ausgesprochen! Er hatte ihre Hand ergriffen, aber wieder zeigte sich die Tücke der Leidenschaft Kaum war das Bekenntniß, das Blanche so sehnlich erwartet hatte, den Lippen —— ihres Geliebten entfahren, als sie schon dagegen protestirte; sie versuchte, ihre Hand aus der seinigen zu befreien, und hieß Arnold sie in Ruhe zu lassen. Arnold hielt sie aber nur um so fester. »Versuchen Sie es doch nur, mich ein Bischen lieb zu haben«, bat er, »ich liebe Sie so sehr.«

Wer hätte einer solchen Werbung widerstehen können, wohl gemerkt, wenn man den Werbenden selbst liebte und wenn man sicher war, im nächsten Augenblick wieder gestört zu werden.

Blanche gab es auf, sich loszumachen und sah ihren jungen Seemann lächelnd an.

»Haben Sie diese Art, Liebeserklärungen zu machen, im Seedienste erlernt?« fragte sie schalkhaft.

Arnold aber ließ sich in der ernsthaften Verfolgung seines Zweckes nicht irre machen.

»Ich will wieder Seemann werden, wenn ich Sie erzürnt habe.«

Blanche hatte eine zweite Dosis Aufmunterung bereit.

»Zorn ist eine schlimme Leidenschaft, Mr. Brinkworth«, antwortete sie ernsthaft, »und ein wohlerzogenes junges Mädchen hat keine schlimmen Leidenschaften.«

In diesem Augenblick ließ sich ein Ruf nach Mr. Brinkworth vom Rasen her vernehmen. Blanche versuchte es, ihn hinaus zu schieben, aber Arnold war unbeweglich.

»Sagen Sie doch etwas mich zu ermuntern, ehe ich fortgehe«, bat er, »ein einziges Wort genügt.«

Blanche schüttelte mit dem Kopf. Jetzt war sie seiner sicher und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihn zu quälen.

»Ganz unmöglich«, rief sie, »wenn Sie noch mehr Aufmunterung haben wollen, müssen Sie mit meinem Onkel reden.«

»Ich will mit ihm reden. Sagen Sie ja.«

Blanche versuchte zum zweiten Mal, ihn hinauszuschieben.

»Gehen Sie jetzt und geben Sie sich Mühe, den Ball durch die Ringe zu bringen.«

Sie hatte beide Hände auf seine Schultern gelegt; ihre Wangen waren den seinigen ganz nahe, sie war unwiderstehlich. Arnold faßte sie um den Leib und küßte sie. —— Jetzt war es nicht nöthig, ihn gewaltsam zu entfernen, damit er seinen Ball durch die Ringe bringe, er hatte ihn schon durchgebracht! Blanche stand sprachlos da. Arnold’s letzter Versuch in der Kunst, Liebeserklärungen zu machen, hatte ihr den Athem benommen und bevor sie sich noch wieder erholte, wurden herankommende Fußtritte deutlich vernehmbar. Arnold drückte sie noch einmal an sich und lief hinaus.

Sie sank auf den nächsten Stuhl und schloß die Augen im Gefühl einer glückseligen Verwirrung —— ——

Die Fußtritte kamen näher. Blanche öffnete die Augen und sah Anne Silvester Vor sich stehen und sie ansehen. Sie sprang auf und Anne um den Hals.

»Du weißt nicht, was geschehen ist«, flüsterte sie; »wünsche mir Glück, er hat sich erklärt, er ist auf ewig mein.« —— Alle schwesterliche Liebe und alles schwesterliche Vertrauen langer Jahre gaben sich in ihrer Umarmung und dem Ton ihrer Worte kund. Die Herzen der Mütter konnten sich jemals nicht näher gestanden haben, als es die Herzen der Töchter allem Anschein nach thaten, und doch, wenn Blanche in diesem Augenblick Anne angesehen hätte, würde es ihr nicht entgangen sein, daß Anne’s Gedanken sich mit etwas ganz Anderem als mit ihrer kleinen Liebesgeschichte beschäftigten.

»Du weißt doch, von wem ich rede«, fuhr sie fort, nachdem sie einen Augenblick auf eine Antwort gewartet hatte.

»Mr. Brinkworth?«

»Natürlich, wer sollte es sonst sein!«

»Und Du bist wirklich glücklich, mein Engel?«

»Glücklich«, wiederholte Blanche »Im strengsten Vertrauen, ich könnte vor Freuden Purzelbäume schlagen! Ich liebe ihn, ich liebe ihn, ich liebe ihn!« rief sie, mit kindischer Freude die Worte wiederholend Sie wurden mit einem tiefen Seufzer erwidert. Blanche sah Anne scharf in’s Gesicht und fragte mit plötzlich veränderter Stimme: »Was hast Du?«

»Nichts!«

Blanche hatte aber zu gut beobachtet, um sich mit dieser Antwort abfertigen zu lassen.

»Du hast allerdings etwas«, sagte sie, »fehlt Dir Geld«, fügte sie nach einer kurzen Ueberlegung hinzu, »Rechnungen zu bezahlen? Ich habe reichlich Geld, Anne, ich kann Dir leihen, was Du brauchst!«

»Nein, liebes Kind.«

Blanche war empfindlich Zum ersten Mal, so Lange sie denken konnte, war Anne etwas zurückhaltend gegen sie gewesen.

»Ich sage Dir alle meine Geheimnisse, warum verbirgst Du mir etwas? Weißt Du wohl, daß Du nun schon seit einiger Zeit besorgt und unglücklich aussiehst? Vielleicht magst Du Mr. Brinkworth nicht leiden! ——" Nein, Du magst ihn? Ist es denn meine Heirath? —— Das wird es sein! Du denkst, wir müssen uns trennen? —— als ob ich ohne Dich leben könnte! —— Natürlich mußt Du, wenn ich mit Arnold verheirathet bin, bei uns leben, das versteht sich ja ganz von selbst, nicht wahr?«

Anne trat plötzlich zurück und wies auf die Treppe hin: »Da kommt Jemand, sieh’ nur!«

Die ankommende Person war Arnold.

Blanche war an der Reihe zu spielen und er hatte sich erboten, sie zu holen.

Blanche’s Aufmerksamkeit, die bei andern Gelegenheiten leicht abzulenken war, blieb dieses Mal fest an Anne haften. »Du bist ja gar nicht Du selbst? Und ich muß den Grund wissen«, sagte sie, »ich will bis heute Abend warten, dann mußt Du auf mein Zimmer kommen und mir erzählen, was Dich quält! Sieh doch nicht so aus, Du mußt es mir erzählen und da hast Du einen Kuß.«

Sie ging mit Arnold und fand ihre ganze Munterkeit wieder, sobald sie ihn ansah.

»Nun, haben Sie Ihren Ball durchgebracht?«

»Ach! was kümmern mich die Bälle! Ich habe das Eis zwischen mir und Sir Patrick gebrochen.«

»Was? Vor der ganzen Gesellschaft!

»Natürlich! Ich habe mit ihm verabredet, ihn hier zu sprechen.«

Lachend gingen sie die Treppe hinunter zu den Spielenden.

Anne, die im Garten Pavillon allein blieb, ging langsam nach dem Hintergrunde desselben. An einem der Seitenwände hing ein Spiegel mit einem geschnitzten Holzrahmen Sie blieb stehen, sah hinein und schauderte bei dem Anblick ihres Spiegelbildes. »Ist der Augenblick gekommen«, sagte sie, »wo selbst Blanche in meinem Gesicht liest, was mit mir ist?« —— Dann aber wandte sie sich plötzlich von dem Spiegel ab und rang mit einem Verzweiflungsschrei die Hände und lehnte den Kopf gegen die Wand.

In diesem Augenblick erschien an der Schwelle der Thür eine männliche Gestalt. Es war Geoffrey Delamayn!



Viertes Kapitel - Die Beiden

Er trat einen Schritt vor und blieb dann stehen,

Ganz in Gedanken versunken hörte Anne ihn nicht und rührte sich nicht.

»Ich bin gekommen, weil Du darauf bestanden hast«, sagte er von ihrer Erscheinung betroffen, »aber bedenke wohl, daß wir hier nicht sicher sind.«

Bei dem Klange seiner Stimme drehte sich Anne nach ihm um. Als sie langsam aus dem Hintergrunde des Garten-Pavillons herkam, trat in ihrem Gesicht eine plötzliche Veränderung des Ausdrucks hervor, welche eine sonst nicht bemerkbare Aehnlichkeit mit ihrer Mutter erkennen ließ. Wie die Mutter in vergangenen Tagen den Mann, der sie verleugnete, angeblickt hatte, so blickte jetzt die Tochter Geoffrey Delamayn an: mit derselben furchtbaren Ruhe und demselben furchtbaren Ausdruck der Verachtung!«

»Nun«, begann er, »was hast Du mir zu sagen?«

»Geoffrey Delamayn«, sagte sie, »Du gehörst zu den Großen dieser Welt, Du bist der Sohn eines Edelmannes, Du bist schön, Du bist beliebt in Deinen Clubs; Du hast Zutritt zu den besten Häusern in England, aber bist Du nicht bei alledem noch etwas Anderes? Bist Du nicht auch ein Feigling und ein Schurke dazu?«

»Er fuhr zusammen, öffnete die Lippen um zu sprechen, hielt aber ein und machte einen nicht sehr glücklichen Versuch die Sache wegzulachen »Komm, komm«, erwiderte er, »bleibe ruhig!«

Ihre bis jetzt zurückgehaltene Leidenschaft fing an hervorzubrechen »Ruhig bleiben soll ich?« wiederholte sie; »von allen Menschen bist Du wohl der letzte, der ein Recht hätte mich zur Selbstbeherrschung zu ermahnen. Wie schwach muß Dein Gedächtniß sein; hast Du die Zeit vergessen, wo ich thöricht genug war zu glauben, daß Du mich liebtest? Und war ich nicht wahnsinnig genug zu glauben, daß Du Dein Versprechen halten könntest?«

Er wiederholte den Versuch über die Sache zu lachen.

»Wahnsinnig ist nicht der richtige Ausdruck, Anne.«

»Wenn ich an meine Verblendung zurückdenke, so kann ich sie mir nicht erklären, ich verstehe mich selbst nicht! Was konnte ich an Dir finden, das auf mich eine solche Anziehungskraft ausübte?« fragte sie im Tone geringschätziger Verwunderung.

Sein unerschütterlicher Gleichmuth war selbst gegen diese Angriffe stichfest. Er steckte die Hände in die Tasche und sagte: »Ich weiß es wahrhaftig nicht!«

Sie wandte sich von ihm weg; diese offene brutale Antwort hatte sie nicht beleidigt, aber diese Antwort drängte ihr das grausame Bewußtsein auf, daß sie Niemanden als sich selbst für die Lage zu tadeln habe, in der sie sich in diesem Augenblick befand. Sie wollte ihn nicht merken lassen, wie schwer dieses Bewußtsein und die Erinnerung an vergangene Tage auf ihr laste. Es war eine traurige Geschichte, an die sich diese Erinnerungen knüpften.

Bei Lebzeiten ihrer Mutter war Anne das lieblichste liebenswürdigste Kind gewesen. Später unter der Obhut der Freundin ihrer Mutter, waren ihre Mädchenjahre so harmlos und glücklich verlaufen, daß es scheinen konnte, als ob die in ihr schlummernden Leidenschaften niemals erwachen würden.

So hatte sie fortgelebt, bis sie zur Jungfrau herangereift war, um dann, als sich ihr Leben zu seiner schönsten Blüthe entfaltet hatte, es in einen einzigen verhängnißvollen Augenblick an den Mann, der jetzt vor ihr stand, wegzuwerfen —— ——

Mie war das möglich gewesen? —— Sie hatte ihn mit andern Augen angesehen, als sie ihn jetzt ansehen mußte, sie hatte ihn gesehen als den Helden einer Wettruderfahrt, als den Sieger in einem Kampfe, in welchem Kraft und Geschicklichkeit den Ausschlag gaben, und der ganz England in Begeisterung versetzte, sie hatte ihn als den Mittelpunkt des Interesses, als das Ideal der Begeisterung und des Beifalls der Massen gesehen. Sein waren die Arme, deren Muskeln in den Zeitungen verherrlicht wurden; er war der erste unter den Helden, der als der Stolz und die Blüthe Englands von zehntausend jubelnden Kehlen begrüßt wurde. In diese Atmosphäre des glühendsten Enthusiasmus der Vergötterung der physischen Kraft nun denke man sich ein Mädchen versetzt. Darf man da verständiger und billiger Weise erwarten, daß sie sich kaltblütig fragt: »welchen moralischen und intellectuellen Werth hat das Alles?« Und noch dazu, wenn dieser Mann, der Gegenstand der allgemeinen Vergötterung ihr vorgestellt wird, wenn er Geschmack an ihr findet und sie vor allen Anderen auszeichnet?!

Jetzt stand sie da, von dem Bewußtsein ihres Geheimnisses gemartert, des schrecklichen Geheimnisses, welches sie vor dem unschuldigen Mädchen, an dem sie mit schwesterlicher Zärtlichkeit hing, verbarg. Erst jetzt, wo es zu spät war, durchschaute sie den Mann und erkannte sie seinen ganzen Unwerth. Erst jetzt, wo sie nur von ihm Rettung vor Schande erhoffen konnte, mußte sie sich fragen, was liebenswerth an einem Manne sei, der sie so behandeln konnte, wie er es eben jetzt that.

Es entstand eine Pause peinlichen Schweigens im Garten-Pavillon. Aus der Ferne erklang das heitere Lärmen der Spielenden auf dem Rasen. Draußen muntere Stimmen, Lachen aus jugendlichen Kehlen, das Stoßen des Hammers auf den Ball, —— drinnen ein Weib, das die bitteren Thränen des Kummers und der Schmach zurückdrängt —— und ihr gegenüber ein Mann, der kein Hehl daraus macht, daß er ihrer überdrüssig ist.

Endlich raffte sie sich auf, sie war die Tochter ihrer Mutter und trug einen Funken des mütterlichen Muthes in sich; ihre Zukunft hing von dem Ausgange dieser Zusammenkunft ab. Sie durfte, da ihr weder Bruder noch Vater zur Seite stand, einen letzten Versuch an sein besseres Ich nicht unterlassen; sie drängte ihre Thränen gewaltsam zurück und sagte in milderem Tone:

»Seit drei Wochen bist Du jetzt auf dem Landsitz Deines Bruders, nicht zehn Meilen von hier entfernt, Geoffrey, und nicht ein einziges Mal bist Du herübergeritten, um mich zu sehen! Du wärest auch heute nicht gekommen, wenn ich nicht in einem Billet an Dich, darauf bestanden hätte; habe ich eine solche Behandlung von Dir verdient?«

Sie hielt inne. Er antwortete nicht.

»Hörst Du mich nicht?« fragte sie vortretend und Ihre Stimme erhebend.

Er schwieg noch immer.

Das überstieg das Maß des Ertragbaren. Die Vorzeichen eines Unwetters wurden deutlich auf ihrem Gesicht erkennbar. Er kam dem Ausbruch desselben mit eiserner Stirne zuvor. Während ihn der Gedanke an diese Zusammenkunft, vorhin im Rosengarten unbehaglich gestimmt hatte, war er jetzt, wo er ihr gegenüberstand, wieder vollkommen Herr seiner selbst. Er hatte Gemüthsruhe genug, sich zu erinnern, daß er seine Pfeife nicht wieder in ihr Etui gesteckt hatte, Gemüthsruhe genug, diese Versäumniß in aller Gelassenheit nachzuholen, bevor er sich mit etwas Anderem beschäftigte. Er zog das Etui aus der einen und die Pfeife aus der andern Tasche.

»Fahre fort, ich höre!«

Sie schlug ihm die Pfeife ans der Hand. Wenn sie Kraft genug besessen hätte, würde sie ihn selbst auf den Boden des Garten-Pavillons niedergestreckt haben.

»Wie darfst Du es wagen, mich so zu behandeln?« brach sie heftig aus, »Dein Benehmen ist niederträchtig, vertheidige es, wenn Du es kannst.«

Er mochte gar keinen Versuch, sich zu vertheidigen. Mit dem Ausdruck einer unverhohlenen Besorgniß blickte er aus seine am Boden liegenden Pfeife, die ihn 10 Schilling gekostet hatte! »Ich will erst meine Pfeife vom Boden aufnehmen«, sagte er.«

Sein Gesicht erheiterte sich, er sah schöner aus als je, als er den kostbaren Gegenstand unversehrt fand und wieder in sein Etui steckte. »Wie gut«, sagte er bei sich, »daß sie mir die Pfeife nicht zerbrochen hat.«

»Ich appellire an Dein eigenes gesundes Urtheil«, sagte er jetzt in ruhigem und verständigem Tone, »wozu nützt es, daß Du Dich so heftiger Ausdrücke gegen mich bedienst; wünschest Du, daß die da Draußen Dich hören? Aber so seid Ihr Frauen Alle; man kann es anfangen wie man will, man bemüht sich vergebens, Euch ein bischen Vorsicht beizubringen.«

Hier hielt er inne und erwartete eine Antwort Von ihr.

Sie ihrerseits aber forderte ihn auf, fortzufahren.

»Sieh’«, sagte er, »Du hast gar keinen Grund, mir zu zürnen; ich will ja mein Wort nicht brechen, aber was kann ich thun, ich bin nicht der älteste Sohn meines Vaters, sondern hänge ganz und gar von ihm ab und stehe schon ohnedies auf schlechtem Fuße mit ihm; siehst Du jetzt, wie die Sache liegt? Du bist eine Dame, das weiß ich recht gut, aber Du bist doch nur eine Gouvernante. Es ist so gut in Deinem Interesse wie in meinem, wenn ich warte, bis mein Vater für mich gesorgt hat, mit einem Wort, wenn ich Dich jetzt heirathe, bin ich ein ruinirter Mensch.«

Diesmal blieb sie ihm die Antwort nicht schuldig.

»Du Schurke, und wenn Du mich nicht heirathest, bin ich ein zu Grunde gerichtetes Mädchen.«

»Was willst Du damit sagen?«

»Das weißt Du! Sieh mich nicht so an.«

»Wie kann ich ein Mädchen, das mich einen Schurken schilt, anders ansehen?

Plötzlich aber änderte sie ihren Ton.

Das in jedem Menschen schlummernde Element der Bestialität, zu dessen Bewältigung die Erziehung grade« dieses Mannes am Wenigsten geeignet gewesen war, fing an, sich in dem Ausdruck seiner Augen und in seiner Stimme leise zu zeigen.

Es war klar, daß Einer von Beiden nachgeben mußte.

Für das Weib stand am meisten auf dem Spiel und sie war es daher, die sich fügte.

»Sei nicht so hart gegen mich«, bat sie, »ich will auch nicht hart gegen Dich sein.«

»Der Zorn hat mich überwältigt, Du kennst meine heftige Gemüthsart, es thut mir leid, daß ich mich vergessen habe!«

»Geoffrey! meine ganze Zukunft liegt in Deiner Hand, willst Du mir nicht Gerechtigkeit angedeihen lassen?«

Sie trat nahe an ihn heran und legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Hast Du mir kein Wort zu sagen?«

Keine Antwort, nicht einmal ein Blick.

Sie wartete noch einen Augenblick, dann aber ging wieder eine merkwürdige Veränderung mit ihr vor.

Sie wandte sich um und ging langsam auf die Thür des Garten-Pavillons zu.

»Es thut mir leid, daß ich Sie gestört habe, Mr. Delamayn, ich will sie nicht länger incommodiren.«

Er sah sie an. Sie hatte die Worte in einem Tone gesprochen, den er an ihr nicht kannte; in ihren Augen leuchtete ein unheimliches Feuer.

Mit, einer plötzlichen und gewaltigen Bewegung streckte er die Hand nach ihr aus und hielt sie zurück.

»Wo willst Du hin?« fragte er.

Ihm gerade in’s Gesicht sehend, antwortete sie:

»Wohin seht viele junge Mädchen vor mir gegangen sind, fort aus dieser Welt!«

Er zog sie sanft an sich heran und sah ihr scharf in’s Auge. Selbst sein Verstand reichte hin, zu erkennen, daß er sie aufs Aeußerste gebracht hatte.

»Du willst Dir das Leben nehmen?«

»Ja, das will ich!«

Er ließ ihren Arm los.

»Bei Gott!« sagte er, »sie meint es wirklich!«

In dieser Gewißheit schob er einen der im Garten.Pavillon stehenden Stühle mit dem Fuß zu sich heran und sagte in rohem Ton:

»Setze Dich.«

Sie hatte ihm Furcht eingeflößt, und Furcht ist ein Gefühl, dass Männer seines Schlages selten befällt und das sie, wenn es sie einmal beschleicht, durch lautes und brutales Wesen zu übertäuben suchen.

Sie that, wie er ihr geheißen hatte.

»Hast Du mir kein Wort zu sagen?« fragte er mit einem Fluch.

»Nein!«

unbeweglich saß sie da und unbekümmert um den Ausgang.

Er ging einen Augenblick auf und ab, kam zurück und schlug mit der Hand zornig auf die Lehne seines Stuhls.

»Was willst Du?«

»Du weißt, was ich will.«

Er ging wieder auf und ab.

Es blieb ihm nichts übrig, als seinerseits nachzugehen, wenn er sich nicht der Gefahr aussetzen wollte, daß sie in ihrer Verzweiflung etwas thäte, was ein ungeheures Aussehen machen würde und seinem Vater zu Ohren kommen könnte.

»Höre Anne«, sagte er plötzlich, ich habe Dir eine Proposition zu machen.«

Sie sah zu ihm auf.

»Was meinst Du zu einer heimlichen Ehe?

Ohne etwas zu fragen oder irgend einen Einwand zu erheben, antwortete sie ebenso kurz, wie er es gethan hatte: »ich erkläre mich mit einer heimlichen Ehe einverstanden!«

Auf der Stelle fing er wieder an zu zögern.

»Ich muß gestehen, ich weiß nicht, wie sich die Sache machen läßt.«

Hier unterbrach sie ihn. »Aber ich weiß es.«

»Was«, rief er argwöhnisch, »Du hast schon selbst an die Sache gedacht?«

»Ja«

»Und schon einen Plan entworfen? Warum hast Du mir das nicht früher gefragt?«

Sie antwortete stolz: »Weil es an Dir war, zuerst zu reden.«

»Nun gut, ich habe ja zuerst gesprochen, erklärst Du Dich mit einem kurzen Aufschub einverstanden?«

»Nein, nicht einen Tag« erwiderte sie in höchst entscheidendem Tone.

»Wozu denn die große Eile?«

»Kannst Du nicht sehen? Hast Du Augen?« fragte sie leidenschaftlich. Kannst Du nicht hören? Siehst Du nicht, wie Lady Lundie mich beobachtet? Hörst Du nicht, wie sie mit mir spricht? Sie hat bereits Verdacht geschöpft. Ich muß jeden Augenblick gewärtig sein, mit Schimpf und Schande von hier entlassen zu werden.«

Sie ließ den Kopf auf die Brust sinken und blickte aus ihre im Schooße ruhenden Hände.

»Und Blanche, murmelte sie mit wiederausbrechenden Thränen, die sie dieses Mal nicht zurückhielt, »Blanche, die zu mir aufblickt, die mich liebt, die mir an eben dieser Stelle, vor wenigen Augenblicken sagte, daß ich bei ihr leben müsse, wenn sie verheirathet sein würde.«

Plötzlich erhob sie sich von ihrem Sitz und ihre Augen waren wieder trocken; der Ausdruck der Verzweiflung stand von Neuem in ihrem bleichen, abgehärmten Gesicht zu lesen.

»Laß mich! was sind alle Schrecken des Todes im Vergleich zu meinem Leben.«

Sie maß ihn vom Scheitel bis zur Sohle mit einem einzigen Blick der Verachtung. Mit dem lautesten und festesten Tone, der ihr zu Gebote stand, sagte sie:

»Würdest Du in meiner Lage nicht den Muth haben zu sterben, Geoffrey?«

Geoffrey sah hinaus auf den Rasen.

»Still, man wird Dich hören!«

»Laß sie mich hören! Wenn ich sie nicht mehr zu hören brauche, was liegt mir daran!«

Er zwang sie, sich wieder zu setzen. Im nächsten Augenblicke würde man sie draußen, trotz allen Lärmens und Gelächters der Spielendem haben hören müssen.

»Sage mir nur, was Du von mir willst und ich bin bereit Alles zu thun, nur sei verständig. Ich kann Dich doch heute nicht mehr heirathen?

»Warum nicht?

»Rede doch nicht solchen Unsinn, Haus und Garten hier sind voll von Gästen, wie ist es möglich?«

»Es ist möglich; ich habe darüber nachgedacht seit wir hier sind, ich habe Dir etwas vorzuschlagen. willst Du mich anhören oder nicht?«

»Sprich leise!«

»Willst Du mich anhören oder nicht?«

»Es kommt Jemand!«

»Willst Du mich anhören oder nicht?«

»Hole der Teufel Deinen Eigensinn, ich will Dich anhören!«

Diese Worte hatte sie ihm abgerungen; das war die Antwort, die sie haben mußte, die einzige, die ihr noch Hoffnung übrig ließ.

Kaum hatte er sich bereit erklärt sie anzuhören, als sie wieder für die dringende Nothwendigkeit empfänglich wurde, einer Entdeckung durch eine beliebige dritte Person, die in den Garten-Pavillon geschlendert kommen mochte, vorzubeugen.

Sie erhob den Finger zum Zeichen des Schweigens und horchte hinaus, was draußen auf dem Rasen vorgehe. Man hörte den dumpfen Aufschlag des Hammers auf die Balle nicht mehr, das Spiel war zu Ende.

Im nächsten Augenblick hörte sie ihren Namen rufen; noch einen Augenblick und eine ihr bekannte Stimme sagte: »Ich weiß wo sie ist, ich will sie holen.«

Sie wandte sich gegen Geoffrey und deutete auf den Hintergrund des Garten-Pavillons. »Ich bin an der Reihe zu spielen, Blanche kommt, um mich zu holen. Watte da hinten, ich will ihr auf der Treppe entgegengehen.« Mit diesen Worten ging sie hinaus.

Es war ein kritischer Augenblick. Eine Entdeckung wäre für beide Theile gleich verhängnißvoll gewesen.

Geoffrey hatte bei der Schilderung seines Verhältnisses zu seinem Vater nicht übertrieben; Lord Holchester hatte zweimal seine Schulden bezahlt und hatte dann erklärt, ihn nicht wiedersehen zu wollen. Wenn er sich noch einmal etwas zu Schulden kommen ließ, mußte er einer Enterbung gewärtig sein.

Anne’s Weisung folgend suchte er jetzt einen Ausweg, für den Fall, daß es ihm nicht gelingen sollte aus der Vorderthür zu entkommen. In der hintern Wand war eine Thür angebracht, deren sich die Domestiken zu bedienen hatten, wenn Picknicks oder Thee-Gesellschaften im Garten-Pavillon gegeben wurden.

Die Thür öffnete sich nach außen und war verriegelt. Mit seiner Riesenkraft war das leicht zu überwinden, er stemmte sich mit der Schulter gegen die Thür und öffnete sie auf diese Weise gewaltsam. In dem Augenblick aber fühlte er eine Hand auf seinem Arm. Anne stand allein hinter ihm.

»Es kann bald kommen, daß Du diese Thür nöthig hast«, sagte sie beim Anblick der offenen Thür, ohne irgend ein Erstaunen zu äußern, jetzt hast Du sie nicht nöthig. Ich habe einen Stellvertreter beim Spiel gefunden und habe Blanche gesagt, ich sei nicht wohl. Setze Dich. Ich habe uns einen Aufschub von fünf Minuten verschafft und muß denselben bestens benutzen. Nach Verlauf dieser fünf Minuten wird Lady Lundie’s Argwohn sie hierherführen um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Jetzt mach’ die Thüre zu;" sie setzte sich und deutete auf einen neben ihr stehenden Stuhl.

»Komm zum Schluß«, sagte er ungeduldig, »was willst Du?«

»Wir können uns noch heute heimlich verheirathen, höre mich an und ich will Dir sagen wie.«



Fünftes Kapitel - Der Plan

Sie ergriff seine Hand und fing an mit der ganzen Ueberredungskunst die ihr zu Gebote stand: »Eure Frage, Geoffrey, bevor ich beginne. Lady Lundie hat Dich zu einem längeren Besuch auf Windygates eingeladen, nimmst Du die Einladung an oder kehrst Du noch heute Abend zu Deinem Bruder zurück?«

»Ich kann heute Abend nicht zurück, sie haben mein Zimmer einem Gaste gegeben, ich muß hierbleiben, mein Bruder hat es absichtlich so eingericht. Ja Julius hilft mir, wenn ich in Noth bin und setzt mich nachher zurecht; er hat mich hergeschickt, um eine Familienpflicht zu erfüllen, Einer muß ja höflich gegen Lady Lundie sein und ich bin das Opfer.«

An dieses letzte Wort knüpfte sie an. »Gieb Dich nicht zu diesem Opfer her«, sagte sie. »Entschuldige Dich bei Lady Lundie und sage, Du seiest genöthigt zu Deinem Bruder zurückzukehren.«

»Warum?«

»Weil wir Beide noch heute Windygates verlassen müssen.«

Dagegen hatte er zweierlei einzuwenden. Wenn er Windygates heute verließ, so entging ihm eine Gelegenheit einen Anspruch auf Geldunterstützung von Seiten seines Bruders zu gewinnen, und wenn er gar in Gesellschaft von Anne fortging, so sahen ihn die Leute und ihr Gerede konnte leicht seinem Vater zu Ohren kommen.

»Wenn ich mit Dir fortgehe«, sagte er, »so kann ich nur meinen und Deinen Aussichten für die Zukunft Valet sagen.«

»Du sollst auch nicht mit mir fortgehen«, erklärte sie, wir wollen Windygates Einer nach dem Andern verlassen und Du zuerst.«

»Es wird aber großes Geschrei und Aufsehen im Hause machen, wenn man Dich vermißt.«

»Wenn das Croquet-Spiel vorbei ist, soll getanzt werden und ich tanze nicht und man wird mich nicht vermissen. Ich werde Zeit und Gelegenheit finden, mich auf mein Zimmer zurückzuziehen; ich werde einen Brief für Lady Lundie zurücklassen und einen Brief«, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu — —»einen Brief für Blanche Unterbrich mich nicht; ich habe dieses, wie alles Andere wohl bedacht, was ich in meinen Briefen vorgeben werde, wird in wenigen Stunden wahr sein. Ich werde sagen, daß ich heimlich verheirathet sei und daß mich eine plötzlich erhaltene Nachricht nöthige, zu meinem Mann zu gehen. Das wird großen Aufruhr im Hause geben, das weiß ich recht gut, aber sie werden keine Veranlassung haben, mir nachzuschicken, wenn ich unter dem Schutze meines Mannes stehe. Was Dich persönlich betrifft, hast Du keine Entdeckung zu befürchten, und nichts zu thun, was nicht vollkommen sicher und leicht wäre. Warte hier eine Stunde, nachdem ich fortgegangen sein werde, um Aufsehen zu vermeiden, und dann folge mir!«

»Dir folgen?« unterbrach sie Geoffrey, »wohin?«

Sie zog ihren Stuhl näher an ihn heran und flüsterte ihm zu: »Noch einem kleinen, einsamen Gebirgsgasthof, vier Meilen von hier.«

»Einem Gasthof?«

»Warum nicht?«

»Ein Gasthof ist ein öffentlicher Ort!«

Sie konnte eine sehr natürliche Regung der Ungeduld nicht unterdrücken, beherrschte sich aber sogleich und fuhr wieder fort: »Der Ort, von dem ich rede, ist der einsamste Platz der ganzen Umgegend, man hat keine Späheraugen dort zu fürchten, gerade deshalb habe ich ihn gewählt. Der Gasthof liegt fernab von der Eisenbahn, fernab von der Landstraße, er wird von einer respectablen Schottin gehalten.«

»Respectable Schottinnen, welche Gasthöfe halten«, unterbrach sie Geoffrey, »geben jungen Damen, die allein reisen, keine Herberge; die Wirthin wird Dich nicht aufnehmen.«

Dass war ein trefflicher Einwand, verfehlte aber seine Wirkung. Ein Weib, das entschlossen ist sich zu verheirathen, ist gegen die Einwendungen der ganzen Welt gewaffnet.

»Ich habe Alles und auch das bedacht«, sagte sie, »ich werde der Wirthin erzählen, daß ich auf meiner Hochzeitsreise begriffen sei und daß mein Mann in der Nähe eine Bergpartie mache.«

»Das wird sie ohne Zweifel glauben«, antwortete Geoffrey.

»Sie braucht es gar nicht zu glauben, wenn Du mir nur folgst und nach Deiner Frau fragst, so wird meine Erzählung nachträglich wahr; sie kann die argwöhnischste Person von der Welt sein, so lange ich mit ihr allein bin, in dem Augenblick aber, wo Du erscheinst, ist dieser Argwohn beseitigt. Ueberlasse es mir, meine Rolle zu spielen, die die schwerere ist, und übernimm Du nur die Deinige.«

Es war für ihn unmöglich, »Nein« zu sagen; sie hatte ihm den Boden unter den Füßen weggezogen, er versuchte es mit einem neuen Bedenken, um nur nicht »Ja« sagen zu müssen.

»Ich hoffe Du weißt, wie wir mit unserer Heirath zu Stande kommen sollen; alles was ich sagen kann, ist, daß ich das nicht weiß.«

»Du weißt es, Du weißt ja daß wir hier in Schottland sind! Du weißt auch sehr gut, daß es hier weder irgend welcher Förmlichkeit, noch eines Aufschubs bei einer Heirath bedarf. Mein Plan sichert meine Aufnahme im Gasthof und macht es Dir leicht, ohne Verdacht zu erregen, später zu folgen. Für das Uebrige müssen wir dann selbst sorgen. Ein Mann und ein Mädchen, die sich in Schottland heirathen wollen, haben sich nur die nöthigen Zeugen zu verschaffen und die Sache ist gethan. Wenn die Wirthin uns nachher die Täuschung entgelten lassen will, kann sie es in Gottes Namen thun, wir werden inzwischen Trotz ihrer unseren Zweck erreicht haben.«

»Bürde mir nicht die ganze Last der Verantwortlichkeit aus«, erwiderte Geoffrey. »Ihr Weiber geht immer mit dem Kopf durch die Wand. Wenn wir nun wirklich verheirathet sind, so werden wir uns doch gleich wieder trennen müssen, und wie sollten wir wohl die Sache geheim halten?«

»Natürlich gehst Du wieder zu Deinem Bruder zurück, als ob nichts vorgefallen wäre, und ich gehe nach London.«

»Und was willst Du dort anfangen?

»Habe ich Dir nicht schon gesagt, daß ich Alles bedacht habe? In London, wo meine Mutter Sängerin war, werde ich mich an einige ihrer alten Freundinnen wenden. Alle Leute sagen mir, daß ich eine schöne Stimme habe, die nur der Ausbildung bedarf, und ich will sie ausbilden. Ich kann mir auf respectable Weise meinen Unterhalt als Sängerin verschaffen und für die Zeit meiner Studien habe ich mir Geld genug erspart und die Freundinnen meiner Mutter werden mich um ihretwillen unterstützen.«

So spiegelte sich ihr selbst unbewußt in ihrem neuen Lebensplan, einer künstlerischen Carriere, das ehemalige Leben ihrer Mutter wieder. Aller Anstrengungen, sie daran zu verhindern, ungeachtet, wählte jetzt die Tochter die künstlerische Laufbahn der Mutter und hier stand, wenn auch aus anderen Motiven und unter anderen Umständen, die Tochter tm Begriff, das traurige Beispiel der unregelmäßigen irischen Heirath ihrer Mutter durch eine schottische Heirath nachzuahmen und hier war, merkwürdig genug, der Mann, der für diese Heirath verantwortlich war, der Sohn jenes Mannes, der die Ungültigkeit der irischen Heirath entdeckt und dem Gatten die Mittel an die Hand gegeben hatte, ihre Mutter von sich zustoßen. —— »Meine Anne, mein anderes Ich, sie trägt nicht den Namen ihres Vaters, sondern den Meinigen, sie ist Anne Silvester, wie ich es war. Wird sie auch enden, wie ich?« —— Die Antwort aus diese Frage, auf diese letzten Worte, die den Lippen der sterbenden Mutter entflohen waren, sollte nicht lange auf sich warten lassen. Durch alle Wechsel und Wandlungen der Jahre hindurch trat das Verhängniß, daß die Zukunft für Anne Silvester in ihrem Schooße barg, rasch an sie heran.

»Nun!« nahm sie wieder auf, bist Du mit Deinen Einwendungen zu Ende, wirst Du mir endlich eine bestimmte Antwort geben?«

Schon hatte er, noch ehe sie ausgesprochen, einen anderen Einwand in Bereitschaft. »Wie, wenn die Zeugen im Gasthof mich kennen und die Sache auf diese Weise meinem Vater zu Ohren käme?« —— »Wie, wenn Du mich zu einem verzweifelten Entschluß bringen solltest? —— unterbrach sie ihn aufspringend »In diesem Fall soll Dein Vater sicher die Sache erfahren, das schwör ich Dir.«

Auch er erhob sich und trat einige Schritte zurück, sie aber folgte ihm Schritt für Schritt.

In demselben Augenblick hörte man Händeklatschen auf dem Rasen, offenbar hatte Jemand einen vortrefflichen Wurf gethan, der das Spiel entschied. Es war zu befürchten, daß Blanche jeden Augenblick wiederkommen, und sehr wahrscheinlich, daß Lady Lundie, nun das Spiel zu Ende war, sich nach Anne umsehen würde.

Anne brachte die Verhandlung zur Entscheidung, ohne einen Augenblick länger zu verlieren.

»Geoffrey Delamayn«, sagte sie, »Du hast eine heimliche Heirath vorgeschlagen und ich habe meine Zustimmung dazu gegeben; bist Du jetzt bereit oder nicht, mich nach diesem, Deinem eigenen Vorschlage zu heirathen?«

»Gieb mir eine Minute Bedenkzeit.«

»Nicht einen Augenblick! jetzt zum letzten Mal, ja oder nein?«

Auch jetzt noch konnte er sich nicht entschließen »ja« zu sagen, aber er that eine Frage, die einer Bejahung gleich kam, indem er wild ausrief: »Wo liegt der Gasthof?«

Sie legte ihren Arm in den seinigen und flüsterte rasch: »Schlage den Weg zur Rechten ein, der zur Eisenbahn führt, folge dem Wege über die Haide und dem Fußpfad über den Hügel. Das erste Haus, auf das Du dann stößt, ist der Gasthof. Hast Du verstanden?«

Er nickte mit einem verdrossenen Zucken der Augenbrauen und nahm seine Pfeife wieder aus der Tasche.

»Laß mir die Pfeife dieses Mal in Ruhe«, sagte er, als er ihren Blick gewahr wurde. »Ich bin außer mir und wenn ein Mann außer sich ist, muß er rauchen. Wie heißt der Gasthof?

»Craig-Fernie!«

»Nach wem soll ich fragen?

»Nach Deiner Frau!«

»Und wenn man bei Deiner Ankunft nach Deinem Namen fragt?«

»Wenn ich einen Namen nennen muß, so werde ich mich statt Miß Silvester, Mrs. Silvester nennen. Ich werde auf jede Weise zu vermeiden suchen, irgend einen Namen zu nennen, und Du mußt Dich in Acht nehmen, Dich nicht zu versprechen und nur nach Deiner Frau fragen. Willst Du sonst noch etwas wissen?«

»Allerdings!«

»Nun, was denn? Aber bitte rasch!«

»Wie soll ich erfahren, daß Du von hier fort bist?«

»Wenn Du in einer halben Stunde, nachdem ich Dich verlassen haben werde, nichts wieder von mir hörst, so kannst Du sicher sein, daß ich fort bin.«

Zwei in Unterhaltung begriffene Stimmen wurden jetzt am Fuße der Treppe vernehmlich. Es waren die Stimmen Lady Lundie’s und Sir Patrick’s. Anne deutete auf die Hinterthür des Garten-Pavillons, ließ Geoffrey durch dieselbe entschlüpfen und hatte sie eben wieder zugezogen, als Lady Lundie und Sir Patrick an der Schwelle erschienen.



Sechstes Kapitel - Der Freier

Lady Lundie wies bedeutungsvoll aus die Thür hin und flüsterte Sir Patrick in? Ohr:

»Haben Sie bemerkt? Miß Silvester hat eben Jemand fortgehen lassen.«

Sir Patrick sah absichtlich nach der verkehrten Seite hin und erklärte in der höflichsten Weise von der Welt, nichts bemerkt zu haben.

Lady Lundie trat in den Garten-Pavillon. Argwöhnischer Haß gegen die Gouvernante war in unzweideutigen Zügen auf ihrem Gesicht zu lesen. Argwöhnisches Mißtrauen gegen das vorgebliche Unwohlsein der Gouvernante sprach vernehmlich aus jedem Tone ihrer Stimme.

»Darf ich fragen, Miß Silvester, ob es Ihnen besser geht?«

»Nein, es geht mir nicht besser, Lady Lundie!«

»Wie sagen Sie?«

»Ich sage, es geht mir nicht besser.«

»Und doch scheinen Sie im Stande, sich zu bewegen, ich bin nicht so glücklich; wenn ich unwohl bin, muß ich liegen.«

»Ich will Ihrem Beispiele folgen, Lady Lundie. Wenn Sie die Güte haben wollen, mich zu entschuldigen, werde ich auf mein Zimmer gehen und mich zu Bett legen.«

Sie war unfähig weiter zu reden. Die Zusammenkunft mit Geoffrey hatte sie völlig erschöpft, sie hatte nicht die Kraft nicht, der kleinlichen Bosheit dieser Frau zu widerstehen, nachdem sie die brutale Gleichgültigkeit jenes Mannes über sich hatte ergehen lassen müssen. Sie fühlte, daß ihre Thränen, die sie mit Gewalt zurückhielt, im nächsten Augenblick hervorbrechen würden. Sie wartete daher Lady Lundies Antwort nicht ab, sondern verließ ohne Weiteres den Garten-Pavillon.

Lady Lundie machte ihre glänzenden schwarzen Augen weit auf. Sie wandte sich an Sir Patrick, der auf seinen elfenbeinernen Stock gestützt, ein Bild ehrwürdiger Unschuld dastand und auf den Rasen hinausblickte.

»Darf ich Sie fragen, Sir Patrick, ob Sie, nach Dem, was ich Ihnen bereits über Miß Silvester’s Benehmen erzählt habe, in ihrem jetzigen Betragen etwas Auffallendes finden?«

Der alte Herr drückte auf die Feder an der Krücke seines Stockes und antwortete in der galanten Weise einer früheren Zeit:

»Ich finde in keinem Verfahren eines Mitgliedes Ihres bezaubernden Geschlechtes etwas Auffallendes.« Dabei verneigte er sich und nahm eine Prise. Mit einer gleich zierlichen Bewegung der Hand schüttelte er die verschütteten Körner vom Zeigefinger und Daumen ab, blickte wieder nach dem Rasen und schien vertiefter als je in das Spiel der jungen Leute.

Lady Lundie aber ließ sich nicht irre machen und war fest entschlossen, ihrem Schwager eine ernste Meinungsäußerung zu entlocken. Aber ehe sie noch wieder reden konnte; erschienen Arnold und Blanche zusammen am Fuße der Treppe des Garten-Pavillons.

»Und wann soll der Ball anfangen?« fragte Sir Patrick, indem er dem jungen Paare entgegenhumpelte und eine Miene machte, als ob er das lebhafteste Interesse an der Antwort dieser Frage finde.

»Das wollte ich gerade Mama fragen,« antwortete Blanche »Ist sie drinnen bei Anne und geht es Anne besser?«

In diesem Augenblick trat Lady Lundie hervor und übernahm die Antwort selbst auf diese Frage. »Miß Silvester hat sich auf ihr immer zurückgezogen.«

»Haben Sie wohl bemerkt, Sir Patrick, daß diese halb gebildeten Leute fast immer, so oft sie unwohl sind, auch grob werden?«

Blanches freundliches Gesicht erröthete »Wenn Du Anne für eine halb gebildete Person hältst, so stehst Du mit dieser Meinung ganz allein; mein Onkel stimmt darin mit Dir gewiß nicht überein.«

Sir Patricks lebhaftes Interesse an der ersten Quadrille hatte etwas wahrhaft Beunruhigendes. »Sage mir, liebes Kind, wann fängt der Ball an?«

»Je eher, je besser« schaltete Lady Lundie ein, »ehe Blanche Zeit hat, noch weiter mit mir über Miß Silvester zu streiten!«

Blanche sah ihren Onkel an.

»Fangt doch an, fangt doch an, und verliert keine Zeit,« erwiderte eifrig Sir Patrick, indem er mit seinem Stock auf das Haus wies.

»Gewiß, lieber Onkel, Alles was Du wünschest!«

Mit dieser an ihre Stiefmutter gerichtete Malice zog sich Blanche zurück.

Arnold, der bis jetzt schweigend am Fuß der Treppe gewartet hatte, sah zu Sir Patrick bittend auf. Der Zug, der ihn zu seinem ererbten Gut bringen sollte, ging in weniger als einer Stunde ab und er hatte sich Blanche’s Vormund noch nicht in der Eigenschaft eines Bewerbers um Blanche’s Hand vorgestellt. Sir Patrick’s Gleichgültigkeit gegen alle an ihn erhobenen Ansprüche an sein Familien-Interesse schien unerschütterlich. Da stand er auf seinen Stock gestützt, ein schottisches Lied vor sich hinsummend und neben ihm stand Lady Lundie entschlossen, ihn nicht zu verlassen, bis sie ihn dahin gebracht haben würde, die Gouvernante mit ihren Augen zu sehen. und nach ihrer Auffassung zu beurtheilen.

Sie ließ sich durch Sir Patricks Summen und Arnold’s ängstliches Warten nicht irre machen und nahm einen neuen Anlauf. Ihre Feinde behaupteten, es sei kein Wunder, daß der arme Sir Thomas wenige Monate nach seiner Verheirathung gestorben sei, und du lieber Gott, bisweilen haben unsere Feinde doch Recht.

Ich muß Ihnen noch einmal wiederholen, Sir Patrick, daß ich ernste Ursache habe, zu zweifeln, ob Miß Silvester eine passende Gesellschaft für Blanche ist. Die Gouvernante ist offenbar zurückhaltend, sie weint oft, wenn sie allein ist, sie geht in ihrem Zimmer auf und ab, wenn sie schlafen sollte, sie besorgt ihre Briefe selbst auf die Post und —— ist seit einiger Zeit außerordentlich ungezogen gegen mich. Es ist da etwas nicht ganz in Ordnung. Ich muß nothwendiger Weise Schritte in dieser Angelegenheit thun und es scheint mir schicklich, daß ich diese Schritte mit Ihrer Genehmigung, als Haupt der Familie, thue.«

»Ich lege meine Autorität mit Vergnügen in Ihre Hände, Lady Lundie.«

»Sir Patrick, ich bitte Sie, nicht zu vergessen, daß ich ernst rede und eine ernsthafte Antwort erwarte.«

»Beste Lady, fordern Sie was Sie wollen und es steht Ihnen zu Gebote. Aber seit ich meine Advocatur aufgegeben, habe ich keine ernsthafte Antwort mehr gegeben. In meinem Alter,« fügte Sir Patrick hinzu, indem er seiner Antwort schlau eine allgemeinere Wendung zu geben wußte, »giebt es nichts Ernsthafteres als Unverdaulichkeit. Ich sage mit jenem Philosophen: »Das Leben ist für die Denkenden eine Komödie und für die Fühlenden eine Tragödie.«

Er ergriff die Hand seiner Schwägerin und küßte sie: »Liebste Lady Lundie, warum sich mit Gefühlen abgeben!«

Lady Lundie, die sich niemals in ihrem Leben mit Gefühlen befaßt hatte, schien bei dieser Gelegenheit eigensinnig entschlossen etwas zu fühlen. Sie war beleidigt und zeigte es deutlich.

»Sir Patrick,« sagte sie, »wenn mich nicht Alles täuscht, so werden Sie sich ehestens in der Nothwendigkeit befinden, zuzugeben, daß Miß Silvester’s Benehmen über allen Scherz hinausgeht.«

Mit diesen Worten verließ sie den Garten-Pavillon und beförderte auf diese Weise Arnold’s Interesse, indem sie endlich Blanche’s Vormund allein ließ.

Das war eine vortreffliche Gelegenheit. Die Gäste hatten sich sämtlich nach dem Hause zurückgezogen; es war keine Unterbrechung zu befürchten. Arnold trat ein.

Sir Patrick setzte sich, von Lady Lundie’s Abschiedsworten völlig unberührt, ruhig im Garten-Pavillon nieder, ohne seinen jungen Freund zu bemerken und dachte bei sich: »Hat es jemals zwei Frauen gegeben, die nicht versucht hätten, einen Mann in ihren Streit hineinzugehen? Aber laß sie es nur versuchen, mich hineinzuziehen! Es soll ihnen nicht gelingen.«

Arnold trat einen Schritt vor und machte sich bescheiden bemerklich: »Ich hoffe, ich störe nicht?«

»Durchaus nicht! —— Du lieber Gott, wie ernsthaft der Junge aussieht! Wollen Sie mich auch als Haupt der Familie sprechen?«

In der That war das Arnold’s sehr entschiedene Absicht, aber er begriff, daß wenn er das in diesem Augenblicke zugestanden hätte, Sir Patrick aus einem ihm nicht verständlichen Grund es abgelehnt haben würde, ihn anzuhören.

»Er antwortete vorsichtig: »Ich habe Sie um eine vertrauliche Unterredung vor meiner Abreise gebeten und Sie waren so gut mir dieselbe zuzusagen.«

»O, ganz gewiß, ich erinnere mich, wir waren damals Beide höchst ernsthaft mit Croquetspielen beschäftigt und es war schwer zu sagen, wer von uns Beiden sich am Ungeschicktesten dabei benahm. Nun hier bin ich und stehe Ihnen mit meiner ganzen Erfahrung zu Diensten. Ich habe Sie nur vor einer Sache zu Warnen, reden Sie nicht zu mir als dem Haupte der Familie; ich habe diese Würde in Lady Lundie’s Hände niedergelegt.«

Er sprach halb im Scherz, halb im Ernst. Der Scherz gab sich in dem humoristischen Zug um seine Lippen kund.

Arnold wußte nicht recht, wie er das Gespräch auf Blanche bringen sollte, ohne Sir Patrick an seine Verantwortlichkeit als Haupt der Familie zu erinnern und ohne sich zur Zielscheibe von Sir Patrick’s Witz zu machen. In diesem Dilemma beging er gleich zu Anfang einen Fehler: er zauderte!

»Lassen Sie sich Zeit,« sagte Sir Patrick, »sammeln Sie Ihre Gedanken; ich kann warten, ich kann warten.«

Arnold sammelte seine Gedanken und beging einen zweiten Fehler. Er beschloß sehr vorsichtig zu Werke zu gehen. Unter den obwaltenden Umständen und einem Manne wie Sir Patrick gegenüber, war das vielleicht der unüberlegteste Entschluß, den er hatte fassen können; es war die Geschichte von der Maus, die es versucht, die Katze zu überlisten.

»Sie haben die große Güte gehabt, mir Ihre Erfahrungen zu Gebote zu stellen,« fing er an, »ich bitte um Ihren Rath ——«

»Den ich Ihnen auch geben kann, wenn Sie sitzen; nehmen Sie Platz.«

Seine scharfen Augen folgten Arnold mit einem Ausdruck malitiösen Entzückens.

»Meinen Rath, sagt der Patron da,« dachte Sir Patrick, »und meint —— meine Nichte.«

Arnold setzte sich, von Sir Patrick beobachtet, mit der wohlbegründeten Besorgniß nieder, daß er von hier nicht wieder aufstehen werde, ohne von Sir Patrick’s scharfer Zunge empfindlich gelitten zu haben.

»Ich bin noch ein junger Mensch« fuhr er, sich unruhig auf seinen Stuhl hin und her bewegend, fort, »und ich fange ein neues Leben an.«

»Ist an Ihrem Stuhl etwas nicht in Ordnung? Fangen Sie doch Ihr neues Leben behaglich an, —— nehmen Sie sich einen anderen Stuhl.«

»Der Stuhl ist ganz in Ordnung, Sir Patrick; würden Sie ——«

»Ob ich Ihnen rathen würde, in diesem Fall Ihren Stuhl zu behalten? Gewiß!«

»Nein, ich meine, ob Sie mir rathen würden ——«

»Lieber Freund, ich warte ja nur darauf Ihnen zu rathen. Aber ganz gewiß ist an Ihrem Stuhl etwas nicht in Ordnung; nehmen Sie sich doch einen andern.«

»Bitte, Sir Patrick, lassen Sie den Stuhl. Sie bringen mich aus der Fassung! —— Was ich von Ihnen zu wissen wünsche —— es ist vielleicht eine sonderbare Frage ——«

»Das kann ich nicht sagen, bevor ich sie gehört habe,« entgegnete Sir Patrick; »aber nehmen wir an es sei eine sonderbare Frage, oder noch stärker, wenn Ihnen das vielleicht die Sache erleichtert, nehmen wir an, es sei die sonderbarste Frage, die je, so lange die Welt steht, ein Mensch an den andern gerichtet hat!«

»Die Frage ist die!« platzte Arnold heraus, »ich möchte mich verheirathen!«

»Das ist keine Frage,« antwortete Sir Patrick, »das ist eine Erklärung! Sie sagen, Sie möchten sich verheirathen, ich antworte: Nun gut, und damit ist die Sache zu Ende.«

Arnold fing es an zu schwindeln »Würden Sie mir rathen, mich zu verheirathen?« bat er in kläglichem Tone; »das wollte ich sagen!«

»So, das ist der Zweck Ihrer Unterredung mit mir, ob ich Ihnen rathen würde zu heirathen? Wie? ——«

Die Katze, die dieses Mal die Maus gepackt hatte, ließ das unglückliche kleine Geschöpf einen Augenblick wieder los, um ihr Zeit zu gönnen, Athem zu schöpfen. —— Sir Patrick’s Benehmen verlor plötzlich jede Spur von Ungeduld, die er bisher vielleicht leise geäußert hatte und wurde so vollkommen behaglich und zutraulich, wie nur möglich. Er drückte aus die Feder seiner Krücke und nahm mit außerordentlichem Eifer und Genuß eine Prise. —— »Also, ob ich Ihnen rathen würde zu heirathen,« wiederholte Sir Patrick. »Bei der Beantwortung dieser Frage können wir zwei Wege einschlagen, Mr. Brinckworth. Wir können die Sache kurz oder wir können sie sehr weitläufig behandeln. Ich würde für die kürzere Behandlung stimmen. Was sagen Sie dazu?«

»Ich stimme Ihnen völlig bei, Sir Patrick!«

»Seht gut! Darf ich mit einer Frage in Betreff Ihres früheren Lebens beginnen?«

»Gewiß!«

»Sehr gut! Haben Sie während Ihres Dienstes auf der Handelsmarine einige Erfahrungen über Ankäufe am Lande gesammelt?«

Arnold sah ihn betroffen an. Der Zusammenhang dieser Frage mit dem Gegenstand, um den es sich für ihn handelte war für ihn völlig unerfindlich. Er antwortete mit unverhohlenem Erstaunen: »Allerdings, sehr viele Erfahrungen.«

»Ich komme zur Sache,« fuhr Sir Patrick fort,«wundern Sie sich nicht, ich komme schon zur Sache! Wofür hielten Sie den Puderzucker, den Sie bei den Gewürzkrämern am Lande kauften?«

»Wofür ich ihn hielt?« wiederholte Arnold »Nun ich hielt ihn eben für Puderzucker!«

»Dann heirathen Sie in Gottes Namen,« erwiderte Sir Patrick, »Sie sind einer der wenigen Männer, die dieses Experiment mit einiger Aussicht auf Erfolg versuchen können.«

Die Plötzlichkeit dieser Antwort versetzte Arnold völlig den Athem. Die Kürze seines ehrwürdigen Freundes hatte etwas Elektrisirendes; er starrte ihn noch verwunderter an, als vorhin.

»Verstehen Sie mich nicht?« fragte Sir Patrick.

»Ich verstehe nicht, was der Puderzucker mit meiner Heirath zu thun hat?«

»Das sehen Sie nicht?«

»Durchaus nicht!«

»Dann will ich es Ihnen sagen,« fuhr Sir Patrick fort, indem er die Beine übereinander schlug und sich auf seinem Sitz behaglich zurecht rückte.

»Sie gehen also in einen Gewürzkrämer-Laden und kaufen Puderzucker. Sie nehmen denselben, weil Sie ihn für Puderzucker halten, in der That aber ist es gar kein Zucker; es ist ein gefälschtes Gemisch, das aussieht wie Zucker. Sie verschließen Ihre Augen gegen diese unangenehme Wahrheit und schlucken Ihr verfälschtes Gemisch mit verschiedenen Speisen hinunter und vertragen sich so mit Ihrem vermeintlichen Zucker aufs Beste. Verstehen Sie mich jetzt?«

»Ja,« erwiderte Arnold, dem die Sache völlig dunkel war, »jetzt verstehe ich Sie!«

»Sehr gut,« fuhr Sir Patrick fort, »nun gehen Sie in einen Heirathsladen und nehmen sich eine Frau; Sie nehmen sie, in der Meinung, daß sie schönes blondes Haar, einen ausgezeichneten Teint, eine angenehme Körperfülle hat und daß sie gerade groß genug ist, diese Fülle zu tragen. Sie führen sie in Ihr Haus und Sie machen die Entdeckung, daß es dieselbe Geschichte wie beim Zucker ist! Ihre Frau ist ein verfälschter Artikel, ihr blondes Haar ist gefärbt, ihr vortrefflicher Teint ist geschminkt, ihre Körperfülle ist ausgestopft und drei Zoll ihrer Größe kommen auf die Hacken an den Schuhen. Sie machen die Augen zu und verschlucken Ihre verfälschte Frau, wie Sie Ihren verfälschten Zucker verschluckt haben. —— Ich wiederhole Ihnen, Sie sind einer der wenigen Männer, die ein Heirathsexperiment mit Aussicht aus Erfolg unternehmen können.« Mit diesen Worten schlug er seine Beine wieder auseinander und sah Arnold scharf an.

Endlich hatte dieser die Lection begriffen. Er gab den hoffnungslosen Versuch auf, Sir Patrick zu überlisten und ging, es mochte jetzt daraus entstehen, was da wollte, direct mit seiner Werbung um Sir Patrick’s Nichte vor.

»Das mag ganz wahr sein bei einigen jungen Damen, fing er an, ich kenne aber eine nahe Verwandte von Ihnen, auf die nichts von dem, was Sie von den Frauen im Allgemeinen gesagt haben, paßt.«

Das hieß auf die Sache direct losgehen. —— Sir Patrick nahm diese Offenheit Arnold’s beifällig auf und zeigte es, indem er auch seinerseits ohne Umschweife auf die Sache einging.

»Ist dieses weibliche Phänomen etwa meine Nichte?« fragte Sir Patrick. »Woher wissen Sie, wenn ich fragen darf, daß meine Nichte kein verfälschter Artikel ist, wie alle anderen Frauen?«

Arnold’s Entrüstung löste das letzte Band, das seine Zunge noch gefesselt gehalten hatte, er platzte mit den drei viel bedeutenden Worten heraus: »Ich liebe sie!«

Sir Patrick lehnte sich wieder behaglich in seinen Sessel zurück und streckte seine Beine bequem von sich, indem er sagte: »Das ist die überzeugendste Antwort, die ich je in meinem Leben gehört habe.«

»Ich rede in völligem Ernst,« erwiderte Arnold, der jetzt nichts als sein Ziel im Auge hatte. »Stellen Sie mich auf die Probe.«

»O! die Probe ist sehr leicht gemacht« Er sah Arnold an, ohne einen sarkastischen Zug um Augen und Lippen unterdrücken zu können. »Meine Nichte hat einen sehr schönen Teint und Sie halten diesen Teint für echt?«

»So gewiß, wie ich an die Schönheit des blauen Himmels da glaube.«

»So,« erwiderte Sir Patrick, »dann sind Sie wohl noch nie von einem Regen überrascht worden. Meine Nichte hat wunderbar schönes Haar, sind Sie überzeugt, daß das Alles ihr eigenes ist?«

»So schönes Haar kann auf gar keinem anderen weiblichen Kopf gewachsen sein.«

»Mein lieber Arnold, Sie scheinen eine viel zu geringe Vorstellung von dem Umfange und den Hülfsquellen des Handels mit künstlichen Haaren zu haben. Sehen Sie sich die Schaufenster der Friseure an, wenn Sie nächstens nach London kommen. Aber weiter, was halten Sie denn von der Gestalt meiner Nichte?«

»Nun, gegen diese wollen Sie doch kein Bedenken erheben. Jeder Mensch, der Augen im Kopf hat, kann sehen, daß es die lieblichste Gestalt von der Welt ist.«

Sir Patrick lachte in sich hinein und schlug die Beine wieder übereinander.

»Ganz gewiß ist sie das! Aber »die lieblichste Gestalt« ist ja auch die gewöhnlichste Sache von der Welt. Schlecht gerechnet sind hier heute vierzig Damen anwesend. Jede von diesen Damen hat eine schöne Gestalt. Der Preis dieser Gestalten ist verschieden und wenn eine besonders reizend ist, so können Sie darauf schwören, daß sie aus Paris kommt. Warum sehen Sie mich so verwundert an? Als ich Sie fragte, was Sie von der Gestalt meiner Nichte halten, meinte ich, wie viel Sie auf Rechnung der Natur und wie viel auf Rechnung des Fabrikanten setzen! Wohl gemerkt, ich weiß es nicht! Wissen Sie es?«

»Ich verbürge mich für jeden Zoll.«

»Daß er aus einem Laden’kommt?«

»Nein, daß er echter Natur ist.«

Sir Patrick sprang auf; endlich hatte er seiner satyrischen Laune Genüge gethan. »Wenn ich jemals einen Sohn bekomme,« dachte er bei sich, »so schicke ich ihn« zur See.« Er ergriff Arnold’s Arm, zum Zeichen, daß er entschlossen sei, der Ungewißheit des armen jungen Mannes ein Ende zu machen, mit den Worten: »Wenn ich überhaupt im Stande bin ernsthaft zu sein, so ist jetzt der Moment dazu gekommen. Ich bin von der Aufrichtigkeit Ihrer Neigung überzeugt. Alles, was ich von Ihnen weiß, spricht zu Ihren Gunsten und weder gegen Ihre Familie noch gegen Ihre Stellung ist das Mindeste einzuwenden; wenn Sie Blanche’s Jawort haben, so haben Sie das meinige anch.« ——

Arnold versuchte es, seiner Dankbarkeit Ausdruck zu geben. Sir Patrick aber wehrte ihm und fuhr fort: »Und merken Sie wohl, das nächste Mal, wenn Sie etwas, von mir wollen, reden Sie ohne Umschweife und versuchen Sie nicht wieder mich zu mystificiren und ich will Ihnen versprechen, es gegen Sie auch zu unterlassen. Das wäre abgemacht. —— Nun aber noch ein Wort von Ihrer Reise nach Ihrem Gute. Eigenthum gewährt nicht nur Rechte, sondern legt uns auch Pflichten auf, lieber Arnold. Wenn wir die letzteren nicht erfüllen, kommt bald die Zeit, wo die ersteren uns bestritten werden. Ich interessire mich jetzt noch lebhafter als früher für Sie und ich muß darauf halten, daß Sie Ihre Pflichten erfüllen Es ist also abgemacht, daß Sie noch heute Windygates verlassen, um auf Ihrem Gut nach dem Rechten zu sehen. —— Wissen Sie schon, wie Sie gehen?«

»Ja, Sir Patrick,« Lady Lundie hat die Güte gehabt, ihr Gig für mich zu beordern, das mich rechtzeitig für den nächsten Zug nach der Station bringen soll.«

»Wann werden Sie bereit sein?«

Arnold sah nach seiner Uhr.

»In einer viertel Stunde!«

»Gut, versäumen Sie die Zeit nicht, aber nicht so eilig, Sie haben noch Zeit genug, mit Blanche zu sprechen, wenn ich mit Ihnen fertig bin. Sie scheinen mir eben kein sehr dringendes Verlangen zu haben, sich nach Ihrem Gute umzusehen!«

»Ich habe ein sehr dringendes Verlangen Blanche nicht zu verlassen, daß ist das Wahre an der Sache!«

»Ach was Blanche! Blanche ist nicht Geschäft. Wie ich höre, haben Sie eines der schönsten Häuser Ihrer Gegend in Schottland; wie lange wollen Sie dort bleiben?«

»Ich habe mich, wie ich Ihnen bereits bemerkte, so eingerichtet, daß ich übermorgen wieder in Windygates sein werde.«

»Da sieh’ mir Einer den Menschen! hat einen Palast, der zu seinem Empfange völlig bereit steht und will sich nur einen einzigen Tag darin aufhalten.«

»Ich will mich gar nicht darin aufhalten, ich werde bei meinem Verwalter wohnen. Ich muß nur morgen dort sein, um einem Diner, das ich meinen Pächtern gebe, beizuwohnen. Wenn das vorbei ist, so liegt nichts in der Welt vor, was mich abhalten könnte, wieder zu kommen. Das hat mir mein Verwalter selbst in seinem letzten Briefe geschrieben.«

»Ja, wenn Ihr Verwalter Ihnen das geschrieben hat, ist kein Wort mehr darüber zu sagen.«

»Ach, machen Sie keine Einwendungen dagegen, daß ich wiederkomme, Sir Patrick, bitte, machen Sie keine! Ich verspreche Ihnen, daß ich in meinem neuen Hause wohnen will, wenn erst Blanche dasselbe mit mir bewohnen wird. Wenn Sie nichts dagegen haben, theile ich Blanche auf der Stelle mit, daß Alles, was mir gehört, auch ihr gehören soll.«

»Gemach, gemach! Sie reden ja, als wären Sie schon mit ihr verheirathet.«

»Ist es denn nicht so gut, als wäre ich es bereits? Was ist jetzt noch im Wege?«

Während er diese Frage that, fiel der von dem hereinströmenden Sonnenlicht sich scharf abhebende Schatten einer von der Seite des Garten-Pavillons herkommenden Person auf die Schwelle desselben. Im nächsten Augenblick folgte dem Schatten der Körper in der Gestalt eines Reitknechts in voller Livré. —— Der Mann war offenbar ganz fremd hier; er fuhr zurück und zog den Hut, als er die beiden Herren im Garten-Pavillon gewahr wurde.

»Was wünschen Sie?« fragte Sir Patrick.

»Ich bitte um Verzeihung, ich bin von meinem Herrn hierher geschickt.«

»Wer ist Ihr Herr?«

»Herr Delamayn!«

»Meinen Sie Herrn Geoffrey Delamayn?« fragte Arnold.«

»Nein, Herrn Julius Delamayn! Ich komme vom Hause meines Herrn mit einer Botschaft für Herrn Geoffrey Delamayn hergeritten.«

»Können Sie ihn nicht finden?«

»Man hat mir gesagt, ich würde ihn hier treffen, aber ich bin hier fremd und weiß nicht wohin ich gehen soll.« Er hielt inne und zog eine Karte aus der Tasche. —— »Mein Herr sagte, es sei sehr wichtig, daß ich diese Karte sofort abgebe! Haben Sie wohl die Güte, meine Herren, mir zu sagen, wo Herr Geoffrey Delamayn sich aufhält?

Arnold wandte sich an Sir Patrick, »ich habe ihn nicht gesehen, haben Sie ihn gesehen?«

»Gerochen habe ich ihn!« antwortete Sir Patrick. »So lange ich in dem Garten-Pavil1on bin, herrscht hier ein sehr abscheulicher Tabaksgeruch der mich auf sehr unangenehme Weise an Ihren Freund erinnert.«

Arnold ging lächelnd zur Thür hinaus. »Wenn Sie mit Ihrer Nase auf der rechten Spur find, Sir Patrick, so wollen wir ihn schon finden!«

Er blickte umher und rief laut: »Geoffrey!«

Eine Stimme aus dem Rosengarten antwortete: »Halloh!«

»Du wirst verlangt, komm her!«

Geoffrey schlenderte, die Hände in den Taschen, die Pfeife im Munde verdrossen heran. »Wer verlangt nach mir?«

»Ein Reitknecht Deines Bruders!«

Die Antwort schien den trägen und verdrossenen Athleten zu elektrisiren. Mit raschen Schritten ging er auf den Garten-Pavillon zu und redete den Reitknecht an, noch ehe dieser ein Wort hatte sagen können; mit dem Ausdruck des Entsetzens und der Verzweiflung rief er aus: »Um’s Himmelswillen, hat Ratcatcher einen Rückfall gehabt?«

Sir Patrick und Arnold sahen einander starr vor Staunen an.

»Das beste Pferd im Stalle meines Bruders!« rief Geoffrey erklärend und zugleich an ihre Theilnahme appellirend »Ich habe den Kutscher schriftlich instruirt und Medicin auf drei Tage bereiten lassen. Ich habe ihm zur Ader gelassen« fuhr Geoffrey mit zitternder Stimme fort, »ich habe ihm selbst gestern zur Ader gelassen.«

»Bitte um Verzeihung« fiel hier der Reitknecht ein.«

»Warum bittest Du mich um Verzeihung? Wo ist Dein Pferd, ich will nach Hause reiten und dem Kutscher die Knochen im Leibe zerschlagen. Wo ist Dein Pferd?«

»Verzeihen Sie, es handelt sich nicht um Ratcatcher, der ist ganz wohl.«

»Der ist ganz wohl? Was willst Du denn?«

»Ich habe eine Botschaft in Betreff Ihres Herrn Vater.«

Geoffrey zog sein Schnupftuch heraus und wischte sich offenbar sehr erleichtert den Schweiß von der Stirn: »Ich habe geglaubt, es handle sich um Ratcatcher,« sagte er aufathmend und blickte Arnold dabei lächelnd an. Er steckte die Pfeife wieder in den Mund und fachte die verglimmende Tabaksasche wieder an. "»Nun,« fuhr er, da die Pfeife wieder im Gange war, mit beruhigter Stimme fort, »was ist mit meinem Vater?«

»Ein Telegramm von London. Schlimme Nachrichten von seiner Lordschaft.« Mit diesen Worten überreichte der Reitknecht die Karte seines Herrn.

Geoffrey las auf derselben die folgenden Worte von der Hand seines Bruders: »Ich habe nur einen Augenblick Zeit, eine Zeile auf meine Karte zu kritzeln, unser Vater ist gefährlich krank! Er hat verlangt, sein Testament zu machen, Du mußt mit dem nächsten Zug mit mir nach London gehen, triff’ mich an der Station!« —— Ohne ein Wort an einen der drei Anwesenden, die ihn Alle schweigend beobachteten, zu richten, sah Geoffrey nach der Uhr. Anne hatte ihm gesagt, er solle eine halbe Stunde warten und möge annehmen, daß sie fortgegangen sei, wenn er in dieser Zeit nichts von ihr gehört haben werde. Diese Zeit war vorüber und er hatte nichts von ihr gehört, ihre Flucht aus dem Hause war also glücklich bewerkstelligt. Anne Silvester mußte in diesem Augenblick auf dem Wege nach dem Gebirgs-Gasthof sein.



Siebentes Kapitel - Die Schuld

Arnold war der Erste, der das Schweigen brach.

»Ist Dein Vater ernstlich krank?«

Geoffrey reichte ihm statt jeder Antwort die Karte.«

Sir Patrich der, so lange über den Rückfall Ratcatcher’s verhandelt wurde, ruhig in einer Ecke gestanden und satyrische Betrachtungen über die Sitten und das Wesen der modernen englischen Jugend angestellt hatte, trat jetzt wieder heran und betheiligte sich an der Unterhaltung.

Lady Lundie hätte anerkennen müssen, daß er bei dieser Angelegenheit sprach und handelte, wie es dem Haupte der Familie zukam.

»Habe ich recht verstanden, daß Herrn Delamayn’s Vater gefährlich krank ist?« fragte er Arnold.

»Gefährlich krank in London«, antwortete dieser. »Geoffrey muß Windygates mit mir zugleich verlassen. Der Zug, mit dem ich gehe, trifft den Zug, mit welchem Geoffrey und sein Bruder weiter reisen wollen, bei der Zweigstation. Ich verlasse ihn auf der zweiten Station von hier.«

»Haben Sie mir nicht gesagt, daß Lady Lundie Sie in ihrem Gig nach der Station schicken wolle?«

»Ja!«

»Wenn der Diener kutschirt, wird nicht Platz genug im Wagen für Drei sein.«

»Da thäten wir also wohl besser um einen andern Wagen zu bitten,« bemerkte Arnold.

Sir Patrick sah nach seiner Uhr. Es war keinen Zeit mehr übrig, einen andern Wagen anspannen zu lassen.

Zu Geoffrey gewandt, sagte er:

»Können Sie kutschiren, Herr Delamayn?«

Noch immer in seinem unerschütterlichen Stillschweigen verharrend, antwortete Geoffrey durch ein Kopfnicken.

Ohne von der unschicklichen Art dieser Antwort Notiz zu nehmen, fuhr Sir Patrick fort: »Ja diesem Falle könnten Sie das Gig getrost dem Bahnhofs-Inspector anvertrauen; ich will dem Diener sagen, daß er Sie nicht zu fahren braucht.«

»Erlauben Sie mir, Ihnen diese Mühe abzunehmen, Sir Patrick,« sagte Arnold.

Sir Patrick lehnte dies mit einer Handbewegung ab, und sagte, wieder zu Geoffrey gewendet, mit immer gleicher Höflichkeit: »Die Gastfreundschaft macht es uns in diesem Falle zur Pflicht, Herr Delamayn, Ihre Abreise auf jede Weise zu beschleunigen. Lady Lundie ist mit ihren Gästen beschäftigt, ich selbst muß dafür sorgen, daß Ihre Abreise keinen unnöthigen Aufschub erleide.« Sir Patrick verneigte sich und verließ den Garten-Pavillon.

Als Arnold mit seinem Freunde allein war, drückte er ihm seine Theilnahme ans. »Es thut mir sehr leid, Geoffrey! Ich hoffe Du kommst noch zur rechten Zeit nach London.« Er hielt inne und fand in Geoffrey’s Ausdruck etwas wie eine sonderbare Mischung von Zweifel und Verworrenheit, von Verdruß und Trauer, welches man nicht auf Rechnung der Nachricht, die er erhalten, setzen konnte. Er wechselte wiederholt die Farbe; er kaute mit nervöser Ungeduld an seinen Nägeln, sah Arnold an, als wolle er reden und wandte sich dann schweigend wieder ab.

»Betrübt Dich noch sonst etwas, Geoffrey, außer den schlimmen Nachrichten über Deinen Vater?« fragte Arnold.

»Ich bin in des Teufels Küche,« antwortete Geoffrey.

»Kann ich etwas für Dich thun?«

»Anstatt aller Antwort, erhob Geoffrey seine gewuchtige Hand und gab Arnold einen freundlichen Schlag auf die Schulter, der in ihm eine gewaltige Erschütterung hervorbrachte. —— —— —— Arnold stellte sich aber fest auf seine Füße und wartete ruhig das Weitere ab.

»Hör’ mal!« alter Junge, fing Geoffrey an.

»Nun?«

»Erinnerst Du Dich noch, als Du mit dem Bote im Hafen von Lissabon umschlugst?«

Arnold stutzte. Wenn er sich in diesem Augenblick der ersten Begegnung mit dem alten Freunde seines Vaters erinnert hätte, so würde ihm ohne Zweifel die Prophezeihung Sir Patrick’s eingefallen sein, daß er früher oder später seine Schuld gegen den Mann, der ihm das Leben gerettet hatte, mit Zinsen werde abzutragen haben. Er aber erinnerte sich nur lebhaft jenes Unfalls mit dem Boot. In dem Gefühl seiner Dankbarkeit und in der Unschuld seines Herzens, empfand er die Frage seines Freundes beinahe wie einen Vorwarf, den er nicht verdient habe. »Glaubst Du ich könnte je vergessen,« rief er warm aus, »daß Du mir das Leben gerettet hast?«

Jetzt wagte es Geoffrey, seinem Ziel um einen Schritt näher zu treten. »Eine Freundschaft ist der andern werth, sagte er, nicht wahr?«

Arnold ergriff seine Hand. »Sag mir nur,« fuhr er eifrig fort, was ich für Dich thun kann.«

»Du reisest heute nach Deinem neuen Gut, nicht wahr?«

»Ja.«

»Kannst Du das bis morgen aufschieben?«

»Wenn ich Dir damit einen wichtigen Dienst leisten kann, gewiß!«

Geoffrey sah sich nach der Schwelle des Garten-Pavillons um, um sich zu vergewissern daß sie allein seien.

»Du kennst doch die Gouvernante hier, nicht wahr?" flüsterte er Arnold zu.

»Miß Silvester? —— Ja.«

»Ich habe da eine kleine unangenehme Geschichte mit Miß Silvester und es giebt keinen andern Menschen, der mir in diesem Augenblick helfen könnte, als Du!«

»Du weißt, daß Du auf mich rechnen kannst; um was handelt es sich?«

»Das ist nicht so leicht zu sagen! Nun, Du bist ja auch kein Heiliger, nicht wahr und wirst doch natürlich die Sache für Dich behalten! Also höre: ich habe gehandelt, wie ein verdammter Narr, ich habe das Mädchen herumgebracht!«

Arnold, der ihn plötzlich verstanden, trat einen Schritt zurück. »Um Gottes Willen Geoffrey, Du willst doch nicht sagen?«

»Jawohl, höre nur, das ist noch gar nicht das Schlimmste, sie hat das Haus verlassen!«

»Das Haus verlassen?«

Jawohl, für immer verlassen! Sie kann nicht wieder zurückkommen.«

»Warum nicht?««

»Weil sie der Alten hier geschrieben hat! Die verwünschten Weiber thun so etwas nie halb. Sie hat geschrieben, sie wäre heimlich verheirathet und zu ihrem Mann gegangen und dieser Mann —— bin ich, noch nicht verheirathet, verstehst Du wohl? aber ich habe ihr versprochen, sie zu heirathen und mich zunächst heimlich nach einem vier Meilen von hier gelegenen Wirthshause zu begeben. Wir haben abgemacht, daß ich ihr noch heute dahin folgen und mich mit ihr verheirathen solle. Das geht jetzt nicht an! Während sie da oben in dem Wirthshause auf mich wartet, muß ich nach London jagen. Nun muß ihr durchaus Jemand mittheilen was vorgefallen ist, oder sie wird des Teufels und die ganze Geschichte kommt heraus. Ich kann Niemandem hier im Hause vertrauen und bin verloren, wenn Du, mein alter Junge, mir nicht hilfst!«

Arnold machte eine Bewegung des Entsetzens.

»Geoffrey, um’s Himmels willen, das ist ja die verzweifelste Geschichte, die mir je in meinem Leben vorgekommen ist.«

Geoffrey war darin ganz mit ihm einverstanden. »Schlimm genug, um Einen den Kopf verlieren zu machen, nicht wahr? Wenn ich nur ein Glas Bier hätte!«

Er zog aus reiner Gewohnheit die Pfeife aus der Tasche; »Hast Du ein Zündholz?« fragte er.

Arnold war mit sich zu beschäftigt, um diese Frage zu hören.

»Denke nicht, daß ich Deines Vaters Krankheit leicht nehme,« sagte er in ernstem Ton, »aber ich kann nicht leugnen, daß das arme Mädchen mir in diesem Falle doch vorzugehen scheint.«

Geoffrey sah ihn ganz erstaunt an: »Vorzugehen?« —— —— —— Du denkst doch nicht, daß ich so unvernünftig sein werde mich der Gefahr auszusetzen von meinem Vater enterbt zu werden? Nicht für die beste Frau auf der Welt.«

Arnold hatte seit Jahren eine große Bewunderung für seinen Freund, für einen Mann, der im Rudern, im Boxen, im Ringen und Springen und vor Allem im Schwimmen excellirte, wie wenig andere Menschen in England, aber die Antwort machte doch einen sehr unangenehmen Eindruck auf ihn, zum Unglück für Arnold nur auf einen Augenblick.

»Du mußt das am besten wissen,« antwortete er etwas kühl, »was kann ich für Dich thun?«

Geoffrey ergriff seinen Arm, plump, wie er Alles anfaßte, aber in freundschaftlicher und zutraulicher Weise.

»Komm, sei ein guter Kerl, gehe hin und sage ihr, was vorgefallen ist. Wir fahren hier weg, als wenn wir Beide nach der Eisenbahn wollten. Ich setze Dich bei dem Fußweg ab und Du kannst mit dem Abendzuge nach Deinem Gute reisen, das macht Dir ja weiter keine Ungelegenheiten und Du erweist einem alten Freund einen wahren Dienst. Du läufst keine Gefahr entdeckt zu werden; ich kutschire, wir haben keinen Diener bei uns, der die Sache verrathen könnte.«

Selbst in Arnold dämmerte jetzt eine Ahnung davon auf, daß er wahrscheinlich seine Dankschuld schon jetzt mit Zinsen abzutragen im Begriff stehe, wie Sir Patrick es vorausgesagt hatte. »Was soll ich ihr sagen?« fragte er, »ich fühle mich verpflichtet Alles zu thun, was in meinen Kräften steht, um Dir zu helfen, aber was soll ich ihr sagen?«

Die Frage war unstreitig sehr berechtigt und nicht leicht zu beantworten.

Welchen Gebrauch ein Mensch unter irgend welchen Umständen von seinen Muskeln zu machen habe, das wußte Niemand besser als Geoffrey Delamayn, was aber ein Mensch unter irgend welchen Umständen zu sagen habe, um sich aus einer Verlegenheit zu ziehen, das wußte Niemand weniger als er.

»Sagen?« wiederholte er, »nun, ich wäre ganz außer mir und so weiter, Du weißt wohl. O, warte mal, sag’ ihr, sie solle bleiben, wo sie ist, bis ich ihr schreibe.«

Arnold zauderte. Obgleich dessen, was man Weltklugheit nennt, vollkommen unkundig, so ließ ihn doch sein angeborenes Zartgefühl die große Schwierigkeit der Stellung, die ihm sein Freund aufzubürden im Begriff stand, klar erkennen.

»Denke einen Augenblick nach und Du wirst finden, daß Du mir da ein sehr unbequemes Geheimniß anvertraut hast. Vielleicht habe ich Unrecht, ich habe nie mit einer ähnlichen Angelegenheit zu thun gehabt, aber mir scheint, daß wenn ich mich dieser Dame als Deinen Boten vorstelle, ich sie einer furchtbaren Demüthigung aussetze. Soll ich hingeben und ihr in’s Gesicht sagen: »ich weiß, was Sie vor den Augen der ganzen Welt verbergen möchten,« und soll sie sich das von mir sagen lassen?«

»Ach was,« rief Geoffrey, »sie kann mehr vertragen als Du glaubst, ich wollte, Du hättest mit angehört, wie sie mich gequält hat! Nein, guter Junge, Du verstehst nichts von Frauen, das große Geheimniß der Behandlung der Frauen besteht darin, sie wie eine Katze am Nacken zu packen.«

»Ich, kann ihr nicht eher vor die Augen treten, bevor Du sie nicht schriftlich von der Sache unterrichtet hast. Ich schrecke vor keinem Opfer für Dich zurück, aber hol’s der Kuckuck, Du mußt doch begreifen, in welche Lage Du mich bringst, Geoffrey. Ich bin Miß Silvester fast ganz fremd, ich kann ja gar nicht wissen, wie sie mich aufnehmen wird, ob sie mich meine Bestellung nur wird ausrichten lassen.«

Diese letzten Worte machten Geoffrey für Amold’s Bedenken zugänglicher; die Schwierigkeit, daß Arnold vielleicht nicht zu Worte kommen würde, leuchtete Geoffrey ein. »Vielleicht thue ich doch besser, zu schreiben, haben wir noch Zeit in’s Haus zu gehen?«

Das Haus»ist voll von Leuten und wir haben keine Minute Zeit. Schreibe gleich hier mit einem Bleistift.

»Worauf soll ich schreiben?

»Einerlei, auf die Karte Deines Bruders.«

Geoffrey nahm den Bleistift, den Arnold ihm reichte und betrachtete sich die Karte. Die von seinem Bruder geschriebenen Zeilen bedeckten die Karte völlig, es war kein Fleckchen frei darauf; er durchsuchte seine Tasche und zog einen Brief heraus, jenen Brief, auf welchen Anne in ihrer Unterhaltung Bezug genommen, in welchem sie darauf bestanden hatte, daß er bei dem Gartenfest in Windygates erscheine. Das wird gehen, es ist Anne’s eigener Brief an mich; auf der vierten Seite ist noch Platz. Wenn ich ihr schreibe, fragte er plötzlich gegen Arnold gewendet, versprichst Du es ihr zu bringen? Gieb mir die Hand darauf. Er streckte Arnold die Hand entgegen, die ihm einst das Leben gerettet hatte, und Arnold schlug, jener Rettung eingedenk, ein und gab ihm das Versprechen.

»Schön, mein Junge! wie Du hinkommst, sage ich Dir unterwegs im Wagen. Beiläufig eins darf ich nicht vergessen, Du darfst in dem Gasthof nicht Deinen Namen nennen und darfst nicht nach’ ihrem Namen fragen.«

»Nach wem soll ich denn fragen?«

»Ja, das ist es gerade, sie will sich dort, weil die Leute sie sonst vielleicht nicht aufnehmen würden, als Frau präsentiren.«

»Ich verstehe.«

»Und will ihnen, um die Sache für uns Beide leicht zu machen, verstehst Du, sagen, daß sie ihren Mann sehr bald erwarte und wenn ich selbst hätte hingehen können, würde ich bei der Ankunft nach »meiner Frau« gefragt haben, nun gehst Du statt meiner ——«

»Und ich muß bei meiner Ankunft auch nach »meiner Frau« fragen, wenn ich Miß Silvester nicht Unannehmlichkeiten aussetzen will!

»Dagegen hast Du doch nichts, nicht wahr?«

»Durchaus nicht! was ich den Leuten im Gasthof sage, ist mir ganz einerlei, aber ich scheue die Begegnung mit Miß Silvester.«

»Deswegen sei unbesorgt, das will ich schon in Ordnung bringen.«

Er trat an den Tisch und schrieb rasch ein paar Zeilen, dann hielt er inne und überlegte. »Wird das genügen?« fragte er sich selbst; »nein!»ich muß ihr wohl noch ein bischen schmeicheln.« Er überlegte wieder, fügte eine Zeile hinzu und schlug vergnügt mit der Faust auf den Tisch. »Das wird gehen! Lies Du selbst Arnold, das ist wahrhaftig nicht so übel!«

Arnold las das Billet, ohne wie es schien, die Befriedigung seines Freundes über den Inhalt zu theilen.

»Etwas kurz!«

»Habe ich denn Zeit, es länger zu machen?«

»Vielleicht nicht, aber mache doch wenigstens Miß Silvester begreiflich, daß Du keine Zeit hast mehr zu schreiben. Der Zug geht in weniger als einer halben Stunde. So gieb doch am Schluß die Zeit an, wann Du schreibst.«

»Gut, meinetwegen auch das Datum!«

Er fügte die gewünschte Zeitangabe hinzu und konnte eben noch Arnold das so verbesserte Schreiben überreichen, als Sir Patrick wieder zu ihnen trat um ihnen anzuzeigen, daß das Gig bereit und daß kein Augenblick zu verlieren sei.

Geoffrey sprang auf; Arnold zauderte noch; »ich muß aber doch Blanche noch sehen, ich kann Blanche nicht verlassen, ohne ihr Lebewohl gesagt zu haben, wo ist sie?«

Sir Patrick wies lächelnd auf die Treppe hin, Blanche war ihm auf dem Fuße gefolgt.

Arnold lief auf der Stelle zu ihr hin.

»Sie müssen fort?« sagte sie traurig.

»Ich komme in zwei Tagen wieder,« flüsterte Arnold, »die Sache ist ganz in Ordnung, Sir Patrick ist zufrieden.«

Sie hielt ihn am Arm fest. Dieser eilige Abschied vor Zeugen schien nicht nach Blanches Geschmack zu sein. »Sie versäumen den Zug« rief Sir Patrick.

Geoffrey ergriff Arnold am Arm, den Blanche festhielt und zog ihn buchstäblich mit sich fort. Beide waren schon im Gebüsch verschwunden, ehe Blanche’s Entrüstung sich noch gegen ihren Onkel Luft machen konnte.

»Warum geht Mr. Brinkworth mit diesem rohen Menschen?« fragte sie.

»Mr. Delamayn muß wegen der Krankheit seines Vaters nach London reisen. Du magst ihn nicht?«

»Ich hasse ihn!«

Sir Patrick wurde nachdenklich »Sie ist ein junges achtzehnjähriges Mädchen,« dachte er bei sich, »und ich bin ein alter Siebziger. Sonderbar, daß wir überall in unsern Ansichten, noch sonderbarer, daß wir in unserer Abneigung gegen Herrn Delamayn übereinstimmen.« Er blickte wieder auf Blanche Sie saß, den Kopf auf die Hände gestützt, schweigend und in Gedanken versunken am Tisch. Sie dachte an Arnold, aber trotz der so heiteren Aussichten, die sich ihm und ihrer öffneten, waren ihre Gedanken nichts weniger also heiter.

»Aber Blanche, Blanche!« rief Sir Patrick. »Du thust ja wahrhaftig, als mache er eine Reise um die Welt; Du dummes Ding, er kommt ja: übermorgen wieder!«

»Ich wollte, er wäre nicht mit dem Menschen fortgegangen,« sagte Blanche; »ich wollte, der Mensch wäre nicht sein Freund.«

»Na, na! Der Mensch ist ein roher Patron, das gebe ich zu; aber was thut denn Das? Sie trennen sich ja schon auf der zweiten Station. Komm wieder in den Saal mit mir; »Du mußt Dir Deine Gedanken weg tanzen!«

»Nein!« antwortete Blanche, »ich habe keine Lust zum Tanzen; ich will hinauf gehen und mit Anne über die Sache reden.«

»Das wirst Du wohl bleiben lassen,« sagte plötzlich eine dritte Stimme.

Onkel und Nichte blickten erstaunt auf und sahen Lady Lundie an der Schwelle stehen.

»Ich verbiete Dir, den Namen dieser Person in meiner Gegenwart wieder auszusprechen,« fuhr Lady Lundie fort. »Sir Patrick, ich habe es Ihnen vorher gesagt, wenn Sie sich gefälligst erinnern wollen, daß mit der Angelegenheit dieser Gouvernante nicht zu spaßen sei; meine schlimmsten Befürchtungen sind eingetroffen, Miß Silvester hat das Haus verlassen.«



Achtes Kapitel - Aufruhr im Hause

Es war noch früh am Nachmittag, als die Gäste von Lady Lundie’s Gartenfest anfingen, in allen Ecken die Köpfe zusammenzustecken und sich gegenseitig in der Ansicht zu bestärken, daß etwas ganz Ungewöhnliches passirt sein müsse. Blanche hatte unerklärlicher Weise die Herren, mit denen sie zum Tanzen engagirt war, im Stich gelassen. Lady Lundie war ebenso unerklärlicher Weise aus dem Ballsaal verschwunden. Blanche war gar nicht, Lady Lundie mit einem gezwungenen Lächeln und offenbar sehr verstimmt wieder erschienen und hatte zu ihrer Entschuldigung vorgegeben, daß sie nicht ganz wohl sei; auf dieselbe Weise hatte sie Blanche’s Abwesenheit, wie auch die etwas vorzeitige Entfernung Miß Silvester’s vom Croquetspiel entschuldigt. Ein Witzling unter den Herren erklärte, die Sache komme ihm vor, wie die Declination eines Verbums: ich bin nicht wohl, Du bist nicht wohl, er ist nicht wohl, und so weiter. Auch Sir Patrick, man denke nur, der gesellige Sir Patrick, hatte sich von der übrigen Gesellschaft getrennt und humpelte in dem einsamsten Theile des Gartens ganz allein auf, und ab. Und nun die Domestiken —— die Sache war schon bis zu den Domestiken gedrungen ——, sie versuchten es wie ihre Herrschaften, in allen Ecken die Köpfe zusammenzustecken. Die Hausmädchen erschienen, wo Hausmädchen nichts zu thun haben, Thüren wurden auf und zugeschlagen und Kleider huschten auf den Treppen und in den oberen Stockwerken unruhig hin und her. Datist etwas nicht in Ordnung, das ist sicher! »Wir thäten besser uns zu entfernen, liebes Kind, laß den Wagen vorfahren.« — »Liebe Louise, tanze nicht mehr, Papa will fort.« —— »Adieu, Lady Lundie!« —— Besten Dank für den angenehmen Tag!« —— »Wie schade, daß Blanche nicht wohl ist.« —— »Es war ein reizendes Fest«

So machten sich die, Gäste mit den bei solchen Gelegenheiten üblichen nichts sagenden Redensarten vor dem Ausbruche des Sturmes aus dem Staube.

Auf diesen Moment hatte Sir Patrick bei seiner einsamen Wanderung in dem Garten nur gewartet. Er konnte sich jetzt der ihm zugemutheten Verantwortlichkeit nicht mehr entziehen. Lady Lundie hatte ihm ihren festen Entschluß mitgetheilt, Anne#s- Spur zu verfolgen und, natürlich nur im Interesse der Sittlichkeit, herauszubringen, ob sie wirklich verheirathet sei oder nicht! Blanche, die schon von der Aufregung des Tages sehr angegriffen war, brach bei der Nachricht von Anne’s Verschwinden in ein hysterisches Weinen aus und bildete sich ihre eigene Ansicht über Anne’s Flucht aus dem Hause. Anne würde ihre Heirath nicht vor Blanche geheim gehalten, ihr nicht einen so förmlichen Brief geschrieben haben, wenn sich Alles wirklich so einfach verhielt, wie sie es sie glauben machen wollte. Anne mußte von irgend einer Seite her sehr schlimme Nachrichten erhalten haben und Blanche war nicht minder entschlossen als Lady Lyndie ihre Spur zu verfolgen, um sie wo möglich selbst aufzusuchen und ihr nach Kräften beizustehen.

Sir Patrick, den beide Frauen in ihr Vertrauen gezogen hatten, sah voraus, daß Beide, seine Schwägerin und seine Nichte, wenn sie nicht zurückgehalten würden, Jede auf ihre Weise sich zu sehr unvorsichtigen Handlungen hinreißen lassen würden, die zu den unangenehmsten Folgen führen könnten. Es bedurfte an diesem Nachmittage entschieden der Autorität eines Mannes in Windygates, und Sir Patrick konnte sich der Erkenntniß nicht Verschließen, daß er diese Autorität ausüben müsse. »Es läßt sich viel für und viel gegen ein Junggesellenleben sagen«, dachte der alte Herr bei sich, als er in dem entlegensten Theil des Gartens, in welchen er sich zurückgezogen hatte, auf und ab humpelte und öfter als gewöhnlich auf die Feder in der Krücke seines elfenbeinernen Stockes drückte. »So viel ist aber gewiß, die verheiratheten Freunde eines Junggesellen können ihn zwar nicht verhindern, ein Junggesellenleben zu führen, aber was sie können und was sie nach Kräften zu thun bemüht sind, ist dafür zu sorgen, daß er seines Junggesellenlebens nicht froh werde.« Die Betrachtung Sir Patricks wurde durch das Nahen eines Dieners unterbrochen, den er schon vorher angewiesen hatte, ihm von dem Fortgang der Begebenheiten im Hause laufenden Bericht zu erstatten.

»Sie sind Alle fort, Sir, Patrick!« sagte der Diener.

»Gottlob Simpson!« Also jetzt haben wir nur noch mit den Logirgästen im Hause zu thun?«

»Nur mit diesen, Sir Patrick!«

»Und diese Logirgäste sind lauter Herren, nicht wahr?«

»Lauter Herren, Sir Patrick!«

»Auch gut, Simpson. Nun muß sich aber zuerst mit Lady Lundie sprechen. ——«

Giebt es wohl einen Entschluß, der an Festigkeit dem gleich käme, mit welchem eine Frau sich vornimmt, die Schwächen einer anderen von ihr gehaßten Frau aufzudecken?

Sir Patrick fand Lady Lundie damit beschäftigt, eine Untersuchung nach demselben Princip anzustellen, welches die Polizei beim Verschwinden einer Person beobachtet. Wer war die letzte Person, welche die Verschwundene gesehen hatte? Wer war der letzte Dienstbote, der Anne Silvester gesehen hatte? Vernommen wurden zunächst die männlichen Dienstboten vom Kellermeister bis zum Stalljungen herab; dann kamen die weiblichen Dienstboten an die Reihe, von der hochgestellten Köchin bis herab zu dem kleinen Mädchen, welches das Unkraut in dem Garten ausjätete. Lady Lundie war in ihrem Verhör gerade bis zu einem kleinen Groom gekommen, als Sir Patrick zu ihr trat.

»Liebe Schwägerin erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern, daß wir in einem freien Lande leben und daß Sie durchaus kein Recht haben, den Schritten Miß Silvester’s von dem Augenblicke an, wo sie Ihr Haus verlassen hat, nachzuspüren.«

Lady Lundie schlug die Augen mit frommem Schauder zur Zimmerdecke auf und sah aus wie eine Märtyrerin der Pflicht!

»Nein«, Sir Patrick, so darf ich als eine christliche Frau die Sache nicht ansehen, diese unglückliche Person hat unter meinem Dache gewohnt, ist Blanche’s Gesellschafterin gewesen und ich bin verantwortlich, moralisch verantwortlich für ihr Thun. Ich gäbe die Welt darum, wenn ich die Sache so leicht nehmen könnte, wie Sie, aber nein, das darf ich nicht! Ich muß wenigstens mir im Interesse der guten Sitte und zur Beruhigung meines Gewissens Sicherheit darüber verschaffen, daß sie wirklich verheirathet ist, ehe ich mein Haupt diesen Abend niederlege.«

»Ein Wort, Lady Lundie.«

»Nein«, wiederholte Lady Lundie mit dem Ausdruck der sanftesten Entschiedenheit, »Sie haben vielleicht, von einem weltlichen Gesichtspunkte aus betrachtet, Recht; aber ich kann die Sache nicht aus diesem Gesichtspunkte ansehen, das widerstrebt meinem ganzen Wesen!«

Dabei wandte sie sich mit feierlichem Ernst wieder zu dem Diener.

»Du weißt, Jonathan, wohin Du kommst, wenn Du die Unwahrheit redest.«

Jonathan war ein wohlgenährter kleiner Müßiggänger, aber sehr rechtgläubig und antwortete:

»Jawohl, gnädige Frau, in die Hölle.«

Sir Patrick begriff, daß ein fernerer Widerspruch von seiner Seite in diesem Augenblick ganz vergeblich sein würde und faßte den weisen Entschluß, mit seiner Einmischung ruhig zu warten, bis Lady Lundie ihre Untersuchung beendigt haben würde; gleichzeitig aber beschloß er, —— da es bei der augenblicklichen Stimmung Lady Lundie’s unmöglich war, vorauszusehen, wessen sie fähig sein würde, wenn ihre Nachforschungen unglücklicherweise erfolgreich sein sollten, —— im Interesse aller Betheiligten, die nöthigen Maßregeln zu ergreifen, um das Haus für die nächsten vierundzwanzig Stunden von den Gästen zu säubern; »Gestatten Sie mir nur eine Frage, Lady Lundie« nahm er wieder auf, »die Lage der Herren, die hier zu Gaste sind, ist bei den jetzigen Vorgängen keine sehr angenehme. Wenn Sie sich damit begnügt hätten, keine weitere Notiz von dem Vorgefallenen zu nehmen, würde Alles sehr gut gegangen sein; wie die Sachen aber jetzt stehen, glauben Sie nicht, daß es für alle Theile angenehm sein würde, wenn ich Ihnen die Pflicht Ihre Gäste zu unterhalten, abnähme?«

»Unter der Voraussetzung, daß Sie es als Haupt der Familie thun«, erwiderte Lady Lundie.

»Als Haupt der Familie«, bestätigte Sir Patrick.

»Dann nehme ich Ihr Anerbieten dankbar an.«

»Bitte, bitte, es geschieht sehr gerne.« Sir Patrick verließ das Zimmer während das Verhör mit Jonathan seinen Fortgang nahm.

Sir Patrick und sein Bruder, der verstorbene Sir Thomas, waren sehr verschiedene Wege im Leben gegangen und hatten sich seit ihrer frühesten Jugend wenig gesehen. Sir Patricks Erinnerung wandte sich in diesem Augenblick einer längst vergangenen Zeit zu und erfüllte ihn mit Zärtlichkeit für das Andenken seines Bruders. Er schüttelte den Kopf und sagte mit einem Seufzer leise vor sich hin: »Armer Tom, armer Tom!«

Als er durch die Vorhalle ging, hielt er einen ihm begegnenden Diener an, um nach Blanche zu fragen.

»Fräulein Blanche hat sich mit ihrer Kammerjungfer in ihrem Zimmer eingeschlossen.

Eingeschlossen? dachte Sir Patrick, das ist ein schlimmes Zeichen, da werde ich noch mehr zu hören bekommen!

Während er noch darüber nachdachte, fiel ihm ein, daß er zunächst die Gäste des Hauses aufzusuchen habe. Ein sicherer Instinkt leitete ihn nach dem Billardzimmer. Hier fand er die Gäste zu einem feierlichen Conseil versammelt und in der Berathung darüber begriffen, was sie anfangen sollten. In zwei Minuten hatte Sir Patrick sie wieder in gute Stimmung versetzt: »Was meinen Sie zu einer Jagdpartie für morgen, meine Herren?« fragte er.

Alle Anwesenden, gleichviel ob Jäger oder nicht, erklärten sich zustimmig.

»Sie können«, fuhr Sir Patrick fort, »von hier oder von einem zu Windygates gehörigen Jagdschlößchen abfahren, das jenseits der Haide im Walde liegt. Das Wetter sieht für Schottland ziemlich sicher aus und wir haben Pferde genug im Stall. Es wird Ihnen nicht verborgen geblieben sein, meine Herren, daß unerwartete Dinge sich im Hause meiner Schwägerin zugetragen haben. Sie bleiben natürlich Lady Lundie’s Gäste, gleichviel, ob Sie hier oder im Jagdschlößen wohnen. Treffen Sie also Ihre Wahl. Was ziehen Sie für die nächsten vierundzwanzig Stunden vor: Das Haus oder das Schlößchen?«

Alle ohne Ausnahme, auch die an Rheumatismus Leidenden nicht ausgenommen, antworteten wie aus einem Munde: »Das Jagdschlößchen.«

»Sehr gut«, fuhr Sir Patrick fort, »lassen Sie uns feststellen, daß wir heute Abend nach dem Jagdschlößchen hinüberreiten und die Jagd auf der Haide morgen in aller Frühe versuchen. Wenn die Zustände im Hause es mir gestatten, werde ich mir ein besonderes Vergnügen daraus machen, Sie zu begleiten, sollte es mir aber unmöglich sein, so wollen sie mich heute Abend entschuldigen und es mir nicht übel nehmen, wenn ich mich von Lady Lundie’s Verwalter vertreten lasse.«

Allgemeine Zustimmung.

Sir Patrick überließ die Gäste ihrem Billardspiel und ging nach dem Stall, um die nöthigen Anordnungen zu treffen.

Inzwischen verhielt Blanche sich in den oberen Räumen des Hauses unheimlich ruhig, während Lady Lundie in den unteren Räumen ihre Untersuchung fortsetzte. Nach Jonathan, dem letzten männlichen Dienstboten im Hause, kam die Reihe an den Kutscher den ersten männlichen Dienstboten außer dem Hause, und so fort bis hinunter zu dem Stalljungen. Da das Verhör der männlichen Dienstboten nicht den mindesten Erfolg hatte, ging Lady Lundie ohne Weiteres zu dem Verhör der weiblichen Dienstboten über. Sie klingelte und ließ die Köchin Hester Dethridge kommen. Eine sehr eigenthümliche Person trat in’s Zimmer. Aeltlich, und gemessen, äußerst sauber und respectabel in ihrer Erscheinung, das graue Haar glatt unter der weißen Haube zurück gestrichen, mit tief eingesunkenen Augen, eine Person, die beim ersten Anblick den Eindruck großer Vertrauenswürdigkeit machte, der man aber bei genauerer Betrachtung ansah, daß das Geheimniß schrecklicher Leiden auf ihr laste; diesen Eindruck empfing man aus dem unerschütterlich starren Blick, den man allmälig gewahr wurde, aus der todesähnlichen Ruhe, die sie nicht einen Augenblick verließ. Ihre Lebensgeschichte war, soweit man sie kannte, sehr traurig. In Lady Lundie’s Dienst war sie zu der Zeit, als Erstere sich mit Sir Thomas verheirathete, getreten; das ihr vom Pfarrer ihres Dorfes ertheilte Zeugniß besagte, daß sie an einen unverbesserlichen Trunkenbold verheirathet gewesen sei und daß sie, so lange derselbe gelebt, furchtbar von ihm zu leiden gehabt habe. Es hatte selbst jetzt, wo sie Wittwe war, sein Bedenkliches, sie in Dienst zu nehmen! Bei einer der vielen Gelegenheiten, wo sie von ihrem Manne körperlich mißhandelt worden war, hatte er ihr einen Schlag versetzt, der von sehr verhängnisvoller Wirkung auf ihr Nervensystem werden sollte. Wochenlang hatte sie bewußtlos dagelegen und war, als sie sich wieder erholte, der Sprache völlig beraubt gewesen; dazu kam, daß sie zuweilen ein sehr sonderbares Wesen hatte und daß sie bei der Annahme eines Dienstes es zur ausdrücklichen Bedingung machte, in einem Zimmer allein zu schlafen. Dagegen sprach es sehr zu ihren Gunsten, daß sie mäßig, höchst rechtlich und eine der besten Köchinnen in England war. Diese letztere Eigenschaft hatte Sir Thomas bestimmt, den Versuch mit ihr zu machen und er fand auch, daß er niemals in seinem Leben so gut gegessen habe, als seit dem Tage, wo Hester Dethridge die Leitung seiner Küche übernommen hatte. Nach seinem Tode blieb sie im Dienst seiner Wittwe. Lady Lundie war weit entfernt, ihre Köchin gern zu haben, man konnte sich eines unangenehmen Argwohns gegen diese Person nicht erwehren, über den sich Sir Thomas hinweggesetzt hatte, gegen den aber Alle, die für die Wichtigkeit eines guten Diners weniger empfänglich waren, als Sir Thomas, sieh unmöglich gleichgültig verhalten konnten. Die über den Zustand Hester’s consultirten Aerzte erklärten, daß sie sich durch gewisse physiologosche Erscheinungen zu der Annahme berechtigt glauben, saß die Person ihre Stummheit nur aus Gründen, sie selbst am besten wissen müsse, simulire; sie weigerte sich hartnäckig, das Alphabet der Taubstummen zu erlernen, weil sie, wie sie erklärte, wohl stumm, aber nicht taub sei. Man versuchte es, sie, da sie unzweifelhaft hörte, durch List dahin zu bringen, sich ihrer Sprache zu bedienen; aber umsonst! Man bemühte sich auch, ihr Antworten auf Fragen in Betreff ihrer Vergangenheit zu Lebzeiten ihres Mannes zu entlocken, aber sie weigerte sich ein für allemal, darüber Rede zu stehen. Von Zeit zu Zeit wurde sie von einem sonderbaren Drang ergriffen, sich einen freien Tag außerhalb des Hauses zu machen; wurde ihr die Erlaubniß dazu versagt, so weigerte sie sich, irgend etwas im Hause zu thun; drohte man ihr dann mit Entlassung, so verneigte sie sich mit einer Miene, die zu sagen schien: »Kündigen Sie mir, wenn es Ihnen beliebt, und ich gehe.« Zu wiederholten Malen hatte Lady Lundie sich begreiflicher Weise schon vorgenommen, eine solche Person nicht im Hause zu behalten, aber sie hatte diesen Entschluß bis jetzt nicht zur Ausführung gebracht. Eine Köchin, die eine vollkommene Meisterin in ihrer Kunst ist, die keinen Nebenverdienst sucht, die nichts vergeudet, die niemals in Streit mit den übrigen Dienstboten geräth, die nichts Anderes als Thee trinkt, der man ungezählt Summen Geldes anvertrauen kann, ist nicht leicht zu ersetzen. Wir Alle lassen uns in dieser Welt von Personen und Dingen vielerlei gefallen und so ließ sich auch Lady Lundie viel von ihrer Köchin gefallen. Hester Dethridge lebte so zu sagen, am Rande der Entlassung, hatte aber bis jetzt noch immer ihren Platz behauptet, ihre freien Tage bekommen, wenn sie darum gebeten hatte, was übrigens nicht oft vorkam und hatte, wohin sie auch mit der Familie reisen mochte, immer in einem verschlossenen Zimmer allein geschlafen.

Hester Dethridge näherte sich langsam dem Tisch, an welchem Lady Lundie saß; am Gürtel ihres Kleides hatte sie eine Schiefertafel mit einem Griffel hängen, deren sie sich bediente um solche Antworten zu ertheilen, die sie nicht durch eine Handbewegung oder ein einfaches Nicken oder Schütteln des Kopfes auszudrücken vermochte. Sie nahm Tafel und Griffel in die Hand und wartete mit steinerner Ergebenheit auf die Fragen ihrer Herrin. Lady Lundie eröffnete das Verhör mit der Eingangsfrage der sie sich bei allen übrigen Dienstboten bedient hatte: »Wissen Sie, daß Miß Silvester das Haus verlassen hat?« Die Köchin nickte mit dem Kopfe.

»Wissen Sie, wann das geschehen ist?«

Die Köchin nickte abermals und dass war die erste bejahende Antwort, die Lady Lundie erhalten hatte. Eifrig ging sie zur nächsten Frage über. Haben Sie Miß Silvester gesehen, als sie das Haus verließ?

Die Köchin nickte zum dritten Male.

»Und wo?«

Hester Dethridge schrieb langsam, in für eine Person ihres Standes merkwürdig festen und regelmäßigen Schriftzügen auf die Tafel die Worte: »Auf dem Wege der zur Eisenbahn führt, in der Nähe des Pachthofes der Mrs. Chew!«

»Was hatten Sie auf dem Pachthofe zu thun?«

Hester Dethridge schrieb: »Ich brauchte Eier für die Küche und etwas frische Luft für mich selbst.«

»Hat Miß Silvester Sie gesehen?«

Die Köchin schüttelte den Kopf.

»Nahm sie den Weg, der nach der Eisenbahn führt?«

Die Köchin schüttelte abermals den Kopf.

»Ging Miß Silvester weiter nach der Haide zur?«

Hester nickte mit dem Kopfe.

»Was that sie, als sie auf die Haide kam?«

Hester schrieb: »Sie schlug den Fußweg ein, der nach Craig Fernie führt.«

Lady Lundie sprang in großer Aufregung auf. Es gab nur ein einziges Haus, in welches eine Fremde in Craig Fernie gehen konnte.

»Also in den Gasthof?« rief Lady Lundie »Dahin ist sie also gegangen?«

Hester Dethridge rührte sich nicht.

Lady Lundie that eine letzte vorsichtige Frage mit den Worten: »Haben Sie irgend Jemandem davon etwas mitgeiheilt?«

Hester nickte.

Darauf war Lady Lundie nicht gefaßt gewesen. Sie dachte nicht anders, als Hester müsse sie mißverstanden haben. »Ich frage, ob Sie Jemandem etwas davon mitgetheilt haben?«

Hester nickte abermals.

»Jemand, der Sie wie ich befragte?«

Hester nickte zum dritten Male.

»Und das war?«

Hester schrieb auf ihre Tafel: »Miß Blanche.«

Lady Lundie fuhr entsetzt zurück bei der Entdeckung, daß Blanches Entschluß, Anne Silvester’s Spur zu verfolgen, allem Anscheine nach eben so fest sei, wie der ihrige. Ihre Stieftochter agirte also im Geheimen und auf eigene Verantwortlichkeit. Die Art, wie Miß Silvester das Haus verlassen hatte, empfand Lady Lundie als eine tödtliche Beleidigung. Als eine von Grund aus rachsüchtige Natur hatte sie fest beschlossen, jeden irgend compromittirenden Umstand in dem Geheimniß der Gouvernante herauszubringen und dem etwaigen Ergebniß ihrer Nachforschungen, natürlich nur aus reinstem Pflichtgefühl, die größtmögliche Verbreitung in ihrem Freundeskreise zu verschaffen. Wenn aber Blanche, wie es den Anschein hatte, in einer ganz entgegengesetzten Weise und nur im Interesse von Anne Silvester verfuhr, so war das Gelingen von Lady Lundie’s Bemühungen offenbar unmöglich. Was sie zunächst und zwar augenblicklich zu thun hatte, war, Blanche wissen zu lassen, daß sie von ihren Schritten unterrichtet sei und ihr streng zu untersagen sich ferner in die Sache zu mischen. Lady Lundie klingelte zwei Mal, was soviel bedeutete, als daß ihre Kammerjungfer erscheinen solle. Dann wandte sie sich wieder zu der Köchin die immer noch mit derselben steinernen Ruhe, ihre Schreibtafel in der Hand die Befehle ihrer Herrin erwartete. »Sie haben Unrecht gethan«, sagte Lady Lundie strenge, »ich bin Ihre Herrin, Sie haben mir Rede zu stehen!«

Hester Dethridge verneigte sich zum Zeichen ihrer Anerkennung des eben ausgesprochenen Princips.

Lady Lundie empfand diese Verneigung sofort als eine unpassende Unterbrechung. »Aber Miß Blanche ist nicht Ihre Herrin«, fuhr sie im scharfen Tone fort, »Sie sind sehr zu tadeln, daß Sie Miß Blanche’s Fragen über Miß Silvester beantwortet haben.«

Hester Dethridge schrieb, von diesem Vorwurf vollkommen unberührt, ihre Rechtfertigung in zwei ferneren Sätzen auf die Tafel: »Ich hatte keinen Befehl, Miß Blanche nicht zu antworten; ich bewahre Niemandes Geheimnisse, als meine eigenen.«

Durch diese Antwort war die seit Monaten schwebende Frage der Entlassung Hester Dethridges auf einmal entschieden. »Sie sind eine impertinente Person, ich habe es lange genug mit Ihnen ausgehalten und will es nicht länger, wenn Ihr Monat zu Ende ist gehen Sie.« Mit diesen Worten entließ Lady Lundie Hester Dethridge aus ihrem Dienste.

Nicht die leiseste Veränderung zeigte sich in dem finster-ruhigen Gesichtsausdruck Hester’s. Sie verneigte sich abermals zum Zeichen, daß sie das über sie verhängte Urtheil verstanden habe, ließ ihre Tafel herabhängen, drehte sich um und verließ das« Zimmer. Diese Person, die lebend und arbeitend auf der Welt umherging, war, soweit menschliche Interessen in Betracht kamen, so völlig außer allem Zusammenhang mit der Welt, als hätte sie eingesargt in ihrem Grabe gelegen.

In dem Augenblick, wo Hester das Zimmer verließ, trat Lady Lundie’s Kammerjungfer ein.

»Gehen Sie zu Miß Blanche und bitten Sie diese zu mir zu kommen, warten Sie einen Augenblick« —— sie hielt inne und ging mit sich zu Rath. Blanche konnte sich weigern, sich die Einmischung ihrer Mutter gefallen zu lassen, es konnte möglicher Weise nothwendig werden, die Autorität ihres Vormundes in Anspruch zu nehmen.

»Wissen Sie, wo Sir Patrick augenblicklich ist?

»Ich hörte Simpson sagen daß Sir Patrick nach den Ställen gegangen sei, gnädige Frau!«

»Lassen Sie Sir Patrick durch Simpson sagen, ich bäte ihn freundlichst gleich zu mir zu kommen.«

Eben waren die Vorbereitungen für die Abreise nach dem Jagdschlößchen getroffen und es fragte sich nur noch, ob Sir Patrick die Gesellschaft würde begleiten können, als der Diener mit der Botschaft seiner Herrin erschien.

»Wollen Sie mir eine viertel Stunde Zeit gönnen, meine Herren?« fragte er. »Nach Verlauf dieser kurzen Frist werde ich bestimmen können, ob ich mitgehen kann oder nichts« Es versteht sich von selbst, daß die Gäste sich bereit erklärten zu warten; die Jüngeren unter ihnen brachten als Engländer natürlich die kurze Muße damit zu, darauf Zu wetten, ob Sir Patrick sich werde losmachen können, oder ob man ihn im Hause festhalten werde; auf das letztere wurde Zwei gegen Eins gewettet.

Genau nach Verlauf einer viertel Stunde erschien Sir Patrick wieder. Die häuslichen Verhältnisse hatten das blinde Vertrauen, welches Jugend und Unerfahrenheit auf ihre Macht gesetzt hatten, getäuscht, Sir Patrick hatte sich frei gemacht.

»Die Dinge sind soweit in Ordnung«, sagte Sir Patrick, »daß ich im Stande bin, mit Ihnen zu gehen. Es giebt zwei Wege nach dem Jagdschlößchen; der eine längste führt an dem Gasthof von Craig Fernie vorüber; ich muß Sie bitten, diesen Weg mit mir zu nehmen. Dort muß ich auf einige Augenblicke absitzen um im Gasthof mit Jemanden ein kurzes Wort zu reden. Sie reiten inzwischen ruhig weiter.«

Es war Sir Patrick gelungen, Lady Lundie und auch Blanche zu beruhigen, und zwar Beide durch das feste Versprechen, das er Jeder von ihnen besonders gegeben hatte, statt ihrer nach Craig-Fernie zu gehen und persönlich dort Anne Silvester aufzusuchen. Ohne Weiteres bestieg er nun ein Pferd und die Jagdpartie verließ unter seiner Anführung Windygates.



Der Gasthof.

Neuntes Kapitel - Anne

»Ich muß Ihnen nochmals bemerken, Madame, daß das Haus bis auf diese beiden Zimmer hier besetzt ist«, so sprach Mrs. Inchbare, die Wirthin des Gasthofes von Craig Fernie zu Anne Silvester, die, die Börse in der Hand, in dem einen der beiden Zimmer stand und sich erbot für beide Zimmer im Voraus zu bezahlen.

Es war Nachmittags, ungefähr um dieselbe Zeit, wo Geoffrey Delamayn den Zug nach London bestiegen und wo Arnold Brinkworth den Weg über die Haide eingeschlagen hatte, um sich nach Craig Fernie zu begeben.

Mrs. Inchbare war eine hagere, lange, respectabel aussehende Frau. Ihr häßliches Haar hing ihr in dünnen strohfarbigen Locken um den Kopf; sie trug ihre harten Knochen wie ihr hartes Puritanerthum ohne den leisesten Versuch, etwas davon zu verbergen, zur Schau; mit einem Wort, sie war eine entsetzlich respectable Frau, die mit stolzem Selbstgefühl einen entsetzlich respectablen Gasthof hielt. Sie hatte keinerlei Concurrenz zu befürchten; sie konnte ihre Preise und ihre Hausordnung nach Belieben feststellen. Wenn einmal Einer gegen ihre Preise oder ihre Hausordnung remonstrirte, so stellte sie es ihm einfach frei, anderswohin zu gehen, das heißt mit andern Worten, sich als ein heimathloser Wanderer in der unbarmherzigen schottischen Wildniß umherzutreiben. Das Dorf Craig Fernie bestand aus einem Haufen elender Hütten. Meilenweit umher war in der ganzen Gegend auf Berg und Haide kein zweiter Gasthof zu finden und kein Mensch kam überhaupt in den Fall, in dieser Gegend Schottlands Nahrung und Obdach von Fremden zu begehren, als hülflose englische Touristen. In dem ganzen weiten Reich der Hotel-Besitzer gab es keine unabhängigere Person als Mrs. Inchbare. Als unumschränkte Beherrscherin ihres einsamen Gasthofes war sie für das sonst wirksamste Schreckmittel aller Hotelbesitzer, das Schreckmittel einer ungünstigen Besprechung in den Zeitungen, vollkommen unempfindlich. Wenn es einem Gaste einmal zu arg wurde und er drohte, ihre Rechnung in den öffentlichen Blättern abdrucken zu lassen, erklärte Mrs. Inchbare, das möge er in Gottes Namen thun. »Schicken Sie die Rechnung wohin Sie wollen, wenn Sie sie nur bezahlen. So etwas wie eine Zeitung kommt nie über meine Schwelle. In Ihrem Zimmer finden Sie das alte und das neue Testament und im Frühstückszimmer die Naturbeschreibung von Perthshire und wenn Ihnen diese Lectüre nicht genügen sollte, so reisen Sie ruhig wieder ab und suchen sich anderswo etwas Besseres zu lesen.«

Das war der Gasthof, in welchem Anne Silvester allein, mit keinem weiteren Gepäck als einer kleinen Handtasche absteigen wollte; das war die Frau, deren Abneigung, sie bei sich aufzunehmen, Anne naiv genug war mit ihrer Börse überwinden zu wollen.

»Bitte, nennen Sie mir den Preis, ich bin bereit, ihn im Voraus zu bezahlen.«

Ihre Majestät Mrs. Inchbare würdigte der Börse keines Blickes.

»Die Sache ist die, Madame«, antwortete sie, ich kann Ihr Geld nicht nehmen, wenn ich Ihnen die verlangten Zimmer im Hause nicht geben kann. Das Craig Fernie Hotel ist ein Familien-Hotel und hat für die Aufrechthaltung seines guten Rufes zu sorgen.

Sie sehen mir viel zu gut aus, mein liebes Kind, um allein zu reisen.«

Es gab eine Zeit, wo Anne eine solche Bemerkung gebührend zurückgewiesen haben würde. Die harte Nothwendigkeit ihrer gegenwärtigen Lage machte sie jetzt geduldiger.

»Ich habe Ihnen schon gesagt«, erwiderte sie, »daß mein Mann mir noch heute hierher folgen wird« —— und bei diesen Worten seufzte sie schwer und sank, unfähig länger zu stehen, in den nächsten Stuhl.

Mrs. Inchbare empfand bei ihrem Anblick gerade so viel Mitleid, wie sie geäußert haben würde, wenn ein verlaufener Hund mit wunden Füßen vor ihrer Thür niedergefallen wäre.

»Nun, lassen Sie es gut sein, bleiben Sie eine Weile hier und ruhen sich aus, dafür nehmen wir nichts und wir wollen dann sehen, ob Ihr Mann kommt, ich möchte lieber ihm als Ihnen die Zimmer vermiethen und somit guten Morgen!«

Mit dieser schließlichen Kundgebung ihres königlichen Willens zog sich die Beherrscherin des Gasthofes zurück; Anne antwortete nichts. Sie wartete bis die Wirthin das Zimmer verlassen hatte und that sich dann nicht länger Gewalt an. In ihrer Lage mußte sie jeden gegen sie ausgesprochenen Argwohn doppelt als eine Beleidigung empfinden. Heiße Thränen der Scham entrannen ihren Augen und ein furchtbares Herzweh bemächtigte sich ihrer. Plötzlich hörte sie ein kleines Geräusch im Zimmer; sie stutzte, sah aus und entdeckte in einer Ecke des Zimmers einen Mann, der die Möbel vom Staube reinigte und offenbar ein Kellner im Wirthshause war. Er hatte sie bei ihrer Ankunft in das Wohnzimmer geführt und sich daselbst bis zu diesem Augenblick so ruhig verhalten, daß sie ihn gar nicht gewahrt hatte.

Es war ein alter Mann, mit einem blinden und verschleierten und einem thränenden, munter blickenden Auge, mit kahlem Kopf, gichtischen Füßen, einer Nase, die mit Recht als die größte und rötheste von ganz Schottland berühmt war, und einem Munde, den die milde Weisheit des Alters in einem sanften Lächeln geheimnißvoll umspielte.

In der Berührung mit dieser verderbten Welt zeigte er in seinem Wesen die glückliche Mischung zweier Extreme, der vollkommensten Unabhängigkeit und der demüthigsten Servilität, deren nur ein Schotte fähig ist. Eine ungeheure natürliche Unverschämtheit, welche die Leute amüsirt, aber nicht verletzt, und eine unberechenbare Schlauheit, die sich gewöhnlich hinter der Doppelmaske einer eigenthümlich vorurtheilsvollen Befangenheit und eines trockenen Humors verbirgt, war die solide moralische Grundlage, auf welcher der Charakter dieses alten Mannes beruhte.

Keine noch so große Quantität von Whisky war im Stande, ihn betrunken zu machen und kein noch so leidenschaftliches Klingeln vermochte je seine Bewegungen zu beschleunigen. Das war der Oberkellner im Craig-Fernie-Hotel, weit und breit bekannt als Mr. Bishopriggs, Mrs. Inchbare’s rechte Hand!

»Was machen Sie da?« fragte Anne in scharfem Tone.

Bishopriggs drehte sich auf seinen gichtischen Füßen um, schwenkte sein Staubtuch ruhig in der Luft und sah Anne mit einem milden Lächeln an. »Ich? ich wische den Staub von den Möbeln und bringe das Zimmer für Sie hübsch in Ordnung!«

»Für mich? Haben Sie nicht gehört, was die Wirthin gesagt hat?«

Bishopriggs näherte sich ihr vertraulich und wies mit einem sehr unsichern Zeigefinger auf die Börse welche Anne noch in der Hand hielt.

»Machen Sie sich keine Sorge wegen der Wirthin«, sagte das weise Haupt der Kellner von Craig-Fernie; »Ihre Börse spricht für Sie Madame; stecken Sie sie ein«, rief er, indem er die Versuchung mit seinem Staubtuch von sich jagen zu wollen schien; »stecken Sie sie ein. So lange Menschen, Menschen sind, sage ich, hat eine Frau, die Geld in der Börse hat, überall ihren Werth!«

Anne’s Geduld, die härtere Proben bestanden hatte, riß bei diesen Worten.

»Was fällt Ihnen ein, daß Sie so vertraulich mit mir reden?« fragte sie, zornig auffahrend.

Bishopriggs nahm das Staubtuch unter den Arm und schickte sich an, Anne zu überzeugen, daß er die Ansicht der Wirthin über ihre Lage theile, ohne in der Strenge der Prinzipien mit ihr übereinzustimmen. »Es giebt keinen Menschen auf der Welt, sagte er, der mehr Nachsicht für menschliche Schwächen hätte als ich. O, warum soll ich nicht vertraulich mit Ihnen sein, ich, der ich alt genug wäre, Ihr Vater zu sein und gerne bereit bin, diese Rolle zu übernehmen. Kommen Sie, liebes Kind, bestellen Sie sich ein Bischen Mittagessen. Einerlei ob der Mann da ist oder nicht, Sie haben einen Magen und müssen essen. Wir haben Fisch und Geflügel oder vielleicht ziehen Sie Hammelbraten vor, den Sie aufgebraten bekommen können, wenn die Table d’hote vorüber ist!«

Es gab nur eine Art« ihn los zu werden. Bestellen Sie für mich, was Sie wollen, nur lassen Sie mich allein!«

Bishopriggs war mit dem ersten Theil dieses Satzes vollkommen einverstanden und nahm von dem zweiten nicht die geringste Notiz. »Uebertragen Sie mir nur die Wahrnehmung Ihrer Interessen, das ist das Klügste was Sie thun können, fragen Sie nur nach Bishopriggs, so heiße ich, wenn Sie eines anständigen, respectablen Mannes bedürfen, um Ihnen ein Rath zu geben. Setzen Sie sich doch! Aber nicht in den Lehnstuhl, den braucht Ihr Mann, wenn er kommt.«

Mit diesem passenden Scherz ging der ehrwürdige Bishopriggs Augenzwinkernd zur Thür hinaus. Anne sah nach der Uhr. Nach ihrer Berechnung konnte es nicht mehr lange dauern, bis Geoffrey im Gasthof eintreffen mußte, wenn er Windygates zur verabredeten Zeit verlassen hatte. —— Noch ein wenig Geduld und die Skrupel der Wirthin würden beseitigt und die harte Prüfungsstunde für sie vorüber sein. Hätte sie nicht anderswo mit ihm zusammen treffen können, als in diesem barbarischen Hause, unter diesen barbarischen Menschen? Nein, außer in Windygates hatte sie in ganz Schottland keinen Menschen, den sie kannte; es gab keinen andern passenden Ort als den Gasthof und sie mußte noch dankbar dafür sein, daß derselbe so einsam gelegen war, daß sie nicht zu befürchten brauchte, Bekannte von Lady Lundie hier zu treffen.

Wie groß die Gefahr ihres Aufenthaltes in diesem Gasthofe auch immer sein mochte, der Zweck, den sie verfolgen mußte, rechtfertigte es, daß sie sich dieser Gefahr ausgesetzt hatte; ihre ganze Zukunft hing davon ab, daß Geoffrey sie zu seiner rechtmäßigen Frau machte, nicht die Zukunft an seiner Seite, darauf war nicht mehr zu rechnen, aber die Zukunft eines Lebens mit Blanche, auf das sie jetzt ihre ganze Hoffnung gesetzt hatte. Ihr Muth sank mehr und mehr; ihren Augen entrollten wieder Thränen; sie sagte sich aber, daß es ihn nur reizen würde, wenn er bei seiner Ankunft sie weinend fände; sie nahm sich daher zusammen und versuchte sich durch eine nähere Betrachtung des Zimmers zu zerstreuen. Da war wenig zu sehen. Außer seiner sehr soliden Bauart unterschied sich das Craig-Fernie Hotel in nichts von dem Durchschnitt englischer Hotels zweiten Ranges. Da stand das gewöhnliche, mit schwarzem Haartuch überzogene Sopha, das nur dazu gemacht schien, Diejenigen, die sich auf ihm ausruhen wollten, hinabgleiten zu lassen, da stand der gewöhnliche stark lackirte Lehnstuhl, der besonders dazu fabricirt zu sein schien, die Widerstandsfähigkeit des menschlichen Rückgrats zu erproben. Die Wände waren mit den gewöhnlichen Papiertapeten beklebt, deren Muster Kopfschmerz und Schwindel bereiten. Da hingen die gewöhnlichen Kupferstiche, welche die Menschheit zu betrachten nicht müde wird; das Portrait der Königin an dem Ehrenplatz, daneben an der einen Seite das Bild des nächst größten aller menschlichen Wesen, des Herzogs von Wellington, und an der andern Seite das Portrait des Vertreters von Craig-Fernie im Parlament. Endlich in einer dunklen Ecke eine Jagdscene. Eine der Eingangsthür gegenüberliegende Thür führte in’s Schlafzimmer und ein Fenster an der Seite blickte auf den freien Platz vor dem Hotel hinaus und gewährte die Aussicht auf die weite Haide von Craig-Fernie, die sich von der Höhe, auf der das Haus stand, weit hinabzog.

Verzweiflungsvoll wandte sich Anne von der Betrachtung des Zimmers zur Betrachtung der Aussicht. Seit einer halben Stunde war das Wetter schlechter geworden, dichte Wolken hatten sich am Himmel gesammelt, die Sonne hatte sich versteckt und die Landschaft lag grau und finster da. Anne wandte sich ebenso verzweislungsvoll wieder vom Fenster ab.

Eben wollte sie den hoffnungslosen Versuch machen, ihre ermatteten Glieder auf dem Sopha auszuruhen, als der Klang von Stimmen und Fußtritten vor dem Hause ihre Aufmerksamkeit erregte.

War Geoffretys Stimme dabei? Nein! Stiegen die Fremden ab?

Die Wirthin hatte es ihr abgeschlagen, ihr die Zimmer jetzt schon zu vermiethen, es war leicht möglich, daß die Fremden die Zimmer zu sehen verlangten. Und wenn sich unter Ihnen ein Bekannter befand? In ihrer Besorgniß flüchtete sie sich in’s Schlafzimmer und schob den Riegel vor die Thür.

Im nächsten Augenblick wurde die Thür nach dem Wohnzimmer vom Vorplatz aus geöffnet und Arnold Brinkworth trat von Bishopriggs geführt in’s Zimmer herein.

»Niemand hier!« rief Arnold sich umsehend aus. »Wo ist sie?«

Bishopriggs deutete auf die Thür des Schlafzimmers. »O, Ihre liebe Frau ist gewiß in? Schlafzimmer gegangen.«

Arnold fuhr zusammen. Er hatte, als er die Sache mit Geoffrey in Windygates überlegte, kein Bedenken getragen, sich im Gasthof als Anne Silvester’s Mann zu präsentiren, die Ausführung dieser Verabredung machte ihn jedoch, gelinde gesagt, im ersten Augenblick ein wenig verlegen. Da stand der Kellner, der Miß Silvester als seine Frau bezeichnete und es höchst natürlicher und schicklicher Weise dem Manne der »lieben Frau« überließ, an die Thür ihres Schlafzimmers zu klopfen, um ihr zu sagen, daß er da sei.

In seiner Verzweiflung fragte Arnold nach der Wirthin, die er bei seiner Ankunft im Gasthause noch nicht gesehen hatte.

»Die Wirthin ist gerade damit beschäftigt Rechnungen auszuschreiben«, antwortete Bishopriggs, »aber sie wird gewiß gleich kommen, die viel beschäftigte Frau, um auszuforschen, wer Sie sind, wie sie ja die ganze Last der Geschäfte des Hauses auf ihren Schultern trägt.« Mit einer geschickten Wendung ging er von der Wirthin auf sich selbst über. »Ich habe einstweilen dafür gesorgt, es Ihrer Frau so comfortable wie möglich zu machen«, flüsterte er, verlassen Sie sich ganz auf mich.«

Arnold war ganz von dem Gedanken an die Schwierigkeit erfüllt, wie er Anne seine Ankunft wissen lassen solle; wie bringe ich sie da heraus? fragte er sich mit einem verzweifelten Blick aus die Thür des Schlafzimmers. Er hatte die Worte laut genug gesagt, um von dem Kellner gehört zu werden. Arnold’s betroffener Blick spiegelte sich aus der Stelle in Bishopriggs Gesicht wieder.

Der Oberkellner von Craig-Fernie hatte eine außerordentlich umfassende Erfahrung von dem Benehmen und dem Wesen jung verheiratheter Paare auf ihrer Hochzeits-Reise. Unzähligen jung verheiratheten Frauen und Männern war er mit glänzenden Erfolgen ein zweiter Vater gewesen. Er kannte jung verheirathete Paare aller Art: Paare, die sich das Ansehen gaben, als wenn sie schon lange Jahre verheirathet wären, Paare, die keine Verstellung versuchen und die sich von älteren Leuten rathen lassen, Paare, die aus Verlegenheit vor dritten Personen sehr gesprächig sind, Paare, die aus dem selben Grunde vor Andern sehr schweigsam sind, Paare, die gar nicht wissen, was sie anfangen sollen, Paare, die wünschen, die Sache wäre vorbei, Paare, bei denen man sich hüten muß jemals in’s Zimmer zu treten, ohne vorher anzuklopfen Paare, die sich fähig fühlen in den Pausen ihrer Seligkeit etwas körperliche Nahrung zu sich zu nehmen und wieder andere Paare die dazu nicht im Stande sind. —— Aber der jung verheirathete Mann, der rathlos an der einen Seite einer Thür steht, hinter welcher die junge Frau sich verschlossen hält, war eine, selbst für einem auf diesem Gebiet so erfahrenen Mann wie Bishopriggs, bisher unbekannte Spielart der Gattung jung verheiratheter Paare.

»Wie Sie sie da herausbringen sollen? Das will ich Ihnen sagen!«

Er ging so schnell, wie seine gichtischen Füße es ihm gestatten wollten, an die Schlafstubenthür, klopfte an und rief: O, Madame, er ist da, hier steht er leibhaftig. Mein Gott, wie kommen Sie dazu, die Thür ihrer Brautkammer Ihrem Manne vor der Nase zu verschließen?«

Auf diese Anrede, die nicht gut zu beantworten war, folgte eine Verschiebung des Riegels hinter der Thür. Bishopriggs winkte Arnold mit seinem einen sehenden Auge zu und legte seinen Zeigefinger bedeutungsvoll an seine ungeheure Nase. »Ich gehe, ehe Sie ihr in die Arme sinken und verlassen Sie sich darauf, ich komme nicht wieder herein, ohne vorher angeklopft zu haben.« Er ließ Arnold im Zimmer allein.

Die Thür des Schlafzimmers öffnete sich ganz langsam ein wenig, so daß man die Stimme Anne’s, die hinter derselben stand und sprach, eben vernehmen konnte. »Bist Du es, Geoffrey?«

Arnold, der voraussah, was nun gleich kommen mußte, ward es schwer um’s Herz, er wußte weder, was er sagen noch was er thun sollte. Er schwieg.

Anne wiederholte die Frage lauter: »Bist Du es?«

Natürlich mußte es sie beunruhigen, wenn jetzt keine Antwort erfolgte; da half also nichts mehr, es mochte daraus entstehen, was wolle, Arnold mußte antworten und sagte: »Ja.«

Die Thür flog weit auf und Anne Silvester stand ihm an der Schwelle gerade gegenüber. »Herr Brinkworth!« rief sie, starr und regungslos vor Erstaunen.

Einen Augenblick schwiegen Beide. Anne trat einen Schritt in’s Wohnzimmer vor und that die nächste unvermeidliche Frage mit einer plötzlichen Wandlung des Erstaunens in Argwohn: »Was wollen Sie hier?«

Die einzige mögliche Entschuldigung für Arnoldts Erscheinen an diesem Ort war in Geoffrey’s Brief enthalten. »Ich habe einen Brief für Sie«, sagte er und überreichte ihr denselben.

Aber sie nahm ihn vorsichtiger Weise nicht gleich an. Arnold war ihr, wie dieser selbst schon gegen Geoffrey bemerkt hatte, fast ganz fremd. Ein furchtbares Vorgefühl eines von Geoffrey gegen sie verübten Verrathes überkam sie, sie weigerte sich, den Brief zu lesen. »Ich erwarte keinen Brief, woher wissen Sie daß ich hier bin?« Sie that diese Frage nicht nur in einem argwöhnischen Tone, sondern auch mit einem geringschätzigen Blick, der für einen Mann nicht leicht zu ertragen war.

Arnold bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung um ihr mit der schuldigen Rücksicht zu antworten.

»Werden meine Bewegungen beobachtet«, fuhr sie zornig fort, »und haben Sie die Rolle eines Spions übernommen.

»Sie kennen mich noch nicht lange, Miß Silvester«, antwortete Arnold ruhig, »aber Sie sollten mich doch schon gut genug kennen, um nicht so etwas zu glauben; ich bin der Ueberbringer eines Briefes von Geoffrey.«

Sie war im Begriff seinem Beispiel zu folgen und auch ihrerseits von Geoffrey mit seinem Vornamen zu reden, aber sie hielt inne, bevor sie das Wort ausgesprochen hatte.

»Sie meinen Herrn Delamayn?« antwortete sie kalt.

»Ja.«

»Welche Veranlassung hat Herr Delamayn, mir zu schreiben?« Sie war entschlossen sich zu nichts zu bekennen und hielt ihn beharrlich von sich fern.

Arnold that instinctmäßig, was ein Mann von großer Welterfahrung aus Berechnung gethan haben würde.

Er faßte sich in Dem was er ihr zu sagen hatte ganz kurz.

»Es nützt Ihnen nichts, Miß Silvester, hinter dem Berge zu halten; wenn Sie den Brief nicht nehmen wollen, so zwingen Sie mich zu reden; ich bin hier mit einem höchst unangenehmen Auftrag, und fange an, aus Herzensgrund zu wünschen, daß ich denselben nicht übernommen hätte.«

Ein schmerzlich krampfhaftes Zucken überflog ihr Gesicht. Sie fing an ihn zu verstehen.

Er zauderte, seine edle Natur sträubte sich dagegen, sie zu verletzen.

»Fahren Sie fort«, sagte sie mit großer Selbstüberwindung.

»Versuchen sie es, nicht böse auf mich zu sein, Miß Silvester, Geoffrey weiß, das er mir vertrauen kann.«

»Ihnen vertrauen« unterbrach sie ihn. »Warten Sie!«

Arnold hielt ein und sie sagte nicht zu ihm, sondern zu sich selbst: »Als ich im Nebenzimmer war, fragte ich, ob Geoffrey hier sei und dieser Mann antwortete für ihn.«

Mit einem Schrei des Entsetzens trat sie ihm einen Schritt näher. »Hat er Ihnen gesagt ——?«

»Um Gotteswillen, lesen Sie doch seinen Brief?«

Gewaltsam stieß sie die Hand, mit der er ihr den Brief reichte, von sich. »Sie können mir nicht gerade in’s Gesicht sehen, er hat es Ihnen gesagt?«

»Lesen Sie doch seinen Brief«, wiederholte Arnold, um seinetwillen, wenn nicht um meinetwillen.«

Arnold, dem die peinliche Situation nachgerade unerträglich geworden war, hatte diese letzten Worte mit männlicher Entschlossenheit in Blick und Ton gesprochen.

Sie nahm den Brief. »Verzeihen Sie mir, Herr Brinckworth« sagte sie in einem plötzlichem ebenso überraschenden wie ergreifenden Uebergang zur tiefsten Demuth in Ton und Wesen, »jetzt erst verstehe ich meine Lage recht, ich bin ein zwiefach verrathenes Weib, verzeihen Sie mir, was ich eben gesagt habe, als ich noch einen Anspruch auf Ihre Achtung zu haben glaubte; jetzt werden Sie mir vielleicht Ihr Mitleid nicht versagen, auf etwas Anderes habe ich keinen Anspruch mehr.

Arnold schwieg. Einer so vollkommenen Verzweiflung gegenüber war jedes Wort umsonst. Kein Mensch, selbst Geoffrey nicht, hätte bei ihrem Anblick ungerührt bleiben können. Jetzt erst warf sie einen, Blick auf den Brief, sie öffnete ihn auf der verkehrten Seite. »Mein eigener Brief, sagte sie, »in den Händen eines Dritten!«

»Sehen Sie die letzte Seite an«, sagte Arnold.

Sie sah die letzte Seite an und las die eilig mit Bleistift geschriebenen Zeilen. »O, der Elende, der Elende, der Elende!« Bei der dritten Wiederholung dieser Worte ballte sie den Brief krampfhaft in der, Hand zusammen und schleuderte ihn weit von sich in eine Ecke des Zimmers, aber schon im nächsten Augenblicke hatte sich ihr Zorn wieder gelegt. Schwach und langsam streckte sie die Hand nach dem nächsten Stuhl aus, setzte sich, Arnold den Rücken zugewandt, auf denselben und sagte: »Er hat mich verlassen.« Das war Alles, was sie hervorzubringen vermochte. —— unheimlich unterbrachen diese Worte die tiefe, im Zimmer herrschende Stille; sie waren der Ausdruck eines unermeßlichen Schmerzes.

»Sie haben Unrecht, Sie irren sich! Es ist keine Ausrede, es ist die Wahrheit! Ich war zugegen, als die Nachricht von seinem Vater eintraf.«

Ohne auf seine Worte zu hören, saß sie regungslos’ da und wiederholte: »Er hat mich verlassen!«

»Fassen Sie es doch nicht so auf«, bat Arnold »es ist schrecklich, Sie so reden zu hören, ich weiß gewiß, daß er Sie nicht verlassen hat.« Sie antwortete ihm nicht und gab auf keine Weise zu erkennen, daß sie ihn gehört hatte. Wie vom Schlage getroffen, saß sie da und doch konnte er in diesem Augenblick die Wirthin unmöglich rufen. In seiner verzweifelten Rathlosigkeit, wie er sie wieder zu sich bringen solle, rückte er sich einen Stuhl neben sie und klopfte ihr schüchtern auf die Schultern. Kommen Sie, sagte er in seiner einfach kindlichen, herzlichen Weise, »seien Sie doch guten Muthes.«

Langsam wandte sie den Kopf nach ihm um und sah ihn mit dem Ausdruck stampfen Erstaunens an. »Sagten Sie nicht vorhin, er habe Ihnen Alles erzählt?«

»Ja!«

»Ja? und Sie verachten mich nicht?«

Bei dieser fürchterlichen Frage mußte Arnold an das einzige Wesen denken, das ihm ewig heilig war, an das Weib, das ihm das Leben gegeben hatte.

»Wer seine Mutter geliebt hat,« erwiderte er, »kann kein Weib verachten.«

Diese Antwort brachte ihren bis jetzt zurückgehaltenen Jammer zum Ausbruch; sie reichte ihm die Hand, dankte ihm mit schwacher Stimme und fühlte sich endlich durch einen Strom von Thränen erleichtert.

Arnold stand auf und trat im seiner Verzweiflung an’s Fenster und blickte hinaus.

»Ich meine es gut«, sagte er, »und kann doch nichts thun, als Sie betrüben.«

Sie versuchte es ruhig zu erscheinen. »Nein«, sagte sie, »Ihre Worte sind mir tröstlich, kehren Sie sich nicht an mein Weinen, es thut mir wohl.«

Dabei warf sie ihm einen dankbaren Blick zu. »Ich möchte Sie nicht betrüben, Herr Brinkworth, ich bin Ihnen Dank schuldig und danke Ihnen. Kommen Sie wieder her, wenn ich nicht glauben soll, daß Sie mir zürnen.«

Arnold setzte sich wieder zu ihr.

Sie reichte ihm abermals die Hand. »Man versteht die Menschen nicht gleich,« sagte sie anspruchslos. »Ich glaubte Sie seien wie andere Männer, ich hatte bis heute keine Ahnung davon, wie gut Sie sein können! Sind Sie zu Fuß hergekommen?« fügte sie, um die Unterhaltung aus einen andern Gegenstand zu lenken, hinzu. »Sind Sie müde? Man hat mich freilich hier nicht besonders freundlich ausgenommen, aber ich kann Ihnen doch unbedenklich zur Verfügung stellen, was der Gasthof bietet.«

Es war unmöglich, sie ohne Mitgefühl und ohne Interesse zu betrachten; aber Arnold’s rechtschaffenes Verlangen, ihr zu helfen, trat doch etwas zu deutlich an den Tag, als er jetzt sagte:

»Alles, was ich will ist, mich Ihnen womöglich nützlich zu erweisen, Miß Silvester, kann ich möglicherweise Ihre Stellung hier angenehmer machen? —— Sie wollen doch hier bleiben, nicht wahr Geoffrey wünscht es!«

Sie schauderte und wandte sich ab.

»Ja, ja!« antwortete sie rasch.

»Sie werden morgen oder übermorgen von Geoffrey hören«, fuhr Arnold fort, »er will Ihnen schreiben.«

»Um’s Himmelswillen, reden Sie nicht mehr von ihm, ich kann Ihnen sonst nicht mehr in’s Gesicht sehen.«

Ihre Wangen überflog ein tiefes Roth, aber in festerem Tone fügte sie hinzu:

»Merken Sie wohl, ich bin sein Weib, wenn sein gegebenes Wort mich dazu machen kann,. das er mir bei Allem was heilig ist verpfändet hat.«

Ungeduldig unterbrach sie sich selbst:

»Was sagte ich da? Wie kann Sie diese unglückliche Angelegenheit interessiren? Laffen Sie uns nicht weiter davon reden, ich muß von etwas Anderem zu Ihnen sprechen. Lassen Sie uns auf meine Situation hier im Gasthofe zurückkommen. Haben Sie die Wirthin bei Ihrer Ankunft gesehen?«

»Nein, erwiderte er, »nur den Kellner.«

»Die Wirthin hat abgeschmackter Weise Schwierigkeiten gemacht mir die Zimmer zu vermiethen, weil ich allein bin.«

»Jetzt wird sie keine Schwierigkeiten mehr machen, das habe ich schon in Ordnung gemacht!«

»Sie?«

Arnold lächelte. Nach dem Vorgefallenen war es eine Unaussprechliche Erleichterung für ihn, seine Lage im Gasthofe jetzt einmal in einem humoristischen Licht zu betrachten.

»Gewiß«, antwortete er, »als ich nach der Dame fragte, die, diesen Nachmittag allein hier angekommen sei ——«

»Nun?«

»Habe ich Geoffrey’s Weisung gemäß nach Ihnen als nach meiner Frau gefragt?«

Anne sah ihn überrascht und bestürzt an: »Sie haben nach mir als nach Ihrer Frau gefragt?

»Ja, und habe doch wohl nicht Unrecht gethan? Wenn ich Geoffrey richtig verstanden habe, so blieb mir keine Wahl! Geoffrey sagte mir, Sie hätten mit ihm abgemacht, daß Sie sich hier als eine verheirathete Frau präsentiren wollten, der ihr Mann nachkommen werde.«

»Bei dieser Verabredung habe ich an ihn gedacht, aber nicht an Sie.«

»Natürlich, aber den Leuten hier im Gasthof gegenüber bleibt sich das gleich, nicht wahr?«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Ich will versuchen mich etwas deutlicher auszudrücken. Geoffrey sagte mir, Ihre Aufnahme hier im Gasthofe hänge davon ab, daß ich bei meiner Ankunft nach Ihnen als nach meiner Frau frage, wie er es gethan haben würde, wenn er selbst gekommen wäre.«

»Er hatte kein Recht, das zu sagen!«

Kein Recht? Nach dem was Sie mir eben von der Wirthin gesagt haben, bedenken Sie was daraus »hätte entstehen können, wenn er es mir nicht gesagt hätte. Ich selbst habe nicht viel Erfahrung in solchen Dingen, aber erlauben Sie mir, Sie zu fragen, wäre es nicht sonderbar für einen jungen Mann wie ich gewesen, hierher zu kommen und nicht nach Ihnen als nach meiner Frau gefragt zu haben? Glauben Sie nicht, daß die Wirthin in diesem Falle Ihnen noch größere Schwierigkeiten gemacht hätte, Ihnen die Zimmer zu vermiethen?«

Anne mußte sich sagen, daß die Wirthin ihr in diesem Fall die Zimmer sicherlich nicht vermiethet haben würde und daß die Täuschung, die Arnold gegen die Leute im Gasthofe geübt hatte, in ihrem eigenen Interesse nothwendig gewesen war. Sie traf deshalb kein Vorwurf; es war ja ganz unmöglich für sie gewesen, ein Ereigniß. wie Geoffrey’s Reise nach London vorauszusehen, aber doch empfand sie ein unangenehmes Gefühl der Verantwortlichkeit und konnte sich einer bangen Besorgniß wegen dessen, was aus Arnold’s Verhalten entstehen möchte, nicht erwehren. Unruhig, ihr Schnupftuch krampfhaft in den Händen bewegend, saß sie ohne zu antworten da.

»Denken Sie nicht, daß ich gegen diese kleine Kriegslist etwas einzuwenden habe«, fuhr Arnold fort, »ich will meinem alten Freunde und der Dame, die bald seine Frau sein wird, gern dienen.

Anne sprang plötzlich auf und setzte ihn durch eine sehr unerwartete Frage in Erstaunen. »Herr Brinckworth«, sagte sie, verzeihen Sie die unhöfliche Frage, »wann gehen Sie wieder fort?«

Arnold mußte laut lachen und erwiderte: »Sobald ich mich überzeugt haben werde, daß ich hier nichts mehr für Sie thun kann.«

»Bitte, denken Sie nicht mehr an mich!«

»An wen anders soll ich dann denken?

Anne legte ihre Hand auf seinen Arm und sagte: »An Blanche!«

»An Blanche?« wiederholte Arnold, der durchaus nicht verstand, was sie sagen wollte.

»Ja, an Blanche! sie hat mir noch vor meiner Abreise von Windygates erzählt, was diesen Morgen zwischen Ihnen und ihr vorgegangen ist. Ich weiß, daß Sie ihr einen Antrag gemacht haben und mit ihr verlobt sind.«

Arnold war durch diese Mittheilung entzückt. Bis jetzt hatte er sie nur ungern sich selbst überlassen wollen, jetzt war er fest entschlossen, bei ihr zu bleiben.

»Jetzt gehe ich erst recht nicht; kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und lassen Sie uns ein wenig von Blanche plaudern.«

Anne lehnte das mit einer ungeduldigen Handbewegung ab.

Arnold war aber bei dieser Frage zu lebhaft interessirt, als daß er davon Notiz genommen hätte. »Sie kennen ihren Geschmack und ihre Gewohnheiten, was sie mag und was sie nicht mag; es ist höchst wichtig für mich, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten. Wenn wir verheirathet sind, soll Blanche in jeder Beziehung ihren eigenen Willen haben, so fasse ich die Pflicht eines Ehemannes gegen seine Frau auf. Sie stehen noch immer? Erlauben Sie mir Ihnen einen Stuhl zu geben.«

»Ihm dies abzuschlagen, war grausam, unter anderen Umständen wäre es unmöglich gewesen. Aber Anne konnte sieh nicht einschließen, die unbestimmten Besorgnisse vor schlimmen Folgen, die sich ihrer bemächtigt hatten, leicht zu nehmen. —— —— —— ——

Sie und, um gerecht zu sein, auch Geoffrey, hatten keine klare Vorstellung von der Gefahr, welcher Arnold sich aussetzte, als er seine Mission nach dem Gasthofe unternahm. Keiner von ihnen wußte, wie überhaupt wenige Menschen es wissen, wie schmachvoll leicht das schottische Recht es macht, ledige Menschen, ohne daß sie durch irgend eine Warnung oder Vorsichtsmaßregel davor geschützt wären, in die Falle eines Ehebündnisses zu locken. Aber während Geoffrey ganz unfähig war, eine Sachlage über den nächsten Moment hinaus zu verfolgen, ahnte die seiner organisirte Anne, daß in einem Lande, in welchem heimliche Ehen mit einer Leichtigkeit geschlossen werden, welche sie sich in ihrem eigenen Falle zu Nutze zu machen bemüht war, ein Mann nicht so wie Arnold es gethan hatte, handeln könne, ohne sich der Gefahr ernster Verlegenheiten auszusetzen. Dieser Gadanke war es, der sie bewegte, als sie sich entschieden weigerte, in Arnold’s Bitte zu willigen und sich in ein vertrauliches Gespräch über Blanche mit ihm einzulassen.

»Was wir uns auch über Blanche zu sagen haben, Herr Brinckworth, wir müssen es uns für eine spätere Zeit versparen. Bitte verlassen Sie mich!«

»Sie verlassen?«

»Ja, überlassen Sie mich der Einsamkeit, die für mich das Beste ist, und meinem Kummer, nehmen Sie meinen Dank und leben Sie wohl!«

Arnold machte keinen Versuch, seine Enttäuschung und seine Ueberraschung über diese Erklärung zu verhehlen. »Wenn Sie darauf bestehen, daß ich gehe«, sagte er, »so bleibt mir allerdings nichts Anderes übrig, aber warum drängen Sie mich zu solcher Eile?«

»Ach möchte nicht in den Fall kommen, mich den Leuten hier im Gasthofe Ihre Frau nennen zu müssen.«

»Ist das Alles? Was»in aller Welt fürchten Sie dabei?«

Sie war unfähig, sich selbst über ihre Besorgnisse klare Rechenschaft, und noch viel unfähiger, ihren Besorgnissen einen klaren Ausdruck zu geben. In ihrem ängstlichen Bestreben irgend einen Grund vorzubringen, der Arnold vermögen würde, sie sofort zu verlassen, ging sie nun doch auf die Unterhaltung über Blanche ein, die sie noch eben vorher abgelehnt hatte. »Ich habe zwei Gründe besorgt zu sein«, sagte sie, »den einen kann ich Ihnen nicht mittheilen, den andern will ich Ihnen sagen. Wie, wenn Blanche hörte, was Sie gethan haben? Je länger Sie hier bleiben, je mehr Leute Sie sehen, desto größer ist die Gefahr, daß Blanche davon hört.«

»Und wenn sie nun davon hört?« fragte Arnold in seiner treuherzigen Weise, »glauben Sie, daß sie mir zürnen würde, wenn ich mich Ihnen nützlich gemacht habe?«

»Allerdings«, antwortete sie in scharfem Tone, »wenn sie eifersüchtig auf mich sein sollte.«

Arnold’s unbegrenztes Vertrauen zu Blanche sprach sich ohne das leiseste Bedenken in den drei Worten aus«: »Das ist unmöglich!«

Aengstlich besorgt und elend wie Anne war konnte sie sich doch eines leichten Lächelns bei diesen Worten nicht erwehren.

»Sir Patrick würde Ihnen sagen, daß nichts in dieser Welt unmöglich ist, wo Frauen im Spiele sind.«

Auf der Stelle ließ sie den leichten Ton wieder fallen und fuhr dann ernsthaft fort; »Sie können sich nicht an Blanche’s Stelle versetzen, aber ich kann es; noch einmal, ich bitte Sie, verlassen Sie mich. Die Art, wie Sie hergekommen sind, gefällt mir ganz und gar nicht.

Sie reichte ihm die Hand zum Abschiede.

In demselben Augenblick wurde stark an die Thür geklopft Anne sank in ihren Stuhl und stieß einen leisen Schrei aus.

Arnold, der durchaus keine Ahnung von der Bedenklichkeit seiner Situation hatte, fragte sie, was sie so erschrecke und; rief »Herein.«



Zweiter Band.

Zehntes Kapitel - Bishopriggs

Das Klopfen an der Thür wurde noch lauter wiederholt.

»Sind Sie taub!« schrie Arnold hinaus. Die Thür öffnete sich ganz langsam und herein trat mit geheimnißvoller Miene Bishopriggs, ein Tischtuch über dem Arm und von dem zweiten Kellner der das Tischservice auf einem Brete trug, gefolgt.

»Was zum Teufel hatten Sie zwei Mal zu klopfen?« fragte Arnold. »Ich habe ja herein gerufen.«

»Und ich«, antwortete Bishopriggs, »ich habe Ihnen gesagt, daß ich nicht ohne anzuklopfen hereinkommen würde. O, mein verehrter Herr«, fuhr er fort, indem er den zweiten Kellner entließ und mit seinen eigenen ehrwürdigen Händen den Tisch zu decken anfing, »glauben Sie, daß ich so lange Jahre im Hotel hier bin, ohne zu wissen, wie jung verheirathete Leute ihre Zeit hinbringen, wenn sie allein sind? Zwei Mal Klopfen und ein behutsames Oeffnen der Thür ist das Wenigste, was man für sie thun kann. Was meinen Sie, wenn ich die Couverts für Sie und Ihre Frau hier legte?«

Anne trat mit unverhohlenem Widerwillen an’s Fenster. Arnold aber fand Bishopriggs ganz unwiderstehlich. Er ging auf den Scherz ein und antwortete:

»Nun, ich denke eines oben und eines unten am Tisch!«

»Eines oben und eines unten am Tisch?« antwortete Bishopriggs im Tone tiefster Entrüstung. »I, bewahre, beide müssen so dicht neben einander liegen wie möglich. Habe ich es nicht schon trotz des vielen Klopfens an der Thür erlebt, daß die junge Frau auf dem Schooße ihres Mannes dinirte und den Appetit des Mannes dadurch reizte, daß sie ihn mit ihrer Gabel fütterte, wie ein Kind. O,« seufzte der Weise von Craig-Fernie, »die Honigmonde sind kurz, aber schön. Vier Wochen kosen und girren sie und dann können sie den Rest ihres Lebens damit zubringen, darüber nachzudenken, wie sie je solche Narren sein konnten. —— Sie nehmen doch eine Flasche Sherry und nachher ein Gläschen Toddy zum Nachtisch?«

Arnold nickte und trat auf ein Zeichen von Anne zu ihr an’s Fenster. Bishopriggs sah ihnen aufmerksam nach, bemerkte, daß sie mit einander flüsterten und fand diese Art eines jung verheiratheten Paares, sich in Gegenwart von Kellnern zu Benehmen, seiner langjährigen Erfahrung gemäß ganz in der Ordnung.

»O, o«, sagte er, über die Schulter blickend, zu Arnold, »gehen Sie nur zu Ihrem Schatz und überlassen Sie mir den nüchternen Ernst des Lebens, wie es schon in der Bibel geschrieben steht: »Der Mann soll Vater und Mutter verlassen —— und Ihr Vater bin ich —— und seiner Frau anhängen —— —— Meiner Treu, »»anhängen««, ist ein etwas starkes Wort.« Er schüttelte nachdenklich mit dem Kopf und trat an einen in der Ecke stehenden Tisch, um das Brod zu schneiden. Als er das Messer ergriff, entdeckte er mit seinem einen sehenden Auge ein Stück zerknittertes Papier, das zwischen dem Tische und der Wand am Boden lag. Es war der Brief Geoffrey’s, den Anne in ihrer ersten Entrüstung über den Inhalt desselben von sich geschleudert hatte und an den weder sie noch Arnold weiter gedacht hatten. »Was liegt denn da?« murmelte Bishopriggs leise vor sich hin, »Papier auf dem Boden, den ich mit meinen eigenen Händen gesäubert habe?« Er nahm das zerknitterte Papier auf und öffnete es ein wenig. »Was ist das?« »Hier mit Dinte geschriebene Worte und da Bleistiftschrift? Wem mag das gehören!« Vorsichtig sah er sich nach Arnold und Anne um, sie kehrten ihm noch immer den Rücken zu und flüsterten angelegentlich mit einander. »Die haben das längst vergessen dachte Bishopriggs. »Wenn ich nun ein dummer Kerl wäre, so würde ich vielleicht meine Pfeife mit dem Papier anzünden und hinterdrein überlegen, ob ich nicht besser gethan hätte, es zu lesen. Was thut aber ein weiser Mann wie ich?« Er beantwortete diese Frage, indem er den Brief in die Tasche steckte. Vielleicht ist er der Aufbewahrung Werth, vielleicht aber auch nicht. Darüber konnte er sich in einem ruhigen Augenblick nach sorgfältiger Untersuchung, in fünf Minuten vergewissern. »Jetzt gehe ich, das Essen zu holen«, rief er Arnold zu, »und merken Sie wohl, wenn ich nun wieder hereinkomme, das Bret in beiden Händen und Gicht in beiden Füßen, kann ich nicht vorher anklopfen.« Mit dieser freundlichen Warnung ging Bishopriggs hinaus und begab sich in die Küche.

Arnold fuhr fort, sich mit Anne über die Frage, ob er sie verlassen solle oder nicht, zu unterhalten.

»Sie sehen, es geht nicht anders«, sagte er. »Der Kellner ist eben hinausgegangen, um das Essen zu holen. Was würden hier wohl die Leute denken, wenn ich in diesem Augenblick fortginge und meine Frau allein essen ließe?«

Für den Augenblick erschien Arnold’s Verbleiben so unzweifelhaft nothwendig, um den äußeren Anstand zu wahren, daß Anne kein Wort weiter dagegen sagte. Allerdings beging Arnold durch sein ganzes Auftreten eine große Unvorsichtigkeit, aber in diesem Augenblick hatte er doch Recht. —— —— —— —— —— ——

Anne’s Unbehagen über dieses ihr durch die Umstände abgerungene Zugeständniß entlockte ihr das erste Zeichen der Ungeduld. Sie ließ Arnold am Fenster stehen und warf sich auf’s Sopha.

»Auf mir scheint ein Fluch zu lasten«, dachte sie bei sich, »das stimmt ein schlechtes Ende und ich werde verantwortlich dafür sein.«

Inzwischen hatte Bishopriggs das Essen fertig in der Küche vorgefunden. Anstatt das Bret, auf welchem das Essen stand, sofort in das Wohnzimmer zu bringen, trug er es zunächst in seine Geschirrkammer und verschloß die Thür hinter sich.

»Da lieg’ du ruhig, bis die Zeit gekommen sein wird, dann will ich mich mit dir wieder beschäftigen«, sagte er, indem er den Brief sorgfältig in die Schublade eines Tisches verschloß. »Beschäftigen wir uns jetzt einen Augenblick mit dem Mittagessen der beiden Turteltauben im Gastzimmer«, fuhr er fort, indem er sieh dem Bret zuwandte, — »ich muß mich doch überzeugen, ob die Köchin ihre Pflicht gethan hat,«— die Liebesleute sind ja nicht im Stande, diese Frage zu entscheiden.«

Er nahm von einer der Schüsseln den Deckel ab und kostete zu verschiedenen Malen mit seiner Gabel von deren Inhalt. »Die Fleischklöße sind nicht schlecht«; dann hob er einen andern Deckel auf und schüttelte bedenklich den Kopf. »Da ist das Gemüse, ich halte nicht viel von Gemüse, das ist nichts für einen Mann in meinen Jahren.« Er setzte den Deckel wieder auf die Schüssel und kostete von einer dritten, in der sich Fische befanden. »Warum zum Henker hat die Person die Forellen gebraten, das nächste Mal soll sie den Fisch mit etwas Salz und einem Löffel voll Essig kochen.« Dann entkorkte er eine Flasche Sherry und goß den Wein in eine Krystall-Flasche. »Herrlicher Scherry«, rief er aus, indem er die Krystal-Flasche gegen das Licht hielt: »aber er könnte doch nach dem Korke schmecken, ich muß ihn doch einmal probiren! Das ist meine Pflicht als rechtschaffener Mann«, und er erfüllte diese Pflicht in so ausgiebiger Weise, daß ein ganz beträchtlicher leerer Raum in der Krystal-Flasche entstand.

Ohne eine Miene zu verziehen, füllte Bishopriggs denselben wieder mit dem Inhalt der Wasserflasche auf.

»Damit mache ich den Wein gerade um zehn Jahre älter, die Turteltauben werden sich darum nicht schlechter stehen und ich befinde mich um einen guten Schluck Sherry besser. Dem Himmel sei für alle guten Gaben gedankt.«

Nachdem er dieses fromme Dankgebet verrichtet hatte, nahm er das Bret wieder auf und entschloß sich, nun den Turteltauben ihr Mittagessen zu bringen.

Die während der Abwesenheit Bishopriggs in’s Stocken gerathene Unterhaltung war wieder in Gang gekommen. Zu ruhelos, um es lange an einem Platz auszuhalten, war Anne wieder vom Sopha ausgestanden und zu Arnold an’s Fenster getreten.

»Wo glauben Ihre Freunde in Windygates, daß Sie hingegangen sind?« fragte sie plötzlich.

»Sie glauben«, erwiderte Arnold, »daß ich nach meinem Gute gereist bin, um Besitz von demselben zu nehmen und meine Pächter kennen zu lernen.«

»Und wie wollen Sie heute Abend noch Ihr Gut erreichen?

»Ich denke mit der Eisenbahn! Beiläufig, was soll ich sagen, wenn ich Sie nach. Tische verlasse. Ganz gewiß wird die Wirthin sehr bald zu uns hereinkommen. Was wird sie sagen, wenn ich allein nach der Station gehe und meine Frau hier zurücklasse?«

»Herr Brinkworth, wenn das»ein Scherz sein soll, so ist er ein sehr unpassender.«

»Verzeihen Sie«, sagte Arnold.

»Ueberlassen Sie nur mir Ihre Entschuldigung«, fuhr Anne fort. »Gehen Sie nach Süden oder nach Norden?«

Plötzlich öffnete sich die Thür und Bishopriggs kam mit dein Essen herein.

Anne trat rasch von Arnold weg.

Bishopriggs’ sehendes Auge folgte ihr vorwurfsvoll, während er die Speisen auf den Tisch setzte. »Ich habe es Ihnen doch Beiden gesagt, daß ich dies Mal unmöglich anklopfen könne, also schelten Sie mich nicht, Madame! Mich nicht.«

»Wo wollen Sie sitzen?« fragte Arnold, um Anne’s Aufmerksamkeit von den vertraulichen Reden Bishopriggs abzulenken.

»Ganz einerlei, ganz einerlei,«« antwortete sie ungeduldig, indem sie einen Stuhl ergriff und ihn an das eine Ende des Tisches setzte.

Bishopriggs aber nahm mit einer höflichen, aber sehr entschiedenen Bewegung den Stuhl weg und stellte ihn wieder an seinen ursprünglichen Platz.

»Um’s Himmels Willen was machen Sie?« Das ist ja gegen alle Sitten und Gebrauche der Flitterwochen, sich so weit von seinem Manne wegzusetzen«, und damit wies er mit seiner Serviette auf einen der Stühle, die er so dicht wie möglich neben einander gestellt hatte.

Arnold legte sich abermals in’s Mittel und verhinderte einen wiederholten Ausbruch der Ungeduld Annes. »Was liegt daran«, sagte er, »lassen Sie den Mann doch gewähren.«

»Machen Sie der Sache, so bald wie möglich ein Ende«, erwiderte sie, »ich kann und will es»nicht länger mehr ertragen.«

Sie setzten sich an den Tisch und Bishopriggs stellte sich hinter die Stühle in der zwiefachen Eigenschaft eines major domus und eines Schutzengels.

»Hier ist eine Forelle«, rief er, indem er den Deckel mit einem Schwunge von der Schüssel nahm. »Vor einer halben Stunde hat sie noch im Wasser gezappelt und da liegt sie nun gebraten auf dem Tisch, ein Symbol des menschlichen Lebens; wenn Sie sich einen Augenblick mit etwas Anderem befassen können, als mit sich selbst, so denken Sie ein Bischen darüber nach!«

Arnold nahm einen Löffel, um Anne mit einer Forelle zu bedienen.

Bishopriggs aber setzte den Deckel plötzlich wieder mit dem Ausdruck eines frommen Schauders auf die Schüssel und fragte: »Will denn Keines von Ihnen das Tischgebet sagen?«

»Lassen Sie«, sagte Arnold, »der Fisch wird ja kalt!«

Bishopriggs schloß sein sehendes Auge in frommer Andacht und hielt den Deckel fest auf der Schüssel. »Gelobt sei Gott für Speise und Trank«, sagte er, öffnete sein Auge dann wieder und nahm den Deckel ab »Jetzt ist mein Gewissen beruhigt; nun greifen Sie zu.«

»Schicken Sie ihn doch hinaus«, sagte Arme, »seine Vertraulichkeit wird unerträglich.«

»Sie brauchen uns nicht mehr aufzuwarten«, sagte Arnold.

»O, dazu bin ich ja hier«, wandte Bishopriggs ein. »Wozu soll ich erst hinausgehen und wieder hereinkommen, um die Teller zu wechseln?« Er dachte einen Augenblick nach, musterte seine Erfahrungen und gelangte zu einem befriedigenden Schluß in Betreff der Motive Arnold’s bei seinen Wünschen, ihn los zu werden. »Nehmen Sie sie nur ruhig auf den Schooß«, flüsterte er Arnold in’s Ohr »und füttern Sie ihn nur gern mit der Gabel, wenn Sie Lust haben«, fügte er zu Anne gewandt hinzu, »ich denke an etwas Anderes und sehe zum Fenster hinaus.« Er zwinkerte mit dem Auge und trat an’s Fenster.

»Versuchen Sie doch einmal die komische Seite dieser Situation zu sehen, wie ich es thue!« flüsterte Arnold Anne zu.

Bishopriggs trat wieder vom Fenster zurück und meldete das Herannahen eines neuen, für die Situation der Beiden störenden Elements »Meiner Treu«, sagte er. »Sie sind im rechten Augenblick hergekommen, es ist ein schlechtes Reisen hier im Gewitter.«

Anne fuhr zusammen und sah sich nach ihm um. »Zieht ein Gewitter herauf?« rief sie.

»Sie sind hier gut aufgehoben, seien Sie wegen des Gewitters unbesorgt. Sehen Sie da die Wolke im Thal?« fügte er hinzu, indem er zum Fenster hinauswies, »die von einer Seite herauszieht, während der Wind aus einer andern Richtung weht, das bedeutet ein herannahendes Gewitter, Madame!«

Wieder wurde an die Thür geklopft Wie es Arnold vorausgesehen hatte, erschien dieses Mal die Wirthin. »Ich komme nur«, sagte diese, indem sie sich ausschließlich an Arnold wandte, »Um zu sehen, ob Sie Alles haben, was Sie wünschen.«

»O, Sie sind die Wirthin? Alles sehr gut, Alles sehr gut!«

Mrs. Inchbare hatte aber ihre besonderen Gründe jetzt hereinzukommen und sprach dieselben ohne alle weitere Vorrede aus. »Sie werden entschuldigen, mein Herr«, fuhr sie fort, »ich war nicht da, als Sie ankamen, sonst würde ich mir schon damals erlaubt haben die Frage an Sie zu richten, die ich jetzt thun muß; habe ich recht verstanden, daß Sie für sich und Ihre Frau, diese Dame, die Zimmer miethen?«

Anne wollte antworten, aber Arnold brachte sie durch einen sehr ausdrucksvollen Händedruck unter dem Tisch zum Schweigen. »Vollkommen richtig, vollkommen richtig«, sagte er, »ich nehme die Zimmer für mich und diese Dame, meine Frau.«

Anne versuchte zum zweiten Male zu reden. »Dieser Herr ——« fing sie an. Arnold brachte sie zum zweiten Mal zum Schweigen.

»Dieser Herr?« wiederholte Mrs. Inchbare mit Erstaunen, »verzeihen Sie einer einfältigen Frau, gnädige Frau, meinen Sie damit Ihren Mann?«

Arnold’s warnende Hand berührte Anne zum dritten Male. Mrs. Inchbare’s Augen hafteten erbarmungslos fest auf Anne. »Wenn Anne dem Widerspruch, der auf ihren Lippen schwebte, Ausdruck gegeben hätte, würde sie Arnold zum Dank für Alles, was er für sie gethan hatte, in das ihrer Erklärung unausbleiblich folgende Gerede über einen skandalösen Austritt, mit hineingezogen haben, ein Gerede, das leicht biss zu Blanches Ohren gelangen konnte. Bleich und kalt, die Augen fest auf den Tisch gerichtet, bestätigte sie die, in der Frage der Wirthin liegende Berichtigung und wiederholte mit schwacher Stimme die Worte: »Mein Mann —— —— ——?«

Mrs. Inchbare athmete erleichtert auf und wartete, was Anne noch weiter zu sagen haben werde. Aber Arnold legte sich rechtzeitig in’s Mittel und coniplimentirte die Wirthin zum Zimmer hinaus.

»Laß es gut sein, mein Kind,« sagte er zu Anne, »es wird schon vorüber gehen« —— und dann zur Wirthin gewandt: »Sie ist immer so, wenn ein Gewitter heraufzieht, ich danke Ihnen recht sehr, ich weiß schon, was ihr in solchen Fällen Noth thut, wir wollen nach Ihnen schicken, wenn wir Ihrer bedürfen.«

»Wie Sie befehlen, mein Herr« antwortete Mrs. Inchbare. Sie wandte sich der Thür zu und begleitete ihre Entschuldigung bei Anne mit einem tiefen steifen Knix.

»Nichts für ungut, gnädige Frau, Sie dürfen gefälligst nicht vergessen, daß Sie allein hergekommen sind und daß das Hotel für die Aufrechterhaltung seines guten Namens zu sorgen hat.« Nach dieser nochmaligen Rechtfertigung des Hotels ging sie endlich zur Thür hinaus.

»Ich fühle mich schwach«, flüsterte Arme, »Bitte »etwas Wasser.«

Es war keins auf dem Tisch. Arnold hieß Bishopriggs, der während der ganzen Zeit, wo die Wirthin im Zimmer gewesen war, wie das Muster eines bescheidenen Aufwärters dagestanden hatte, frisches Wasser bringen.

»Herr Brinckworth«, sagte Anne, als sie allein waren, »Sie handelten sehr unüberlegt. Die Frage war eine Impertinenz, warum haben Sie mich gezwungen ——«, unfähig, den Satz zu vollenden, hielt sie plötzlich inne.

Arnold bestand darauf, daß sie etwas Wein trinke und unternahm dann seine Vertheidigung mit der rücksichtsvollen Geduld, die er vom ersten Augenblick an gegen sie beobachtet hatte. »Ebenso gut könnten Sie mich fragen«, sagte er gutmüthig, »Warum ich es nicht ruhig zuließ, daß man Ihnen in dem Augenblick, wo ein Gewitter heraufzieht und wo Sie nirgends anders ein Unterkommen finden würden, die Thür des Gasthofes wies. Nein, nein, Miß Silvester, es fällt mir nicht ein, Ihre Bedenken ganz abweisen zu wollen, aber einer Frau wie der Wirthin gegenüber, sind solche Bedenken sehr am unrechten Orte. Ich bin Geoffrey für Ihre Sicherheit verantwortlich und Geoffrey rechnet darauf, Sie hier zu finden. Lassen Sie uns von etwas Anderem reden. Es dauert lange bis das Wasser kommt. Trinken Sie noch ein Glas Wein, wollen Sie nicht?« Er schenkte sich selbst ein Glas Wein ein; »nun, so trinke ich auf Blanche’s Gesundheit in dem schlechtesten Sherry, den ich in meinem Leben gekostet habe.«

Gerade als er sein Glas wieder niedersetzte trat Bishopriggs mit dem Wasser ein. Arnold empfing ihn mit einer satyrischen Begrüßung »Nun, bringen Sie das Wasser, oder haben Sie es schon vorher zu dem Sherry verbraucht?

Bishopriggs blieb wie angewurzelt stehen und that sehr entrüstet über den Gedanken einer Vermischung des Weins mit Wasser. »Reden Sie so von einer Flasche des ältesten Weins in Schottland?« fragte er ernst. »O, wohin ist es mit der Welt gekommen, die Ideen der jungen Leute sind für mich völlig unergründlich. Für sie sind die Gaben der Vorsehung, wie sie aus dem schönsten Weinberge Spaniens wachsen, offenbar rein weggeworfen.«

»Bringen Sie das Wasser?«

»Ich bringe das Wasser und noch mehr, Nachrichten von draußen. Da ist eine Gesellschaft von Herren zu Pferde, die hier vorüber nach dem eine Viertel Stunde entfernten sogenannten Jagdschlößchen reiten.«

»Nun was geht uns das an?«

»Warten Sie nur einen Augenblick. Einer von den Herren hat hier abgesessen und fragte nach der Dame, die hier allein angekommen sei. Ich wette sechs Pence, daß er Ihre Frau meint. Ich denke«, fügte Bishopriggs an’s Fenster tretend hinzu, »das geht Sie doch wohl etwas an!«

Arnold sah Anne an: »Erwarten Sie Jemand?«

»Kann es Geoffrey sein!«

»Unmöglich, er ist auf dem Weg nach London.«

»Da kommt er schon herein«, nahm Bishopriggs am Fenster stehend wieder auf. »Er steigt eben vom Pferd und lenkt seine Schritte hierher. Gott sei mir gnädig«, rief er mit einem Male ganz bestürzt, »was sehe ich, das ist ja der verfluchte Kerl Sir Patrick in Person!«

Aruold sprang auf. »Meinen Sie Sir Patrick Lundie?«

Anne eilte an’s Fenster. »Ja wohl ist es Sir Patrick!« sagte sie, »verstecken Sie sich, ehe er herein kommt.«

»Mich verstecken?«

»Was soll er davon denken, wenn er Sie hier findet.«

Er war Blanche’s Vormund und glaubte Arnold in diesem Augenblick auf seinem Gute. Was er also davon denken würde, war nicht schwer. vorauszusehen.

Arnold wandte sich in seiner Verlegenheit an Bishopriggs.

»Wo kann ich mich verstecken?«

Bishopriggs wies auf das Schlafzimmer. »Wo Sie sich verstecken können? In der Brautkammer?«

»Unmöglich!«

Bishopriggs gab dem tiefsten Erstaunen, das ein Mensch empfinden kann, durch ein kurzes Pfeifen Ausdruck. »Was!« So sprechen Sie jetzt schon von der Brauikammer?«

»Zeigen Sie mir ein anderes Zimmer, es soll Ihr Schaden nicht sein.«

»Wollen Sie in meine Geschirrkammer gehen? Die Thür am Ende des Vorplatzes führt Sie gerade hinein.«

Arnold eilte hinaus.

Bishopriggs, der überzeugt war, daß er hier ein entflohenes Paar vor sich habe und daß Sir Patrick sie in der Eigenschaft eines Vormundes verfolge, wandte sich mit dem Ausdruck freundschaftlicher Vertraulichkeit an Anne: »Meine liebe Madame, es ist eine schlimme Geschichte mit Sir Patrick zu thun zu haben, den täuscht man nicht leicht, wenn Sie das versucht haben sollten. Sie müssen wissen, daß ich einmal Schreiber bei ihm in Edinburg gewesen bin.«

In diesem Augenblick erscholl Mrs. Inchebar’s scharfe Stimme mit einem Ruf nach dem Oberkellner und Bishopriggs verschwand auf der Stelle.

Anne blieb jetzt am Fenster stehend allein zurück. Es war klar, daß ihr Zufluchtsort in Windygates entdeckt worden war; jetzt galt es sich zu entscheiden, ob es klug sein würde, Sir Patrick zu empfangen, um zu erfahren, ob er als Freund oder als Feind nach dem Gasthofe gekommen sei.



Elftes Kapitel - Sir Patrick

Dieser Zweifel war bereits entschieden, bevor noch Anne einen Entschluß fassen konnte. Sie stand noch am Fenster, als die Thür sich öffnete und Sir Patrick, von Bishopriggs demüthigst hineingewiesen, eintrat.

»Willkommen Sir Patrick, Ihr Anblick thut meinen Augen wohl«

Sir Patrick wandte sich um und sah Bishopriggs mit einem Blick an, mit dem er etwa eine zum Fenster hinausgejagte und wieder hereingeflogene Mücke angesehen haben würde.

»Was, Du Schuft, hast Du endlich eine anständige Stelle gefunden?«

Bishopriggs rieb sich vergnügt die Hände und ging bereitwilligst auf den von Sir Patrick angeschlagenen Ton ein.

»Sie treffen immer den Nagel auf den Kopf, Sir Patrick; vortrefflich, vortrefflich, wie Sie sagen, habe ich endlich eine anständige Stelle gefunden. Aber wie gut Sie sich conservirt haben, Sir Patrick!«

Sir Patrick machte Bishopriggs’ Redefluß mit einer Handbewegung ein Ende und trat auf Anne mit den Worten zu:

»Ich erscheine vor Ihnen als ein Eindringling, mein Fräulein, und kann daher kaum auf Ihre Verzeihung rechnen, doch gebe ich mich der Hoffnung hin, daß Sie mich entschuldigen werden, wenn ich Ihnen die Gründe meines Erscheinens mitgetheilt haben werde.«

Er sprach diese Worte im Tone ausgesuchter Höflichkeit. Seine Bekanntschaft mit Anne war eine ganz oberflächliche Wie die meisten Männer war er bei den wenigen Gelegenheiten, wo er sie gesehen hatte, für ihre ungezierte Grazie und Anmuth nicht unempfänglich gewesen; das war aber auch Alles. Hätte er der gegenwärtigen Generation angehört, so würde er unter den obwaltenden Umständen unfehlbar sich einer der herrschenden Unsitten schuldig gemacht haben, der Neigung, einer ungewöhnlichen Situation gegenüber eine theatralische Haltung anzunehmen. Ein der gegenwärtigen Generation angehöriger Mann würde in Sir Patrick’s Lage Anne eine sogenannte echt ritterliche Ehrerbietung gezeigt und sie in einem Tone gemachter Sympathie angeredet haben, die wirklich zu empfinden für einen Fremden vollkommen unmöglich war. Sir Patrick affectirte nichts der Art. Eine der herrschenden Neigungen seiner Zeit hatte in der Beflissenheit bestanden, fortwährend sein besseres Selbst zu verleugnen, eine Untugend, die genau genommen viel weniger gefährlich war, als die Beflissenheit, fortwährend sein besseres Selbst hervorzukehren, wie sie in der Gesellschaft unserer Zeit im privaten wie im öffentlichen Leben an der Tagesordnung ist. Sir Patrick zeigte bei dieser Gelegenheit weniger Sympathie, als er wirklich empfand. Gegen alle Damen höflich, war er auch gegen Anne höflich wie immer, aber nichts mehr.

»Ich kann mir durchaus nicht denken«, sagte sie, »was Sie hierher führt; der Kellner sagt mir, daß Sie zu einer Gesellschaft von Herren gehören, die an dem Wirthshause vorüber geritten sind und Alle bis auf Sie ihren Weg fortgesetzt haben.«

Mit diesen vorsichtigen Worten eröffnete Anne ihrerseits das Gespräch mit dem unwillkommenen Besuch.

Sir Patrick erwiderte ohne eine Spur von Verlegenheit: »Der Kellner hat vollkommen Recht; ich gehöre zur Jagdgesellschaft und habe die Herren gebeten, ohne mich nach dem Waldschlößchen weiter zu reiten. Darf ich, nachdem ich dies zugegeben habe, auf Ihre Erlaubniß hoffen, Ihnen die Veranlassung meines Besuches zu erklären.«

Mit einem ganz begreiflichen Argwohn gegen Sir Patrick, als eine von Windygates kommende Person, antwortete Anne in wenigen förmlichen Worten so kalt wie vorher:

»Erklären Sie diese Veranlassung, wenn ich bitten darf, so kurz wie möglich.«

Sir Patrick verbeugte sich. Er fühlte sich nicht im Geringsten beleidigt, vielmehr, wenn es, ohne ihn in der öffentlichen Achtung herabzusetzen, gesagt werden darf, innerlich ergötzt. In dem Bewußtsein, in der redlichsten Absicht, sowohl im Interesse Anne’s, als auch der Damen von Windygates sich nach dem Gasthofe verfügt zu haben, konnte er sich jetzt, als er sah, wie das Mädchen, zu dessen eigenem Besten er gekommen war, ihn abzuwehren suchte, einer humoristischen Anwandlung nicht erwehren. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, seine Mission in der ihm eigenthümlich launigen Weise zu behandeln. Er nahm mit ernster Miene die Uhr aus der Tasche und merkte sich auf die Sekunde die Zeit, bevor er wieder zu reden anfing.

»Ich habe Ihnen ein Ereigniß mitzutheilen bei welchem Sie interessirt sind,« sagte er, »und zwei Aufträge an Sie auszurichten, die anzunehmen, Sie hoffentlich sich nicht weigern werden. Das Ereigniß werde ich Ihnen in einer Minute erzählen können, die Aufträge werde ich in weiteren zwei Minuten ausrichten, so daß die ganze Zeit meines unbefugten Eindringens bei Ihnen, nicht länger als drei Minuten dauern wird.«

Er rückte einen Stuhl für Anne herbei und wartete ruhig, bis sie ihm durch eine Handbewegung gestattete, für sich selbst einen zweiten Stuhl herbeizuholen.

»Wir wollen mit dem Ereigniß anfangen«, nahm er wieder auf. »Ihr Aufenthalt in diesem Gasthof ist kein Geheimniß in Windygates; eine der weiblichen Dienstboten hat Sie auf dem nach Craig-Fernie führenden Weg gesehen, woraus man dann den sehr natürlichen Schluß gezogen hat, daß Sie sich auf dem Wege zu diesem Gasthofe befänden. Es ist vielleicht für Sie von Wichtigkeit, das zu wissen, und ich habe mir die Freiheit genommen, Ihnen dies mitzutheilen.«

Er sah nach der Uhr. Der Bericht der Begebenheit hatte eine Minute gedauert. Er hatte ihre Neugierde erregt.

»Welche von den Dienstboten hat mich gesehen?« fragte sie unwillkürlich.

Sir Patrick lehnte es, die Uhr in der Hand, ab, die Unterhaltung durch Eingehen auf ihre etwa auftauchenden Fragen ungebührlich zu Verlängern.

»Verzeihen Sie mir, aber ich habe Ihnen mein Wort verpfändet, daß ich Sie nur drei Minuten in Anspruch nehmen will. Ich habe keine Zeit auf Ihre Frage in Betreff des Frauenzimmers einzugehen. Mit Ihrer gütigen Erlaubniß werde ich jetzt meine Aufträge ausrichten.«

Anne schwieg.

»Erster Auftrags: fuhr Sir Patrick fort. »Lady Lundie’s Empfehlungen an die bisherige Gouvernante ihrer Stieftochter —— deren jetziger Name ihr unbekannt ist. Lady Lundie muß zu ihrem Bedauern erklären, daß Sir Patrick, als Haupt der Familie, gedroht hat, nach Edinburg zurückzukehren, wenn sie sich nicht dazu verstehen sollte, sich in ihrem Verfahren gegen ihre bisherige Gouvernante von ihm leiten zu lassen; Lady Lundie giebt demgemäß ihre Absicht auf, selbst nach dem Gasthofe von Craig-Fernie zu kommen, um ihren Gefühlen Ausdruck zu geben und eine Untersuchung anzustellen, und überläßt es Sir Patrich ihre Gesinnungen kund zu thun, indem sie sich das Recht vorbehält, bei der nächsten passenden Gelegenheit eine Untersuchung anzustellen. Durch die Vermittlung ihres Schwagers erlaubt sie sich, der bisherigen Gouvernante mitzutheilen, daß aller Verkehr zwischen ihnen aufhören und daß sie es ablehnen muß, bei vorkommenden Gelegenheiten irgend welche Auskunft zu ertheilen. Das ist die wörtliche Wiedergabe der Ansicht, welche Lady Lundie über Ihr plötzliches Verschwinden von Windygates ausgesprochen hat. —— Jetzt sind zwei Minuten vergangen!«

Anne erröthete ihr Stolz war gekränkt.

»Die Impertinenz der Botschaft Lady Lundie’s überrascht mich durchaus nicht«, sagte sie; »was mich wundert ist nur, daß Sir Patrick sich dazu hergiebt, diese Botschaft auszurichten.«

»Sir Patricks Motive werden Ihnen sogleich klar sein«, erwiderte der unverbesserliche alte Herr. »Zweiter Auftrag: Blanche versichert Sie ihrer zärtlichsten Liebe, sie vergeht vor Verlangen, Annes Gatten kennen zu lernen und Anne’s jetzigen Namen zu erfahren, sie ängstigt sich unbeschreiblich um Anne, besteht darauf sofort Nachricht von ihr zu bekommen, sehnt sich darnach, wie sie sich noch nie nach etwas gesehnt hat, ihren Pony-Wagen anspannen zu lassen und im vollsten Galopp hierher zu jagen und beugt sich nur dem auf ihr lastenden Druck der Autorität ihres Vormundes.

Sie überläßt daher den Ausdruck ihrer Gefühle Sir Patrick, der ein gebotener Tyrann ist und sich nichts daraus macht, andern Menschen das Herz zu brechen. Was Sir Patrick selbst anbetrifft, so beschränkt er sich darauf, die Ansichten seiner Schwägerin und seiner Nichte der Dame vorzutragen, mit der er jetzt zu sprechen die Ehre hat und in deren Vertrauen sich nicht einzudrängen seine angelegentlichste Sorge ist. Er erinnert die Dame nur daran, daß sein Einfluß in Windygates, wie stark derselbe auch augenblicklich sein möge, wahrlich nicht für immer dauern wird; er bittet sie wohl zu überlegen, ob die Collision der Ansicht seiner Schwägerin und seiner Nichte nicht zu sehr unangenehmen häuslichen Auftritten führen könnte und überläßt es ihr, den ihr unter den obwaltenden Umständen angemessen erscheinenden Weg einzuschlagen. Wörtliche Wiedergabe des zweiten Auftrages; Zeit drei Minuten. Ein Sturm ist im Anzuge, eine viertel Stunde ist erforderlich um von hier nach dem Waldschlößchen zu reiten. ——— Gnädige Frau, ich habe die Ehre Ihnen einen guten Abend zu wünschen.« Er verneigte sich tiefer als je und humpelte, ohne ein Wort zu sagen, zum Zimmer hinaus.

Anne’s erste Empfindung war, verzeihlich genug, ein Gefühl beleidigten Stolzes. »Ich danke Ihnen, Sir Patrick«, sagte sie mit einem bittern Blick auf die sich eben schließende Thür. »Die Sympathie der Gesellschaft für ein verlassenes Weib hätte kaum in einer mehr erheiternden Weise ausgedrückt werden können.« Aber die momentane Gereiztheit ging rasch vorüber. Anne’s Verstand und feiner Takt ließen sie bald die Sachlage in einem richtigeren Lichte ansehen. Sie erkannte in dem raschen Verschwinden Sir Patrick’s seinen rücksichtsvollen Entschluß, ihr jedes weitere Eingehen auf Details in Betreff ihrer Lage im Gasthofe zu ersparen. Er hatte ihr eine freundliche Warnung ertheilt und es ihr taktvoller Weise überlassen, selbst in Betreff des Beistandes, den sie ihm etwa bei der Aufrechthaltung des häuslichen Friedens in Windygates leisten könnte, einen Entschluß zu fassen. Sie trat sofort an einen im Zimmer stehenden Schreibtisch und fing an, an Blanche zu schreiben. »Mit Lady Lundie weiß ich nichts anzufangen«, dachte sie, »aber auf Blanche habe ich mehr Einfluß als irgend Jemand auf der Welt und kann der Collision der beiden Frauen, welche Sir Patrick fürchtet, vorbeugen.« Sie fing ihren Brief an: »Liebste Blanche! Ich habe Sir Patrick gesprochen und er hat mir Deinen Auftrag ausgerichtet. Ich will Dich, sobald ich kann, über mich beruhigen, aber ehe ich etwas Weiteres sage, muß ich es mir als die größte Gunst, die Du Deiner Freundin und Schwester erweisen kannst, von Dir erbitten, Dich meinetwegen auf keine Weise mit Lady Lundie zu veruneinigen und nicht die ganz zwecklose Unklugheit zu begehen, mich hier zu besuchen.« Sie hielt inne, die Schriftzüge schwammen ihr vor den Augen. »Mein theures Kind«, dachte sie, »wer hätte es für möglich gehalten, daß ich jemals»vor dem Gedanken, Dich zu sehen, zurückschrecken könnte.« Sie seufzte und fuhr fort zu schreiben. Der Himmel wurde immer dunkler, die über die traurige Haide dahinfahrenden Windstöße immer schwächer und schwächer und auf dem Antlitz der Natur lagerte sich die tiefe unheimliche Stille, welche ein Gewitter verkündet.



Zwöfltes Kapitel - Arnold

Inzwischen war Arnold noch immer in der Geschirrkammer des Oberkellners eingeschlossen und wüthete im Stillen über die ihm aufgedrungene Situation. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er sich vor einer andern Person und noch dazu vor einem Manne verstecken müssen. Zwei Mal war er durch das Gefühl des Verlustes seiner Selbstachtung getrieben mit dem Entschlusse an die Thür gegangen, Sir Patrick gerade unter die Augen zu treten, und zwei Mal hatte er diesen Gedanken aus Mitleid für Anne wieder aufgegeben; es würde unmöglich für ihn gewesen sein, sich vor Blanche’s Vormund zu rechtfertigen, ohne das unglückliche Weib, dessen Geheimniß zu bewahren er sich moralisch verpflichtet fühlte, zu verrathen. »Wollte der Himmel, ich wäre niemals hierher gekommen!« war der ohnmächtige Ausruf, der sich ihm entrang, als er sich verdrossen wieder auf den Geschirrtisch setzte, um den Moment abzuwarten, wo Sir Patricks Entfernung ihm seine Freiheit wiedergeben würde. Nach einer Weile, die bei Weitem nicht so lange gedauert hatte, wie er gefürchtet, erschien ihm ein Trost in der Einsamkeit in der Person Von Vater Bishopriggs. —— »Nun,« rief Arnold ihm entgegen, ist die Luft rein?«

Es gab Gelegenheiten, wo Bishopriggs plötzlich ganz unerwarteter Weise harthörig wurde und dieß war eine solche Gelegenheit. »Wie gefällt Ihnen meine Geschirrkammer?« fragte er, ohne von Arnold’s Frage die geringste Notiz zu nehmen, »behaglich und gemütlich, ein Patmos in der Wildniß könnte man sie nennen!" Sein eines sehendes Auge, das er erst auf Arnold gerichtet hatte, senkte sich und haftete mit dem Ausdruck stummer aber beredter Erwartung auf Arnold’s Westentasche.

»Ah, ich verstehe« sagte Arnold, »ich habe Ihnen versprochen, Sie für die mir gewährte Zuflucht auf Patmos zu entschädigen! Da haben Sie etwas.«

Bishopriggs steckte das Geld mit einem trübseligen Lächeln und einem theilnehmenden Kopfschütteln ein. Andere Kellner würden ihren Dank ausgesprochen haben, der Weise von Craig-Fernie aber erwiderte Arnold’s Liberalität nur durch einige Betrachtungen. In vielen Dingen bewunderungswürdig war Vater Bishopriggs besonders groß in seiner Virtuosität aus allen Dingen eine Moral zu ziehen. In diesem Falle zog er eine Moral aus dem eben empfangenen Trinkgelde. »Da habe ich etwas! wie Sie richtig bemerken; du lieber Gott ja! Geld braucht man bei jeder Gelegenheit, wenn man eine Frau aus dem Halse hat! Es ist das ein schrecklicher Gedanke. Man kann mit dem sogenannten schönen Geschlecht nichts zu thun haben, ohne daß es Einem Geld kostet. Ihre junge Frau da, zum Beispiel, hat Sie gewiß schon gehörig was gekostet. Zuerst, als Sie ihr die Cour machten, mußten Sie schon eine offene Hand haben, Geschenke und Andenken, Blumen und Schmuck und kleine Hunde, Alles lauter böse Ausgaben.«

»Hole der Henker Ihre Reflexionen! Ist Sir Patrick wieder fort?«

Bishopriggs war nicht im Geringsten aufgelegt, sich in seinen Reflexionen stören zu lassen, sie entquollen vielmehr nach wie vor seinen Lippen so salbungsvoll und bedächtig wie zuvor. »Jetzt, wo Sie nun mit ihr verheirathet sind, kommen ihre Hüte, Leinenzeug, Wäsche, Kleider, ihre Bänder und Spitzen, Falbeln und Litzen; das Alles kostet wieder viel Geld.«

»Was würde es kosten, Bishopriggs, Ihnen Ihre Reflexionen abzukaufen?« sagte Arnold.

»Drittens und letztens, wenn Sie sich mit der Zeit nicht mehr mit ihr vertragen können, wenn sich eine Unverträglichkeit der Gemüther herausstellt, kurz wenn Sie eine kleine Trennung bewirken möchten, da müssen Sie wieder die Hand in die Tasche stecken um sich gütlich mit ihr abzufinden. Vielleicht zwingt sie Sie auch zu einem Prozeß und steckt ihre Hand in Ihre Taschen und bringt es dahin, daß Sie nur im Bösen mit ihr auseinander kommen. Zeigen Sie mir irgend ein Weib und ich will Ihnen nicht weit davon einen Mann zeigen, dem sie mehr Kosten verursacht hat, als er je geahnt!«

Arnold’s Geduld war zu Ende. Er ging an die Thür.

Jetzt erst ließ sich Bishopriggs bereit finden, auf Arnold’s Frage zu antworten: »Ja Herr, die Luft ist jetzt rein, Sir Patrick ist fort und die Dame wartet auf Sie.«

Im nächsten Augenblick war Arnold wieder im Gastzimmer. »Nun?« fragte er, »was giebt es? Schlimme Nachrichten von Lady Lundie?«

Anne war eben im Begriff den Brief an Blanche zu schließen und zu adressiren. »Nein! Nichts was Sie interessiren könnte!«

»Was wollte denn Sir Patrick?«

»Nur mich warnen; sie haben in Windygates herausgefunden, daß ich hier bin.«

»Das ist unbequem, nicht wahr?«

»Nicht im Mindesten! Es berührt mich gar nicht, ich habe nichts zu fürchten. Denken Sie nicht mehr an mich, sondern nur an sich selbst!«

»Gegen mich hat man doch keinen Verdacht?«

»Dem Himmel sei Dank, nein! Aber Gott weiß, was daraus entstehen kann, wenn Sie noch länger hier bleiben.« Klingeln Sie auf der Stelle und fragen Sie den Kellner wegen der Züge!«

Betroffen durch die für die Tageszeit ungewöhnliche Dunkelheit trat Arnold an’s Fenster. Der Regen hatte angefangen in schweren Tropfen zu fallen. Die Aussicht auf die Haide war durch Nebel und Dunkelheit immer dichter Verdeckt, das Wetter fing an zu rasen.

»Ein angenehmes Reisewetter, nicht wahr?« sagte er.

»Wann geht der Zug!« rief Anne ungeduldig. »Es wird spät, erkundigen Sie sich doch, wann der Zug abgeht!«

Arnold ging nach dem Kamin um zu klingeln. Sein Auge fiel aufs den über dem Kamin hängenden Fahrplan der Eisenbahn. »Hier finde ich ja schon die Auskunft die ich suche, wenn ich mich nur daraus vernehmen könnte. Von —— nach, Nach —— von, Vormittag, Nachmittag, solche verwünschte Confusion; ich glaube der Fahrplan ist nur dazu da, um Einen irre zu führen.«

Anne trat zu ihm. »Ich kann Ihnen helfen; sagten Sie nicht, daß Sie den aufwärts gehenden Zug benutzen wollten?«

»Wie heißt die Station wo Sie aussteigen?«

Arnold nannte sie ihr.

»Sie verfolgte das verwickelte Netz von Linien und Zahlen mit dem Finger, hielt plötzlich inne, sah noch einmal auf den Punkt, um sich zu vergewissern und kehrte der Tabelle in heller Verzweiflung den Rücken. Der letzte Zug war vor einer Stunde abgegangen!

Während der Pause, welche dieser Entdeckung folgte, leuchtete ein erster Blitzstrahl durch das Zimmer und das leise Rollen des Donners verkündete den Ausbruch des Ungewitters.

»Was ist nun zu thun?« fragte Arnold Ohne von dem heranziehenden Unwetter Notiz nehmen, erwiderte Anne ohne Zögern: »Sie müssen einen Wagen nehmen und fahren.«

»Wie ich höre, braucht man eine Stunde auf der Eisenbahn, um nach meinem Gute zu gelangen, nicht gerechnet die Entfernung von hier bis zur Station.«

»Was liegt an der Entfernung, Herr Brinkworth? Sie können unmöglich hier bleiben.«

Ein zweiter Blitz erhellte das Zimmer, das Rollen des Donners kam näher. Selbst Arnold’s unerschütterlich gute Laune fing bei Anne’s beharrlich kundgegebenem Entschluß, ihn los zu werden, an zu wanken. Er setzte sich mit der Miene eines Menschen der entschlossen ist, das Haus nicht zu verlassen, nieder.

»Haben Sie das gehört?« sagte er, als eben die letzten Töne eines furchtbaren Donnerschlages verhallten und der Regen heftig gegen die Fenster schlug. »Glauben Sie, daß wenn ich auch Pferde beordern wollte, man sie mir bei einem solchen Wetter geben würde? Und wenn man es thäte, glauben Sie, daß die Pferde bei solchem Wetter auf der Haide ausharren könnten? Nein, Miß Silvester, ich bedauere Ihnen im Wege zu sein, aber da der Zug fort und die Nacht mit ein Gewitter eingebrochen ist, bleibt mir nichts übrig, als hier zu bleiben!«

Anne beharrte noch immer bei ihrer Ansicht, wenn auch etwas weniger entschlossen. »Bedenken Sie doch, nachdem was Sie der Wirthin mitgetheilt haben, in welch’ peinliche Verlegenheit wir kommen, wenn Sie bis morgen früh hier im Wirthshause bleiben.«

»Ist das Alles?« fragte Arnold.

Anne sah ihn zornig an, überzeugte sich aber, daß er keine Ahnung davon hatte, sie durch seine Aeußerung Verletzt zu haben. Sein gerader und männlicher Sinn brach sich durch alle die kleinen weiblichen Bedenken und Empfindlichkeiten seiner Genossin Bahn, und faßte die Lage der Dinge, wie sie wirklich war, praktisch in’s Auge.

»In was für eine Verlegenheit denn?« fragte er, auf das Schlafzimmer deutend; »da ist Ihr Zimmer ganz bereit für Sie und hier ist ein Sopha in diesem Zimmer ganz bereit für mich. Wenn Sie die Lager gesehen hätten, mit denen ich mich auf der See habe behelfen müssen!«

Sie unterbrach ihn ohne Weiteres; seine Nachtlager auf der See waren ihr vollkommen gleichgültig. Die augenblicklich zu entscheidende Frage war, wo er diese Nacht schlafen sollte.

»Wenn Sie durchaus bleiben müssen,« erwiderte sie»»sollten Sie nicht ein anderes Zimmer hier im Hause bekommen können?«

Den einzigen Verstoß, der ihm noch zu begehen übrig blieb, beging Arnold in seiner Unschuld, indem er in scherzendem Tone fragte:

»Ein anderes Zimmer hier im Hause? Ich bitte Sie, wie würde die Wirthin darüber scandalisiren. Bishopriggs würde es niemals zugeben.«

Sie stand auf und stampfte mit dem Fuße. »Scherzen Sie nicht, hier ist nichts zu scherzen.« Aufgeregt ging sie im Zimmer auf und ab. »Die Sache gefällt mir nicht, sie gefällt mir durchaus nicht.«

Arnold sah ihr mit einem kindlich starren Blicke nach. »Was regt Sie denn so auf, ist es das Gewitter.«

Sie warf sich wieder aufs Sopha »Ja sagte sie, es ist das Gewitter.«

Arnold fühlte sich in seiner unerschöpflichen Gutmüthigkeit sofort wieder zu hülfreichem Handeln aufgelegt. »Wollen wir Licht kommen lassen?« fragte er »und uns das Wetter aus dem Sinn schlagen?«

Sie rückte ungeduldig auf dem Sopha hin und her, ohne zu antworten.

»Ich verspreche Ihnen, morgen so früh wie möglich aufzubrechen,« fuhr er fort. »Bitte versuchen Sie es doch, die Sache leicht zu nehmen und seien Sie mir nicht böse; Sie würden ja in einer solchen Nacht keinen Hund hinausjagen.«

Er war unwiderstehlich Bei dem Anblick seines ehrlich bittenden Gesichts fand Anne ihr sanfteres und besseres Selbst wieder.

Sie entschuldigte sich mit einer Anmuth, die ihn bezauberte.

»Wir wollen doch noch einen gemüthlichen Abend hier haben,« rief Arnold in seiner herzlichen Weise und klingelte. Die Glocke hing vor der äußeren Thür jenes Patmos in der Wildniß, das gewöhnliche Sterbliche, die Geschirrkammer des Oberkellners nannten.

Bishopriggs hatte seine kurze Muße in der Einsamkeit seines Zimmerlebens dazu benutzt, sich ein Glas von dem erquickenden heißen Getränk zu bereiten, das man in Schottland »Toddy« nennt und er war eben im Begriff, dasselbe zum Munde zu führen, als Arnold’s Aufforderung erscholl, seinen Toddy aufzugeben. »Halt ein mit Deinem verfluchten Gebimmel,« rief Bishopriggs der Glocke durch die Thür zu, »Du bist ja schlimmer als ein Weib!« Die Glocke erscholl zum zweiten Mal. Bishopriggs blieb nichtsdestoweniger beharrlich bei seinem Toddy »O, o, schrei Du Dich nur heiser, Du bringst aber doch einen Schotten nicht von seinem Glase Toddy weg. Sie wollen wohl ihr Diner beendigen.

Sir Patrick kam gerade, als sie eben damit angefangen hatten und verdarb mit seiner gewöhnlichen Bosheit die Klopfe.« Es klingelte zum dritten Male. »Nur immer zu, nur immer zu! Der junge Mann da drinnen fröhnt nur allzusehr seinen Bauch. Das Klingeln bekundet eine bedauerliche Eile, seine fleischlichen Gelüste zu befriedigen. Vom Wein versteht er leider Nichts,« fuhr Bishopriggs fort, auf dessen Geist Arnold’s Entdeckung von dem getauften Sherry noch unangenehm lastete.

Die Blitze folgten immer rascher auf einander und warfen ihren fahlen Schein unheimlich in das Gastzimmer. Der Donner rollte immer lauter über die schwarze Haide hin. Eben hatte Arnold die Hand erhoben um zum vierten Male zu klingeln, als das unvermeidliche Klopfen an der Thür gehört wurde. Er brauchte nicht herein zu sagen, nach Bishopriggs uumstößlichen Gesetzen war ein zweites Klopfen unerläßlich. Das zweite Klopfen folgte dem ersten wie der Donner dem Blitz und erst dann erschien der Weise mit einer Schüssel »Klopse« in der Hand.

»Bringen Sie Licht!« rief ihm Arnold entgegen.

Bishopriggs setzte die »Klopse,« ein Gericht aus gehacktem Fleisch, auf den Tisch, zündete die Lichter auf dem Kamin an, blickte mit einen, von, dem kürzlich genossenen Toddy funkelnden Auge umher und wartete auf weitere Ordre, bevor er zu seinem zweiten Glase zurückkehrte.

Anne wollte nichts mehr genießen. Arnold hieß Bishopriggs die Laden schließen und setzte sich nieder um sein Diner allein zu vollenden.

»Das riecht fettig und sieht fettig aus!« sagte er zu Anne gewandt, indem er die Klopse mit dem Löffel umdrehte. »Ja zehn Minuten werde ich mit meinem Diner fertig sein. Nehmen Sie Thee?«

Anne lehnte auch das ab.

Arnold machte noch einen Versuch. »Wie wollen wir den Abend zubringen?«

»Wie Sie wollen,« rief sie resignirt.

Auf einmal fuhr Arnold ein Gedanke durch den Kopf. »Ich habe es!« rief er, »wir wollen die Zeit tödten, wie unsere Cajüten-Passagiere es auf See zu thun pflegten.« Zu Bishopriggs gewandt sagte er:

»Bringen Sie ein Spiel Karten.«

»Wie befehlen Sie?« fragte Bishopriggs, der seinen Ohren nicht traute.

»Ein Spiel Karten« wiederholte Arnold.

»Karten?« fragte Bishopriggs, »ein Spiel Karten? die Bilder der Hölle und die Leibfarben des Teufels, schwarz und roth? —— Diesem Befehl kann ich nicht nachkommen, werde ich um Ihres eigenen Seelenheils willen nicht nachkommen. Sie sind schon so alt geworden und haben noch keine Ahnung davon, eine wie große Sünde das Kartenspiel ist?«

»Das können Sie nehmen wie Sie wollen,« erwiderte Arnold. »Sie werden aber finden, wenn ich fortgehe, daß ich ein vollkommenes Bewußtsein von der Pflicht habe, dem Kellner ein gutes Trinkgeld zu geben!«

»Bestehen Sie darauf die Karten zu bekommen?« fragte Bishopriggs mit plötzlich verändertem Ton und Wesen.

»Jawohl, ich bestehe darauf.«

»Ich wasche meine Hände in Unschuld, wenn ich sie ausstrecke, um Ihnen Karten zu bringen. Bei mir zu Hause sagen sie: »wer zur Hölle fahren will, mag es in Gottes Namen thun,« und was sagt man bei Ihnen zu Hause? »Wenn der Teufel aufspielt, muß getanzt werden.«

Mit dieser vortrefflichen Rechtfertigung der Verleugnung seiner eigenen Grundsätze humpelte Bishopriggs zum Zimmer hinaus, um die Karten zu holen.

Die Schublade des Tisches in der Geschirrkammer enthielt eine große Auswahl der verschiedenartigsten Gegenstände, unter denen sich auch ein Spiel Karten befand.

Beim Suchen nach den Karten kam die Hand des Oberkellners in Berührung mit einem Stück zusammengeballten Papiers. Er zog es heraus und erkannte in demselben den Brief, den er einige Stunden vorher im Gastzimmer vom Boden aufgenommen hatte. »Aha! ich thue eben so gut mir das Ding gleich jetzt, wo ich eben daran denke, anzusehen,« sagte Bishopriggs zu sich; »die Karten kann ja ein Anderer in’s Gastzimmer bringen!«

Er schickte sofort den zweiten Kellner damit zu Arnold, schloß die Geschirrkammer und glättete das zusammengeballte Stück Papier, auf welchem die beiden Briefe geschrieben waren, sorgfältig auseinander; dann zündete er sein Licht an und begann den mit Tinte geschriebenen Brief, der die drei ersten Seiten füllte, zu lesen. Derselbe lautete wie folgt:

»Windygates, 12. August 1860.
Mr. Geoffrey Delamayn!

Ich habe bis jetzt vergeblich gehofft, daß Du von dem Gute Deines Bruders herüberkommen würdest, um mich zu sehen. Dein Benehmen gegen mich ist unbarmherzig und ich bin entschlossen, es nicht länger zu ertragen; überlege Dir die Sache in Deinem eigenen Interesse, ehe Du ein unglückliches Weib, das sich Dir hingegeben hat, zur Verzweiflung treibst. Du hast mir bei Allem, was Dir heilig ist, die Ehe versprochen, ich berufe mich auf Dein Versprechen, und bestehe darauf das zu werden, wozu mich zu machen Du gelobt hast, was zu werden ich all’ diese Zeit her gewartet habe und was ich vor Gott schon bin, Dein eheliches Weib! —— Lady Lundie giebt hier am 14. d. ein Gartenfest; ich weiß, daß Du dazu eingeladen bist und rechne sicher darauf, das; Du die Einladung annimmst. Wenn Du mich in meiner Erwartung täuschest, so stehe ich für nichts ein. Ich bin fest entschlossen, diesen Zustand der Dinge nicht länger zu ertragen. O, Geoffrey, denke an die Vergangenheit, sei treu und gerecht.

Dein Dich liebendes Weib
Anne Silvester«

Bishopriggs hielt inne. Sein Commentar zu diesem Theil der Correspondenz war einfach genug. »Zornige Worte der Dame an den Herrn mit Tinte geschrieben.« Dann warf er einen Blick aus den zweiten, auf der vierten Seite geschriebenen Brief und fügte höhnisch hinzu: »Bischen kälter und mit Bleistift geschrieben von dem Herrn an die Dame; das ist der Lauf der Welt von Adam’s Zeiten her bis auf unsere Tage.«

Dieser zweite Brief lautete so:

»Liebe Anne!

In diesem Augenblick werde ich zu meinem Vater nach London gerufen. Die Nachricht von ihm lautet schlimm. Bleibe, wo Du bist und ich will dahin schreiben. Vertraue dem Ueberbringer. Auf mein Ehrenwort, ich werde mein Versprechen halten.

Dein Dich liebender Gatte
Geoffrey Delamayn

Windygates, den 14.August, 4 Uhr Nachmittags. In furchtbarer Eile geschrieben, der Zug geht um 4 Uhr 30 Minuten ab!«

Das war Alles!

Wer sind denn die da im Gastzimmer? Die eine ist die Silvester —— und der andere der Delamayn?« fragte Bishopriggs sich, indem er das Papier langsam wieder in seine ursprüngliche Form brachte. »Was mag das Alles zu bedeuten haben?« Er bereitete sich ein zweites Glas Toddy als Beförderungsmittel seiner Reflexionen und saß eine Weile, seinen Toddy schlürfend, da, während er den Brief zwischen seinen gichtischen Fingern hin und her drehte. Es war nicht ganz leicht heraus zu finden, in welchem Verhältniß der Herr und die Dame zu einander standen. Waren sie die Schreiber selbst oder waren sie nur die Freunde der Schreiber, wer konnte das wissen. Im ersten Fall würde die Dame ihren Zweck so gut wie erreicht haben, denn die Beiden hatten ja selbst in seiner und der Wirthin Gegenwart erklärt, Mann und Weib zu sein. In dem zweiten Fall konnte die so achtlos bei Seite geworfene Correspondenz noch einmal von großer Wichtigkeit werden. Dieser letzteren Ansicht gemäß nahm Bishopriggs, dessen frühere kurze Praxis als Schreiber auf Sir Patricks Bureau ihm einige Geschäftskenntniß eingebracht hatte, Feder und Dinte zur Hand und schrieb auf die Rückseite des Briefes mit dem Datum eine kurze Angabe der Umstände, unter welchen er denselben gefunden hatte. »Ich werde gut thun, dieses Dokument aufzubewahren,« dachte er bei sich, »wer weiß, vielleicht wird noch einmal eine Belohnung dafür ausgesetzt. Das Ding kann für einen armen Kerl wie mich noch seine fünf Pfund werth sein!« Mit dieser tröstlichen Reflexion nahm er eine alte Blechdose aus der Tischschublade und verschloß die gestohlenen Briefe in derselben bis auf bessere Zeiten.

Das Ungewitter tobte immer furchtbarer, je später es wurde. Im Wohnzimmer präsentirte sich der ewig wechselnde Zustand der Dinge wieder in einer anderen Gestalt. Arnold hatte sein Diner beendet und abdecken lassen, hatte dann einen Seitentisch vor das Sopha, auf welchem Anne lag, gerückt, das Spiel Karten gemischt und bot nun seine ganze Beredsamkeit auf, Anne zu bewegen, eine Partie Ecarte mit ihm zu versuchen, um ihre Aufmerksamkeit von dem draußen tobenden Sturme abzulenken.

Aus reiner Erschöpfung gab sie nach, erhob sich langsam im Sopha und erklärte, sie wolle versuchen zu spielen. »Schlimmer kann es doch nicht werden,« dachte sie, als Arnold ihr die Karten gab, »und ich habe kein Recht, dem armen jungen Mann meinen Jammer entgelten zu lassen.«

Ein Paar schlechtere Spieler hatten wohl noch nie an einem Spieltisch gesessen. Anne war im höchsten Grade unaufmerksam und ihr Partner wußte überhaupt wenig vom Kartenspiel. Anne legte die a-tout-Karte um. Caro neun. Arnold sah in seine Karten und proponirte, Anne lehnte es ab, die Karten zu wechseln; Arnold meldete mit unverminderter guter Laune, es sei ihm jetzt klar, daß er das Spiel verlieren müsse und spielte dann seine erste Karte, die Piqne-Dame,aus. Anne nahm die Königin mit dem König und vergaß den König zu markiren. Dann spielte sie Trumpf-Zehn aus. Plötzlich entdeckte Arnold unter seinen Karten die Pique-Acht. »Wie Schade," sagte er, als er sie ausspielte. »Halloh, Sie haben den König nicht markirt, ich will es für Sie thun. Das sind zwei, nein, drei für Sie; ich wußte, daß ich das Spiel verlieren würde; konnte ja mit so schlechten Karten nichts anfangen, nicht wahr? Jetzt, wo ich meine Trümpfe ausgespielt habe, habe ich Alles verloren! A vous!«

Anne sah in ihre Karten. In diesem Augenblick warf der Blitz seinen hellen Schein durch die schlecht geschlossenen Läden in das Zimmer. Der Donner fuhr über das Haus hin und schien es aus seinen Fugen reißen zu wollen. Vom obern Stock her erklang das Geschrei einer nervösen Touristin und das Gebell eines Hundes. —— Anne’s Nerven hielten nicht länger Stand, sie warf die Karten auf den Tisch und sprang auf. »Ich kann nicht mehr spielen,« rief sie, »verzeihen Sie mir, ich bin völlig außer Stande, mir brennt der Kopf, mein Blut stockt.« Sie fing an im Zimmer auf und ab zu gehen. Ihre, durch den Einfluß des Ungewitters noch reizbarer gewordenen Nerven ließen ihr die falsche Stellung, in welche sie und Arnold gerathen waren, jetzt in einem noch viel schlimmeren Lichte erscheinen. Sie fand diese Situation vollkommen unerträglich. Es schien ihr unverantwortlich, sich in eine Gefahr, wie sie ihnen drohte, zu begeben. Sie hatten zusammen gegessen wie verheirathete Leute und jetzt brachten sie den Abend zu wie Mann und Frau. »O, Herr Brinckworth!« bat sie, »überlegen Sie doch —— um Blanche’s Willen —— überlegen Sie doch noch einmal, giebt es denn keinen Ausweg aus dieser Situation.«

Arnold las die zerstreuten Karten bedächtig auf.

»Da kommen Sie schon wieder mit Blanche!« sagte er mit der naivsten Ruhe, »ich möchte wohl wissen, wie ihr jetzt bei dem Gewitter zu Muthe ist.«

Diese Antwort brachte Anne in ihrem aufgeregten Zustand fast zur Verzweiflung. Sie wandte sich von Arnold ab und eilte an die Thür. »Ich will diese Täuschung nicht länger dulden,« rief sie, »ich will thun, was ich schon früher hätte thun sollen; ich will, entstehe daraus was da wolle, der Wirthin die Wahrheit sagen!« Sie hatte die Thür aufgerissen und war im Begriff auf den Vorplatz zu treten, als sie plötzlich still stand und heftig zusammenfuhr. War es möglich bei dem furchtbaren Wetter, daß sie wirklich das Rollen von Wagenrädern vor der Thür gehört hatte? Gewiß! Denn auch Andere hatten es gehört. Eben humpelte Bishopriggs an ihr vorüber der Hausthür zu. Die scharfe Stimme der Wirthin kreischte in ihrem breiten Schottisch ihr Erstaunen ausdrückend durch das Haus.

— Anne schloß die Thür ihres Zimmers wieder und wandte sich zu Arnold, der überrascht aufgesprungen war. »Reisende!« rief sie, »zu dieser späten Stunde.«

»Und bei diesem Wetter!« fügte Arnold hinzu.

»Sollte es Geoffrey sein?« fragte sie, indem sie sich wieder der eitlen Hoffnung hingab, daß er noch an sie denken und zu ihr zurückkehren könne.

Arnold schüttelte den Kopf: »Nein! Ich weiß nicht, wer es ist, aber Geoffrey kann es nicht sein.«

Plötzlich trat Mrs. Inchbare mit fliegenden Haubenbändern und mit starren Blicken in’s Zimmer.

»Nun! gnädige Frau!« sagte sie zu Anne, »wer glauben Sie, kommt von Windygates hergefahren, um Sie zu sehen und ist unterwegs vom Sturm überrascht worden?«

Anne war sprachlos.

Arnold aber fragte: »Nun, wer ist es denn?

»Wer, wer?« wiederholte Mrs. Inchbare, »die liebe junge Dame Miß Blanche in Person.«

Anne konnte einen Schrei des Entsetzens nicht zurückhalten. Die Wirthin schob denselben auf den Blitz, der gerade durch das Zimmer fuhr.

»O, meine gnädige Frau! Da ist Miß Blanche muthiger und erschrickt nicht so leicht über einen Blitz. Da kommt sie schon, die liebe junge Dame!« rief Mrs. Inchbare, indem sie sich ehrfurchtsvoll vor Blanche zurückzog.

Blanche’s Stimme, die nach Anne rief, wurde hörbar. Anne ergriff Arnold’s Hand krampfhaft und flüsterte ihm zu: »gehen Sie!« Im nächsten Augenblicke war sie an den Kamin getreten und hatte beide Lichter ausgeblasen. Da fuhr wieder ein Blitz durch dass Zimmer und beleuchtete die Gestalt Blanche’s, die eben in die Thür getreten war.



Dreizehtes Kapitel - Blanche

Mrs. Inchbare war die erste Person, die in diese Situation thätig eingriff. Sie rief nach Licht und machte dem Hausmädchen, welches das Licht brachte, die bittersten Vorwürfe darüber, daß sie die Hausthür nicht geschlossen.

»Du kopfloses Ding,« rief die Wirthin ihr entgegen, »der Wind hat die Lichter ausgeblasen!«

Das Mädchen erklärte der Wahrheit vollkommen gemäß, daß die Thür geschlossen sei. Vielleicht würde ein böser Wortwechsel daraus entstanden sein, wenn Blanche nicht Mrs. Inchbare’s Aufmerksamkeit auf sich selbst gelenkt hätte. Das herbeigebrachte Licht zeigte, daß sie, die eben Anne umarmte, ganz durchnäßt war.

Mrs. Inchbare brachte sofort die dringende Frage eines von Blanche vorzunehmenden Kleiderwechsels auf’s Tapet und ließ Anne dadurch Zeit sich einen Augenblick unbemerkt im Zimmer umzusehen. Arnold hatte sich davon gemacht bevor die Lichter angezündet waren und während Blanche’s Aufmerksamkeit von dem durchnäßten Zustand der Kleider in Anspruch genommen war.

»Guter Gott! Ich triefe ja an allen Ecken und Enden und mache Dich, liebe Anne, eben so naß, wie ich es selbst bin; leihe mir etwas trockene Kleidung. Du hast nichts? Mrs. Inchbare, wissen Sie Rath zu schaffen —— was soll ich thun? Mich zu Bett legen, bis meine Kleider getrocknet sind oder ein Anlehen bei Ihrer Garderobe machen, obgleich Sie reichlich anderthalb Kopf größer sind, als ich?«

Mrs. Inchbare ging sofort die besten Kleider ihrer Garderobe herbeizuholen.

Kaum war sie hinaus, als Blanche sich auch ihrerseits im Zimmer umsah. Der Zärtlichkeit war schon ihr Recht geworden, jetzt war die Reihe an der Neugierde.

»Im dunkeln Zimmer ist da Jemand an mir vorübergehuscht, war es Dein Mann? Ich sterbe vor Ungeduld, ihn kennen zu lernen, und beste Anne, wie heißest Du denn jetzt?«

Anne antwortete kalt: »Warte ein wenig, ich kann es Dir jetzt nicht sagen.«

»Fühlst Du Dich unwohl?«

»Ein wenig nervös.«

»Ist irgend etwas Unangenehmes zwischen Dir und meinem Onkel vorgefallen? Er war doch hier?«

»Ja!«

»Hat er Dir meinen Auftrag ausgerichtet?«

»Allerdings Blanche! Und darnach hast Du ihm Dein Wort gegeben, in Windygates zu bleiben. Warum, in’s Himmels Namen, kommst Du jetzt her?«

»Wenn Du mich halb so sehr liebtest wie ich Dich, so würdest Du mich nicht so fragen! Ich habe mir Mühe genug gegeben, mein Versprechen zu halten, aber ich konnte es nicht. Die Vorschrift meines Onkels erschien mir ganz plausibel, als er sie mir gab und so lange Lady Lundie wüthete, die Hunde bellten, die Thüren auf und zugeschlagen wurden, das ganze Haus in Aufruhr war, da hielt mich die Aufregung aufrecht; aber als mein Onkel fort war und der schrecklich trübselige, regnerische Abend herankam und Alles wieder ruhig geworden war, da konnte ich es nicht mehr aushalten; das Haus ohne Dich erschien mir wie ein Grab. Wenn Arnold bei mir gewesen wäre, hätte es gehen mögen, aber ich war ja ganz allein, denke doch, keine Seele mit der ich mich unterhalten konnte; es giebt nichts Schreckliches was Dir hätte begegnen können, wovon ich mir nicht einbildete, daß es Dir wirklich begegnet sei. Ich ging nichts Deinem leeren Zimmer und sah mich darin um; da stand mein Entschluß fest. Ich rannte von einem unwiderstehlichen Impuls getrieben, die Treppen hinunter —— lief in den Stall und fand Jakob dort; ich sagte ihm: »Jacob, spanne den Ponywagen an, ich muß ausfahren, einerlei ob es regnet, Du gehst mit mir.« Jacob benahm sich wie ein Engel; er sagte, »wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein!« Ich bin fest überzeugt, so würde er auch antworten, wenn man ihn fragte, ob er für mich sterben wolle. Jetzt trinkt er auf meinen ausdrücklichen Befehl ein Glas Grog um sich vor Erkältung zu schützen. In zwei Minuten war der Ponywagen angespannt und fort ging’s! Lady Lundie lag derweilen, von zu starkem Gebrauch von flüchtigem Salz erschöpft, auf ihrem Sopha ausgestreckt. Ich hasse sie! —— Der Regen wurde immer schlimmer, aber ich kehrte mich nicht daran, so wenig wie Jacob und das Pony; Beide waren von demselben Geiste wie ich, beseelt. Als es zu blitzen und zu donnern anfing, waren wir schon näher an Craig-Fernie als an Windygates, und dazu kam, daß Du hier und nicht dort warst. Die Blitze waren wirklich fürchterlich auf der Haide. Hätte ich eines von den großen Pferden vor dem Wagen gehabt, würde es unfehlbar scheu geworden sein, aber das Pony schüttelte sein allerliebstes Köpfchen und lief ruhig weiter. Es bekommt aber auch jetzt sein Bier dafür, wenn es das getrunken hat, wollen wir uns eine Laterne geben lassen, in den Stall gehen und es liebkosen.« Inzwischen bin ich hier, liebes Kind, durchnäßt von einem fürchterlichen Gewitter, was mir aber ganz einerlei ist, und fest entschlossen, mir selbst Beruhigung über Deinen Zustand zu verschaffen, der mir ganz und gar nicht einerlei ist, und das muß und soll geschehen, ehe ich heute Abend zu Bett gehe.« —— Mit Gewalt drehte sie Anne bei diesen Worten so, daß sie ihr bei dem Schein der Kerzen grade in’s Gesicht sehen konnte. Kaum hatte sie das gethan, als der Ton ihrer Stimme sich änderte: »Ich wußte es!« sagte sie. »Nie hättest Du ein so wichtiges Geheimnis; Deines Lebens vor mir geheim gehalten, nie hättest Du mir einen so kalten Brief geschrieben, wie Du ihn in Deinem Zimmer zurückgelassen hast, wenn Alles bei der Sache in Ordnung gewesen wäre. Das habe ich gleich gesagt und jetzt bin ich fest davon überzeugt. Warum hat Dein Mann Dich gezwungen Windygates Hals über Kopf zu verlassen? Warum huscht er in der Dunkelheit zum Zimmer hinaus, als ob er sich fürchte gesehen zu werden? Anne, Anne! was ist geschehen! Warum empfängst Du mich so?«

In diesem kritischen Moment erschien Mrs. Inchbare wieder mit den ausgewähltesten Kleidungsstücken die ihre Garderobe zu bieten vermochte. Anne war froh über diese Unterbrechung. Sie nahm die Lichter und ging voran in das Schlafzimmer. »Zieh erst Deine nassen Kleider aus, nachher wollen wir weiter reden,« sagte sie. Noch keine zwei Minuten hatte sie die Thür hinter sich geschlossen, als an dieselbe geklopft wurde. Anne gab Mrs. Inchbare einen Wink, sich in ihrer Beschäftigung mit Blanche nicht zu unterbrechen, schlüpfte rasch in’s Wohnzimmer und schloß die Schlafstubenthür hinter sich. Sie fühlte sich unaussprechlich erleichtert, als sie den indiscreten Bishopriggs vor sich sah. »Was wollen Sie?« fragte sie.

Ein Blick aus Bishopriggs Auge genügte, um ihr zu sagen, daß er eine vertrauliche Mission an sie habe. Seine Hand zitterte, sein Athem duftete nach Branntwein. Langsam zog er einen kleinen Streifen Papier mit einigen darauf geschriebenen Zeilen aus der Tasche.

»Von ihm! Sie wissen schon,« erklärte er scherzend; »ein kleines Billetdour von Ihrem Liebsten! Ein arger Sünder Ihr Liebster. Die junge Dame im Schlafzimmer da, ist wohl die, um deretwegen er Ihnen untreu geworden ist. Mir ist die ganze Sache klar, Sie können mir kein X für ein U machen, ich war selbst in jüngeren Jahren ein schwacher Mensch; aber seien Sie ruhig, der Sünder ist wohl aufgehoben, ich habe bestens für seinen Comfort gesorgt. Ich handle väterlich an ihm, gerade wie an Ihnen. Bishopriggs kann man vertrauen, wenn eine kleine menschliche Schwäche ein Bischen geschont sein will!«

Während der Weise diese tröstlichen Worte sprach, las Anne die auf dem Papierstreifen stehenden Zeilen.

Sie waren von Arnold und lauteten so: »Ich bin im Rauchzimmer des Gasthofes, es hängt von Ihnen ab, ob ich dableiben soll; ich glaube nicht, daß Blanche eifersüchtig sein würde, wenn ich ihr meinen Aufenthalt hier im Gasthofe erklären könnte ohne das Vertrauen, das Sie und Geoffrey in mich gesetzt haben, zu verrathen. Wenn es nach mir ginge, würde ich gleich zu ihr gehen. Das Verstecken ist mir fürchterlich, aber doch möchte ich um keinen Preis Ihren Zustand noch schlimmer machen, als er ist. Denken Sie zunächst an sich selbst, ich gebe es Ihnen anheim; Sie brauchen dem Ueberbringer nur zu sagen, »warten« und ich weiß, daß ich hier bleiben soll, bis ich Weiteres von Ihnen höre Anne sah von dem Papier auf.

»Bitten Sie ihn zu warten!« sagte sie, »bis ich ihm etwas Weiteres sagen lasse.«

»Mit den besten Grüßen und Küssen,« fügte Bishopriggs als nothwendigen Commentar der Botschaft hinzu. »O, für einen Mann von meiner Erfahrung ist das ja das einfachste von der Welt. Sie können keinen besseren Vermittler haben, als Ihren ergebenen Diener Sam Bishopriggs. Ich verstehe Sie Beide aus dem Grunde.«

Dabei legte er seinen Zeigefinger an seine feurige Nase und ging davon.

Ohne einen Augenblick länger zu zögern, öffnete Anne die Schlafzimmerthür, fest entschlossen, Arnold aus seiner schrecklichen Lage zu befreien und Blanche die Wahrheit mitzutheilen.

»Bist Du es?« fragte Blanche. Bei dem Ton ihrer Stimme fuhr Anne schuldbewußt zurück. »Ich komme gleich zu Dir,« antwortete sie und schloß die Thür zwischen sich und Blanche aufs neue. Nein! Es ging nicht! Etwas in Blanches gleichgültiger Frage oder vielleicht etwas in Blanches Gesicht wirkte auf Anne wie eine geheimnißvolle Warnung, die sie an der Schwelle ihres Geständnisses zurückhielt. In diesem Augenblick machte sich die eiserne Kette der Verhältnisse wieder fühlbar und Anne blieb bei dem ihr so verhaßten erniedrigenden Betrug. Konnte sie Blanche die Wahrheit über sich und Geoffrey mittheilen? Und wenn sie das nicht that, konnte sie es rechtfertigen, daß Arnold im Geheimen zu ihr nach Craig-Fernie gekommen war? Ein Schuldbekenntniß vor einem unschuldigen Mädchen, die Gefahr, Blanche’s Achtung für Arnold zu erschüttern, ein Scandal im Gasthofe, in den die Anderen mit ihr verwickelt werden würden, —— das war der Preis, um den sie enden mußte, wenn sie ihrem ersten Impulse folgte und geradezu erklärte: »Arnold ist hier!« Das war unmöglich. Blanche durfte, koste es was es wolle, mochte ihr gegenwärtiger Jammer enden wie er wollte, wenn die Täuschung einmal entdeckt werden würde, die Wahrheit nicht erfahren, Arnold mußte versteckt bleiben, bis Blanche fort war. Anne öffnete die Thür zum zweiten Mal und ging wieder in’s Schlafzimmer Blanche hatte bei ihrer Toilette eben eine Pause gemacht und war in einer vertraulichen Unterhaltung mit Mrs. Inchbare begriffen. In dem Augenblick, als Anne eintrat, befragte sie die Wirthin eifrig über den unsichtbaren Gatten ihrer Freundin; sie sagte gerade: »Bitte, sagen Sie mir, wie sieht er aus?«

Die Fähigkeit scharf zu beobachten, ist so ungewöhnlich und selbst da, wo sie vorhanden ist, so selten mit der Gabe verbunden, die beobachteten Personen und Dinge genau zu beschreiben, daß Anne’s Besorgnisse vor den Folgen einer etwaigen Antwort Mrs. Inchbare’s auf Blanches Fragen aller Wahrscheinlichkeit nach sehr grundlos waren. Aber gleichviel, ob mit Recht oder Unrecht, hatte sie nichts Eiligeres zu thun, als die Wirthin auf der Stelle zu entfernen. »Wir dürfen Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Mrs. Inchbare,« sagte sie, »ich will Fräulein Lundie schon behilflich sein« Da Blanche sich auf diese Weise verhindert sah, irgend etwas Näheres von der Wirthin zu erfahren, so wandte sie sich ohne Weiteres wieder an Anne, indem sie sagte:

»Ich muß etwas über ihn erfahren. Ist er schüchtern vor Fremden? Ich hörte wie Du mit ihm drinnen vor der Thür flüstertest. Du fürchtest doch nicht, daß ich es ihm in diesem Anzuge anthun werde?« Blanche, die jetzt Mrs. Inchbare’s beste Gewänder, ein altmodisches seidenes Kleid mit hoher Taille von sogenanntem Flaschengrün, das vorne in die Höhe gesteckt war und hinten weit herabhing, angethan, einen kleinen orangefarbigen Shawl über die Schultern gehängt, und sich ein Handtuch, um ihr naß gewordenes Haar zu trocknen, turbanartig um den Kopf gewunden hatte, war in diesem Aufzuge die sonderbarste und niedlichste Erscheinung die es geben konnte.

»Um des Himmels willen,« sagte sie lustig, »erzähle Deinem Manne nicht, daß ich in Mrs. Inchbare’s Kleidern stecke, ich muß plötzlich vor ihn hintreten, ohne daß er durch ein Wort darauf vorbereitet wäre, was für eine wunderliche Figur ich spiele. Wenn mich doch Arnold so sehen könnte!« Da sah sie im Spiegel, vor den sie sich eben gestellt hatte, Anne’s Antlitz, und fuhr über den Ausdruck desselben entsetzt zusammen. »Was ist Dir?« fragte sie, »Dein Aussehen erschreckt mich!«

Anne begriff, daß den Fragen Blanches ein für allemal ein Ende gemacht werden müsse. So klar sie diese Nothwendigkeit aber auch erkannte, so scheute sie doch davor zurück, Blanche eine Unwahrheit in’s Gesicht zu sagen, während sie es doch unmöglich fand, ihr die Wahrheit zusagen, so lange Arnold Brinkworth mit ihr unter demselben Dache weilte. Ich könnte ihr die Wahrheit schreiben, dachte sie. »Schreiben?« —— Als sie sich das noch einmal fragte, fuhr ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf; sie öffnete die Thür zum Wohnzimmer und trat, von Blanche gefolgt, wieder in dasselbe ein.

»Schon wieder fort?« rief Blanche, indem sie mit dem Ausdruck der Enttäuschung sich in dem leeren Zimmer umsah »Anne! Die ganze Sache kommt mir so sonderbar vor, daß ich Dein Schweigen nicht länger ertragen kann und will. Es ist nicht recht von Dir, mir Dein Vertrauen vorzuenthalten, nachdem wir unser ganzes Leben wie Schwestern mit einander gelebt haben.«

Anne seufzte schwer und küßte Blanche auf die Stirn. »Du sollst Alles wissen, was ich Dir sagen kann und darf!« erwiderte sie sanft. »»Mache mir keine Vorwürfe, die Sache ist peinlicher, als Du glaubst.« Sie trat an den Schreibtisch und überreichte Blanche einen Brief. »Lies das!« sagte sie.

Blanche sah ihren Namen auf der von Anne’s Hand geschriebenen Adresse. »Was bedeutet das?« fragte sie.

»Ich schrieb Dir, nachdem Sir Patrick mich verlassen hatte,« entgegnete Arme. »Meine Absicht war, daß Du meinen Brief morgen bekommen solltest, zeitig genug, um jeder Unvorsichtigkeit vorzubeugen, zu der Dich Deine Angst treiben möchte. Alles, was ich Dir sagen kann, findest Du hier, erspare mir die Qual, es Dir zu sagen; lies es, Blanche!«

Blanche hielt den Brief noch immer uneröffnet in der Hand. »Ein Brief von Dir an mich, wenn wir Beide in demselben Zimmer allein sind? Das ist ja mehr als förmlich, Anne, das ist, als ob wir uns gezankt hätten! Wie kann es Dir eine Qual sein, Dich gegen mich auszusprechen!«

Anne’s Augen senkten sich zu Boden. Zum zweiten Male wies sie auf den Brief.

Blanche erbrach den Brief, überflog rasch die einleitenden Sätze und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den zweiten Theil des Briefes:

»»Und nun, liebste Blanche, erwartest Du, daß ich Dich für die Ueberraschung und die Qual, die ich Dir bereitet habe, dadurch entschädige, daß ich Dir meine Situation offen darlege und Dir alle meine Pläne für die Zukunft mittheile Theuerste Blanche! glaube nicht, daß ich dessen, was Du von meiner Liebe zu erwarten ein Recht hast, uneingedenk bin; glaube nicht, daß sich in meiner Gesinnung gegen Dich irgend etwas geändert hat, glaube nur, daß ich ein sehr unglückliches Weib bin und daß ich mich in einer Lage befinde, die mich gegen meinen eigenen Willen zwingt, über meine Angelegenheiten Schweigen zu beobachten. schweigen selbst gegen Dich, meine geliebte Schwester, die Du mir die Liebste auf der Welt bist. Vielleicht kommt die Zeit, wo ich Dir mein Herz öffnen darf; o, wie mich das beglücken, wie mich das erfreuen würde. Jetzt muß ich schweigen, jetzt müssen wir von einander getrennt bleiben; Gott weiß, was es mich kostet, Dir dieses zu schreiben. Ich gedenke der schönen vergangenen Tage, der Stunden, wo ich Deiner Mutter versprach, Dir eine Schwester zu sein, als ihre lieben Augen mich zum letzten Male ansahen, Deiner Mutter, die der meinigen ein Schutzengel war. Alles das tritt mir in diesem Augenblick vor die Seele und zerreißt mir das Herz, aber es muß sein, meine geliebte Blanche, für jetzt muß es sein. Ich will Dir oft schreiben, ich will Tag und Nacht an Dich denken, mein Engel, bis eine glücklichere Zukunft uns wieder vereinigt. Gott segne Dich, mein geliebtes Kind, und Gott helfe mir!««

Blanche trat schweigend an das Sopha, auf dem Anne saß, und blieb, den Blick auf sie geheftet, einen Augenblick vor ihr stehen, dann setzte sie sich zu ihr und lehnte den Kopf an Anne’s Schulter. Mit bekümmerten Blicken steckte sie den Brief schweigend zu sich, ergriff Anne’s Hand und küßte sie. »Alle meine Fragen sind beantwortet, liebe Schwester, ich will warten, bis Du die Zeit gekommen glaubst.« Sie sprach diese Worte mit dem Ausdruck anspruchloser Einfachheit und echter Herzensgüte.

Anne brach in Thränen aus. —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— ——

Der Regen dauerte noch immer fort, aber das Gewitter verzog sich. Blanche trat an das Fenster und öffnete die Laden, um in die düstere Nacht hinauszusehen. Dann aber kehrte sie plötzlich zu Anne zurück. »Ich sehe Lichter« sagte sie, »die Lichter eines Wagens, die aus der Dunkelheit der Haide emportauchen. Ganz gewiß schicken sie von Windygates aus nach mir. Gehe in’s Schlafzimmer, denn es wäre ja möglich, daß Lady Lundie selbst käme, mich zu holen.« —— Die sonderbaren Umstände hatten dazu geführt, daß die beiden Mädchen völlig die Rollen getauscht hatten. Anne war wie ein Kind in Blanche’s Händen. Sie´erhob sich und ging in’s andere Zimmer.

Als Blanche jetzt allein war, zog sie den Brief wieder hervor und las ihn noch einmal, während sie der Ankunft des Wagens harrte. Die nochmalige Durchlesung des Briefes bestärkte sie in einem Entschluß, den sie vorhin, als sie neben Anne auf dem Sopha gesessen gefaßt hatte, einem Entschluß, der zu viel ernsteren Folgen in der Zukunft führen sollte, als sie ahnen konnte. Sir Patrick war der einzige Mensch, auf dessen Discretion und Erfahrungen sie sich völlig verlassen konnte. Sie beschloß in Anne’s eigenem Interesse, ihren Onkel in’s Vertrauen zu ziehen und ihm Alles zu erzählen, was in dem Gasthof vorgefallen war. Zuerst will ich mir seine Verzeihung erwirken, dachte sie, und dann will ich sehen, ob er meine Meinung theilt. —— Der Wagen fuhr vor und Mrs. Inchbare führte nicht Lady Lundie, sondern Lady Lundie’s Kammerjungfer in’s Zimmer. Der Bericht derselben über das, was in Windygates vorgefallen war, lautete einfach genug. Lady Lundie hatte selbstverständlich Blanches plötzliche Abreise im Ponywagen richtig zu erklären gewußt und hatte sofort ihren eigenen Wagen mit dem festen Entschluß beordert, ihrer Stieftochter selbst nachzufahren, aber die Aufregung und Angst des Tages waren zu viel für sie gewesen. Lady Lundie hatte einen der Schwindelanfälle bekommen, denen sie jeder Zeit nach großer Aufregung unterworfen war, und so gern sie auf mehr als einem Grunde nach dem Gasthof gefahren wäre, sah sie sich doch in Sir Patrick’s Abwesenheit genöthigt, Blanches Verfolgung ihrer Kammerjungfer, deren Alter und Einsicht sie unbedingt vertrauen konnte, zu überlassen. Die Kammerjungfer hatte, in Voraussicht der Wirkungen des Unwetters, aus Blanche’s Toilette, vorsorglicher Weise einen Koffer mit vollständigem Anzug mitgebracht. Während sie denselben für Blanche auspackte, meldete sie in vollkommen ehrerbietigem Tone, daß sie von ihrer Herrin beauftragt sei, nöthigenfalls nach dem Jagdschlosse zu fahren und die Angelegenheit in Sir Patricks Hände zu legen. Nachdem sie ihren Auftrag ausgerichtet hatte, überließ sie es ihrer jungen Herrin, selbst zu bestimmen, ob sie unter den obwaltenden Umständen nach Windygates zurückkehren wolle oder nicht.

Blanche nahm der Kammerjungfer die Kleider ab und ging zu Anne in’s Schlafzimmer, um sich für die Rückfahrt anzukleiden. »Ich muß nach Hause,« sagte sie, »Um eine ordentliche Schelte entgegenzunehmen, aber das bin ich von Lady Lundie schon gewohnt, das macht mir keinen Kummer. Was mich bekümmert bist Du, Anne. Kann ich mich auf Eins verlassen, bleibst Du für jetzt hier?«

Das Schlimmste, was Anne im Gasthofe begegnen, konnte, war geschehen. Durch das Verlassen des Ortes, wohin Geoffrey ihr zu schreiben versprochen hatte, konnte jetzt Nichts gewonnen, aber Alles verloren werden. —— Anne erwiderte, daß sie für’s Erste im Gasthof zu bleiben gedenke.

»Versprichst Du mir zu schreiben?«

»Ja!«

»Kann ich jetzt etwas für Dich thun?«

»In diesem Augenblicke nichts, liebe Blanche, aber später vielleicht.«

»Wenn es Dich verlangt, mich zu sehen, so können wir uns in Windygates treffen, ohne entdeckt zu werden. Komm zur Frühstückszeit, nimm Deinen Weg längs des Gebüsches und tritt durch die Glasthür in die Bibliothek; Du weißt so gut wie ich, daß um diese Zeit Niemand dort ist. Sage nicht, es ist unmöglich, Du kannst nicht wissen, was geschehen kann. Ich werde jeden Tag zehn Minuten auf Dich warten, ob Du nicht vielleicht kommst. Das wäre abgemacht und ebenso, daß Du mir schreibst. Ehe ich fortgehe, liebste Anne, laß uns doch sehen, ob wir noch sonst etwas zu bedenken haben.

Bei diesen Worten schien Anne plötzlich ihre Niedergeschlagenheit abzuschütteln; sie schloß Blanche in ihre Arme und drückte sie mit wilder Heftigkeit an ihre Brust. »Willst Du immer für mich bleiben, was Du jetzt bist? Oder wird eine Zeit kommen, wo Du mich hassen wirst?« Sie verschloß Blanche den Mund mit einem Kusse und drängte sie der Thür zu. »Wir haben glückliche Tage zusammen verlebt!« rief sie, indem sie Blanche mit der Hand zum Abschied winkte. »Laß uns Gott dafür danken und uns um das Andere nicht kümmern!« Sie öffnete die Schlafzimmerthür und rief nach der Kammerjungfer. »Miß Lundie erwartet Sie!« Blanche drückte ihr die Hand und verließ sie.

Anne wartete eine Weile im Schlafzimmer bis sie den Wagen draußen abfahren hörte. Als das Rollen der Räder verklungen war, blieb sie einen Augenblick wieder nachdenklich stehen, raffte sich dann plötzlich auf, eilte in’s Wohnzimmer und klingelte »Ich Verliere den Verstand!« sagte sie zu sich selber, »wenn ich hier allein bleibe.«

Selbst Bishopriggs empfand die Nothwendigkeit zu schweigen, als er auf das Klingeln erschien und vor ihr stand.

»Ich will ihn sprechen, schicken Sie ihn auf der Stelle her!«

Bishopriggs verstand sie und ging wieder hinaus.

Arnold erschien. »Ist sie fort?« waren seine ersten Worte.

»Sie ist fort und wird keinen Verdacht gegen Sie haben, wenn sie Sie wieder steht. Ich habe ihr nichts gesagt, fragen Sie auch nicht nach meinen Gründen.«

»Ich denke gar nicht daran, Sie zu fragen!«

»Seien Sie böse auf mich, wenn Sie wollen!«

»Ich denke nicht daran, böse auf Sie zu sein!« Sein Aussehen und seine Sprache waren die eines ganz veränderten Menschen.

Ruhig setzte er sich an den Tisch, lehnte den Kopf auf die Hand und verharrte schweigend in dieser Stellung.

Anne war ganz erstaunt. Sie trat dicht an ihn heran und sah ihn neugierig an. —— Ein Weib mag durch eigene Bekümmernisse noch so sehr aufgeregt sein, so wird sie doch immer für jeden unvorbereiteten Wechsel in dem Wesen eines Mannes, der sie interessirt, empfänglich bleiben. Der Grund dieser Erscheinung liegt nicht in der Wandelbarkeit weiblicher Stimmungen; sie ist vielmehr auf die edle Selbstverleugnung zurückzuführen, die eine der größten —— und zur Ehre des weiblichen Geschlechter sei es gesagt —— sehr häufig anzutreffenden weiblichen Tugenden ist.

Allmälig nahmen Anne’s Züge den ihnen eigenen sanften weiblichen Ausdruck wieder an; der angeborene Adel ihrer Natur trat hervor, sobald Arnold unbewußt an denselben appellirt hatte. Sie berührte seine Schulter. »Das war hart für Sie!« sagte sie, »und ich verdiene Tadel dafür. Vergeben Sie mir, wenn Sie können, Mr. Brinkworth, es thut mir aufrichtig leid, ich wünsche von ganzem Herzen, ich könnte Sie trösten!«

»Ich danke Ihnen, Miß Silvester; es war in der That keine sehr angenehme Empfindung für mich, mich vor Blanche verstecken zu müssen, als ob ich mich vor ihr fürchte und es hat mich zum ersten Mal in meinem Leben, glaube ich, nachdenklich gemacht; aber gleichviel, es ist jetzt Alles vorbei. Kann ich irgend etwas für Sie thun?«

»Was gedenken Sie diese Nacht zu thun?«

»Wie ich Ihnen schon gesagt habe, ich gedenke das zu thun, was meine Pflicht gegen Geoffrey von mir erheischt. Ich habe ihm versprochen, Sie in Ihren Angelegenheiten hier zu unterstützen und dafür zu sorgen, daß Sie sicher hier bleiben können bis er zurückkommt. Das kann ich nur erreichen, wenn ich den äußeren Anstand beobachte und daher die Nacht hier im Gastzimmer zubringe. Das nächste Mal wenn wir uns wiedersehen, werden die Umstände hoffentlich freundlicher sein, aber ich werde immer mit Vergnügen daran denken, Daß ich mich Ihnen nützlich machen konnte; indessen werde ich morgen früh höchst wahrscheinlich fort sein, ehe Sie aufstehen.«

Anne reichte ihm die Hand zum Abschiede. Was geschehen war konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Die Zeit der Warnungen und Vorstellungen war vorüber. »Sie haben sich keine Undankbare zur Freundin gemacht!« sagte sie, »vielleicht kommt der Tag, wo ich es Ihnen beweisen kann.«

»Hoffentlich nicht, Miß Silvester! Leben Sie wohl und möge es Ihnen gut gehen!«

Sie zog sich in ihr Schlafzimmer zurück. Arnold verriegelte die Wohnzimmerthür und streckte sich auf dem zum Nachtlager ersehnten Sopha aus.

Ein klarer schöner Morgen folgte auf das Gewitter des vorigen Tages. Arnold war, wie er versprochen hatte fortgegangen, bevor Anne ihr Schlafzimmer verlassen hatte. Im Gasthofe glaubte man, daß wichtige Geschäfte ihn unerwarteter Weise abgerufen hätten. Bishopriggs hatte ein schönes Trinkgeld bekommen und mit Mrs. Inchbare hatte Arnold abgemacht, daß die Zimmer für eine Woche fest gemiethet seien. Mit einer einzigen Ausnahme schien der Gang der Ereignisse jetzt wieder einen ruhigen Verlauf angenommen zu haben. Arnold war auf dem Wege nach seinem Gute, Blanche war wohlbehalten wieder in Windygates angelangt und Anne’s Aufenthalt im Gasthause war für eine Woche gesichert. Die einzige noch schwebende Frage war, was Geoffrey thun würde; das einzige noch dunkle Ereigniß hing davon ab, ob Lord Holchester in London sich von seiner Krankheit erholen oder sterben werde. An und für sich waren die Folgen jeder dieser beiden Fälle einfach genug. Blieb Lord Holchester am Leben, fo würde Geoffrey nach Schottland zurückkehren und sich mit Anne im Geheimen verheirathen; starb Lord Holchester, so konnte Geoffrey Anne kommen lassen und sie öffentlich in London heirathen! Aber konnte man sich auf Geoffrey verlassen? —— Anne trat auf eine vor dem Gasthause befindliche Terrasse; ein kühler Morgenwind wehte sie erfrischend an; große weiße Wolken jagten an der Sonne vorüber durch die Luft dahin; gelbe Lichter und purpurne Schatten lagerten abwechselnd auf der weiten, dunklen Haide. Hoffnung und Furcht wechselten in Annes Gemüth, je nachdem ihr die Zukunft erschien. Allmälich wurde sie es müde, in die verschleierte Zukunft zu dringen, und trat wieder in das Haus. Sie sah nach der Uhr auf dem Vorplatz. Die Stunde, wo der Zug von Perthshire in London eintreffen mußte, war vorüber. Geoffrey und sein Bruder mußten in diesem Augenblick auf dem Wege nach Lord Holchester’s Hause sein.



London

Vierzehntes Kapitel - Geoffrey als Briefsteller

Lord Holchester’s Dienerschaft erwartete, den Kellermeister an der Spitze, die Ankunft des Herrn Julius Delamayn von Schottland. Das gleichzeitige Erscheinen der beiden Brüder war für die gesammte Dienerschaft eine Ueberraschung. Alle Fragen an den Kellermeister gingen von Julius aus, während Geoffrey bei Seite stand und der ganzen Scene nur als Zuhörer beiwohnte.

»Lebt mein Vater noch?«

»Seine Lordschaft befinden sich Gottlob zum Erstaunen der Aerzte besser, Mr. Delamayn; er hat sich vorige Nacht wunderbar erholt, wenn es achtundvierzig Stunden so fortgeht, so ist die Wiederherstellung seiner Lordschaft gewiß.«

»Was fehlt meinem Vater?«

»Ein Schlaganfall. Als MyLady Ihnen nach Schottland telegraphirte hatten die Aerzte seine Lordschaft aufgegeben.

»Ist meine Mutter zu Hause?«

»Mylady ist zu Hause für Sie.«

Der Kellermeister betonte das »für Sie« sehr scharf. Julius sah seinen Bruder an.

Die Besserung in Lord Holchesters Zustand machte Geoffrey’s Position in diesem Augenblick zu einer peinlichen. Das Haus war ihm ausdrücklich verboten worden.

Seine einzige Entschuldigung dafür, daß er dieses Verbot übertrat, war, daß sein Vater im Sterben liege. Wie die Dinge jetzt standen, blieb das Verbot in voller Kraft.

Die untergeordneten, in der Vorhalle versammelten Diener, denen die Aufrechthaltung dieses Verbotes bei Verlust ihrer Stellen vorgeschrieben war, sahen abwechselnd Geoffrey und den Kellermeister an; der Kellermeister seinerseits sah abwechselnd Geoffrey und Julius an und Julius sah wiederum seinen Bruder an. Es entstand eine peinliche Pause; der zweite Sohn des Hauses war in den Augen der Dienerschaft ein wildes Thier, dessen man sich auf alle Weise zu entledigen suchen mußte.

Die Frage war nur: wie?

Da erhob Geoffrey die Stimme und löste die Frage: »Oeffne Einer von Euch Kerls die Thür, ich gehe!«

»Warte einen Augenblick« rief ihm sein Bruder zu. »Es würde eine große Enttäuschung für unsere Mutter sein, wenn sie erfährt, daß Du hier gewesen und fortgegangen bist, ohne sie zu sehen.

Wir sind hier unter ganz ungewöhnlichen Umständen. Komm mit mir hinauf, ich übernehme die Verantwortlichkeit.«

»Ich für mein Theil übernehme aber die Verantwortlichkeit nicht; macht die Thür auf!« erwiderte Geoffrey.

»So warte doch, bis ich Dir eine Botschaft herunter schicken kann!«

»Schicke Deine Botschaft nach Nagel’s Hotel, ich wohne bei Nagel, nicht hier!«

In diesem Augenblick wurde die Debatte in der Halle durch das Erscheinen eines kleinen Hundes unterbrochen. Bei dem Anblick der Fremden fing der Hund an zu hellen. Die Aerzte hatten die vollständigste Ruhe im Hause strenge anbefohlen. Die Diener aber machten durch einen gemeinschaftlichen Versuch, das Thier zu fangen, den Lärm noch schlimmer. Auch dieses Problem wußte Geoffrey in seiner entschlossenen Weise zu lösen. In dem Augenblick, wo der Hund an ihm vorüber lief, drehte er sich rasch um und versetzte dem Thiere einen Stoß mit seinem schweren Stiefel. Das arme Geschöpf fiel winselnd zu Boden.

»Mylady’s Lieblingshund!« rief der Kellermeister, »Sie haben ihm die Rippen zerbrochen, Master!«

»Ich habe ihn im Bellen unterbrochen, meinen Sie«, erwiderte Geoffrey, »hol’ der Henker seine Rippen«, und fuhr dann zu seinem Bruder gewendet fort: »Mich dünkt, damit ist die Sache entschieden. Ich thue wohl besser, das Vergnügen, unsere gute Mutter zu sehen, bis zu einer anderen Gelegenheit zu verschieben. Adieu Julius, Du weißt, wo Du mich findest; komm zum Essen zu Nagel, da geben sie Dir ein Beafsteak, wie Du es noch nie gefunden hast.« Mit diesen Worten ging er fort.

Die Diener betrachteten den zweiten Sohn seiner Lordschaft mit unverhohlener Hochachtung. Sie hatten ihn bei der Jahresfeier des christlichen Faustkämpfervereins öffentlich mit Stulphandschuhen angethan gesehen. Er wäre im Stande gewesen den Stärksten unter ihnen in drei Minuten halbtodt zu schlagen.

Der Pförtner verneigte sich tief, als er die Thür öffnete. Das ganze Interesse der versammelten Dienerschaft concentrirte sich auf Geoffrey. Julius ging zu seiner Mutter hinauf ohne die mindeste Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Es war im August, die Straßen waren leer, der abscheulichste Wind den es in London giebt, ein heißer Qstwind, wehte an jenem Tage. Selbst Geoffrey schien von dem Einfluß dieses Wetters nicht unberührt zu bleiben, als er sich vom Hause seines Vaters nach dem Hotel fahren ließ. Er nahm den Hut ab und knöpfte die Weste auf, zündete sich seine ewige Pfeife an und brummte und knurrte zwischen den Zähnen in den Rauchpausen. War es der heiße Wind allein, der ihm diese Aeußerung des Unbehagens entlockte, oder lastete eine geheime Sorge auf seinem Gemüth die der deprimierende Einfluß des Wetters verstärkte? Allerdings trug er sich mit einer geheimen Sorge und diese Sorge hieß »Anne.« Was sollte er, wie die Dinge jetzt standen, mit dem unglücklichen Frauenzimmer anfangen, die in dem schottischen Gasthofe auf einen Brief von ihm wartete? Schreiben oder nicht schreiben, das war für Geoffrey die Frage! Die erste Frage, unter welcher Adresse er den Brief an Anne Silvester zu befördern haben Winde, war bereits gelöst; sie hatte ja mit ihm verabredet, daß sie sich, falls es nothwendig werden sollte, bevor Geoffrey ihr folgen könnte, ihren Namen zu sagen, sich statt Miß Silvester, Mrs. Silvester nennen würde. Ein an Mrs. Silvester gerichteter Brief würde sie unfehlbar, ohne ihr eine Verlegenheit zu bereiten, erreichen. Nicht darin lag die Schwierigkeit, sondern wie gewöhnlich in der Nothwendigkeit sich zwischen den beiden Fällen einer Alternative zu entscheiden. Was war das richtige Verfahren, Anne noch heute zu benachrichtigen daß eine Zeit von achtundvierzig Stunden verfließen müsse, bevor die Wiederherstellung seines Vaters als gewiß betrachtet werden könne, oder abzuwarten, bis diese Zeit verflossen wäre und je nach dem Ergebniß zu handeln? Als er dieses auf dem Weg nach dem Hotel erwog, gelangte er zu dem Entschluß, daß es richtig sein würde, Anne dadurch hinzuhalten, daß er ihr mittheilte, wie die Dinge augenblicklich stünden. Im Hotel angekommen setzte er, sich hin, um den Brief zu schreiben, wurde unschlüssig und zerriß das Geschriebene, wurde wieder unschlüssig und fing von Neuem an, wurde zum dritten Male unschlüssig zerriß den Brief wieder, sprang auf und gestand sich in nicht wieder zu gebenden Ausdrücken, daß er, wenn es ihm auch das Leben kosten sollte, nicht zu einem Entschluß darüber gelangen könne, was das Richtige sei, zu schreiben oder zu warten. In diesem kritischen Augenblick gab ihm sein gesunder physischer Instinct physische Mittel als Erleichterung an die Hand. »Mir ist zu Muthe, als stecke ich in einem Sumpfe, ich will ein Bad nehmen.« Er ging in eine große, viele Räume umfassende und mit Einrichtungen zu allen möglichen Lagen und Körper-Manipulationen eingerichtete Badeanstalt. Er nahm ein Dampfbad, dazu ein Vollbad, dann ein Regenbad und ein gewaltiges Sturzbad. Er legte sich auf den Rückem dann auf den Bauch, die Badediener kneteten und rieben ihn voll Ehrerbietung vom Kopf bis zum Fuß mit wohlgeübten Händen. Nach diesen Proceduren sah er glatt, rein, rosig und schön aus. Er kehrte nun in’s Hotel zurück und fing an zu schreiben, aber siehe da, die unerträgliche Unentschlossenheit war nicht von ihm gewichen, hatte sich nicht wegbaden lassen wollen. Dieses Mal sollte Anne an Allem Schuld sein. »Die verfluchte Person wird mich noch ruiniren«, sagte Geoffrey, indem er seinen Hut ergriff, »ich will es noch einmal mit den Hanteln versuchen.« Um durch dieses neue Mittel sein träges Gehirn anzustacheln, mußte er in ein benachbartes Gasthaus gehen, dessen Wirth ein Läufer war, der die Ehre gehabt hatte, ihn verschiedene Male zu öffentlichen athletischen Wettkämpfen einzuüben, »Ein Zimmer für mich und die schwersten Hanteln, die Sie haben!« rief ihm Geoffrey entgegen.

Er zog sich Rock und Weste aus und ging mit den schweren Gewichten in jeder Hand an die Arbeit, indem er sie auf- und niederwärts, vorwärts und rückwärts nach jeder erdenklichen Richtung hinschwang, bis seine prachtvollen Muskeln so gespannt waren, daß die geschmeidige Haut bersten zu wollen schien. Allmälig fingen seine Lebensgeister an, wieder wach zu werden. Die starken Körperübungen wirkten berauschend auf den starken Mann. Seiner Aufregung gab er durch die heillosesten Flüche Ausdruck, indem er in Erwiderung der ihm reichlich gespendeten Beifallsbezeugungen des Gymnastikers und seines Sohnes abwechselnd Donner und Blitz, Pulver und Blei rief. »Dinte, Feder und Papier her!« schrie er, als er endlich von der Körperübung erschöpft war, »ich habe mich entschlossen, ich will schreiben und die Sache los sein!«

Wie gesagt, so gethan, er ging an’s Werk und beendigte den Brief auf der Stelle; im nächsten Augenblick hätte der Brief sicher im Postkasten gelegen. Aber gerade in diesem Augenblick ergriff ihn wieder seine krankhafte Unentschlossenheit. Er öffnete den Brief wieder, las ihn nochmals und zerriß ihn dann wieder. »Nun weiß ich doch noch nicht, was ich will! rief Geoffrey indem er seine großen, wilden, blauen Augen auf den Professor der Gymnastik heftete. »Donner und Blitz, Pulver und Blei! Lassen Sie Crouch kommen.« Crouch war überall da, wo englische Mannhaftigkeit respectirt wurde, ein bekannter und hochgeschätzter, in’s Privatleben zurückgetretener Preisfechter. Er erschien jetzt mit dem dritten und letzten Geoffrey Delamayn bekannten Mittel, seinen Geist frei zu machen, nämlich mit zwei Paar Boxhandschuhen in einem Reisesack. Geoffrey und der Preisfechter zogen die Handschuhe an und stellten sich in der klassisch correcten Stellung erprobter Faustkämpfer einander gegenüber. »Aber keine Spielerei»brummte Geoffrey; schlagen Sie ordentlich, Sie Schuft!« Als ob es wieder um Preise ginge.«

Kein Mensch auf der Welt wußte besser was wirkliches Schlagen heißt, und welche furchtbare Schläge selbst mit anscheinend so harmlosen Waffen, wie es wattirte Handschuhe sind, ausgetheilt werden können, als der große, schreckliche Crouch. Er that aber auch nur, als ob er sich den Wünschen Geoffrey’s füge. Dieser belohnte ihn für seine Höflichkeit und Rücksichtsnahme damit, daß er ihn zu Boden schlug. Der große Schreckliche erhob sich wieder ohne eine Miene zu verziehen.

»Gut getroffen, gut getroffen! Mr. Delamayn!« sagte er, »versuchen Sie es jetzt mit der andern Faust.«

Geoffrey war nicht so kaltblütig geblieben, indem er Tod und Verderben auf die schon oft genug braun und blau geschlagenen Augen Crouch’s herniederrief, drohte er ihm für immer seine Gunst und Protection zu entziehen, wenn er nicht seine verfluchte Höflichkeit aufgebe und auf der Stelle gewaltig zuschlüge.

Der Held von hundert Faustkämpfen verzagte vor der ihm gestellten Aussicht. »Ich habe eine Familie zu ernähren!« bemerkte Crouch, wenn Sie es aber durchaus wünschen, da haben Sie’s!«

Geoffrey stürzte mit solcher Gewalt zu Boden, daß das ganze Haus davon erdröhnte; aber im Augenblick stand er wieder auf den Beinen und war auch jetzt noch nicht befriedigt. »Ach was mit Ihrem Umwerfen, schlagen Sie ordentlich auf den Kopf, Donner und Blitz, Pulver und Blei! Schlagen Sie mir die Geschichte heraus, zielen Sie nach dem Kopfe.

Der gehorsame Crouch zielte nach dem Kopfe. Die Beiden gaben und empfingen Schläge, die jedes civilisirte Mitglied der menschlichen Gesellschaft auf der Stelle bewußtlos gemacht, vielleicht getödtet haben würde. Der Handschuh des Preisfechters fiel jetzt wie ein Hammer abwechselnd aus die eine und dann auf die andere Seite des eisernen Schädels seines vornehmen Gegners, Schlag auf Schlag, gräßlich anzuhören, bis endlich Geoffrey selbst sich für befriedigt erklärte. »Ich danke Ihnen Crouch«, sagte er zum ersten Male in einem höflichen Tone. »Nun ist es gut! Jetzt fühle ich mich frisch und klar«, er schüttelte drei bis vier Mal den Kopf, trank ein mächtiges Glas Bier und fand seine gute Laune wie durch einen Zauber wieder.

»Wünschen Sie wieder Feder und Dinte?« fragte sein gymnastischer Wirth.

»Nein!« antwortete Geoffrey, »jetzt bin ich die Geschichte los, hole der Teufel Feder und Dinte. Ich will einige meiner Kameraden aufsuchen und mit ihnen in’s Theater gehen.« Er verließ das Wirthshaus in der glücklichsten und heitersten Stimmung. Durch die stimulirende Wirkung von Crouche’s Handschuhen begeistert, hatte er die lähmende Schläfrigkeit seines Hirns abgeworfen und fühlte sich wieder ganz im Besitz seiner natürlichen Schlauheit. »An Anne schreiben? welcher vernünftige Mensch würde das ohne die äußerste Noth thun. Wir wollen ruhig abwarten und sehen, was die nächsten achtundvierzig Stunden bringen, und dann schreiben oder sie im Stich lassen, je nachdem die Dinge sich gestalten werden.« Das war ja so klar wie der Tag für Jeden, der sehen konnte, und Dank dem großen Crouch konnte er jetzt sehen und so ging er fort in der richtigen Stimmung für ein munteres Diner und einen Abend im Theater mit seinen Universitätsfreunden.



Fünfzehntes Kapitel - Geoffrey als Heirathskandidat

Die achtundvierzig Stunden vergingen, ohne daß irgend eine persönliche Begegnung zwischen den beiden Brüdern stattgefunden hätte. Julius schickte von dem Hause seines Vaters aus kurze geschriebene Bülletins über den Zustand Lord Holchester’s an seinen Bruder in’s HoteL Das erste lautete: »Es geht fortwährend gut; die Aerzte sind zufrieden.« Das zweite lautete noch zuversichtlicher: Es geht vortrefflich, die Aerzte haben die besten Hoffnungen.« Das dritte war das Ausführlichste von allen: »Ich soll unseren Vater in einer Stunde sprechen, die Aerzte stehen für seine Wiederherstellung ein; verlaß Dich darauf, daß ich ein gutes Wort für Dich einlegen werde und wenn möglich, warte auf weitere Nachrichten Von mir im Hotel.« Geoffrey’s Züge verfinsterten sich bei Lesung des dritten Bulletins. Jetzt verlangte er nochmals das verhaßte Schreibmaterial; denn nun schien es ihm doch unerläßlich, sich mit Anne in Verbindung zu setzen. Lord Holchester’s Wiederherstellung brachte ihn wieder in dieselbe kritische Lage, in der er sich in Windygates befunden hatte; jetzt war es wieder die einzige gesunde Politik, die Geoffrey beobachten konnte, Anne abzuhalten einen verzweifelten Entschluß zu fassen, der ihn in einen öffentlichen Scandal verwickeln und, soweit seine Erbschaft in Betracht kam, ihn ruiniren würde. Sein Brief umfaßte Alles in Allem zwanzig Worte: »Liebe Anne! ich höre eben, daß mein Vater noch nicht in’s Gras beißen will, bleibe wo Du bist, ich schreibe wieder.« Nachdem Geoffrey diese lakonische Botschaft durch die Post expedirt hatte, zündete er sich seine Pfeife an und wartete das Resultat der Zusammenkunft Lord Holchesters mit seinem ältesten Sohne ab.

Julius fand seinen Vater schrecklich verändert, aber, obgleich so schwach, daß er nicht im Stande war den Händedruck seines Sohnes zu erwidern oder sich ohne Hilfe im Bett umzudrehen, war er doch im vollen Besitz seiner Geisteskräfte, hatte sich der alte Advokat die ganze Klarheit seines scharfen Auges und die ganze Frische seines energischen Geistes bewahrt. Das Ziel seines Ehrgeizes war, Julius im Parlament zu sehen. Gerade jetzt hatte sich Julius auf ausdrücklichen Wunsch seines Vaters in Perthshire als Wahlcandidat präsentirt. Noch ehe sein ältester Sohn zwei Minuten an seinem Bette geweilt hatte, ging Lord Holchester eifrig aus die politischen Angelegenheiten des Landes ein. »Ich danke Dir, lieber Julius, für Deine Glückwünsche; Leute meines Schlages sterben nicht so leicht, sieh nur Brougham und Lyndhurst. Du kannst ja noch nicht in’s Oberhaus kommen und würdest zunächst in’s Unterhaus gewählt werden, gerade wie ich es wünsche. Wie sind Deine Aussichten bei den Wählern, erzähle mir doch wie Du mit ihnen stehst und wo und wie ich Dir nützen kann!«

»Aber lieber Vater, Du bist doch wahrlich noch zu schwach, um jetzt von Geschäften zu reden!«

»Ich fühle mich stark genug; ich brauche etwas, was meine Gedanken angenehm beschäftigt, mein Geist fängt an sich in vergessene Zeiten zu versenken, in Dinge die besser vergessen bleiben.« Plötzlich verzog sich sein bleiches Gesicht krampfhaft, er sah seinen Sohn scharf an und that ihm ganz unerwartet die Frage: »Julius, hast Du je von einem jungen Mädchen mit Namen Anne Silvester gehört?«

Julius verneinte die Frage. Seine Beziehungen zu Lady Lundie beschränkten sich darauf, daß er und seine Frau ihre Karten bei derselben abgegeben hatten; eine Einladung Lady Lundie’s zu ihrem Gartenfeste hatten sie dankend abgelehnt. Mit Ausnahme von Blanche kannten sie in dem Familienkreise in Windygates Niemanden. ——

»Notire Dir doch den Namen!« fuhr Lord Holchester fort. »Anne Silvester! Ihre Eltern sind beide todt; ich kannte ihren Vater. In früheren Zeiten wurde ihrer Mutter bös mitgespielt, es war eine häßliche Geschichte. Seit vielen Jahren habe ich zum ersten Male wieder an die Sache gedacht. Wenn das Mädchen noch lebt und in England ist, so erinnert sie sich vielleicht unseres Familiennamens. Sollte sie sich jemals um Unterstützung an Dich wenden, so stehe ihr mit Rath und That bei, Julius« —— Wieder zuckte es krampfhaft in dem Gesicht des Alten. Hatten seine Erinnerungen ihn an jenen denkwürdigen Sommerabend nach Hampstead-Villa zurückgeführt, sah er wieder, wie die verlassene Frau zu seinen Füßen ohnmächtig niedersank? . . . . . »Aber ich wollte etwas von Deiner Wahl wissen«, fing er ungeduldig wieder an, »mein Geist ist nicht gewohnt, müßig zu sein, gieb ihm Beschäftigung.«

Julius machte über seine Chancen eine kurze und bündige Mittheilung. Der Vater fand gegen den Bericht nichts einzuwenden, als die Abwesenheit des Sohnes vom Wahlfelde; er schalt auf Lady Holchester, daß sie Julius nach London habe rufen lassen. Er war verdrießlich darüber, daß sein Sohn in einem Augenblicke an seinem Bette saß, wo er die Wähler hätte aranguiren sollen. »Das ist unpassend«, sagte er ungestüm, »siehst Du das nicht selbst ein?«

Julius, der mit seiner Mutter übereingekommen war, die erste sich darbietende Gelegenheit zu einer Erwähnung Geoffrey’s zu benutzen, beschloß eine Erklärung für seine Anwesenheit zu geben, auf die sein Vater durchaus nicht gefaßt war. Die Gelegenheit bot sich jetzt dar und er ergriff sie auf der Stelle. »Es ist nicht unpassend lieber Vater! Weder für mich noch für meinen Bruder Geoffrey. Geoffrey war auch um Deinetwillen besorgt und ist mit nach London gekommen.« —— — Lord Holchester sah seinen ältesten Sohn mit einem höhnisch satyrischen Ausdruck der Ueberraschung an. »Habe ich Dir nicht schon gesagt«, erwiderte er, »daß mein Geist durch meine Krankheit nicht afficirt ist? Ist Geoffrey um mich besorgt? Besorgniß ist eine civilisirte Gemüthsbewegung, in dem Zustand der Wildheit, in dem er sich befindet, ist der Mensch dieser Empfindung ganz unfähig!«

»Geoffrey ist aber kein Wilder, lieber Vater!«

»Er ist gut gesättigt und sein Körper mit Leinen und Wollstoffen anstatt mit rother Farbe und Oel bedeckt, soweit ist Dein Bruder gewiß zu den civilisirten Menschen zu rechnen, in jeder andern Hinsicht aber ist er ein Wilder, Du weißt das so gut wie ich.«

»Aber, lieber Vater! Es läßt sich doch Manches zu Geoffrey’s Entschuldigung anführen. Er übt seinen Muth durch Entwickelung seiner Körperkräfte, und Muth und Körperkraft sind doch ganz gewiß nicht zu verachtende Eigenschaften!«

»Vortreffliche Eigenschaften so weit sie reichen. Wenn Du wissen willst, wie weit sie reichen, so fordere doch Geoffrey einmal auf, einen Satz in anständigem Englisch zu schreiben, und sieh, ob sein Muth ihn da nicht verläßt. Gieb ihm seine Bücher, um sich auf sein Examen vorzubereiten, und trotz aller Körperstärke wird er schwach werden. Du wünschest, daß ich Deinen Bruder sehe? Nichts wird mich dazu bewegen, bis er sein Leben ganz und gar geändert hat, und ich glaube, es ist nur eine Möglichkeit vorhanden, ihn dazu zu bringen. Es ist denkbar, daß der Einfluß einer verständigen, mit so eminenten Vorzügen der Geburt und des Vermögens ausgestatteten Frau, daß selbst ein Wilder davor Respect haben müßte, auch Geoffrey nicht ganz unberührt lassen würde. Wenn er wieder Zutritt in diesem Hause erlangen will, so laß ihn sich erst wieder Zutritt zur guten Gesellschaft verschaffen und mir eine Schwiegertochter bringen, die seine Mutter und ich respectiren und empfangen können und die bei mir plaidiren kann für ihn. Wenn das einmal geschehen wird, werde ich anfangen, wieder an Geoffrey zu glauben; bis dahin bitte ich Dich, Deinen Bruder bei keiner Unterhaltung mit mir wieder zu erwähnen. Um auf Deine Wahl zurückzukommen ehe Du wieder fortgehst, habe ich Dir noch einen Rath zu geben; Du thust gut schon heute Abend wieder abzureisen. Richte mein Kissen auf, ich werde besser reden können, wenn ich sitze.« Der Sohn that wie ihm geheißen wurde und bat den Vater abermals, sich zu schonen. Es war vergebens, keine Vorstellung vermochte die eiserne Entschlossenheit des Mannes zu erschüttern, der sich den Weg durch die Ränke und Schliche des politischen Lebens zu der hervorragenden Stellung, die er jetzt einnahm, gebahnt hatte. Schwach, geisterhaft, kaum den Klauen des Todes entronnen, lag er da und war damit beschäftigt, seinem Sohne die Lehren des klaren, gesunden Menschenverstandes einzuschärfen, welcher ihm seine hohe Stellung eingetragen hatte. Da fehlte auch kein feiner Wink, keine Vorsichtsmaßregel, die Julius sicher auf der schlüpferigen politischen Bahn leiten konnte, auf der er selbst so sicher und geschickt an’s Ziel gelangt war. Es dauerte noch eine ganze Stunde, ehe der Greis seine müden Augen schloß; seine letzten, in Folge der körperlichen Erschöpfung kaum verständlichen Worte priesen noch die richtigen Parteimanöver im politischen Kampfe. »Es ist eine große Laufbahn, Julius. Ich entbehre nichts so sehr auf der Welt, wie das Unterhaus!«

Als Julius sich endlich wieder seinen Gedanken überlassen und gehen konnte, wohin er wollte, begab er sich direct vom Krankenzimmer seines Vaters in das Boudoir seiner Mutter.

»Hat Dein Vater irgend etwas von Geoffrey gesagt?« lautete die erste Frage Lady Holchester’s, als Julius in’s Zimmer trat.

»Er giebt Geoffrey eine letzte Chance, wenn er sie nur ergreifen wollte.«

Lady Holchester’s Miene verfinsterte. sich. »Ich weiß«, sagte sie mit einem Ausdruck der Enttäuschung, »seine letzte Chance ist, sich auf sein Examen vorzubereiten, das ist ganz hoffnungslos, wenn es nur etwas Leichteres als Das wäre, etwas, wobei ich ihm helfen könnte!«

»Du kannst ihm helfen, liebe Mutter«, schaltete Julius ein. »Geoffrey’s letzte Chance heißt mit einem Worte: »heirathen«!«

»O, Julius! das kann ich nicht glauben.«

Julius wiederholte die eigenen Worte des Vaters. Lady Holchester erschien beim Anhören derselben um zwanzig Jahre jünger.

Als er ausgesprochen hatte, klingelte sie »Ich bin für Niemand zu Hause!« rief sie dem eintretenden Diener entgegen.

Dann wandte sie sich wieder an Julius, umarmte ihn und wies ihm einen Platz neben sich auf dem Sopha an.

»Diese Chance soll Geoffrey ergreifen«, sagte sie vergnügt, dafür stehe ich Dir.«

»Ich weiß drei Partien, von denen jede für ihn passen würde!«

»Setze Dich her, lieber Julius! und lasse uns ruhig überlegen, welche von den dreien wohl die meiste Aussicht hätte, Geoffrey zu gefallen und den Anforderungen seines Vaters in Betreff seiner Schwiegertochter zu entsprechen. Wenn wir einig geworden sind, darfst Du das Ergebniß keinem Schreiben anvertrauen; Du mußt selbst in’s Hotel gehen und Geoffrey sprechen.«

Mutter und Sohn berathschlagten nun und säeten harmlosen Sinnes eine Saat, der eine furchtbare Ernte entsprießen sollte.



Sechzehntes Kapitel - Geoffrey als öffentlicher Charakter

Es war Nachmittag geworden, bevor sich Lady Holchester und ihr Sohn über Geoffrey’s Zukunft geeinigt hatten und bevor die Instructionen für Julius so verständlich ausgearbeitet waren, daß die Unterhandlungen über die Heirath, in Nagel’s Hotel eröffnet werden konnten. »Verlaß ihn nicht, bis Du seine Zusage hast!« waren Lady Holchester’s letzte Worte, als Julius seine Mission antrat. »Wenn Geoffrey nicht auf mein freundliches Anerbieten eingeht«, lautete die Antwort des Sohnes, »so werde ich mich zu unseres Vaters Ansicht bekennen, daß sein Fall hoffnungslos ist, und werde ihn schließlich auch aufgeben müssen!« —— Das war in Julius Munde eine starke Sprache. Es war nicht leicht, das wohlgeschulte und gleichmäßige Temperament des ältesten Sohnes Lord Holchesters aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nie hatte es zwei so verschiedene Menschen gegeben, wie diese beiden Brüder. So traurig es ist, es von dem Bruder eines preisgekrönten Wettruderers aussprechen zu müssen, so zwingt uns doch die Wahrheit zu dem Bekenntniß, daß Julius sich mit der Bildung seines Geistes beschäftigte. Dieser entartete Brite konnte Bücher verdauen aber kein Bier vertragen, konnte fremde Sprachen sprechen aber nicht rudern lernen, fröhnte dem ausländischen Laster, sich in der Kunst, ein musikalisches Instrument zu spielen, zu vervollkommnen, und war nicht im Stande, sich die englische Tugend anzueignen, die Vorzüge eines Pferdes auf der Stelle zu erkennen. Er ging, Gott weiß wie durchs Leben ohne Biceps oder Wettbuch, hatte sich nie gescheut in einer englischen Gesellschaft auszusprechen, daß er das Gebell einer Meute von Hunden nicht für die schönste Musik halte, und konnte es über sich gewinnen, auf dem Continent zu reisen und Berge vor sich zu sehen, die noch Niemand bestiegen hatte, ohne auf der Stelle seine Ehre als Engländer dabei aus das Spiel zu setzen und diese Besteigung selbst vorzunehmen. Solche Leute. mögen unter den untergeordneten Racen des Continents existiren, danken wir Gott, daß England niemals der rechte Boden für sie gewesen ist und sein wird! ——

Als Julius in Nagel’s Hotel angekommen war und Niemand in der Vorhalle fand den er hätte befragen können, wandte er sich an das junge Frauenzimmer, das vor dem Schenktisch am Fenster saß. Die junge Frau war so in die Lectüre eines Abendblattes vertieft, daß sie gar keine Notiz von ihm nahm. Julius ging in’s Gastzimmer. Der Kellner saß in einer Ecke in die Lectüre eines zweiten Blattes vertieft; drei Herren an drei verschiedenen Tischen waren von einem dritten, vierten und fünften Blatte in Anspruch genommen. Keiner von ihnen ließ sich in seiner Lectüre stören und nahm von dem Eintritt des Fremden die geringste Notiz. Julius wagte es den Kellner durch die Frage zu stören, wo er wohl Herrn Geoffrey Delamayn finden könne. Bei dem Klange des berühmten Namens fuhr der Kellner zusammen und sah überrascht auf.

»Sind Sie vielleicht Mr. Delamayn’s Bruder?«

»Ja!»

Die drei Herren an den drei Tischen fuhren gleichfalls aus. Der Glanz von Geoffrey warf seine Strahlen auf Geoffrey’s Bruder und machte auch ihn zu einem öffentlichen Charakter.

»Sie werden«, erwiderte der Kellner in freudig erregtem Tone, »Mr. Geoffrey in Putney im »Hotel zum Hahnenkampf« finden.«

»Ich hoffte ihn hier zu finden, ich hatte mit ihm hier ein Zusammentreffen verabredet!«

Der Kellner sah Julius Delamayn mit einem Ausdruck tiefsten Erstaunens an. »Wissen Sie es denn noch nicht!«

»Was denn?«

»Gerechter Himmel!« rief der Kellner und überreichte ihm das Blatt.

»Gerechter Himmel!« riefen auch die drei Herren und boten ihm ihre drei Blätter an.

»Was giebt es denn?« fragte Julius.

»Was es giebt?« wiederholte der Kellner mit hohler Stimme, »das Furchtbarste was ich je erlebt habe. Mit dem großen Fußwettrennen zu Fulham ist es für immer vorbei; Tinkler ist unbrauchbar geworden!«

Die drei Herren sanken wie aus einen Schlag in ihre Sessel zurück und wiederholten die schreckliche Kunde im Chor: »Tinkler ist unbrauchbar geworden!«

Wer Angesichts eines großen nationalen Unglücks die Bedeutung desselben zu fassen vermag, thut klug zu schweigen und zu versuchen sich zu orientiren ohne fremde Hilfe dabei in Anspruch zu nehmen. Julius nahm das ihm von dem Kellner angebotene Blatt und setzte sich damit in eine Ecke, um womöglich zwei Dinge zu entdecken; erstens, ob »Tinkler« einen Menschen bedeute oder was sonst; zweitens, welche Art von Unglück damit bezeichnet werden solle, wenn gesagt werde, daß Tinkler unbrauchbar geworden sei! Er fand die betreffende Neuigkeit leicht genug, sie stand mit großen Lettern gedruckt und auf sie folgten zwei aus verschiedenen Gesichtspunkten geschriebene Artikel über den Sachverhalt; weitere Einzelheiten und noch genauere Nachrichten wurden für spätere Ausgaben versprochen. Wie mit feierlichen Salutschüssen verkündete der britische Journalismus einem vor dem nationalen Wettlauf im Staube liegenden Volke die Nachricht von Tinkler’s Unbrauchbarkeit. Jedes stilistischen Schmuckes entkleidet, war die Thatsache einfach folgende: Eine berühmte athletische Gesellschaft des Nordens hatte eine berühmte athletische Gesellschaft des Südens zum Wettkampf herausgefordert. Es sollten da gymnastische Spiele wie Laufen, Springen, Werfen mit Cricketbällen und Aehnliches stattfinden und das Ganze sollte mit einem Wettrennen von noch nie dagewesener Länge und Schwierigkeit zwischen den beiden besten Läufern von jeder Seite schließen. Tinkler war der beste Mann des Südens, auf Tinkler waren unzählige Wetten eingegangen und Tinkler’s Lunge war in Folge übergroßer Anstrengung plötzlich schwach geworden. Die Aussicht, einem wunderbar schönen Wettrennen beizuwohnen, und was noch wichtiger war, große Summen Geldes zu gewinnen und zu verlieren, war dem britischen Volke plötzlich zu Wasser geworden. Der Süden hatte unter seinen eigenen Mitgliedern keinen zweiten würdigen Gegner dem Norden entgegenzustellen. Bei einer Durchmusterung der gesamten athletischen Welt fand sich nur ein einziger Mann, der Tinkler ersetzen konnte, und es war im höchsten Grade zweifelhaft, ob dieser Mann unter den obwaltenden Umständen sich bereit finden lassen würde. Der Name dieses Mannes war —— Julius las es mit Entsetzen —— Geoffrey Delamayn! Tiefes Schweigen herrschte im Caffeezimmern Julius legte die Zeitung vor sich hin und sah umher. Der Kellner lehnte in seiner Ecke, ein Wettbuch in der einen und einen Bleistift in der andern. Ebenso saßen die drei Herren an ihren Tischen, das Wettbuch in der einen und den Bleistift in der andern Hand.

»Suchen Sie ihn doch zu überreden, mein Herr!« sagte der Kellner in kläglichem Tone, als sich der Bruder Delamayn’s erhob, um das Zimmer zu verlassen.

»Sucheii Sie ihn doch zu überreden« hallte es aus dem Munde der drei Herren wieder, als Delamayn’s Bruder die Thür öffnete und fortging.

Julius rief ein Cab herbei und hieß dem Kutscher, der emsig beschäftigt war, sich Notizen in sein Wettbuch zu machen, nach dem Gasthof zum Hahnenkampf in Putney zu fahren. Der Kutscher strahlte vor Freude bei dieser Aussicht. Julius brauchte ihn nicht anzutreiben; er fuhr so schnell sein Pferd laufen konnte.

Je mehr sich der Wagen seinem Bestimmungsorte näherte, desto sichtbarer wurden die Anzeichen einer großen nationalen Aufregung. Von allen Lippen erklang der Name »Tinkler«. Die Gemüther des zumeist in den Wirthshäusern versammelten Volkes bewegte nur der eine Gedanke, ob es möglich sein werde oder nicht, Tinkler zu ersetzen. Höchst merkwürdig war die Scene vor dem Wirthshaus in Putney. Selbst die Londoner Strolche standen dem nationalen Unglück gegenüber schweigend und in respectvoller Haltung da. Selbst der unvermeidliche Mann mit der weißen Schürze, der bei jeder Volksversammlung seine Nüsse und sein Zuckerwerk laut aufbietet, trieb heute seinen Handel schweigsam, und fand —— zur Ehre der Nation sei es gesagt —— auch nur Wenige, die aufgelegt gewesen wären, in einer solchen Zeit Nüsse zu knacken. Die Polizei war durch zahlreiche Officianten vertreten, die sich, wie die Uebrigen, stumm verhielten und in ihrer ganzen Haltung eine rührende Sympathie mit den Gefühlen der Menge zu erkennen gaben. Als Julius an der Thür angehalten, seinen Namen nannte, wurde er ehrfurchtsvoll begrüßt. Sein Bruder! o Himmel, sein Bruder! Die Volksmenge drängte sich um ihn, schüttelte ihm die Hände und rief den Segen des Himmels auf sein Haupt herab. Julius war in Gefahr zu ersticken und es bedurfte der Hilfe der Polizei, ihn zu befreien und ihn in den sicheren, nur für Bevorzugte zugänglichen Hafen des Gasthofes zu geleiten. Als er eintrat, schallte ihm ein betäubender Lärm Von oben her entgegen. Eine entfernte Stimme schrie: »Paßt auf!« Ein Mann ohne Hut stürzte unter die auf der Treppe harrende Menge mit dem Ruf: »Hurrah! hurraht Er hat? versprochen! Er will den Wettlauf mitmachen!« Hunderte von Stimmen trugen den Ruf weiter, bis er von dem Jubelgeschrei der draußen Versammelten erstickt wurde. Zeitungsberichterstatter stürzten in wahnsinniger Eile aus dem Gasthof und warfen sich in die Cabs, um der Welt die Freudenbotschaft durch ihre Zeitungen zu verkünden. Die Hand des Wirthes, der Julius vorsichtig am Arm die Treppe hinaufführte, zitterte vor Aufregung. »Sein Bruder, meine Herren, sein Bruder!« Bei diesen Zauberworten trat die dichtgedrängte Menge zu beiden Seiten zurück, um den Bruder durchpassiren zu lassen. Durch dieselben Zauberworte wurde auch die verschlossene Thür des Berathungszimmers weit ausgerissen und Julius befand sich mitten unter den vollzählig versammelten Athleten seines Heimathlandes. Der Mühe einer näheren Beschreibung derselben überhebt uns die früher gegebene Schilderung Geoffrey’s, die auf sie Alle paßt. Die Repräsentanten der Mannhaftigkeit und Muskelkraft Englands sind einer Heerde Hammel darin sehr ähnlich, daß unter einer Schaar von Athleten ungefähr dieselbe Mannigfaltigkeit besteht, wie unter einer Heerde Hammel. Julius sah, wohin er blickte, dieselbe Gestalt, dieselbe Kleidung, dieselbe Gesundheit, Kraft, Stimme und Bewegung. Der Lärm der Unterhaltung war betäubend und der herrschende Enthusiasmus hatte etwas für einen uneingeweihten Fremden zugleich Widerwärtiges und Erschreckendes. Sie hatten Geoffrey mit sammt seinem Stuhl auf den Tisch gehoben, so daß er die ganze Versammlung überragte und von jedem Winkel des Zimmers aus gesehen werden konnte. Sie sangen, tanzten, jubelten und fluchten um ihn herum. Dankbare und bis zu Thränen gerührte Riesen überschütteten ihn mit den zärtlichsten Zurufen. »Der liebe Kerl!« »Der prächtige, noble, herrliche, schöne Junge!« Sie umarmten ihn, klopften ihn auf die Wangen und drückten ihm die Hände; sie betasteten seine Muskeln, sie umarmten die schönen Beine, die den beispiellosen Wettlauf unternehmen wollten. An der entgegengesetzten Seite des Zimmers, von wo es physisch unmöglich war, an den gefeierten Helden heranzukommen, machte sich der Enthusiasmus durch Kraftübungen und Acte der Zerstörung Luft. Hercules I schaffte sich mit seinen Ellenbogen den nöthigen Platz, um sich auf den Boden zu legen —— und Hereules II hob ihn mit den Zähnen in die Höhe. Hercules III nahm das Schüreisen vom Kamin und zerbrach es auf seinem Arm. Hercules IV ergriff die Zange und zerbrach sie auf seinem Nacken. Unfehlbar würde es bald zum Zerschmettern der Möbel und zum Niederreißen des Hauses gekommen sein, wenn nicht Geoffrey, dessen Auge eben jetzt zufällig auf Julius fiel, denselben mit gewaltiger Stimme zu sich gerufen, dadurch die wilde Versammlung zum Schweigen gebracht und ihren feurigen Enthusiasmus in eine andere Bahn geleitet hätte. »Hurrah, sein Bruder! Eins, zwei, drei —— nehmen wir den Bruder auf unsere Schultern! Vier, fünf, sechs —— und befördern wir den Bruder über unsere Köpfe nach dem anderen Ende des Zimmers! Seht, Jungens, seht! Unser Held hat ihn am Kragen gefaßt! Jetzt hat er ihn auf den Tisch gehoben!« Der von seinem eigenem Triumphe trunkene Held begrüßte nun das arme kleine Kerlchen lustig mit einer Ladung von Flüchen. »Donner und Blitz! Pulver und Blei! Was ist los, Julius, was ist los?«

Julius suchte zu Athem zu kommen und seine derangirte Toilette wieder etwas in Ordnung zu bringen. Der ruhige kleine Mann, der gerade Kraft genug besaß, ein Wörterbuch vom Bücherbret zu nehmen und seinen Arm hinreichend geschult hatte, um Violine damit zu spielen, war doch von dem Eindruck des ihm zu Theil gewordenen tumultuarischen Empfanges so wenig eingeschüchtert, daß er nur die gründlichste Verachtung dafür zu empfinden schien.

»Sie haben Dich doch nicht erschreckt?« sagte Geoffrey. »Die Jungens sind ein derbes Volk, aber sie meinen’s gut.«

»Sie haben mich durchaus nicht erschreckt«, antwortete Julius. »Ich frage mich nur, wie lange die Schulen und Universitäten, aus denen solche wüste Raufbolde, wie diese« da, hervorgehen, noch bestehen werden.«

»Nimm Dich in Acht, Julius! Sie werfen Dich zum Fenster hinaus, wenn sie das hören.

»Das würde mich in meiner Ansicht über sie nur bestärken.«

Die Versammlung, die der Unterhaltung der beiden Brüder nur mit den Augen zu folgen vermochte, fing an, wegen des bevorstehenden Wettlaufs unruhig zu werden. Mit lautem Geschrei forderten sie Geoffrey auf, wenn ihm etwas in die Quere gekommen sei, es ihnen mitzutheilen. Geoffrey beruhigte sie und wandte sich dann in einer nichts weniger als freundlichen Stimmung an seinen Bruder mit der Frage: »Was zum Teufel willst Du hier?«

»Ich habe Dir etwas mitzutheilen, bevor ich nach Schottland zurückkehre,« antwortete Julius. »Unser Vater ist bereit, Dir eine letzte Chance zu geben; wenn Du sie nicht ergreifst, so ist Dir von heute an nicht nur sein Haus, sondern auch meines verschlossen.«

Nichts ist frappanter als das besonnene klare Urtheil und die bewundernswürdige Selbstbeherrschung welche die jungen Leute unserer Zeit an den Tag legen, sobald es sich um eine Angelegenheit handelt, bei welcher ihr persönliches Interesse im Spiel ist. Anstatt über den Ton, den sein Bruder gegen ihn angeschlagen hatte, empfindlich zu sein, stieg Geoffrey sofort von dem Piedestal des Ruhms, auf dem er stand, herab und gab sich ohne Widerstreben in die Hände, welche vertretungsweise über sein Schicksal verfügten, mit andern Worten, welche vertretungsweise den Geldbeutel in Händen hielten. Nach Verlauf von weiteren fünf Minuten war die Versammlung, nachdem ihr Geoffrey alle erforderlichen Zusicherungen im Betreff seiner Betheiligung an dem bevorstehenden Wettlauf gegeben hatte, von ihm entlassen und saßen die beiden Brüder in einem der Privatzimmer des Gasthofs bei einander.

»Heraus damit!« sagte Geoffrey, »und mach’s kurz.«

»Es soll keine fünf Minuten dauern«, erwiderte Julius, »ich reife heute Abend mit dem Courierzuge ab und habe vorher noch viel zu besorgen. Was ich Dir zu sagen habe ist kurz. Folgendes: Unser Vater erklärt sich bereit, Dich wieder bei sich aufzunehmen, wenn Du Dich entschließt, Dir eine ihm genehme Lebensstellung zu verschaffen. Unsere Mutter hat schon eine Frau für Dich gefunden. Sie ist von guter Familie, schön und reich. Nimm sie —— und Du schaffst Dir eine für den Sohn Lord Holchesters angemessene Stellung. Weigerst Du Dich aber —— so hast Du Dir Dein Verderben selbst zuzuschreiben.«

Die Art, wie Geoffrey diese Mittheilung aufnahm, hatte nichts besonders Beruhigendes. Statt zu antworten, schlug er mit der Faust wüthend auf den Tisch und fluchte aus tiefstem Herzensgrund einem Weibe, dessen Namen er aber wohlweislich verschwieg.

»Deine unnennbaren Liaisons »Alles was mir obliegt, ist, Dir die Sache, genau wie sie steht, vorzulegen und Dir die Entscheidung anheim zu geben. Die Dir zugedachte Dame war früher ein Fräulein Newenden, aus einer der ältesten englischen Familien. Sie heißt jetzt Mrs. Glenarm und ist die junge und kinderlose Wittwe des großen Eisenwerkbesitzers dieses Namens. Sie vereinigt also Geburt und Vermögen in sich. Ihr Einkommen beträgt rund zehntausend Pfund jährlich. Unser Vater ist bereit, dieses Einkommen auf fünfzehntausend Pfund zu erhöhen, wenn es Dir gelingt, Dir ihr Jawort zu verschaffen. Unsere Mutter steht für ihre persönlichen Eigenschaften ein. Und meine Frau hat sie in London bei sich gesehen. Sie ist jetzt, wie ich höre, zum Besuch bei Freunden in Schottland, sobald ich nach Hause komme, will ich dafür sorgen, daß sie eine Einladung bekommt, demnächst einen längeren Besuch bei uns zu machen. Es muß sich natürlich finden, ob es Dir gelingt, ihr zu gefallen. Das mußt Du versuchen und leistest damit Alles, was unser Vater von Dir verlangen kann.«

Geoffrey wehrte jedes nähere Eingehen auf diese Seite der Frage ungeduldig von sich ab.

»Wenn sie keine Lust zu einem Manne hat, der bei dem großem Wettlauf in Fulham mitlaufen soll«, sagte er, »so giebt es genug Andere, die ebenso gut sind, wie sie und die mit tausend Freuden zugreifen werden! Das macht mir keine Sorge, wenn nur nicht die andere verfluchte Geschichte wäre.«

»Ich wiederhole Dir, daß mich Deine geheimen Angelegenheiten nichts angehen«, nahm Julius wieder auf. »Benutze den Rest des Tages, Dir die Sache zu überlegen. Wenn Du Dich entschließest, auf meinen Vorschlag einzugehen, so erwarte ich Dich zum Beweis, daß es Dir Ernst damit ist, heute Abend auf dem Bahnhof. Wir reisen dann zusammen wieder nach Schottland. Du beendigst zuerst Deinen unterbrochenen Vesuch bei Lady Lundie; es ist wichtig für mich, daß Du eine in der Grafschaft so angesehene Frau mit dem gehörigen Respect behandelst, —— und meine Frau wird, bis Du dann wieder zu uns kommst, schon bei Mrs. Glenarm für Dich vorgearbeitet haben. Weiter habe ich Dir nichts zu sagen und ich brauche mich nun nicht länger aufzuhalten. Wenn Du heute Abend kommst, werden meine Frau und ich Alles was in unsern Kräften steht, thun, um Dir behülflich zu sein. Wenn ich ohne Dich nach Schottland reisen muß, so kannst Du Dir die Mühe, mir dahin zu folgen, sparen, wir sind dann geschiedene Leute.«

Mit diesen Worten gab er seinem Bruder die Hand und ging fort.

Als Geoffrey wieder allein war, zündete er sich seine Pfeife an und ließ den Wirth kommen. »Schaffen Sie mir ein Boot, ich muß mir flußauf- und abwärts eine Stunde Bewegung machen, legen Sie mir auch ein Paar Handtücher in’s Boot, vielleicht nehme ich ein Bad!«

Der Wirth erlaubte sich nach Empfang der Ordre eine Warnung gegen seinen ausgezeichneten Gast auszusprechen. »Lassen Sie sich nicht vor dem Hause sehen, Mr. Delamayn, wenn die Leute Ihrer ansichtig werden, so wäre die Polizei nicht im Stande, sie im Zaum zu halten, so aufgeregt sind sie.«

»Gut ich werde durch die Hinterthür hinausgehen.«

Er ging ein paar Mal im Zimmer aus und ab. Worin bestand die Schwierigkeit, die er zu überwinden hatte, bevor er sich der herrlichen Aussicht, die sein Bruder ihm eröffnet hatte, erfreuen konnte. Der Wettlauf? Nein! Das Comité hatte ihm versprochen, den Tag des Rennens zu verschieben, wenn er es wünschen sollte, und ein Monat Vorbereitung würde bei seiner körperlichen Beschaffenheit vollkommen hinreichen; von einer persönlichen Abneigung, sein Glück bei Mrs. Glenarm zu versuchen, konnte keine Rede sein. Ihm war jede Frau recht, wenn nur seine Wahl seinen Vater befriedigte und die Vermögensumstände nach Wunsch waren. Das einzige wirkliche Hinderniß war das Mädchen das er unglücklich gemacht hatte, Anne; die einzige unüberwindliche Schwierigkeit bestand darin, wie ein Mittel zu finden, mit Anne fertig zu werden.

»Ich will erst einmal eine Stunde rudern und mir die Sache dann wieder überlegen«, sagte er zu sich selbst. Der Wirth und der Polizei-Inspector schafften ihn unbemerkt zu der Hinterthür, von deren Vorhandensein die vor dem Hause harrende Menge nichts wußte, hinaus. Beide Männer blieben noch eine Weile stehen und sahen ihm bewundernd nach, als er sein Boot mit langen, mächtigen, schönen Ruderschlägen in Bewegung setzte. »Das nenne ich den Stolz und die Blüthe Englands!« sagte der Polizei-Inspector. Hat man schon angefangen auf ihn zu wetten?«

»Sechs gegen eins haben sie angeboten und Niemand gefunden der darauf eingehen will«, entgegnete der Wirth.

Julius traf Abends zeitig auf dem Bahnhof ein; seine Mutter hatte ihn fortgetrieben. »Gieb Geoffrey kein schlechtes Beispiel dadurch, daß Du zu spät kommst!« sagte sie. Der erste Mensch, den Julius beim Aussteigen ans dem Wagen sah, war Geoffrey, der sein Billet bereits genommen und seinen Koffer dem Schaffner übergeben hatte.



Swanhaven Lodge.

Vierunddreißigstes Kapitel - Die Saat der Zukunft. Erste Aussaat

»Nicht so groß wie Windygates, aber behaglich, was Jones?«

»Und gemüthlich, Smith, ich bin ganz Ihrer Meinung.«

So lautete das von den beiden Herren Choristen ausgesprochene Urtheil über Mr. Julius Delamayn’s schottisches Landhaus Das Urtheil, das Smith und Jones hier fällten, war unstreitig richtig. Swanhaven Lodge war nicht halb so groß wie Windygates, aber es war zu der Zeit, wo der Grundstein von Windygates gelegt wurde, schon seit zweihundert Jahren bewohnt gewesen und hatte die Vorzüge ohne die Nachtheile seines Alters. Alte Häuser pflegen sich dem Character ihrer Bewohner anzupassen, wie sich alte Hüte den menschlichen Köpfen anpassen. Der Besucher von Swanhaven Lodge hatte beim Fortgehen eine Empfindung, als ob er seine Heimath verließe. Es gehörte zu den wenigen Häusern, die uns, außer unserem eigenen, sympathisch anmuthen. Der Garten war weder an Größe noch an Pracht entfernt mit dem von Windygates zu vergleichen. Aber der Park war schön, weniger sorgfältig angelegt, aber auch weniger monoton als ein gewöhnlicher englischer Park. Der See an der nördlichen Grenze des Gutes war berühmt wegen seiner Schwanenzucht und gehörte zu den Merkwürdigkeiten der Gegend, und die Geschichte des Hauses, die es mit mehr als einem berühmten schottischen Namen verknüpfte, hatte Julius Delamayn selbst geschrieben und illustrirt. Besucher von Swanhaven Lodge erhielten regelmäßig ein Exemplar des Buches, das der Verfasser für seine Freunde hatte drucken lassen. Einer unter zwanzig las es, die Uebrigen erklärten es für höchst »unterhaltend« und begnügten sich damit, die Bilder anzusehen.

Es war der letzte August und in Swanhaven Godge fand das von Mr. und Mrs Delamayn gegebene Gartenfest statt. Smith und Jones, die mit den übrigen Gästen von Windygates in Lady Lundie’s Gefolge erschienen waren, tauschten ihre Ansichten über die Vorzüge des Hauses auf einer Terrasse hinter dem Hause aus. Sie bildeten die Avantgarde der Besucher, die, zu Zweien und Dreien aus dem Empfangszimmer tretend, alle die Schwäne sehen wollten, bevor das Gartenfest seinen Anfang nähme. Julius Delamayn erschien mit dem ersten Detachement, rekrutirte unterwegs Smith und Jones und andere im Garten zerstreute Junggesellen und begab sich nach dem See. Ein Paar Minuten lang blieb die Terrasse leer. Dann erschienen an der Spitze eines zweiten Detachements der Gäste, zwei Damen unter dem alten steinernen Portal, welches dem Eingange an dieser Seite des Hauses zum Schutz diente. Die eine der beiden Dame war eine kleine, bescheidene, angenehme, sehr einfach gekleidete Frau; die andere gehörte zu dem großen und imponirenden Geschlecht der »schönen Frauen« und war prachtvoll gekleidet. Die erste war Mrs. Julius Delamayn, die zweite Lady Lundie.

»Herrlich, herrlich!« rief Lady Lundie, indem sie die alten von Schlingpflanzen umrahmten gothischen Fenster und die in Zwischenräumen aus der Mauer vorspringenden großartigen steinernen Strebepfeiler betrachtete, deren jeder an seiner Basis von einem Kranz von Blumen umgeben war. »Wie schade, daß dieser Genuß Sir Patrick entgeht.«

»Sagen Sie nicht, Lady Lundie, daß Sir Patrick durch Familienangelegenheiten veranlaßt worden sei, nach Edinburgh zu geben?«

»Ja wohl, Geschäfte, Mrs. Delamahn, die mir nichts weniger als angenehm sind. Alle meine Arrangements für den Herbst werden dadurch über den Haufen geworfen; meine Stieftochter wird sich schon nächste Woche verheirathen.«

»So bald schon? Und wer ist der glückliche Bräutigam, wenn ich fragen darf?«

»Mr. Arnold Brinkworth.«

»Der Name kommt mir bekannt vor.«

»Sie haben vermuthlich von ihm als den Erben des schottischen Gutes des verstorbenen Miß Brinkworth gehört?«

»Allerdings! Haben Sie Mr. Brinkworth auch mitgebracht?«

»Ich muß ihn, wie Sir Patrick bei Ihnen entschuldigen, beide sind vorgestern zusammen nach Editiburgh gereist. Die Advocaten haben sich verpflichtet, die Ehecontracte in drei bis vier Tagen in Ordnung zu bringen, wenn eine persönliche Conferenz vorher ermöglicht werden könnte; es betrifft einige formelle Fragen, glaube ich, die sich auf Besitztitel beziehen. Sir Patrick hielt es für den sichersten und raschesten Weg, Mr. Brinkworth mit sich uach Edinburgh zu nehmen, die Geschäfte heute zu erledigen und mit ihrer Rückreise zu warten, bis wir sie morgen auf unserm Wege nach Süden treffen.«

»Sie wollen Windygates bei diesem reisenden Wetter verlassen?«

»Seht ungern. Die Wahrheit ist, Mrs. Delamayn, daß ich durchaus von dem Willen meiner Stieftochter abhänge. Ihr Onkel hat als ihr Vormund volle Autorität über sie und der Gebrauch, den er davon macht, besteht darin, daß er ihr ganz ihren Willen läßt. Erst vorigen Freitag hat sie in die Festsetzung des Tages gewilligt und noch dazu diese späte Einwilligung an die Bedingung geknüpft, daß die Hochzeit in England stattzufinden habe. Reiner Eigensinn, aber was kann ich dabei thun? Sir Patrick fügt sich, Mr. Brinkworth fügt sich, und wenn ich bei der Hochzeit zugegen sein will, muß ich ihrem Beispiele folgen und mich gleichfalls fügen. Ich halte es für meine Pflicht zugegen zu sein und so bleibt mir nichts übrig, als mich zu opfern. Wir reisen morgen nach London.«

»Soll denn Miß Lundie’s Hochzeit in dieser Jahreszeit in London stattfinden?«

»Nein, wir gehen nur über London nach Sir Patrick’s Gut in Kent, das Gut, das zugleich mit dem Titel in seinen Besitz gelangte. An den Platz knüpft sich für mich die Erinnerung an die letzten Tage meines geliebten Gatten. Auch eine schwere Prüfung für mich. Die Hochzeit soll auf dem Schauplatz meines schmerzlichsten Verlustes gefeiert werden. Meine alte Wunde wird am nächsten Montag wieder frisch bluten müssen und das nur deshalb, weil meine Stieftochter eine Abneigung gegen Windygates gefaßt hat.«

»Heute über acht Tage wird also die Hochzeit sein?«

»Jawohl, heute über acht Tage, es waren Gründe vorhanden, die Sache zu beschleunigen, mit denen ich Sie nicht behelligen will. Keine Worte vermögen es auszudrücken, wie sehr ich wünsche, es wäre vorüber. Aber meine liebe Mrs. Delamayn, wie rücksichtsslos von mir, Sie mit meinen Familiensorgen zu belästigen, Sie sind so liebenswürdig und flößen mir so viel Vertrauen ein, das ist meine einzige Entschuldigung. Bitte, lassen Sie mich Sie nun aber nicht länger von Ihren Gästen zurückhalten, so schwer es mir auch wird, mich von diesem reizenden Punkt zu trennen.«

Wo ist Mrs. Glenarm?«

»Ich weiß es wirklich nicht, ich vermißte sie schon, als wir auf die Terrasse traten, Sie wird höchst wahrscheinlich nach dem See gegangen»sein.«

»Haben Sie Lust, sich auch den See anzusehen, Lady Lundie?«

»Ich« schwärme für die Schönheiten der Natur, Mrs Delamayn, besonders für See’n!«

»Wir haben Ihnen überdies etwas zu zeigen, wir haben eine eigenthümliche Schwanenzucht auf dem See; mein Mann ist mit einigen unserer Gäste vorangegangen und ich glaube man erwartet auch uns, sobald die übrigen Gäste unter der Führung meiner Schwester das Haus gesehen haben werden.«

»Und was für ein Haus, Mrs. Delamayn, historische Erinnerungen in jedem Winkel desselben. Nichts gewährt mir so großen Trost, als mich in die Vergangenheit zu flüchten. Wenn ich wieder weit entfernt von diesem lieblichen Orte bin, werde ich Swanhaven Lodge mit seinen verstorbenen Bewohnern bevölkern und mich in die Freuden und Sorgen vergangener Jahrhunderte versenken.«

Während Lady Lundie in dieser Weise ihre Absicht zu erkennen gab, die Bevölkerung vergangener Jahrhunderte zu vermehren, erschienen die letzten von den Gästen, die das alte Haus durchstöbert hatten, unter dem Portal. Unter diesen Nachzüglern befanden sich Blanche und eine Freundin ihres Alters, die sie in Swanhaven Lodge getroffen hatte. Die beiden Mädchen schlenderten Arm in Arm hinter den Uebrigen her und unterhielten sich vertraulich mit einander. Den Gegenstand ihrer Unterhaltung bildete, wie wir wohl kaum zu sagen brauchen, Blanche’s bevorstehende Hochzeit.

»Aber liebe Blanche, warum willst Du Dich nicht in Windygates verheirathen?«

»Ich hasse Windygates, Janet, es knüpfen sich für mich die traurigsten Erinnerungen an diesen Ort, frage mich nicht, worin sie bestehen. Ich lasse es mir auf’s Aeußerste angelegen sein, nicht an dieselben zu denken, ich sehne mich darnach, nichts mehr von Windygates zu sehen. Was meine Hochzeit anlangt, so habe ich es zur ausdrücklichen Bedingung gemacht, daß sie überhaupt nicht in Schottland stattfinden soll.«

»Was hat denn das arme Schottland gethan, um Deine gute Meinung zu verwirken, liebe Blanche?«

»Das arme Schottland, liebe Janet, ist ein Land, wo die Leute nicht wissen, ob sie verheirathet sind oder nicht. Ich weiß das Alles von meinem Onkel und ich kenne Jemand, der das unschuldige Opfer einer schottischen Heirath geworden ist.«

»Ach dummes Zeug, Blanche, Du denkst an weggelaufene Paare und machst Schottland verantwortlich für die Verlegenheiten von Leuten, die die Wahrheit nicht eingestehen dürfen.«

»Ich rede gar kein dummes Zeug, ich rede von der theuersten Freundin, die ich habe; ach wenn Du nur wüßtest!«

»Liebes Kind, vergiß nicht, daß ich eine Schottin bin; ich bleibe dabei, Du kannst Dich gerade so gut in Schottland wie in England verheirathen.«

»Ich hasse Schottland!«

Blanche?«

»Ich bin nie in meinem Leben so unglücklich gewesen wie in Schottland und ich habe kein Verlangen, es je wieder zu sehen. Ich bin entschlossen meine Hochzeit in England in dem lieben alten Hause zu feiern, wo ich meine ersten Mädchenjahre verlebt habe. Mein Onkel ist ganz einverstanden, er versteht mich und weiß meine Gefühle zu würdigen.«

»Willst Du damit sagen, daß ich Dich nicht verstehe und Deine Gefühle nicht zu würdigen weiß? Dann wäre es wohl besser, Blanche, daß ich Dich von meiner Gesellschaft befreite.«

»Wenn Du iu diesem Tone mit mir reden willst, ja!«

»Soll ich mein Vaterland verunglimpfen hören und kein Wort zu seiner Vertheidigung sagen?«

»Ach, Ihr Schotten macht so viel Aufhebens von Eurem Vaterlande.«

»Wir Schotten? Du bist ja selbst von schottischer Abkunft und Du solltest Dich schämen, so zu reden. Guten Morgen, Blanche! Ich wünsche Dir bessere Laune.«

Noch vor einer Minute waren die beiden jungen Damen wie Zwillingsrosen auf einem Stamm gewesen und jetzt trennten sie sich mit gerötheten Wangen, feindseligen Gefühlen und scharfen Worten; wie heiß ist die Gluth der Jugend und wie unendlich zerbrechlich sind weibliche Freundschaften!

Die Schaar der Gäste folgte Mrs. Delamayn an die Ufer des Sees. Einige Minuten später war die Terrasse völlig öde und leer. Dann trat ein einzelner Herr mit einer Blume im Munde, die Hände in den Taschen, langsam in’s Portal hinaus. Es war Geoffrey Delamayn.

Einen Augenblick später erschien eine Dame hinter ihm mit leisen Schritten, so daß er sie nicht hören konnte. Sie war prachtvoll nach der neuesten Pariser Mode gekleidet, auf ihrer Brust prangte als Broche ein großer Diamant von wundervoller Reinheit, der Fächer in ihrer Hand war ein Meisterstück der feinsten, indischen Arbeit. Sie sah aus wie das, was sie war, wie eine Person im Besitz von sehr vielem überflüssigen Gelde, der es aber an einem entsprechenden Ueberfluß an Geist mangelte war die kinderlose junge Wittwe des großen Eisenwerkbesitzers, Mrs. Glenarm. Die reiche Frau klopfte dem starken Mann kokett mit ihrem Fächer auf die Schulter. »O, Sie böser Junge«, sagte sie mit einer etwas gezierten Schalkhaftigkeit in Blick und Wesen, »finde ich Sie endlich hier?«

Geoffrey schlenderte, während die Dame ihm folgte, mit einer barbarischen Geringschätzung aller civilisirten Unterordnung unter das schöne Geschlecht, auf die Terrasse hinaus und sah auf seine Uhr. »Ich hatte ja gesagt, daß ich hierher kommen würde, wenn ich eine halbe Stunde für mich gehabt hätte«, murmelte er, indem er die Blume achtlos zwischen den Zähnen herumdrehte, »ich habe die halbe Stunde gehabt und da bin ich!«

»Kommen Sie denn, um die Gäste zu sehen oder um mich zu sehen?«

Geoffrey lächelte gnädig und drehte die Blume wieder zwischen den Zähnen herum: »natürlich um Sie zu sehen.«

Die Wittwe des Eisenwerkbesitzers ergriff seinen Arm und schaute zu ihm hinauf, wie nur eine junge Frau aufzublicken wagen kann, während das helle Sonnenlicht voll auf ihrem Gesicht spielte.

Die Durchschnittsansicht der Engländer über weibliche Schönheit kann, auf ihren einfachsten Ausdruck zurückgeführt, in die drei Worte, Jugend, Gesundheit und angenehme Fülle zusammengefaßt werden. Die feineren Reize eines intelligenten Ausdrucks klassischer Linien und anmuthiger Formen üben wenig Anziehungskraft auf die überwiegende Mehrheit der Männer in England. Nur dadurch kann man sich die erstaunliche Blindheit erklären, welche, um nur ein Beispiel anzuführen, von zehn Engländern, die Frankreich besuchen, neun bei ihrer Rückkehr behaupten läßt, daß sie weder in noch außerhalb Paris ein hübsches Frauenzimmer gesehn haben. Unser populärer Schönheitstypus entfaltet sich in seiner vollsten materiellen Erscheinung in dem Schaufenster jedes Ladens, in welchem eine illustrirte Zeitung verkauft wird. Dasselbe vollwangige Gesicht, mit demselben faden Lächeln ohne sonstigen Ausdruck, kehrt in allen Arten von Illustrationen Tag für Tag wieder. Wer zu wissen wünschte, wie Mrs. Glenarm aussah, brauchte nur auszugehen und vor irgend einem Buch- oder Zeitungsladen still zu stehen, um sie in der ersten besten Illustration, auf der eine junge Frau figurirt, zu sehen. Die einzige bemerkenswerthe Besonderheit in Mrs Glenarm’s gewöhnlicher und ganz materieller Schönheit, welche einen fein gebildeten Beobachter frappirt haben würde, war die vollkommene Mädchenhaftigkeit ihres Blickes und Wesens. Kein Fremder, der sich mit dieser vierundzwanzigjährigen Wittwe unterhalten hätte, würde es sich haben einfallen lassen, sie anders als »Mein Fräulein« anzureden.

»Gehen Sie so mit einer Blume um, die ich Ihnen gegeben habe? Sie zermalmen sie zwischen den Zähnen, wie ein Pferd! Sie Nichtsnutz!«

»Was das betrifft«, erwiderte Geoffrey, »bin ich ja wirklich mehr Pferd, als Mensch, ich werde bei einem Wettlauf rennen und das Publicum wettet schon auf mich, ganz wie auf ein Pferd.«

»Da hör’ nur Einer, er hat nichts im Kopf als Wetten. Sie große, schwere Maschine ich kann Sie nicht von der Stelle bringen, merken Sie nicht, daß ich wie alle übrigen Gäste nach dem See gehen möchte? Nein, ich lasse Sie nicht los, Sie sollen mich hin bringen!«

»Kann ich unmöglich, muß in einer halben Stunde wieder bei Perry sein.« Perry war der von London verschriebene Lehrer, der früher, als erwartet, eingetroffen und bereits seit drei Tagen in Funktion getreten war.

»Sprechen Sie mir nicht von Perry, diesem ordinären kleinen Patron, schicken Sie ihn weg. Sie wollen nicht? Sind Sie wirklich ein solcher Unmensch daß Sie lieber bei Perry als bei mir sein wollen?«

»Die Weiten stehen fünf gegen vier, liebes Kind, und das Wettlaufen nimmt in einem Monat seinen Anfang.«

»Nun, so gehen Sie in Gottes Namen zu Ihrem geliebten Perry, ich hasse Sie, ich hoffe nur, Sie verlieren beim Wettrennen. Bleiben Sie nur in Ihrem Häuschen und lassen Sie sich gar nicht wieder im Hause blicken und wohlgemerkt, lassen Sie es sich nicht einfallen, wieder zu mir »liebes Kind« zu sagen.

»Nicht einfallen lassen? Ich werde mir noch ganz andere Dinge einfallen lassen. Warten Sie nur noch eine Weile, bis das Wettrennen vorüber ist; dann werde ich es mir einfallen lassen, Sie zu heirathen!«

»Sie? Sie können so alt werden wie Methusalem, wenn Sie darauf warten wollen, daß ich Ihre Frau werde. Sollte Perry nicht eine Schwester haben? Fragen Sie ihn doch einmal, das wäre gerade die rechte Frau für Sie!«

Geoffrey drehte die Blume zwischen den Zähnen herum und sah aus, als ob er diesen Gedanken der Ueberlegung für werth halte.

»Gut!« sagte er, »wenn ich Ihnen damit einen Gefallen thue, will ich gehen und Perry fragen,« und damit ging er, als ob er seinen Vorsatz sogleich ausführen wolle.

Mrs. Glenarm erhob ihre reizende, kleine, von einem rosafarbenen Glacéhandschuh eng umschlossene Hand, legte dieselbe auf den wuchtigen Arm des Athleten und kniff seine eisernen Muskeln, den Stolz und Ruhm Englands, mit Zärtlichkeit. »Was Sie für ein Mann sind!« sagte sie, »in meinem Leben habe ich keinen solchen Mann wie Sie gesehen!« —— Das ganze Geheimniß der Gewalt, die Geoffrey über sie übte, lag in diesen Worten. Sie waren wenig länger als zehn Tage in Swanhaven Lodge zusammen gewesen und in dieser kurzen Zeit hatte er Mrs. Glenarm’s Herz erobert. Am Tage vor dem Gartenfeste hatte er sie, in einem der wenigen müßigen Augenblicke, die Perry ihm gestatten, allein abgefaßt, ihren Arm ergriffen und sie gerade heraus gefragt, ob sie ihn heirathen wolle. Es fehlt nicht an Beispielen von Frauen —— mit allem Respect sei es gesagt —— die sich in zehn Tagen haben werben und gewinnen lassen, aber ein Beispiel von einer Frau, die das bereitwillig eingesteht, soll noch gefunden werden. Auch die Frau des Eisenwerkbesitzers verlangte die strengste Geheimhaltung, bevor sie ihr Jawort gab. Nachdem Geoffrey ihr sein Wort darauf gegeben hatte, zu schweigen, bis sie ihm erlaubt haben werde, zu reden, gab Mrs. Glenarm ihm ohne längeres Zaudern ihr Jawort, die sie —— was wir nicht unerwähnt lassen wollen —— im Laufe der letzten zwei Jahre wenigstens einem halben Dutzend Männern, die sämmtlich Geoffrey in Allem, außer in Schönheit und Körperkraft, überlegen waren, einen Korb gegeben hatte. Alles in der Welt hat seinen Grund und auch dieses hatte seinen guten Grund.

Wie entschieden auch moderne Philosophen in ihren Erörterungen, über das Verhältniß der beiden Geschlechter zu einander, es leugnen mögen, so ist es darum doch nicht weniger eine durch die ganze Geschichte des Menschengeschlechts bestätigte Wahrheit, daß es die natürliche Neigung jeder Frau ist, in ihrem Mann ihren Herrn zu finden. Seht Euch irgend eine Frau an, die nicht von einem Manne abhängt, und so gewiß Ihr die Sonne an einem wolkenlosen Himmel seht, so gewiß seht Ihr in das Gesicht einer nicht glücklichen Frau. Das Verlangen nach einem Herrn ist das beständige ihr selbst unbewußte Verlangen des Weibes, in dem Besitze eines Herrn findet es allein seine vollständige Ergänzung. In neunundneunzig unter hundert Fällen liegt dieser natürliche Trieb dem sonst unerklärlichen Opfer zu Grunde, das wir so oft von Frauen gebracht sehen, die sich aus freien Stücken an einen ihrer unwürdigen Mann wegwerfen und dieser natürliche Instinct lag auch der sonst unerklärlichen Leichtigkeit zu Grunde, mit welcher Mrs. Glenarm sich Geoffrey hingab. Bis zu der Zeit ihrer Begegnung mit diesem, hatte die junge Wittwe in ihrem Verkehr mit der Welt sich nur als einen privilegirten Tyrannen betrachtet und behandelt gesehen. In den kurzen sechs Monaten ihrer Ehe mit einem Manne, dessen Enkelin sie hätte sein können, brauchte sie nur den Finger auszustrecken, um den bereitwilligsten Gehorsam zu finden. Der verliebte, alte Mann war der willige Sclave jeder Laune seiner begehrlichen jungen Frau. Später, als die Gesellschaft die junge Wittwe ihrer Geburt, ihrer Schönheit und ihres Reichthums wegen dreifach willkommen hieß, war sie, wo sie auch immer erscheinen mochte, der Gegenstand derselben unterwürfigen Bewunderung der zahlreichen Freier, die sich wetteifernd um ihre Hand bewarben. Zum ersten Male in ihrem Leben begegnete sie in Geoffrey Delamayn einem Manne mit eignem Willen. Geoffrey’s augenblickliche Beschäftigung war besonders geeignet, die Frau in die Lage zu bringen, Einfluß auf den Willen des Mannes zu erproben. Während der Zeit, die seit seiner Rückkehr in seines Bruders Haus bis zu der Ankunft des Lehrers verflossen war, hatte Geoffrey schon angefangen, sich der physischen Disciplin, die zu seiner Vorbereitung auf den bevorstehenden Wettlauf erforderlich war, zu unterziehen. Er wußte aus eigener Erfahrung, welche Uebungen er vorzunehmen, welche Stunden er einzuhalten, welchen Versuchungen der Tafel er zu widerstehen habe. Wieder und wieder versuchte es Mrs. Glenarm ihn zu Uebertretungen seiner selbst vorgeschriebenen Disciplin zu verlocken, und wieder und wieder erwies sich der Einfluß, den sie bisher auf Männer auszuüben gewohnt war, unwirksam. Sie mochte sagen und thun was sie wollte, so vermochte sie diesen Mann nicht in seinen Entschlüssen wankend, zu machen. Als dann Perry eintraf, wurde Geoffrey’s trotziger Widerstand gegen jeden Versuch der reizenden, weiblichen Thränen der sich Jedermann sonst gebeugt hatte, unerschütterlicher als je. Mrs Glenarm wurde so eifersüchtig auf Perry als ob Perry ein Weib wäre. Sie wurde wüthend, brach in Thränen aus, ließ sich von andern Männern die Cour machen und drohte das Haus zu verlassen. Alles vergebens. Nicht ein einziges Mal versäumte Geoffrey eine mit Perry getroffene Verabredung, nicht ein einziges Mal trank oder aß er etwas, was sie ihm anbot, wenn Perry es verboten hatte. Es giebt keine menschliche Thätigkeit, die dem Einfluß des weiblichen Geschlechts so feindlich wäre, als die auf athletische Kraftausübung verwandte; es giebt keine Männer, die dem weiblichen Einfluß so völlig unzugänglich wären, als die Männer die ihr Leben mit der Ausbildung ihrer eigenen Körperkraft zubringen. Es kostete Geoffrey nicht die geringste Ueberwindung, Mrs. Glenarm Widerstand zu leisten, und eben dadurch nöthigte er ihr gelegentlich Bewunderung ab und errang sich, ohne darauf auszugehen, ihre Achtung. Sie hing an ihm wie an einem Helden, sie schreckte vor ihm zurück wie vor einer wilden Bestie, sie rang mit ihm, fügte sich ihm, verachtete und bewunderte ihn, Alles in einem Athem, und der Schlüssel zu dem Allen, verwirrt und widersprechend wie es schien, lag in einer einzigen, einfachen Thatsache. Mrs. Glenarm hatte ihren Herrn gefunden.

»Bringen Sie mich nach dem See«, sagte sie, mit einem kleinen bittenden Druck ihrer rosafarbenen Hand.

Geoffrey sah nach seiner Uhr. »Perry,« sagte er, »erwartet mich in zwanzig Minuten!«

»Wieder Perry?«

»Ja!«

Mrs. Glenarm schwang ihren Fächer mit einem plötzlichen Ausbruch der Wuth und zerbrach ihn, indem sie Geoffrey einen empfindlichen Schlag in’s Gesicht versetzte.«

»Da!« rief sie, mit dem Fuße stampfend, »mein armer Fächer zerbrochen, Sie Ungeheuer, Alles um Ihretwillen!«

Geoffrey sammelte ruhig die Bruchstücke des Fächers auf und steckte sie in die Tasche.

»Ich will nach London schreiben und Ihnen einen andern kommen lassen. Kommen Sie, kommen Sie, geben Sie mir einen Kuß und lassen Sie uns wieder gute Freunde sein!«

Er sah sich über die Schulter um, ob sie allein seien, dann hob er sie mit beiden Händen in die Höhe, obgleich sie nichts weniger als leicht war, hielt sie wie ein Kind hoch empor und gab ihr einen lauten, derben Kuß aus beide Wangen.

»Mit bestem Gruße von ihrem treu Ergebenen,« sagte er, brach in lautes Lachen aus und stellte sie wieder auf den Boden.

»Wie dürfen Sie sich so etwas unterstehen!« rief Mrs. Glenarm, »ich werde Mrs. Delamayn um ihren Schutz, bitten, wenn Sie mich aus diese Weise insultiren, und werde es Ihnen nicht vergeben, mein Herr.«

Während sie diese Worte der Entrüstung sprach, warf sie ihm einen Blick zu, der ihre Worte geradezu Lügen strafte. Im nächsten Augenblick lehnte sie sich an seinen Arm und betrachtete ihn zum tausendsten Male mit bewundernden Blicken, als eine, in ihrer Erfahrung von Männern, ganz neue Erscheinung.

»Wie roh Sie sind, Geoffrey,« sagte sie sanft.

Er lächelte über die unabsichtliche Anerkennung seiner Männlichkeit.

Sie sah das Lächeln und machte sofort einen neuen Versuch, die verhaßte Suprematie Perry’s zu bekämpfen.

»Lassen Sie ihn warten« flüsterte die Tochter Evas, entschlossen, Adam zu einem Bisse in den Apfel zu verlocken.

»Kommen Sie, Geoffrey, und lassen Sie dieses eine Mal Perr Perry sein, bringen Sie mich nach dem See.«

Geoffrey sah nach der Uhr. »Perry erwartet mich in einer Viertelstunde,« erwiderte er.

Mrs. Glenarm’s Entrüstung nahm eine neue Gestalt an, sie brach in Thränen aus.

Geoffrey sah sie einen Augenblick mit unverhohlenem Erstaunen an, faßte sie dann bei beiden Armen und schüttelte sie. »Hören Sie doch einmal«, sagte er ungeduldig, »können Sie mich einüben?«

»Ich würde es« gern thun, wenn ich es könnte.«

»Das kann mir nichts helfen. Können Sie mich soweit bringen, daß ich am Tage des Wettlaufs gerüstet bin, Ja oder nein?«

»Nein!«

»Dann trocknen Sie Ihre Thränen und lassen Sie Perry gewähren.«

»Mrs. Glenarm trocknete ihre Thränen und machte einen letzten Versuch, Geoffrey zurückzuhalten. »Ich kann mich so nicht blicken lassen«, sagte sie, »ich bin so aufgeregt, ich weiß nicht, was ich anfangen soll, kommen Sie mit in’s Haus und lassen Sie uns eine Tasse Thee trinken.«

Geoffrey schüttelte den Kopf. »Perry«, sagte er, »verbietet mir am Tage Thee zu trinken.«

»Sie hartherziges Ungeheuer«, rief Miß Glenarm.

»Soll ich den Wettlauf verlieren?« erwiderte Geoffrey.

»Ja!« Mit dieser Antwort verließ sie ihn endlich und eilte in das Haus»zurück.

Geoffrey ging auf der Terrasse auf und ab, überlegte einen Augenblick, stand dann still und blickte durch das Portal, durch welches sich die erzürnte Wittwe seinen Blicken entzogen hatte.

»Zehntausend Pfund jährlich« sagte er, indem er an seine Heirathsaussichten dachte, die er zu gefährden im Begriff stand, »und verflucht leicht verdient«, fügte er hinzu, indem er in’s Haus trat, um Glenarm zu beschwichtigen.

Die beleidigte Wittwe saß auf einem Sopha in einein einsamen Salon. Geoffrey setzte sich neben sie. Sie that, als wolle sie ihn nicht ansehen. »Seien Sie keine Närrin,« sagte er in einem einschmeichelnden Tone. Mrs. Glenarm hielt sich das Taschentuch vor die Augen. Geoffrey zog dasselbe ohne Umstände wieder weg. Mrs. Glenarm stand auf, um aus dem Zimmer zu gehen. Geoffrey hielt sie mit Gewalt zurück. Mrs. Glenarm drohte, die Dienstboten herbeizurufen. Geoffrey entgegnete: »Meinetwegen, ich mache mir nichts daraus, wenn das ganze Haus erfährt, daß ich Sie gern habe.« Mrs. Glenarm sah nach der Thür und flüsterte: »Still um Gottes willen!« Geoffrey legte ihren Arm in den seinigen und sagte: »Kommen Sie mit mir, ich habe Ihnen etwas zu sagen.« Mrs. Glenarm trat zurück und schüttelte den Kopf. Geoffrey legte seinen Arm um ihre Taille und schleppte sie mit sich zum Zimmer und zum Hause hinaus, nicht auf die Terrasse, sondern in der Richtung einer Tannenanpflanzung an der andern Seite des Hauses. Bei der Tannenanpflanzung angelangt, stand er still und hielt der beleidigten Wittwe einen warnenden Finger entgegen. »Sie sind grade die Art von Frau, die mir gefällt,« sagte er, »und es giebt keinen Mann, der so verliebt in Sie wäre, wie ich. Geben Sie es auf, mich mit Perry zu quälen und ich will Ihnen sagen, was ich für Sie thun will. Sie sollen sehen, wie ich einen Sprint mache.« Er trat einen Schritt zurück und heftete seine großen blauen Augen fest auf sie mit einem Blick, der sagte: »Ich gewähre Ihnen eine Gunst, die noch nie einer Frau zu Theil geworden ist.« Sofort gewann die Neugierde bei Mrs. Glenarm die Oberhand.

»Was ist ein Sprint?« fragte sie.

»Ein kurzes Rennen, um zu versuchen, wie rasch ich laufen kann. Es giebt keine lebende Seele in ganz England, außer Ihnen, der ich das sehen lassen würde! Bin ich noch ein Ungeheuer?«

Mrs. Glenarm war zum hundertsten Male wieder gewonnen. Sie sagte sanft: »O Geoffrey, wenn Sie doch immer so sein wollten wie jetzt.« Ihre Augen erhoben sich bewundernd zu den seinigen; aus freien Stücken ergriff sie wieder seinen Arm und drückte ihn sanft.

Geoffrey glaubte schon die zehntausend Pfund in seiner Tasche zu fühlen.

»Lieben Sie mich wieder?« flüsterte Mrs. Glenarm.

»Ob ich sie liebe!« antwortete der Held.

Der Friede war wieder hergestellt und die Beiden gingen mit einander weiter. Sie überschritten die Tannenanpflanzung und gelangten auf ein offenes, sanft gewelltes Terrain. Die letzte Erhöhung senkte sich allmälig in eine an der andern Seite von schützenden Bäumen begrenzte Ebene hinab. Unter den Bäumen befand sich ein freundliches, kleines, steinernes Haus, vor welchem ein geschniegeltes Männchen, die Hände auf dem Rücken, auf- und abging. Diese Ebene war das Uebungsfeld, das Haus der Aufenthaltsort und der geschniegelte kleine Mann, der Lehrer des Helden.

Wenn Mrs. Glenarm Perry haßte, war er allem Anschein nach in keiner Gefahr, sich in Mrs. Glenarm zu verlieben. Als Geoffrey sich mit seiner Begleiterin näherte, blieb der Lehrer stehen und starrte die Dame schweigend an. Die Dame ihrerseits nahm von dem Vorhandensein des Lehrers nicht die mindeste Notiz.

»Wie viel Uhr ist es?« fragte Geoffrey.

Perry sah nach einer Uhr, welche fünftel Secunden angab und antwortete Geoffrey, während er seinen Blick fortwährend fest auf Mrs. Glenarm gerichtet hielt: »Sie haben noch fünf Minuten!«

»Zeigen Sie mir, wo Sie laufen werden, ich bin voll Begierde es mit anzusehen«, sagte die Wittwe eifrig, indem sie Geoffrey’s Arm mit beiden Händen ergriff.

Geoffrey führte sie an einen in geringer Entfernung von dem Häuschen befindlichen Baum, an dem eine kleine Fahne befestigt war. Sie schlüpfte an seiner Seite in leichten Wellenbewegung hin, welche Perry’s Erbitterung auf ihren Höhepunkt zu bringen schienen.

»Stellen Sie sich dahin«, sagte Geoffrey, indem er sie an den kleinen Baum führte, »wenn ich an Ihnen vorüber komme« —— er hielt inne und betrachtete sie mit dem Ausdruck gutmüthigen Mitleids. »Wie, zum Teufel, soll ich Ihnen die Sache begreiflich machen?« fuhr er fort. »Sehen Sie mal, wenn ich an Ihnen vorüber komme, so wird das in einer Bewegung sein, die Sie, wenn ich ein Pferd wäre, Galopp nennen würden. Schweigen Sie, ich bin noch nicht fertig. Sie müssen mir, wenn ich an Ihnen vorbeilaufe, nachsehen, bis dahin, wo die Ecke der Mauer des Häuschens sich mit den Bäumen schneidet. Wenn ich hinter der Mauer Ihren Blicken entrückt bin, so haben Sie mich meine tausend Fuß, von der Fahne an, durchlaufen sehen. Sie können sich glücklich preisen, Perry läßt mich heute einen langen Sprint machen. Sie haben verstanden, daß Sie hier stehen bleiben sollen? Gut, jetzt lassen Sie mich gehen und mein Renncostüm anziehen.«

»Werde ich Sie denn nicht wiedersehen, Geoffrey?«

»Habe ich Ihnen nicht eben gesagt, daß Sie mich laufen sehen werden?«

»Ja!«

»Aber nachher werde ich mit einem Schwamm abgewaschen, gerieben und muß in dem Häuschen ausruhen.«

»Aber Sie kommen doch heute Abend zu uns?«

Er nickte bejahend und ging von dannen.

Perry’s Gesicht trug einen unheilverkündenden Ausdruck, als Geoffrey an der Thür des Häuschen zu ihm trat.

»Ich habe Ihnen eine Frage zu stellen, Mr. Geoffrey« sagte der Lehrer, »wollen Sie mich haben oder nicht?«

»Gewiß will ich Sie haben.«

»Was habe ich Ihnen gesagt, als ich zuerst herkam?« fuhr Perry in strengem Tone fort. »Ich sagte Ihnen, ich wolle es nicht haben, daß irgend Jemand den Uebungen des von mir eingeübten Mannes zusähe. Vielleicht haben alle die Damen und Herren hier beschlossen, Sie zu sehen, ich aber habe beschlossen keinen Zuschauer zu dulden, ich will nicht, daß jemand Anders Ihnen bei Ihrer Arbeit aufpaßt, als ich, ich will nicht, daß jeder Fußbreit gesegneter Erde, die Sie durchlaufen, in den Zeitungen erscheint; kein Mensch außer uns Beiden soll wissen, was Sie vermögen und was Sie nicht vermögen. Habe ich Ihnen das gesagt, Mr. Delamaym oder nicht?«

»Gewiß, gewiß!«

»Habe ich Ihnen das gesagt?«

»Gewiß haben Sie mir das gesagt.«

»Nun, dann bringen Sie mir keine Frauenzimmer hierher, das ist entschieden gegen unsere Abrede und ich will es nicht dulden.«

Jedes andere lebende Wesen, das sich diesen Ton des Vorwurfes gegen Geoffrey erlaubt hätte, würde denselben wahrscheinlich zu bereuen gehabt haben. Aber in Perry#s Gegenwart fürchtete selbst Geoffrey seiner Laune freien Lauf zu lassen. Angesichts des bevorstehenden Wettlaufes durfte selbst der erste und ausgezeichnetste englische Athlet sich nicht einfallen lassen, mit dem ersten und ausgezeichnetsten Lehrer zu spaßen.

»Sie soll nicht wiederkommen,« sagte Geoffrey begütigend, »sie verläßt Swanhaven-odge in zwei Tagen.«

»Ich habe jeden Shilling, den ich besitze, auf Sie gewettet,« fuhr Perry fort, indem er wieder einen zärtlichen Ton annahm, »und ich kann Ihnen sagen, es war mir ein Stich in’s Herz, als ich Sie mit einem Frauenzimmer herkommen sah. Damit betrügt er die Leute, die auf ihn gewettet habest, sagte ich mir«

»Hören Sie auf,« erwiderte Geoffrey, »und helfen Sie mir, Ihr Geld zu gewinnen.« Er stieß die Thür des Häuschens auf, und der Athlet und der Lehrer verschwanden von der Scene.

Nachdem Mrs. Glenarm ein paar Minuten gewartet hatte, sah sie die beiden Männer sich ihr, von dem Häuschen her, wieder nähern. In dem enganliegenden, leichten, elastischem jeder Bewegung nachgehenden Costüm in dass Geoffrey jetzt gekleidet war, und das der gymnastischen Uebung, die er vorzunehmen im Begriff stand, völlig angemessen schien, zeigten sich seine körperlichen Vorzüge von der vorteilhaftesten Seite. Sein Kopf saß stolz und leicht auf seinem festen, weißen, entblößten Hals, die Bewegung seiner gewaltigen Brust, während er die frische Sommerluft in vollen Zügen einathmete, das Spiel seiner leichten feinen Hüften, der elastische Gang seiner starken, wohlgestalteten Beine, gewährten den Anblick des vollendetsten Typus männlicher Schönheit.

Mrs. Glenarm’s Augen verschlangen ihn in schweigender Bewunderung, er sah aus wie ein junger Gott, wie eine belebte Statue »O, Geoffrey!« rief sie sanft aus, während er an ihr vorüberkam.

Er gab ihr keine Antwort und sah sie nicht einmal an; er hatte etwas Anderes zu thun, als auf weibliches Geschwätz zu horchen. Er sammelte sich für die bevorstehende Anstrengung, seine Lippen waren geschlossen, seine Fäuste leicht geballt Perry stellte sich an seinen Posten, finster und schweigend mit der Uhr in der Hand. Geoffrey trat einige Schritte hinter die Fahne zurück, um einen hinreichenden Anlauf zu gewinnen, und wenn er an der Fahne vorbei käme, schon im vollsten Laufe zu sein.

»Also!« rief Perry.

Im nächsten Augenblick flog Geoffrey zu Mrs. Glenarm’s größten Erstaunen vorüber, wie ein von einem Bogen abgeschossener Pfeil. Seine Haltung war tadellos, sein Lauf bewahrte bei der größten Eile die unerläßlichen Bedingungen der Stärke und Festigkeit.

Weiter und weiter entfernte er sich von den Blicken, die seinem Laufe folgten, noch immer leicht über den Boden dahin fliegend, sich noch immer in gerader Linie haltend. Dann aber verschwand der Läufer plötzlich hinter der Mauer des Häuschens und die Uhr des Lehrers wanderte wieder in seine Tasche zurück.

In ihrem Eifer, das Resultat zu erfahren, vergaß Mrs. Glenarm ihre Eifersucht auf Perry »Wie lange hat er gebraucht?« fragte sie.

»Das möchte wohl Mancher noch außer Ihnen gern wissen,« antwortete Perry.

»O, Mr. Delamayn wird es mir schon sagen, Sie grober Mensch!«

»Das hängt davon ab, Madame, ob ich es ihm sage.« Mit diesen Worten eilte Perry in’s Häuschen zurück.

Kein Wort wurde zwischen Beiden gewechselt, während Perry den erschöpften Renner pflegte, bis dieser wieder zu Athem kam. Nachdem Geoffrey sorgfältig abgerieben und wieder mit seinen gewöhnlichen Kleidern angethan war, zog Perry einen bequemen Lehnstuhl aus einer Ecke herbei, in den Geoffrey mehr fiel, als daß er sich hineingesetzt hätte.

Perry fuhr zusammen und sah ihn aufmerksam an.

»Nun?« sagte Geoffrey »wie ist es damit, lang, kurz oder mittelmäßig?«

»Seht: gut!« sagte Perrh.

»Wie lange denn?«

»Wann, sagten Sie, daß die Dame abreisen würde, Mr. Delamayn?«

»In zwei Tagen.«

»Gut, ich werde Ihnen sagen, wie lange Sie gelaufen sind, wenn die Dame fort ist.«

Geoffrey machte keinen Versuch, auf eine sofortige Antwort zu dringen, sondern lächelte nur schwach. Nach einer Pause von weniger als zehn Minuten streckte er die Beine aus und schloß die Augen.

»Wollen Sie schlafen?« fragte Perry.

Geoffrey öffnete die Augen mit einiger Anstrengung wieder. »Nein,« sagte er. Kaum war die Antwort seinen Lippen entschlüpft, als er die Augen wieder schloß.

»Halloh!« sagte Perry vor sich hin, »das gefällt mir nicht,« und trat näher an den Stuhl heran. Geoffrey war eingeschlafen. Perry ließ einen langen, leisen Pfiff ertönen, beugte sich vorüber und legte zwei Finger sanft auf Geoffrey’s Puls. Der Schlag war langsam und schwach, unzweifelhaft der Puls eines erschöpften Menschen. Der Lehrer wechselte die Farbe und ging im Zimmer auf und ab. Er öffnete einen Schrank und nahm aus demselben sein Tagebuch über die Vorkommnisse der vergangenen Jahre. Die Notizen in Betrefs des letzten Males, wo er Geoffrey zu einem Wettlaufen vorbereitet hatte, waren von der genauesten Vollständigkeit. Er schlug den Bericht über die ersten Versuche, »eine Strecke von tausend Fuß zurückzulegen« auf. Die Zeitdauer war kaum ein bis zwei Secunden länger als heute, aber der Zustand nach dem Laufen war äußerst verschieden. Da stand es mir Perrh’s eigenen Worten: »Puls gut, der Mann vortrefflich gelaunt, bereit, wenn ich es zugelassen hätte, die Strecke noch einmal zu durchlaufen.« —— Perry betrachtete sich denselben Mann, wie er heute, ein Jahr später, vor ihm saß, gänzlich erschöpft und auf seinem Stuhl fest eingeschlafen. Er nahm Feder, Tinte und Papier aus dem Schrank und schrieb zwei Briefe, deren beider Adressen er das Wort »vertraulich« hinzufügte. Der erste Brief war an einen Arzt, eine große Autorität bei den Renn-Lehrern der zweite an Perrys Agenten in London, den er als eine vertrauenswürdige Person kannte, gerichtet. Der Brief beauftragte den Agenten, indem er ihm die strengste Geheimhaltung zur Pflicht tauchte, auf Geoffrey’s Gegner beim Wettrennen eine gleich hohe Summe zu wetten, wie Perry aus Geoffrey selbst gewettet hatte. »Wenn Sie irgend etwas auf ihn gewettet haben,« schloß der Brief, »so machen Sie es wie ich, nehmen Sie sich in Acht und schweigen Sie. Da ist wieder Einer unbrauchbar geworden.« Und mit einem Blick auf den schlafenden Mann sagte er bei sich »Er wird den Wettlauf verlieren.«



Fünfunddreißigstes Kapitel - Die Saat der Zukunft; zweite Aussaat

Und was sagten die meisten Gäste über die Schwäne? Sie sagten: »o, wie viele Schwäne!« und das war Alles was»Leute sagen konnten, die von der Naturgeschichte der Wasservögel nichts wußten.

Und was sagten die Gäste von dem See? Einige sagten: »wie feierlich«, Andere, »Wie romantisch«, wieder Andere aber sagten gar nichts, aber dachten: »Ein trübseliger Anblick.« In diesem Falle traf die Meinung des Haufens wieder einmal das Richtige. Der See lag inmitten eines Tannenwaldes verborgen. Bis auf die Mitte, wo die Sonne das Wasser erreichen konnte, lag der See schwarz unter dem dunkeln Schatten der Bäume da. Die einzige Lichtung in der Tannenpflanzung befand sich an dem untern Ende des See’s; das einzige erkennbare Zeichen seiner Bewegung und seines Lebens war das geisterhafte Hingleiten der Schwäne über die todtenstille Oberfläche des Wassers. »Es war feierlich«, wie einige Ciäste sagten, »es war romantisch«, wie andere sagten, »es war trübselig«, wie andere dachten und nicht sagten.

Die längste Beschreibung würde nichts mehr zu sagen vermögen; enthalten wir uns deshalb jeder weiteren Schilderung. Nachdem die allgemeine Neugierde sich an dem Anblick der Schwäne und des See’s genug gethan hatte, wandten sich die Gäste wieder der Lichtung am untern Ende des See’s zu und bemerkten daselbst einen offenbar künstlichen Gegenstand, der sich in Gestalt eines großen, rothen, zwischen zwei der höchsten Bäume aufgehängten Vorhanges in die Scene eingedrängt hatte und die darüber hinausliegende Aussicht den Blicken entzog. Sie verlangten eine Erklärung des Vorhanges und erhielten von Julius Delamayn zur Antwort, daß das Geheimniß unmittelbar nach dem Eintreffen seiner Frau mit den im Hause zurückgebliebenen Gästen, enthüllt werden solle.

Nach dem Erscheinen von Mrs. Delamayn mit den Nachzüglern stellte sich die ganze Gesellschaft dicht am Ufer des See’s, dem Vorhange gerade gegenüber auf. Julius Delamayn winkte, indem er auf die seidenen Schnüre, die an beiden Enden des Vorhanges herabhingen, zeigte, zwei in der Gesellschaft befindliche kleine Mädchen, die Nichten seiner Frau, zu sich heran. Er bedeutete sie, an den Schnüren zu ziehen und aufzupassen, was es dann geben werde. Die kleinen Kinder zogen mit dem Eifer, den Kinder immer an den Tag legen, wenn es sich um etwas Geheimnißvolles handelt. Der Vorhang ging in der Mitte auseinander und ein lauter Ausruf allgemeinen Erstaunens und Entzückens begrüßte das sich den Blicken darbietende Schauspiel.

Am Ende einer Tannen-Allee breitete ein kühler, grüner Rasenplatz seinen Grasteppich inmitten der umgebenden Anpflanzungen aus. Jenseits des Rasens erhob sich der Boden und hier ließ auf dem ersten Abhang eine liebliche, kleine Fontaine, zwischen grauen alten Granitblöcken ihr Geplätscher vernehmen. Längs der rechten Seite des Rasens stand eine Reihe von Tischen, die mit weißen Servietten und mit Erfrischungen für die Gäste bedeckt waren; an der andern Seite war ein Musikcorps aufgestellt, das in dem Moment, wo der Vorhang auseinander gezogen wurde, seine Weisen zu spielen begann. Wenn das Auge sich von der Tannen-Allee zurückwandte fiel es wieder auf den See, auf dessen Wasser das Sonnenlicht spielte und das Gefieder der dahingleitenden Schwäne in seinem glänzenden Weiß sanft beleuchtete. Das war die reizende Ueberraschung, welche Julius Delamayn seinen Freunden bereitet hatte.

Nur in Momenten wie dieser oder wenn er mit seiner Frau im bescheidenen kleinen Musikzimmer Sonaten spielte, fühlte sich der älteste Sohn Lord Holchester’s äußerst glücklich. Er seufzte im Geheimen über die Pflichten, welche seine Stellung als Landedelmann ihm auferlegte, und er litt schwer unter einem der höchsten Privilegien seines Ranges und seiner Stellung, als unter einem socialen Märtyrerthum der grausamsten Art.

»Jetzt wollen wir zu Tisch gehen nud dann tanzen, das ist das Programm des heutigen Tages. Er ging zu Tisch voran mit den beiden ihm zunächst stehenden Damen, ohne sich im Mindesten darum zu kümmern, ob sie zu den vornehmsten der anwesenden Damen gehörten oder nicht. Zu Lady Lundie’s Erstaunen setzte er sich auch auf den dem Eingange zunächst belegenen Platze, ohne anscheinend irgend welchen Werth darauf zu legen, welchen Platz er bei seinem eigenen Feste einnehme.

Die Gäste folgten seinem Beispiel und setzten sich ebenfalls, ohne nach Vorsitz und Rang zu fragen, wohin es ihnen gefiel. Mrs. Delamayn die immer ein besonderes Interesse für Bräute empfand, nahm Blanche’s Arm. Lady Lundie setzte sich entschlossen an die andere Seite ihrer Wirthin, so daß die drei Damen dicht bei einander saßen.

Mrs. Delamayn that ihr Bestes, um Blanche zum Reden zu ermuntern und Blanche that ihr Möglichstes, die Ermunterung Mrs. Delamayn’s nicht vergeblich erscheinen zu lassen, aber doch gelang der Versuch von beiden Seiten nur kümmerlich, so daß Mrs. Delamayn sich des Gedankens nicht erwehren konnte, daß auf Blanche’s Gemüth etwas Unangenehmes laste, und den Versuch verzweifelnd aufgab, indem sie sich zu Lady Lundie wandte.

Mrs. Delamayn’s Vermuthung war nur zu begründet. Blanche’s Ausbruch schlechter Laune gegen ihre Freundin auf der Terrasse und Blanche’s gegenwärtiger Mangel an Munterkeit und guter Laune waren auf dieselbe Ursache zurückzuführen. Sie verbarg es vor ihrem Onkel und vor Arnold, aber sie war noch so besorgt und unglücklich über Anne wie je und noch immer entschlossen, Sir Patrick mochte sagen und thun was er wollte, die erste Gelegenheit, die Nachforschungen nach ihrer verlorenen Freundin zu erneuern, zu ergreifen.

Inzwischen nahm das Essen und Trinken seinen heitern Fortgang, das Musikcorps spielte seine lustigsten Melodien, und die Diener sorgten dafür, daß die Gläser immer gefüllt waren; an allen Tischen herrschte die ungezwungenste Heiterkeit. Die einzige Unterhaltung, bei welcher die Redenden nicht vollkommen mit einander harmonirten, war die neben Blanche, welche ihre Stiefmutter und Mrs. Delamayn führte.

Unter den Vorzügen Lady Lundie’s nahm die Fähigkeit, unangenehme Entdeckungen zu machen, nicht den letzten Platz ein. Bei der Collation auf dem Rasen verfehlte sie nicht zu bemerken, was alle Uebrigen mit Stillschweigen übergingen, nämlich die Abwesenheit des Schwagers der Wirthin von dem Feste, und noch merkwürdiger, das Verschwinden einer Dame, die für den Augenblick zu den aus längere Zeit weilenden Gästen des Hauses gehörte, mit einem Wort das Verschwinden Mrs. Glenarm’s.

»Irre ich mich«, bemerkte Lady Lundie, indem sie mit ihrer Lorgnette um den Tisch herumsah, »oder fehlt nicht ein Mitglied unserer Gesellschaft? Ich sehe Mr. Geoffrey Delamayn nicht.«

»Geoffrey versprach nachzukommen, aber er ist, wie Sie vielleicht bemerkt haben werden, nicht sehr gewissenhaft in der Erfüllung von Verpflichtungen dieser Art, er opfert Alles seiner Vorbereitung, wir sehen ihn jetzt nur selten.« Nach dieser Antwort versuchte es Mrs. Delamayn, den Gegenstand der Unterhaltung zu verlassen; Lady Lundie aber nahm zum zweiten Mal ihre Lorgnette und sah wieder um den Tisch herum. »Verzeihen Sie«, bemerkte Lady Lundie, aber ist es möglich, daß ich noch einen andern Gast vermiße? Ich sehe Mrs. Glenarm nicht! Sie muß aber doch hier sein. Mrs. Glenarm läßt sich doch nicht für ein Wettlaufen vorbereiten? Sehen Sie sie, ich sehe sie nicht, ich vermißte sie schon als wir auf die Terrasse hinauskamen und habe sie seitdem nicht wiedergesehen, ist das nicht sehr sonderbar liebe Mrs. Delamayn?«

»Unsere Gäste in Swanhaven Lodge haben volle Freiheit zu thun, was ihnen gefällt, Lady Lundie.« Mit diesen Worten hatte Mrs Delamayn, wie sie sich schmeichelte, der Unterhaltung über diesen Gegenstand ein Ende gemacht, aber Lady Lundie’s grenzenlose Neugierde ließ sich selbst durch die deutlichsten Winke nicht irre machen. Höchst wahrscheinlich von der ansteckenden Wirkung der Heiterkeit um sie her fortgerissen, entwickelte Lady Lundie eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit.

Man sollte es nicht für möglich halten, aber es ist nichts desto weniger wahr, daß die majestätische Frau in diesem Augenblick lächelte.

»Darf man eine naheliegende Vermuthung aussprechen?« fragte Lady Lundie in einem scherzenden Ton, der von ihrer sonst so pomphaften Grandezza wunderlich genug alsstach. »Da haben wir auf der einen Seite Mr. Geoffrey Delamayn einen jungen, unverheiratheten Mann und auf der andern Seite haben wir Mrs. Glenarm, eine junge Wittwe. Der junge unverheirathete Mann ist von vornehmer Familie, die junge Wittwe ist reich und beide zu gleicher Zeit geheimnißvoll abwesend von derselben heitern Gesellschaft. O, Mrs. Delamayn, sollte ich mich irren, wenn ich annehme, daß auch Sie binnen Kurzem eine Hochzeit haben werden?«

Mrs. Delamayn’s Gesicht nahm einen etwas) verdrießlichen Ausdruck an. Sie war von ganzem Herzen auf die kleine Verschwörung eingegangen, die man angezettelt hatte, aus Geoffrey und Mrs. Glenarm ein Paar zu machen, aber sie hatte keine Lust, es einzugestehen, daß das rasche Entgegenkommen der Dame, trotz aller Versuche, diese Thatsache zu verbergen es offenbar gemacht hatte, daß die Verschwörung in zehn Tagen zu ihrem Ziele gelangt sei. »Ich bin nicht im Vertrauen der Dame und des Herrn, von dem Sie reden«, antwortete sie trocken.

Ein schwerer Körper ist schwer in Bewegung zu setzen, aber auch schwer wieder zur Ruhe zu bringen, wenn er einmal in Bewegung gebracht ist.

Die etwas schwerfällige Scherzhaftigkeit Lady Lundie’s gehorchte demselben Gesetz, sie beharrte bei ihrer ausgelassenen Heiterkeit. »O, was für eine diplomatische Antwort,« rief sie aus, »ich glaube aber doch, ich kann sie mir deuten. Mein Vögelchen hat mir gesagt, daß ich eine Mrs. Geoffrey Delamayn in London sehen werde und mich würde es wenigstens nicht überraschen, wenn ich in den Fall kommen sollte, Mrs. Glenarm zu gratuliren!«

»Wenn Sie darauf bestehen, sich von Ihrer Einbildungskraft fortreißen zu lassen, Lady Lundie, kann ich Sie nicht daran hindern, ich kann nur um die Erlaubniß bitten, meine Phantasie im Zaume halten zu dürfen.«

Dieses Mal begriff selbst Lady Lundie, daß es klüger sein würde, nichts weiter zu sagen. Sie lächelte und nickte verständnißinnig, höchst zufrieden mit dem von ihr an den Tag gelegten, außerordentlichen Scharfsinn. Wenn man sie in diesem Augenblicke gefragt hätte, wer die geistreichste Frau in England sei, so würde sie innerlich, unbedenklich die Antwort gegeben haben: »Lady Lundie von Windygates.«

Von dem Augenblicke an, wo die Unterhaltung neben ihr sich mit Geoffrey und Mrs. Glenarm zu beschäftigen angefangen hatte und während der kurzen Zeit, wo dieselbe sich um diesen Gegenstand drehte, wurde Blanche eines starken Geruchs nach geistigen Getränken inne, der sich, wie es ihr vorkam, von oben und hinter ihr, in ihrer Nähe verbreitete. Als sie fand, daß der Geruch stärker und stärker wurde, drehte sie sich um, sich zu überzeugen, ob etwa eine Fabrikation von Grog unerklärlicher Weise hinter ihrem Stuhl vorgenommen werde. In dem Augenblick, wo sie sich umdrehte, fielen ihre Augen auf ein Paar zitternder, gichtischer, alter Hände, die ihr eine reichlich mit Trüffeln versehene Geflügelpastete anboten.

»O, meine liebe junge Dame«, flüsterte ihr eine Stimme im Tone der Ueberredung in’s Ohr, »Sie sterben ja in einem Lande des Ueberflusses Hungers. Lassen Sie sich von mir rathen und nehmen Sie von dem besten Gericht, von dieser Geflügelpastete.«

Blanche sah auf; da stand er, der Mann mit dem schlauen Auge, dem väterlichen Wesen und der ungeheuren Nase, Bishopriggs, als wäre er in Spiritus aufbewahrt und —— wartete bei dem Festmahle in Swanhaven Lodge auf. Blanche hatte ihn in jener denkwürdigen Gewitternacht, wo sie Anne im Gasthofe überrascht hatte, nur einen Augenblick gesehen, aber Augenblicke die in Bishopriggs Gesellschaft verbracht waren, prägten sich dem Gedächtniß tiefer ein, als in der Gesellschaft unbedeutender Menschen zugebrachte Stunden. Blanche erkannte ihn auf der Stelle wieder, erinnerte sich sofort, daß Sir Patrick bestimmt erklärt hatte, daß er im Besitz von Anne’s verlorenen Briefe sei, und zog alsbald den Schluß, daß sich ihr mit der Entdeckung Bishopriggs eine Chanee biete, Anne’s Spur zu verfolgen. Ihr erster Gedanke war, ihre Bekanntschaft mit ihm sofort wieder anzuknüpfem aber die auf sie gerichteten Blicke ihrer Nachbarn mahnten sie zu warten. Sie nahm ein wenig von der Pastete und sah Bishopriggs scharf in’s Auge.

Der discrete Mann ließ sich seinerseits durchaus nichts merken, verneigte sich respectvoll und ging mit seiner Schüssel weiter um den Tisch herum.

»Ich möchte wohl wissen ob er den Brief bei sich hat!«

Er hatte nicht nur den Brief bei sich, sondern mehr als das, er war gerade in diesem Augenblick damit beschäftigt, ein Mittel ausfindig zu machen, den Brief vorteilhaft zu verwerthen. Die häuslichen Einrichtungen in Swanhaven Lodge waren nicht der Art, daß eine große Dienerschaft vorhanden gewesen wäre. So oft Mr. Delamayn in den Fall kam, eine große Gesellschaft zu geben, war er in Betreff der Bedienung auf Aushülfe theils von Seiten seiner Freunde, theils aus dem Hauptgasthof in Kirtandrew angewiesen. Bishopriggs, der augenblicklich in Ermangelung einer besseren Stelle als ein überzähliger Kellner in dem dortigen Gasthofe diente, war einer von den Kellnern, die der Gasthof zur Aushülfe bei dem Gartenfeste hergeliehen hatte. Der Name des Herrn bei dem er an diesem Tage aufwarten sollte, hatte ihn sofort frappirt. Er hatte Erkundigungen eingezogen und hatte sich dann behufs weiterer Nachforschungen wieder mit dem Brief beschäftigt, den er von dem Boden des Gastzimmers in Craig-Fernie aufgenommen hatte. Der von Anne verlorene Briefbogen enthielt, wie sich der Leser erinnern wird, zwei Briefe, einen von ihr selbst und einen von Geoffrey unterschriebenen, und beide enthüllten Beziehungen zwischen den Schreibenden, die nicht für das Auge eines Fremden bestimmt waren. Bishopriggs hielt demnach für möglich, daß sich ihm, wenn er Augen und Ohren in Swanhaven Lodge offen hielt, eine Aussicht darbieten möchte, ein Geschäft mit der gestohlenen Correspondenz zu machen, und steckte den Brief, als er Kirkandrew verließ, in die Tasche.

Er hatte Blanche sofort als eine Freundin der Dame im Gasthof zu Craig-Fernie erkannt und sich gesagt, daß man sie vielleicht in dieser Eigenschaft würde verwerthen können, überdies hatte er jedes Wort der Unterhaltung mit angehört, welche Lady Lundie und Mrs. Delamayn in Betreff Geoffrey’s und Mrs. Glenarm geführt hatten. Es hatte noch gute Weile, bis die Gäste sich zurückziehen und die Kellner entlassen werden würden. Bishopriggs hielt sich daher zu der Hoffnung berechtigt, daß er noch Grund haben werde, sich zu dem glücklichen Zufall, der ihn mit den Festlichkeiten in Swanhaven Lodge in Verbindung gebracht hatte, zu gratuliren.

Es war noch früh am Nachmittage, als die heitere Stimmung an einigen Stellen des Eßtisches nachzulassen begann. Die jüngeren Mitglieder der Gesellschaft, namentlich die Damen, wurden beim Erscheinen des Desserts unruhig. Einer nach dem andern warf sehr verlangende Blicke auf den elastischen Rasen der vor ihnen liegenden Waldwiese. Einer nach dem andern schlug gedankenlos mit den Fingern den Takt zu dem Walzer welchen die Musiker gerade spielten. Als Mrs. Delamayn diese Symptome der Ungeduld gewahr wurde, erhob sie sich vom Tisch, und ihr Mann entsandte eine Botschaft an das Musikcorps. Zehn Minuten später war die erste Quadrille auf dem Rasen im Gange, die Zuschauer waren malerisch gruppirt und die Diener und Kellner, deren man nicht mehr bedurfte, hatten sich zurückgezogen um nun auch ihrerseits den Freuden der Tafel obzuliegen. Die letzte Person, die sich noch am verlassenen Tische zu thun machte, war der ehrwürdige Bishopriggs. Er allein von allen Aufwärtern hatte es möglich gemacht, den Anschein des Aufwartens, mit der heimlichen Befriedigung seines persönlichen Bedürfnisses nach Erfrischungen zu verbinden. Anstatt mit den übrigen Kellnern der Mahlzeit der Diener zuzueilen, ging er um die Tische herum, anscheinend mit dem Wegräumen der Krumen, in der That aber mit dem Leeren der Weingläser beschäftigt. Ganz hingenommen von diesem Geschäft, bemerkte er nicht eher etwas von den herannahenden Schritten einer Dame, als bis er durch die hinter ihm ertönende Stimme derselben aufgeschreckt wurde. Er kehrte sich, so rasch es ihm möglich war, um und sah Miß Lundie vor sich.

»Ich möchte ein Glas frisches Wasser haben«, sagte Blanche, »wollen Sie so gut sein, mir eines von der Quelle zu holen?« und dabei deutete sie auf die am anderen Ende der Lichtung hervorsprudelnde Quelle.

Auf Bishopriggs Gesicht malte sich ein ungeheucheltes Entsetzen »Um Gotteswillen Fräulein« rief er aus, »Sie wollen doch Ihren Magen nicht mit kaltem Wasser beschweren, wenn Wein in Fülle vorhanden ist?«

Blanche warf ihm einen bedeutungssvollen Blick zu.

Langsame Fassungskraft gehörte nicht zu Bishopriggs Schwächen; er ergriff sofort ein Glas, zwinkerte mit seinem einen, sehenden Auge und ging Blanche voran nach der Quelle. Es hatte nichts Auffallendes, daß eine Dame ein Glas Quellwasser verlangte oder daß ein Diener es für sie schöpfte; Niemand nahm daher Anstoß daran und bei dem Spiel des Musikcorps konnte auch Niemand von dem, was an der Quelle gesprochen wurde, etwas hören.

»Erinnern Sie sich meiner von der Gewitternacht im Gasthofe zu Craig-Fernie her?« fragte Blanche.

Bishopriggs hatte gute Gründe, sich nicht zu rasch mit Blanche einzulassen. »Ich sage nicht, daß ich mich Ihrer nicht erinnern kann, Fräulein; welcher Mann möchte einer so hübschem jungen Dame, wie Sie es sind, eine solche Antwort geben.«

Um seinem Gedächtniß zu Hülfe zu kommen, zog Blanche ihre Börse aus der Tasche.

Bishopriggs vertiefte sich in den Anblick der Landschaft und des Wassers, das er als Getränk so gründlich verachtete. »Da läufst Du hin«, sagte er, das Flüßchen anredend, das aus der Quelle entsprang, »deiner eignen Vernichtung in dem See da entgegen eilend; in deinem jetzigen Zustande ist, soviel ich weiß, wenig Gutes an Dir. Du sollst ein Bild des menschlichen Lebens sein, sagen sie, das ist aber nicht wahr. Du bist gar nichts, bis du durch Feuer erwärmt, durch Zucker versüßt und durch Whisky gekräftigt bist und dann bist du Toddy und in dieser Gestalt hat das menschliche Leben allerdings einige Beziehungen zu dir.«

»Seit ich den Gasthof verlassen habe«, fuhr Blanche fort, »habe ich mehr von Ihnen gehört, als Sie vielleicht vermuthen; und bei diesen Worten öffnete sie ihre Börse.

Bishopiggs war ganz Ohr.

»Sie waren sehr freundlich gegen eine Dame in Craig-Fernie«, fuhr sie ernst fort, »ich weiß, daß Sie Ihre Stelle im Gasthofe eingebüßt haben, weil Sie sich zu ausschließlich dieser Dame widmeten, und diese Dame ist meine theuerste Freundin, Mr. Bishopriggs; ich möchte Ihnen dafür danken und Sie bitten, dies von mir anzunehmen.« Das ganze Herz des Mädchens lag in ihrer Stimme und ihren Augen, während sie ihre Börse in die gichtische und gierige Hand des alten Bishoprigg’s leerte.

Ein junges Mädchen mit einer wohlgefüllten Börse ist eine in der ganzen Welt nicht oft vorkommende Erscheinung. In der Regel haben sie, sie mögen übrigens noch so reich seist, all ihr Geld ausgegeben oder doch ihre Börse auf dem Toilettentisch liegen lassen. Blanche’s Börse enthielt einen Sovereign und sechs oder sieben Schillinge in Silber. Als Taschengeld für eine reiche Erbin war dies nicht eben viel, aber als ein Trinkgeld für Bishopriggs war es splendid. Der alte Spitzbube steckte das Geld mit der einen Hand in die Tasche und wischte sich die Thränen der Rührung, die er nicht vergossen hatte, mit der anderen aus den Augen. »Werft Euer Brod in’s Wasser und Ihr werdet es nach vielen Tagen wieder finden!« rief Bishopriggs, das eine Auge fromm gen Himmel gerichtet. »Ja, ja! sagte ich nicht, als ich zuerst jene arme Dame sah, ich fühle wie ein Vater für sie? Es ist wahrhaft merkwürdig, zu sehen, wie die guten Handlungen eines Menschen, ihm schon in dieser Erdenwelt vergolten werden. Wenn ich jemals die Stimme natürlicher Zuneigung in meiner Brust habe reden hören«, fuhr Bishopriggs fort, indem er sein Auge lauernd auf Blanche gerichtet hielt, »so hat sie sich mit Posaunenton in mir vernehmen lassen, als jenes reizende Wesen mich zuerst anredete. Hat sie selbst Ihnen von den geringfügigen Diensten erzählt, die ich ihr zu der Zeit leistete, wo ich in der Sklaverei des Hotels stand?"

»Ja, sie hat es mir selbst erzählt.«

»Dürfte ich es wagen, zu fragen, wo sie sich gegenwärtig aufhält?«

»Das weiß ich nicht, Mr. Bishopriggs, und gerade das macht mich unglücklicher als ich sagen kann. Sie ist fort, und ich weiß nicht wohin!«

»O, o, das ist schlimm und das Ding von einem Ehemann der da einen Tag auf ihrer Schleppe herumtrat und am nächsten Morgen mit Sonnenaufgang sich davon machte, sind sie beide zusammen fortgegangen?«

»Ich weiß nichts von ihm«, erwiderte Blanche, »ich habe ihn nicht gesehen, aber Sie haben ihn gesehen, erzählen Sie mir doch, wie er aussah.«

»Er war ein armseliger schwacher Patron, verstand sich nicht auf ein gutes Glas Sherry, freigebig mit Geld war er, das ist Alles, was man von ihm sagen kann!«

Als Blanche sah, daß es unmöglich sei, von dem Alten irgend eine deutliche Schilderung des Mannes, der mit Anne im Gasthofe gewesen war, zu erhalten, rückte sie dem Hauptgegenstande ihrer Besprechung mit Bishopriggs näher. In ihrer ängstlichen Besorgniß, keinc Zeit zu verlieren, brachte sie ohne Weiteres das Gespräch auf das delicate und kitzliche Thema des verlorenen Briefes. »Ich habe Ihnen noch etwas Anderes zu sagen«, fing sie wieder an, »Meine Freundin hat etwas verloren, während sie im Gasthofe war.«

Die Wolken des Zweifels schwanden von Bishopriggs Gemüth. Die Freundin der Dame wußte also von dem verlornen Brief und noch besser, die Freundin der Dame sah aus, als wolle sie den Brief gern haben.

»Ja, ja!« sagte er, mit allem erforderlichen Anschein von Sorglosigkeit. Das ist wahrscheinlich genug, von der Wirthin abwärts geht es ja im Hotel, seit ich fort bin, alles darüber und drunter. Was hat sie denn verloren?«

»Einen Brief.«

Bishopriggs Auge nahm wieder den Ausdruck lauernder Beobachtung an. Es war für ihn, von seinem Standpunkte aus, eine sehr ernste Frage, ob sich an das Verschwinden des Briefes ein Verdacht des Diebstahls knüpfte.

»Wenn Sie »verloren« sagen, meinen Sie damit gestohlen?«

Blanche war scharfsinnig genug, sofort zu begreifen, daß es nothwendig sei, ihn über diesen Punkt zu beruhigen. »O nein!« antwortete sie, »nicht gestohlen, nur verloren; haben Sie etwas davon gehört?«

»Wie so sollte ich davon gehört haben?« Er sah Blanche scharf an und entdeckte ein augenblickliches Zaudern in ihren Blicken. »Bitte, sagen Sie mir das, liebes Fräulein,« fuhr er fort, indem er vorsichtig der entscheidenden Frage näher trat. »Wenn Sie nach Nachrichten über den verlorenen Brief Ihrer Freundin forschen was bestimmt Sie, sich deshalb an mich zu wenden?«

Diese Worte waren entscheidend. Es ist kaum zu viel gesagt, daß Blanche’s Zukunft von ihrer Antwort auf diese Frage abhing. Wenn sie so viel Geld bei sich gehabt hätte und wenn sie gerade heraus gesagt hätte: »Sie haben den Brief, Mr Bishopriggs, ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß kein Mensch Sie weiter darnach fragen soll und ich biete Ihnen zehn Pfund für den Brief«, so würde der Handel aller Wahrscheinlichkeit nach abgeschlossen und in diesem Fall der ganze Lauf der künftigen Ereignisse verändert worden sein. Aber Blanche hatte kein Geld mehr bei sich und in dem Kreise der Gäste von Swanhaven Lodge war Niemand, an den sie sich, ohne sich arger Mißdeutungen auszusetzen, mit der Bitte hätte wenden können, ihr aus der Stelle zehn Pfund im Geheimen zu leihen. Unter dem Drang der gebieterischen Nothwendigkeit gab Blanche alle Hoffnung auf, gegenwärtig an Bishopriggs pecuniäres Interesse zu appelliren, der einzige Weg, ihren Zweck zu erreichen, den sie vor sich sah, war, sich mit dem Einfluß von Sir Patrick’s Namen zu waffnen. Ein Mann an ihrer Stelle würde es für reine Tollheit gehalten haben, so etwas zu wagen, aber Blanche, die sich schon eine unüberlegte Handlung vorzuwerfen hatte, stürzte sich wie ein echtes Weib kopfüber in eine andere Unvorsichtigkeit. Derselbe unüberlegte Eifer, ihren Zweck zu erreichen, der sie dazu gedrängt hatte, Geoffrey, bevor er Windygates verließ, zu befragen, trieb sie fest, ebenso unüberlegt die Verhandlung mit Bishopriggs, den geschickten und erfahrenen Händen Sir Patricks zu entwinden. Die sehnsüchtige schwesterliche Liebe in ihr dürstete nach einer Spur von Anne, ihr Herz flüsterte ihr zu: »wage es!« und —— Blanche wagte es. »Sir Patrick hat mich veranlaßt, zu Ihnen zu gehen«, sagte sie.

Die eben geöffnete Hand Bishopriggs, die bereit war den Brief herauszugeben und die Belohnung dafür zu empfangen, schloß sich auf der Stelle wieder, als Blanche diese Worte aussprach.

»Sir Patrick?« wiederholte er, »o, o, also Sir Patrick haben Sie von der Sache erzählt, so? Das ist ein Herr, der das Gras wachsen hört. Was hat denn Sir Patrick gesagt?«

Blanche bemerkte die Veränderung in Bishopriggs Ton und nahm sich nun, als es zu spät war, auf das Aeußerste zusammen, ihm in vorsichtigen Ausdrücken zu antworten. Sir Patrick«, sagte sie, meinte, Sie könnten den Brief vielleicht gefunden und sich der Sache nicht eher wieder erinnert haben, als bis Sie den Gasthof verlassen hätten.«

Bishopriggs ließ die persönlichen Erfahrungen, die er seiner Zeit an seinem alten Herrn gemacht hatte, im Geiste die Revue passiren und gelangte dabei zu dem vollkommen richtigen Schluß, daß Sir Patricks Ansicht über seine Beziehungen zu dem verschwundenen Briefe, keineswegs so unschuldiger Natur sei, wie Blanche ihm glauben machen wollte. »Der schlaue, alte Fuchs«, dachte er bei sich, »kennt mich besser.«

»Nun?« fragte Blanche ungeduldig, »hatte Sir Patrick Recht?«

»Recht?« erwiderte Bishopriggs rasch, »er ist so weit von der Wahrheit entfernt, wie Sie von Amerika!«

»Sie wissen nichts von dem Briefe?«

»Von dem Brief?« erwiderte er, »was Sie mir darüber sagen ist das Erste, was ich höre?«

Blanche sank der Muth. Hatte sie selbst ihren Zweck vereitelt und zum zweiten Male Sir Patrick den Boden unter den Füßen weggezogen, das war doch nicht möglich! Hier war doch gewiß noch Aussicht vorhanden, daß der Mann vermocht werden konnte, ihrem Onkel das Vertrauen zu schenken, das er zu vorsichtig war einer Fremden zu gewähren. Das einzig Richtige, was ihr nach ihrer Ueberzeugung jetzt noch zu thun übrig blieb, war, den Weg für die Geltendmachung von Sir Patricks überlegenen Einfluß und Sir Patricks überlegene Geschicklichkeit zu bahnen. Mit diesem Zweck im Auge nahm sie die Unterhaltung wieder auf.

»Es thut mir leid, daß Sir Patrick sich in seiner Annahme geirrt hat«, fing sie wieder an. »Meine Freundin wünschte, als ich sie zuletzt sprach, sehnlichst wieder in den Besitz des Briefes zu gelangen, und ich hoffte, von Ihnen etwas darüber hören zu können. Ganz abgesehen davon wünscht Sir Patricks, Sie zu sprechen, und ich benutze diese Gelegenheit, es Ihnen zu sagen. Er hat in dem Gasthof von Craig-Fernie einen Brief für Sie zurückgelassen.«

»Der Brief wird lange genug zu warten haben, wenn er wartet bis ich wieder nach dem Hotel gehe«, erwiderte Bishopriggs.

»In diesem Fall,« entgegnete Blanche rasch, »thäten Sie besser, mir eine Adresse anzugeben, unter welcher Sir Patrick Ihnen schreiben kann. Sie wollen doch nicht, daß ich ihm sage, daß ich Sie hier gesehen habe und daß Sie sich weigerten, mit ihm in Verbindung zu treten.«

»Wie können Sie das auch nur denken, mein Fräulein!« rief Bishopriggs eifrig. »Wenn es etwas giebt, woran ich es um keinen Preis fehlen lassen möchte, so ist es die ehrfurchtsvolle Bereitwilligkeit, Sir Patrick in Allem zu dienen. Ich nehme mir die Freiheit, mein Fräulein, Sie mit dieser kleinen Karte zu belästigen. Es ist traurig genug für mich, in meinem Alter noch nirgends wieder fest etablirt zu sein, aber hier kann Sir Patrick, wenn er meiner bedarf, jederzeit von mir hören.« Dabei reichte er Blanche eine kleine schmutzige Karte, auf der der Name und die Adresse eines Fleischers in Edinburgh stand. »Samuel Bishopriggs«, fuhr er in geschmeidigem Tone fort, »Adresse David Dow, Fleischer Cowgate, Edinburgh. Das ist jetzt mein Patmos, mein Fräulein.«

Blanche fühlte sich, als sie die Karte aus Bishoprigg’s Händen entgegennahm, unaussprechlich erleichtert. Wenn sie sich zum zweiten Mal erlaubt hatte, Sir Patrick’s Stelle zu übernehmen und es ihr wieder nicht gelungen war, ihre Unvorsichtigkeit durch das Resultat zu rechtfertigen, so hatte sie doch dieses Mal die Sache wenigstens dadurch wieder gut gemacht, daß sie ein Mittel aufgefunden hatte, Bishopriggs mit ihrem Onkel in Verbindung zu setzen.

»Sie werden von Sir Patrick hören«, sagte sie, nickte ihm freundlich zu und ging wieder zu den Gästen zurück.

Ich werde von Sir Patrick hören? So, werde ich?« wiederholte Bishopriggs, als er allein war. »Sir Patrick muß nicht weniger als ein Wunder verrichten, wenn er Samuel Bishopriggs in Cowgate in Edinburgh findet.« Er lächelte selbst vergnügt über seine Schlauheit und zog sich an eine einsame Stelle in der Tannenanpflanzung zurück, wo er den gestohlenen Brief einer genauen Prüfung unterziehen konnte, ohne fürchten zu müssen, von irgend einem lebenden Wesen beobachtet zu werden.

Noch einmal hatte die Wahrheit vor dem Hochzeitstage an’s Licht zu dringen gestrebt und noch einmal hatte Blanche unschuldigerweise der Dunkelheit geholfen, die Wahrheit dem Lichte vorzuenthalten.



Sechsunddreißigstes Kapitel - Die Saat der Zukunft; dritte Aussaat

Nachdem Bishopriggs die Correspondenz zwischen Geoffrey und Anne aufs Neue aufmerksam durchgelesen hatte, legte er sich behaglich unter einen Baum und beschäftigte sich damit, über seine gegenwärtige Lage nachzudenken. Die vorteilhafte Verwerthung des Briefes bei Blanche, gehörte nicht mehr zu den vorhandenen Möglichkeiten. Was die Verhandlung mit Sir Patrick anlangte, so beschloß Bishopriggs sich ebenso fern von Cowgate in Edinburgh wie von Mrs. Inchbare’s Gasthof zu halten, so lange noch die leiseste Hoffnung für ihn vorhanden war, seinen Zweck auf andere Weise zu erreichen. Er wußte, daß kein Mensch den Brief so sicher und unter so erbärmlich billigen Bedingungen von ihm herauszupressen im Stande sein würde, wie sein alter Herr »Ich will mich nicht unter Sir Patricks Daumen bringen,« dachte Bishopriggs, »bis ich es erst mit allen Uebrigen versucht habe.« Wer aber waren die übrigen Personen, die ihm unter diesen Umständen zur Verfügung standen? Er brauchte sich nur der Unterhaltung zwischen Lady Lundie und Mrs. Delamayn, die er bei Tisch mit angehört hatte, zu erinnern, um zunächst zu der Entdeckung wenigstens einer Person zu gelangen, die direct dabei interessirt war, in den Besitz seines Briefes zu kommen. Mr. Geoffrey Delamayn war im Begriff, sich mit einer Dame Namens Mrs. Glenarm zu verheirathen und dieser selbe Mr. Geoffrey Delamayn hatte vor noch nicht vierzehn Tagen, eine für ihn höchst compromittirende Correspondenz mit einer Dame geführt, die sich Anne Silvester unterschrieb.

Welcher Art auch die Stellung dieses Herrn zu den beiden Damen sein mochte, so war es augenscheinlich von höchstem Interesse für denselben, in den Besitz dieses Briefes zu gelangen. Es war also klar, daß das erste, was Bishopriggs zu thun hatte, darin bestand, auf Mittel bedacht zu sein, sich eine persönliche Zusammenkunft mit Geoffrey Delamayn zu verschaffen. Wenn eine solche Zusammenkunft auch zu nichts anderem führte, so würde sie ihm doch ebenfalls zu der Lösung einer wichtigen Frage verhelfen. Die Dame, der Bishopriggs in Craig-Fernie aufgewartet hatte, konnte sehr wohl Anne Silvester sein; war in diesem Fall Mr. Geoffrey Delamayn der Herr, der als ihr Mann im Gasthof gegolten hatte?

Bishopriggs stellte sich mit der größtmöglichen Raschheit wieder auf seine gichtischen Füße und humpelte davon, um die nöthigen Erkundigungen in Betreff der Person des Mr. Delamayn einzuziehen und zwar nicht bei den männlichen Aufwärtern, die darauf bestehen würden, daß er sich zu ihnen geselle, sondern bei den weiblichen Dienstboten, die zur Aufsicht über das leere Hans zurückgelassen waren. Hier wies man ihn alsbald nach dem Häuschen im Walde, machte ihn aber darauf aufmerksam, daß Mr. Geoffrey Delamahy’s Lehrer Niemandem gestatte, den Uebungen seines Patrons zuzusehen und daß man ihn, sobald er sich blicken ließe, ohne Weiteres sofort wieder wegschicken würde. Dieser Mahnung zur Vorsicht wohl eingedenk, machte Bishopriggs, um zu dem Häuschen zu gelangen, einen Umweg, so daß er, unter dem Schutz der hinter dem Häuschen liegenden Bäume, an die Rückseite desselben gelangte. Ein Blick ans Mr. Geoffrey Delamayn war zunächst Alles, was er wollte; wenn er das erlangt hatte, so mochten sie ihn in Gottes Namen wieder wegschicken. Er stand noch zaudernd unter den hinter dem Häuschen liegenden Bäumen, als er eine laute, befehlende Stimme von der vorderen Seite des Hauses her vernahm: »Nun Mr. Geoffrey, es ist Zeit!« Eine andere Stimme antwortete, »Gut!« und nach einer Pause erschien Geoffrey Delamayn auf dem freien Platz und ging auf die Stelle los, von der aus er gewohnt war, seine abgemessene Meile zu laufen. Bishopriggs, der ein paar Schritte weiter vorgegangen war, um sich seinen Mann etwas genauer anzusehen, wurde auf der Stelle von den scharfen Augen des Lehrers entdeckt.

»Halloh!« rief Perry, »was wollen Sie hier?«

Bishopriggs öffnete den Mund, um seine Entschuldigung auszusprechen.

»Wer zum Teufel seid Ihr?« schrie Geoffrey.

Der Lehrer« beantwortete die Frage aus seiner eigenen Erfahrung: »ein Spion, Herr, um Sie bei Ihrer Arbeit zu beobachten.«

Geoffrey erhob seine gewaltige Faust und sprang einen Schritt vorwärts.

Perry aber hielt seinen Patron zurück. »Das dürfen Sie nicht thun, der Mann ist zu alt; seien Sie unbesorgt, der kommt nicht wieder, Sie haben ihm einen furchtbaren Schrecken eingejagt.« Und das war vollkommen wahr. Der Schreck, den Bishopriggs bei dem Anblick von Geoffrey’s Faust empfand, gab ihm die Spannkraft der Jugend wieder. Er lief zum ersten Mal seit zwanzig Jahren und stand, von seinen lahmen Füßen gemahnt, erst wieder still, um Athem zu schöpfen, als er außer Sicht des Häuschens wieder unter den Bäumen angelangt war. Er setzte sich nieder, um auszuruhen und sich zu erholen, mit der tröstlichen Ueberzeugung, daß er wenigstens in einer Beziehung seinen Zweck erreicht habe. Der wüthende Wilde mit den funkensprühenden Augen und der Vernichtung drohenden Faust war ihm vollkommen fremd, mit anderen Worten, er war nicht der Mann, der sich für den Gatten der Dame im Gasthofe zu Craig-Fernie ausgegeben hatte. Aber ebenso gewiß war es, daß er der Mann war, der in die compromittirende Correspondenz, die Bishopriggs in Händen hatte, verwickelt war. Indessen erschien der Versuch, das Interesse, das dieser Mann haben mußte, in den Besitz des Briefes zu gelangen, zu seinem Vorteil auszubauen, nach der eben von Bishopriggs gemachten Erfahrung, vollkommen unvereinbar mit der hohen Achtung, die er für seine eigene Sicherheit empfand. Es blieb ihm also nichts übrig, als eine Unterhandlung mit der einzigen augenblicklich für ihn erreichbaren Person zu eröffnen, die noch außer Geoffrey bei der Sache interessirt war, und diese Person gehörte glücklicherweise zum schwächern Geschlecht. Mrs. Glenarm war in Swanhaven Lodge, sie hatte ein directes Interesse daran, die Frage eines frühern Anspruches eines andern Frauenzimmers an Mr. Geoffrey Delamayn aufgeklärt zu sehen, und sie konnte das nur, indem sie sich in den Besitz der betreffenden Correspondenz setzte. »Gelobt sei Gott für alle seine Gnade,« sagte Bishopriggs, indem er wieder aufstand, »ich kann jetzt zwei Hebel ansetzen und ich glaube, die Dame ist ein angenehmer Hebel, wir wollen erst mit ihr versuchen.« Sofort machte er sich wieder auf den Weg nach dem See, um unter den dort anwesenden Gästen nach Mrs. Glenarm zu suchen.

Die animirte Stimmung der Gesellschaft hatte ihren Höhepunkt erreicht, als Bishopriggs wieder auf dem Schauplatz erschien, und die Zahl der Gäste hatte sich während seiner Abwesenheit gerade um die eine Person vermehrt, der sich zu nähern jetzt sein Hauptzweck war. Mit demüthiger Ergebenheit ließ er sich einen Vorwurf wegen seiner langen Abwesenheit von dem ersten Aufwärter gefallen, beobachtete aber mit seinem einen sehenden Auge fortwährend scharf und machte sich mit dem Umherreichen von Eis und kalten Getränken zu thun. Während er so beschäftigt war, wurde seine Aufmerksamkeit auf zwei Personen gelenkt, die in sehr verschiedener Weise offenbar zu den distinguirtesten unter den anwesenden Gästen gehörten. Die eine war ein lebhaftem aufgeregter, alter Herr, der die unleugbare Thatsache seiner sehr gereiften Jahre hartnäckig, wie ein von der Zeit in Umlauf gesetztes verleumderisches Gerücht behandeln. Er war auf das sorgfältigste geschnürt und wattirt, seine Haare, feine Zähne waren Triumphe der Kunst. Wenn er sich nicht, wie es am meisten der Fall war, mit den jüngsten unter den anwesenden Damen beschäftigte, so bewegte er sich ausschließlich im Kreise der jüngsten Herren. Er versäumte keinen Tanz; zwei Mal kam er dabei der Länge nach auf dem Rasen zu liegen, ließ sich aber dadurch nicht irre machen und tanzte sofort wieder den nächsten Walzer mit einer andern jungen Dame, als ob nichts vorgefallen wäre. Auf seine Frage, wer dieser alte, feurige Herr sei, erfuhr Bishopriggs, daß es ein bei seinen Untergebenen unter dem Namen, »der Tartar« bekannter Marine-Offizier außer Diensten sei, der mit seinem wirklichen Namen »Capitain Newenden« heiße und der letzte männliche Repräsentant einer der ältesten Familien England’s sei. Die zweite Person, die bei dem Ball auf der Waldwiese eine hervorragende Rolle zu spielen schien, war eine Dame. Für Bishoprigg’s Auge war sie ein Wunder von Schönheit, und trug an Seide, Spitzen und Edelsteinen ein kleines Vermögen mit sich herum. Keine der anwesenden Damen war der Gegenstand so ausgesuchter Aufmerksamkeiten von Seiten der Herren, wie dieses bezaubernde Wesen. Sie saß da und fächelte sich mit einem Meisterwerk der Kunst, welches aus einer kleinen Insel von Battist inmitten eines Oceans von Spitzen bestand und die Prätention hatte, ein Taschentuch zu sein. Sie war von einem kleinen Hofstaat von Bewunderern umgeben, die auf ihren leisesten Wink hin eilten, etwas für sie fortzutragen oder herbeizuholen wie gut dressirte Hunde. Bald brachten sie ihr Erfrischungen, die sie nur verlangt hatte, um sie gleich darauf zurück zugeben; bald gaben sie ihr Auskunft über das, was unter den Tänzern vorging, eine Auskunft, nach der sie eifrig verlangt hatte, als sie ihre Boten entsandte, ander sie aber nicht das leiseste Interesse mehr nahm, sobald die Boten zurückkamen. Die ganze Gesellschaft erging sich in den überschwänglichsten Ausdrücken der Theilnahme, wenn sie, um die Ursache ihrer Abwesenheit vom Diner befragt, antwortete: »Ach, meine Nerven,« und Alle erklärten, wenn sie dann ihre Bedenken äußerte, ob sie Recht gethan habe, überall noch in der Gesellschaft zu erscheinen: »Was würden wir ohne Sie angefangen haben?« Auf seine fernere Frage, wer diese bevorzugte Dame sei, erfuhr Bishopriggs, daß sie die Nichte des unwiderstehlichen alten Herrn, das heißt keine geringere sei, als die von ihm so ungeduldig gesuchte Mrs. Glenarm. Trotz seiner außerordentlichen Zuversichtlichkeit war Bishopriggs doch in Verlegenheit, als er sich die Frage verlegen mußte, was er zunächst zu thun habe. Unter den gegenwärtigen Umständen, Unterhandlungen mit Mrs. Glenarm zu eröffnen, war für einen Mann in seiner Stellung durchaus unmöglich. Aber abgesehen davon, war auch die Aussicht; sich in Zukunft dieser Dame in Gewinn bringender Weise zu nähern, gelinde gesagt, von nicht geringen Schwierigkeiten umgeben. Angenommen, er fände ein Mittel, sie über Geoffrey’s Stellung aufzuklären, was würde sie, nachdem sie seine Warnung erhalten hätte, voraussichtlich thun? Sie würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach, an einen der beiden Männer wenden, die ihr am Nächsten standen. Wenn sie sich direct an den Mann wandte, der von ihm beschuldigt wurde, sich mit ihr verheirathen zu wollen, während er bereits mit einem andern Frauenzimmer verlobt war, so würde sich Bishopriggs dem Besitzer der fürchterlichen Faust gegenüber finden, die ihm selbst bei einer entfernten und vorübergehenden Begegnung gerechten Schrecken eingejagt hatte. Wenn sie andererseits ihr Interesse in die Hände ihres Onkels legte, so brauchte Bishopriggs sich den Capitain nur anzusehen, um sich über seine Chance klar zu werden, einem Mann Bedingungen aufzuerlegen, der trotz seiner sechzig Jahre die Welt mit jugendlichen Blicken herausforderte, die Spuren der Zeit an ihm zu entdecken. Was war diesen großen Schwierigkeiten gegenüber zu thun? Das Einzige was ihm zu thun übrig blieb, war, sich Mrs. Glenarm unter dem Schutze der Anonymität zu nähern. In dieser Ueberzeugung beschloß Bishopriggs sich von den Dienstboten Gewißheit darüber zu verschaffen, wohin die Dame sich, von Swanhaven Lodge aus, zunächst zu begeben beabsichtige und nachdem er das erfahren haben würde, sie in anonymem durch die Post beförderten Warnungen auf welche eine Antwort in dem Annoncentheil einer Zeitung erbeten würde, zu reizen. Auf diese Weise würde er seinen Zweck, sie zu beunruhigen, vollkommen erreichen, ohne selbst die mindeste Gefahr zu laufen.

Mrs Glenarm ließ es sich nicht träumen, als ihr einfiel, einen mit Erfrischungen an ihr vorübergehenden Diener anzuhalten, daß der armselige, alte Bursche, während sie ein Glas Limonade von seinem Präsentirbret nahm, darauf bedacht war, vor Ablauf der Woche in der doppelten Eigenschaft »eines Freundes der es gut mit ihr meine« und »eines wahren Freundes« mit ihr in Correspondenz zu treten.

Der Abend rückte vor, immer länger wurden die Schatten der Bäume, immer schwärzer wurde das Wasser des See’s und immer gespenstischer glitten die Schwäne über dasselbe dahin.

Die älteren Gäste dachten daran, nach Hause zu fahren, die jüngeren fingen —— mit Ausnahme von Capitain Newenden —— an, des Tanzens müde zu werden; allmälig übten die Reize des Hauses, seine comfortablen Räume mit ihrem Kerzenlicht und die dort gereichten Getränke, Thee und Kaffee, wieder ihre Macht aus. Einer nach dem Andern, verließen die Gäste die Waldwiese und endlich konnten die armen Musikanten ihren so lange angestrengten Lungen und Fingern wieder Ruhe gönnen.

Lady Lundie mit ihrer Gesellschaft war die Erste, die nach ihrem Wagen verlangte und sich empfahl, indem sie den am nächsten Tage bevorstehenden Aufbruch des ganzen Hanshaltes von Windygates, als Entschuldigungsgrund dafür geltend machte, daß sie mit dem Beispiel des Rückzugs vorangehe.

Eine Stunde später waren die auf längere Zeit zum Besuch in Swanhaven Lodge Weilenden, die einzigen noch übrigen Gäste. Nachdem die Gesellschaft fort war, wurden die gemietheten Kellner von Kirkandrew bezahlt und entlassen.

Auf der Rückfahrt rief das Schweigen Bishopriggs einiges Erstaunen bei seinen Collegen hervor.

»Ich habe an meine eigenen Angelegenheiten zu denken,« lautete die einzige Antwort, mit der er den ihm gemachten Vorstellungen begegnete. Die eigenen Angelegenheiten«, auf die er anspielte, begriffen unter andern Veränderungen seines Planes, auch seine Abreise von Kirkandrew am nächsten Tage, mit Hinterlassung der für vorkommende Fälle bestimmten Adresse bei seinem Freunde in Cowgate, Edinburgh, in sich. Sein nächster Bestimmungsort, den er aber vor Jedermann geheim zu halten gedachte, war Perth.

Die Umgegend dieser Stadt war, nach der Versicherung ihres eigenen Kammermädchens, der Theil von Schottland, nach welchem sich die reiche Wittwe, in zwei Tagen von Swanhaven Lodge aus, zu begeben beabsichtigte. In Perth kannte Bishopriggs mehr als ein Haus, in welchem er darauf rechnen konnte, vorübergehende Beschäftigung zu finden, und von Perth aus wollte er seine ersten anonymen Mittheilungen an Mrs. Glenarm gelangen lassen.

Der Rest des Abends verging sehr ruhig in Swanhaven Lodge. Die Hausgenossen waren nach den Aufregungen des Tages schläfrig und abgespannt. Mrs. Glenarm zog sich zeitig auf ihre Zimmer zurück. Um elf Uhr Abends war Julius Delamayn die einzige noch wachende Person im Hause. Man glaubte ihn in seinem Arbeitszimmer damit beschäftigt, eine Adresse an seine Wähler, in Gemäßheit der ihm von London aus von seinem Vater zugegangenen Instructionen zu entwerfen. In Wahrheit aber spielte er fest, wo ihn Niemand verrathen konnte, im Musikzimmer Etuden auf seiner geliebten Violine.

In dem Gartenhäuschen trug sich an jenem Abend ein geringfügiger Vorfall zu, der aber doch Stoff zu einer Notiz in Perry’s Lehr-Tugebuch lieferte. Geoffrey hatte das später am Tage ausgeführte Exercitium eines, während einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Raume vorgenommenen, möglichst raschen Ganges durchgemacht, ohne eines der Symptome der Erschöpfung zu zeigen, welche sich bei ihm nach der anstrengenden, vorher vorgenommenen Laufübung gezeigt hatten. Perry der, obgleich er im Geheimen gegen seine eigenen Wetten parirt hatte, doch ehrlich bestrebt war, Alles aufzubieten, um seinem Zöglinge am Tage des Wettlaufs, den Sieg zu verschaffen, hatte Geoffrey verboten, heute seinen abendlichen Besuch im Hause zu machen, und hatte ihn früher als gewöhnlich zu Bette geschickt. Der Lehrmeister war allein und eben damit beschäftigt, seine eigenen geschriebenen Lauf-Regeln einer Durchsicht zu unterwerfen und sich zu überlegen, welche Modificationen er am nächsten Tage etwa in der Diät und den Excertien Geoffrey’s eintreten lassen solle, als er durch ein heftiges Stöhnen aus dem Schlafzimmer, in welchem sein Zögling lag, erschreckt wurde. Er ging hinein und sah Geoffrey mit krampfhaft verzogenen Gesichtszügen, geballten Fäusten und dicken Schweißtropfen auf der Stirn, in einer durch die Schreckgestalten eines Traumes hervorgebrachten nervösen Aufregung, auf seinem Lager sich hin und her wälzen. Perry redete ihn an und richtete ihn im Bette auf. Er erwachte mit einem Schrei, starrte seinen Lehrmeister mit entsetzten Blicken an und rief ihm verworrene Worte entgegen. »Wonach sehen Deine gräßlichen Augen über meine Schulter?« rief er aus. »Geh zum Teufel! und nimm Deine höllische Schreibtafel mit Dir!« Perry redete ihn zum zweiten Mal an: »Sie haben von Jemand geträumt, Mr. Delamayn. Aber was haben Sie mit der Schreibtafel?« Geoffrey sah sich im Zimmer um und athmete erleichtert tief auf. »Ich hätte darauf schwören können«, sagte er, »daß sie mich über die Zwergbirnbäume weg ansähe. Aber es ist gut, ich weiß jetzt, wo ich bin Perry, der den Traum für nichts weiter, als für die Folge einer Unverdaulichkeit hielt, gab Geoffrey etwas Branntwein und Wasser zu trinken und verließ ihn dann, um ihn ruhig weiter schlafen zu lassen. Geoffrey, verbat sich in seiner nervösen Angst das Auslöschen des Lichts »Fürchten Sie sich vor der Dunkelheit?« fragte Perry lachend. »Nein« Er fürchtete, er möchte wieder von der stummen Köchin in Windygates-House träumen.



Vierter Band.

Siebenunddreißigstes Kapitel - Der Vorabend

Es war Vorabend der Hochzeit. Der Ort der Handlung war Sir Patricks Haus in Kent. Die Advocaten hatten ihr Wort gehalten, der Ehecontract war rechtzeitig eingetroffen und schon seit zwei Tagen unterzeichnet. Mit Ausnahme des Arztes und eines der drei Studenten, der anderweitig engagirt war, waren sämmtliche Gäste von Windygates nach Süden übergesiedelt, um der Hochzeit beizuwohnen. Außer diesen Herren befanden sich unter den von Sir Patrick eingeladenen Gästen, einige Damen, die aber Alle zur Familie gehörten und von denen drei als Blanche’s Brautjungfern zu fungiren bestimmt waren. Rechnet man dazu noch ein paar zur Hochzeitsfeier eingeladene Nachbarn, so hat man die Hochzeitsgesellschaft vollständig beisammen.

Sir Patrick’s Haus hatte durchaus nichts architektonisch Bemerkenswerthes. Ham Farm war weder ein so prachtvoller Landsitz wie Windygates, noch hatte es den malerischen und alterthümlichen Reiz von Swanhaven. Es war ein, in einer ganz gewöhnlichen landschaftlichen Umgebung liegender, durchaus gewöhnlicher englischer Landsitz. Eine monotone Behaglichkeit empfing den Eintretenden und eine behagliche Monotonie schaute ihm entgegen, wenn er zum Fenster hinaussah. Es fehlte viel, daß das Leben und die Mannigfaltigkeit, an denen es in Ham Farm mangelte, durch die jetzt dort versammelte Gesellschaft ersetzt worden wären. Noch lange nachher konnte man die Bemerkung hören, daß niemals eine langweiligere Hochzeitsgesellschaft beisammen gewesen sei. Sir Patrick, für den sich keine Jugenderinnerungen an das Haus knüpften, gestand selbst offen ein, daß der Aufenthalt auf seinem Landsitz in Kent seinen Geist bedrücke und daß er seinerseits ein Zimmer in dem Gasthofe des Dorfes vorgezogen haben würde. Er gab sich die redlichste Mühe, sich seine gewohnte, Munterkeit zu erhalten, wurde aber in diesem Bestreben durch die Umstände und durch die ihn umgebenden Personen durchaus nicht unterstützt. Lady Lundie’s Treue gegen das Andenken des verstorbenen Sir Thomas auf dem Schauplatz seiner letzten Krankheit und seines Todes, gab sich beharrlich in einer affectirten Zurückhaltung kund, welche sogar die schwer zu trübende gute Laune Sir Patrick’s aus eine harte Probe stellte. Blanche, die ihr Kummer über Anne noch immer schwer bedrückte war nicht in der Stimmung, an dem letzten Tage ihres Jungfräulichen Lebens ein munteres Gesicht zu zeigen. Arnold, der auf ausdrückliches Verlangen Lady Lundie’s dem Gebot einer albernen Delicatesse zu gehorchen hatte, welches dem Bräutigam untersagt, vor der Hochzeit unter einem und demselben Dache mit der Braut zu schlafen, sah sich dadurch unbarmherzig aus dem gastlichen Hause Sir Patrick’s ausgeschlossen und mußte jeden Abend in das Exil eines Schlafzimmers im Gasthofe wandern. Er unterwarf sich diesem traurigen Loose mit einer Resignation, deren dämpfender Einfluß sich auch auf seine gewöhnliche gute Laune erstreckte. Von den Damen waren die älteren durch Lady Lundie’s aufdringliche Trauer ausschließlich in Anspruch genommen, während die jüngeren ganz in die wichtige Beschäftigung einer fortwährenden, vergleichenden Betrachtung ihrer Hochzeitstoiletten aufgingen. Die beiden Studenten verrichteten wahre Wunder des Billardspiels und in den Pausen wahre Wunder des Gähnens. Smith sagte verzweifelt: »In diesem Hause kann man sich nicht amüsiren, Jones.« Und Jones seufzte sanft zum Zeichen seiner Zustimmung.

An dem Vorabende des Hochzeitstages, einem Sonntage, erreichte die Langeweile natürlich ihren Höhepunkt. Von den vielen Beschäftigungen, denen sich die Menschen an Wochentagen hingeben dürfen, betrachtet die verstockt unchristliche Anschauungsweise, welche in dieser Beziehung bei der anglo-sächsischen Race herrscht, nur zwei als harmlos. Es ist keine Sünde, sich über religiöse Fragen zu streiten, und es ist keine Sünde, über einem religiösen Buche einzuschlafen. Die Damen in Ham Farm brachten den Abend ganz diesen Vorschriften gemäß zu. Die älteren unter ihnen stritten sich sonntagsmäßig über Religionsfragen und die jüngeren waren über der Lectüre von Sonntagsbüchern eingeschlafen. Was die Männer betrifft, so brauchen wir wohl kaum zu bemerken, daß die jüngeren unter ihnen sich die Zeit mit Rauchen vertrieben, wenn sie nicht gähnten, und mit Gähnen, wenn sie nicht rauchten Sir Patrick hielt sich in der Bibliothek auf, wo er alte Briefe sortirte und alte Rechnungen durchsah. Jedermann im Hause fühlte den schweren Druck der unsinnigen gesellschaftlichen Verbote, welche sich die Gesellschaft selbst auferlegt hat. Und doch würde Jedermann im Hause den stärksten Anstoß daran genommen haben, wenn Jemand sich in folgender Weise ausgesprochen hätte: »Ihr wißt, daß Ihr Euch das Joch, unter dem Ihr seufzt, selbst auferlegt habt; Ihr wißt, daß ihr selbst nicht an die Heiligkeit dieses Joches glaubt, warum tragt Ihr es denn?« Das freieste civilisirte Volk der Erde ist das einzige civilisirte Volk, das nicht den Muth hat, dieser Frage grade in’s Gesicht zu sehen.

Der Abend schleppte sich langsam hin, die willkommene Stunde des Schlafengehens rückte näher und näher. Arnold dachte eben daran, wie er bald zum letzten Mal sein einsames Lager im Gasthof aufsuchen würde, als er bemerkte, daß Sir Patrick ihm ein Zeichen gab. Er stand auf und folgte seinem Wirth in das leere Eßzimmer. Sir Patrick schloß sorgfältig die Thür hinter sich. Was hatte das zu bedeuten? Es bedeutete für Arnolds, daß eine vertrauliche Unterhaltung mit ihm, etwas Abwechselung in die Monotonie des langen Abends in Ham Farm bringen würde.

»Ich habe Ihnen«, fing der alte Herr an, »bevor Sie sich verheirathen, noch ein Wort zu sagen, Arnold Erinnern sie sich der Unterhaltung bei Tische gestern, über den Ball in Swanhaven Lodge?«

»Jawohl.«

»Erinnern Sie sich der Bemerkung, die Lady Lundie bei dieser Gelegenheit machte?«

»Sie erzählte mir, was mir völlig unglaublich scheint, daß Geoffrey Delamayn sich mit Mrs. Glenarm verheirathen werde.«

»Ganz richtig, und mir entging es nicht, daß Sie über die Mittheilung meiner Schwägerin erschraken, und als Sie erklärten, daß sie sich unzweifelhaft in diesem Fall durch den Schein habe täuschen lassen, machten Ihr Blick und Ihre Sprache mir den Eindruck eines Mannes, der ein Gefühl der Entrüstung zurückdrängt. Habe ich mich darin geirrt?«

»Nein, Sir Patrick,. Sie haben sich nicht geirrt.«

»Würden Sie etwas dagegen haben, mir den Grund Ihrer Entrüstung mitzutheilen?«

Arnold zauderte.

»Sie fragen sich vermuthlich, was mich bei der Sache interessiren kann?«

Arnold gab mit seiner gewohnten Offenheit die Richtigkeit dieser Vermuthung zu.

»In diesem Fall«, erwiderte Sir Patrick, »thue ich wohl besser, ohne Weiteres fortzufahren, um es Ihnen zu überlassen, selbst den Zusammenhang zwischen Dem, was ich Ihnen zu sagen habe und der Frage, die ich eben an Sie gerichtet habe, herauszufinden. Wenn ich zu Ende sein werde, können Sie dann meine Frage beantworten oder nicht, ganz wie es Ihnen recht scheint. Mein lieber Junge, der Gegenstand, über den ich mit Ihnen zu sprechen wünsche, ist —— Miß Silvester.«

Arnold fuhr zusammen. Sir Patrick sah ihn einen Augenblick an und fuhr dann fort: »Meine Nichte hat ihre Launen und geht in ihrem Urtheil bisweilen fehl. Aber sie hat unter vielen anderen guten Eigenschaften eine, welche das Glück ihres ehelichen Lebens zu begründen ganz geeignet ist und dasselbe, wie ich zuversichtlich hoffe, ganz begründen wird. Um es mit einem sprichwörtlichen Ausdruck zu bezeichnen, Blanche ist treu wie Gold. Wen sie einmal zum Freunde erkoren hat, der kann für immer sicher auf sie rechnen. Merken Sie, wo ich hinaus will? Sie hat sich nicht darüber ausgesprochen, Arnold, aber sie hat nach meiner festen Ueberzeugung von ihrem einmal gefaßten Entschluß, sich mit Miß Silvester wieder zu vereinigen, noch durchaus nicht abgelassen. Eine der ersten Fragen, über die Sie sich übermorgen zu entscheiden haben werden, wird die sein, ob Sie Ihrer Frau gestatten wollen oder nicht, bei ihren Versuchen, sich mit ihrer verlorenen Freundin wieder in Verbindung zu setzen, zu beharren.«

Arnold antwortete völlig rückhaltlos: »Ich beklage Blanche’s Verlust aufrichtig, Sir Patrick. Meine Frau kann bei ihren Versuchen, Miß Silvester wieder aufzufinden, auf meine volle Genehmigung und, soviel in meinen Kräften steht, auch auf meinen vollen Beistand rechnen.«

Er sprach diese Worte in einer Weise, die keinen Zweifel darüber aufkommen lassen konnte, daß sie ihm von Herzen kamen.

»Ich glaube, Sie haben Unrecht«, entgegnete Sir Patrick, »ich fürchte, Sie ermuthigen Blanche dazu, ganz hoffnungslose Bemühungen anzustellen. Ich fürchte, Sie sind ihr dazu behülflich, sich eine Enttäuschung zu bereiten, die über die hellste Zeit ihres Lebens einen dunklen Schatten werfen wird. Indessen, das ist nicht meine, sondern Ihre Sache. Nach Ihrer eben abgegebenen Erklärung scheint mir meine Pflicht in dieser Angelegenheit deutlich genug vorgezeichnet zu sein. Vielleicht kann ich Ihnen bei der Aufsuchung der Spur von Miß Silvester durch gewisse, in meinem Besitz befindliche Mittheilungen behülflich sein?«

»Wenn Sie uns im Beginn über einige Schwierigkeiten hinweghelfen können, Sir Patrick so werden Sie Blanche und mich zum lebhaftesten Dank verpflichten.«

»Gut. Sie erinnern sich wohl, was ich Ihnen eines Morgens in Windygates sagte, als wir über Miß Silvester sprachen?«

»Gewiß, Sie sagten, Sie seien entschlossen, Miß Silvester ihren eigenen Weg gehen zu lassen.«

»Ganz Recht! An dem Abend des Tages, wo ich das« zu Ihnen gesagt hatte, erhielt ich die Nachricht, daß Miß Silvester’s Spur bis Glasgow verfolgt worden sei. Außer der durch diese Mittheilung gegebenen, giebt es noch zwei andere Chancen, ihre Spur aufzufinden, die beide nur erprobt werden können; wenn es gelingt, zwei gleich schwer umgängliche Männer dahin zubringen, zu bekennen, was sie über die Sache wissen. Der eine von diesen Beiden ist ein gewisser Bishopriggs, welcher früher Kellner in dem Gasthof in Craig-Fernie war.«

Arnold fuhr zusammen und wechselte die Farbe. Sir Patrick, dem das nicht entging, theilte Arnold nun die den verlornen Brief Anne’s betreffenden Umstände mit, welche ihn zu dem Schluß geführt hatten, daß der Brief in Bishopriggs Besitz sei. »Ich muß hinzufügen,« fuhr er fort, »daß Blanche unglücklicher Weise Gelegenheit gefunden hat, Bishopriggs in Swanhaven zu sprechen. Als sie und Lady Lundie in Edinburgh mit uns zusammentrafen, theilte sie mir im Geheimen eine Karte mit, welche Bishopriggs ihr gegeben hatte. Er hatte ihr gesagt, daß man unter der auf der Karte angegebenen Adresse von ihm würde hören können —— und Blanche bat mich, bevor wir nach London abreisten, die Richtigkeit der Angabe zu erproben. Ich sagte ihr, daß sie sich einen großen Fehler durch den Versuch habe zu Schulden kommen lassen, sich auf ihre eigene Verantwortlichkeit mit Bishopriggs in Verbindung zu setzen; und ich bereitete sie auf das Ergebniß vor, zudem die Erkundigung, meiner festen Ueberzeugung nach, einzig führen konnte. Sie wollte nicht glauben, daß Bishopriggs sie betrogen habe. Ich sah, daß sie, wenn ich ihren Wunsch nicht erfüllte, die Sache wieder selbst in die Hand nehmen würde und ging daher nach der angegebenen Adresse. Genau wie ich es vorausgesehen, hatte der Mann, dessen Adresse die Karte enthielt, seit Jahren nichts von Bishopriggs gehört und wußte durchaus nichts über seinen jetzigen Aufenthalt. Blanche hatte durch ihr unüberlegtes Handeln nichts erreicht, als daß sie Bishopriggs vorsichtig gemacht und ihm gezeigt hatte, daß es räthlich für ihn sei, sich verborgen zu halten. Wenn Sie ihn künftig einmal treffen sollten, so sagen Sie Ihrer Frau nichts davon und berichten mir sofort darüber. Ich muß es ablehnen, Ihnen beim Aufsuchen von Miß Silvester behülflich zu sein, ich habe aber nichts dagegen, mich bei der Wiedererlangung eines gestohlenen Briefes nützlich zu erweisen. So viel von Bishopriggs. —— Jetzt zu dem Andern.«

»Wer ist denn der?«

»Ihr Freund, Mr. Geoffrey Delamayn.«

Arnold vermochte seine Ueberraschung nicht zu verbergen und sprang auf.

»Meine Mittheilung scheint Sie in Erstaunen zu setzen«, bemerkte Sir Patrick.

Arnold setzte sich wieder und wartete in sprachloser Spannung ab, was Sir Patrick ihm weiter mittheilen werde.

»Ich habe gute Gründe«, fuhr Sir Patrick fort, »mich für überzeugt zu halten, daß Mr. Delamayn über die Situation, in welcher sich Miß Silvester augenblicklich befindet, sehr wohl unterrichtet ist. In welchem persönlichen Verhältniß er zu dieser Situation steht, und wie er in den Besitz seiner Kunde gelangt ist, das habe ich nicht herausbringen können. Meine Entdeckung beginnt und endigt mit der einfachen Thatsache, daß er sich im Besitz dieser Kunde befindet.«

»Darf ich mir eine Frage erlauben, Sir Patrick?«

»Und die wäre?«

»Wie haben Sie Ihre Kundschaft in Betreff Geoffrey Delamayn’s erlangt?«

»Es würde mich viel Zeit kosten, Ihnen das zu erzählen«, antwortete Sir Patrick, »und es ist für unsern Zweck durchaus nicht erforderlich, daß sie es erfahren. Was ich für meine Pflicht halte, ist Ihnen —— wohlgemerkt: im strengsten Vertrauen! —— mitzutheilen, daß die Geheimniße Miß Silvester’s keine Geheimniße für Mr. Delamayn sind. Ich überlasse es Ihnen, welchen Gebrauch Sie von dieser Mittheilung machen wollen. Sie sind jetzt in Betreff Miß Silvester’s genau so gut unterrichtet wie ich. Lassen Sie uns jetzt auf die Frage zurückkommen die ich beim Betreten dieses Zimmers zuerst an Sie gerichtet habe. Ist Ihnen jetzt der Zusammenhang zwischen dieser Frage und dem, was ich Ihnen seither mitgetheilt habe, klar geworden?«

Arnold vermochte diesen Zusammenhang auch jetzt noch nicht recht zu erkennen. Sir Patricks Entdeckung verwirrte ihn ganz und gar. Ohne eine Ahnung davon zu haben, daß er es Mrs. Inchbare’s unvollständiger Beschreibung seiner Person verdanke, der Entdeckung entgangen zu sein, konnte er es nicht begreifen, daß kein Verdacht auf ihn gefallen, während Geoffrey’s Situation theilweise wenigstens bekannt geworden sei.

»Meine Frage war«, nahm Sir Patrick wieder auf, indem er Arnold’s Fassungskraft zu Hilfe zu kommen suchte, »Warum die bloße Mittheilung, daß Ihr Freund wahrscheinlich Mrs. Glenarm heirathen werde, Ihre Entrüstung erregt habe, und Sie zögerten, mir darauf zu antworten. Zögern Sie noch?«

»Es ist nicht leicht für mich, darauf zu antworten, Sir Patrick.«

»Lassen Sie uns die Sache anders fassen. Ich nehme an, daß Ihr Gefühl bei der Mittheilung seinen Grund in einem Ihnen bekannten und uns Anderen unbekannten, vertrauten Verhältniß hat. Ist dieser Schluß richtig?«

»Ganz richtig!«

»Hängt das, was Sie über Mr. Delamayn wissen, mit etwas zusammen, was Sie über Miß Silvester wissen?«

Wenn Arnold sich frei gefühlt hätte, diese Frage zu beantworten, so würde seine Antwort Sir Patricks Verdacht erweckt haben und würde Sir Patricks Entschlossenheit Arnold, noch ehe er an diesem Abend das Haus verließ, unfehlbar zu einem vollständigen Bekenntniß gebracht haben. —— Es war beinahe Mitternacht geworden. Die erste Stunde des Hochzeitstages nahte, als die Wahrheit ihren letzten Versuch machte, an’s Licht zu dringen. Die dunklen Phantome künftiger Sorgen und künftigen Schreckens umstanden beide Männer in diesem Augenblicke. Arnold verharrte in peinlichem Zaudern. Sir Patrick wartete auf seine Antwort.

Die Uhr in der Vorhalle schlug ein Viertel vor Zwölf.

»Ich kann es Ihnen nicht sagen«, erwiderte Arnold.

»Ist es ein Geheimniß?«

»Fühlen Sie sich durch Ihre Ehre verpflichtet, dasselbe zu bewahren?«

»Doppelt durch meine Ehre verpflichtet!«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, daß ich mich mit Geoffrey, seit er mich in’s Vertrauen gezogen, überworfen habe; darnach fühlte ich mich doppelt verpflichtet sein Vertrauen zu ehren.«

»Ist die Ursache Ihres Streites auch ein Geheimniß?«

»Ja.«

Sir Patrick sah Arnold fest in? Gesicht. »Ich habe vom ersten Augenblicke an Mißtrauen gegen Mr. Delamayn gefühlt«, sagte er; »antworten Sie mir noch darauf, haben Sie, seit wir zuerst im Garten-Pavillon in Windygates über Ihren Freund sprachen, Grund gehabt zu glauben, daß meine Ansicht über ihn doch am Ende die richtige sein könnte?«

»Er hat mich bitter enttäuscht«, sagte Arnold, »Mehr darf ich nicht sagen.«

»Sie haben sehr wenig Welterfahrung«, fuhr Sir Patrick fort, »und Sie haben eben zugegeben, daß Sie Grund gehabt haben, Ihren Erfahrungen über Ihren Freund zu mißtrauen Sind Sie ganz sicher, daß Sie Recht thun, mir sein Geheimniß vorzuenthalten? Sind Sie fest überzeugt, daß Sie das Verfahren, das Sie diesen Abend beobachten, nie bereuen werden?« Er betonte diese letzten Worte scharf. »Denken Sie nach, Arnold«, fügte er in herzlichem Tone hinzu, »denken Sie nach, ehe Sie antworten.«

»Ich fühle mich durch meine Ehre verpflichtet, sein Geheimniß zu bewahren, kein Nachdenken kann daran etwas ändern.«

»Sir Patrick stand auf und machte der Unterhaltung ein Ende. »Dann sind wir fertig!« Mit diesen Worten reichte er Arnold die Hand, drückte sie herzlich und wünschte ihm gute Nacht.

In die Vorhalle tretend, fand Arnold Blanche allein, nach dem Barometer sehend. Der Barometer zeigte schönes Wetter. »Lieber Schatz«, flüsterte er ihr zu, »gute Nacht zum letzten Mal.« Er umarmte und küßte sie.

In dem Augenblick, wo er sie verließ, ließ Blanche ein kleines Billet in seine Hand gleiten. »Lies das«, flüsterte sie, »sobald Du allein im Gasthofe bist.«

So trennten sie sich am Vorabend des Hochzeitstages.



Achtunddreißigstes Kapitel - Der Hochzeitstag

Das Wetterglas hielt, was es versprochen hatte; die Sonne schien hell an Blanche’s Hochzeitstage. Um neun Uhr Morgens begann die erste Handlung des Tages, die wesentlich geheimer Natur war. Die Braut und der Bräutigam setzten sich über die geheiligten Schranken der Convenienz hinweg und gestatteten sich, noch ehe der Priester den Segen über sie gesprochen hatte, eine geheime Zusammenkunft in dem Treibhause von Ham Farm.

»Hast Du meinen Brief gelesen, Arnold?«

»Ich bin hergekommen, ihn zu beantworten, Blanche. Aber warum hast Du mir das nicht gesagt, wozu schreiben?«

»Weil ich es so lange aufgeschoben hatte, es Dir mitzutheilen und weil ich nicht wußte, wie Du es aufnehmen würdest, und aus noch vielen anderen Gründen. Einerlei, ich habe nun gebeichtet, ich habe nun kein Geheimniß mehr vor Dir. Noch hast Du Zeit, nein zu sagen, Arnold, wenn Du finden solltest, daß ich außer Dir für Niemanden in meinem Herzen Raum haben dürfe. Mein Onkel sagt, ich sei eigensinnig und habe Unrecht, daß ich Anne durchaus nicht aufgeben will. Wenn Du seiner Meinung bist, so sage das entscheidende Wort, lieber Arnold, bevor Du mich zu Deiner Frau machst.«

»Soll ich Dir sagen, was ich gestern Abend zu Sir Patrick gesagt habe?«

»Im Bezug auf diesen Gegenstand?«

»Ja. Die Beichte, wie Du es nennst, die Du in Deinem allerliebsten Billet machst, war gerade Das, worüber Sir Patrick sich gestern Abend, bevor ich fortging, im Eßzimmer mit mir unterhielt. Er sagte mir, Dein Herz hänge daran, Miß Silvester wieder zu finden und er fragte mich, was ich zu, thun gedenke, wenn wir verheirathet sein würden.

»Und Du sagtest?«

Arnold wiederholte die Antwort, die er Sir Patrick gegeben hatte, mit einer der Gelegenheit angemessenen, glühenden Verschönerung der ursprünglichen Ausdrucksweise —— Blanche bezeugte ihr Entzücken durch einen Kuß, den sie Arnold ohne Erröthen, noch drei Stunden bevor die Sanction von Staat und Kirche ein solches Verfahren von ihrer Seite gebilligt hätte, auf die Lippen drückte.

»Jetzt,« sagte Arnold, »ist die Reihe an mir Feder und Dinte zu ergreifen. Ich, so gut wie du habe einen Brief zu schreiben, bevor wir uns verheirathen, nur mit dem Unterschiede, daß ich bei meinem Briefe Deines Verstandes bedarf.«

»An wen willst Du denn schreiben?«

»An meinen Advocaten in Edinburgh. Ich werde keine Zeit dazu finden, wenn ich es nicht jetzt thue. Wir gehen ja noch heute Nachmittag nach der Schweiz, nicht wahr?«

»Ja.«

»Nun gut, ich möchte Dich völlig beruhigt sehen, mein Engel, bevor wir fortgehen; würdest Du nicht gern die beruhigende Gewißheit mit auf die Reise nehmen, daß, während wir unterwegs sind, die richtigen Leute Miß Silvester’s Spur verfolgen? Sir Patrick hat mir den letzten Ort genannt, bis zu dem man ihre Spur verfolgt hat und mein Advocat wird die richtigen Leute weiter forschen lassen. Komm und hilf mir den Brief abfassen, und die Sache wird bald abgemacht sein.

»O, Arnold, wie kann ich Dich je genug lieben, um Dich dafür zu belohnen!«

»Das werden wir sehen, Blanche, in der Schweiz.«

Kühn drangen sie Arm in Arm in Sir Patricks Arbeitszimmer ein, das, wie sie wußten, zu dieser frühen Stunde vollkommen zu ihrer Verfügung stand. Mit Sir Patrick’s Feder und Papier brachten sie eine Instruction zu Stande, derzufolge die Nachforschungen, welchen Sir Patricks höhere Weisheit ein vorläufiges Ende gemacht hatte, wieder aufgenommen werden sollten. Weder Mühe noch Geld solle von dem Advocaten gespart werden, um sofort die richtigen Maßregeln und zwar zunächst in Glasgow zu«ergreifen, um Anne wieder aufzufinden. Der Bericht über das Resultat selbst solle an Arnold unter Sir Patrick’s Adresse in Ham Farm gerichtet werden.

Als sie den Brief geschrieben hatten, war es zehn Uhr geworden. Blanche verließ Arnold, um sich in ihre bräutlichen Gewänder zu kleiden, nachdem sie ihn abermals gegen alle gute Sitte geküßt hatte.

Die nächsten Handlungen des Tages hatten einen öffentlichen Charakter und entsprachen durchaus dem, was bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Dorfjungfrauen streuten Blumen auf den Weg bis an die Kirche und überschickten noch am selben Tage die Rechnung dafür. Dorfburschen zogen die Freudenglocken und betranken sich für das Geld, daß sie dafür bekamen, noch an demselben Abend. Es fehlte nicht an der üblichen und schrecklichen Pause während der Zeit, wo der Bräutigam in der Kirche die Braut zu erwarten hatte, nicht an dem üblichen und erbarmungslosen Anstarren aller weiblichen Zuschauer in dem Augenblick, wo die Braut vor den Altar geführt wurde. Dann kam der vorgängige Blick des Geistlichen auf den Trauschein, als Ausdruck amtlicher Vorsicht, und dann der bedeutungsvolle Blick des Küsters auf den Bräutigam, der denselben im Voraus an die übliche Gratification mahnen sollte. Alle anwesenden Frauen schienen ganz in ihrem natürlichen Elemente zu sein, während alle Männer, die der heiligen Handlung. beiwohnten, sich sehr unbehaglich fühlten.

Endlich begann der Gottesdienst, den man wohl als eine der schrecklichsten Ceremonien bezeichnen kann, der Gottesdienst, welcher zwei menschliche Wesen, die in den überwiegend meisten Fällen so gut wie nichts von ihren beiderseitigen Charakteren wissen, dazu verpflichtet, das Experiment zu wagen, miteinander zu leben, bis der Tod sie trennen wird. Der Gottesdienst, der, wenn nicht in Worten, doch seinem wahren Sinne nach besagt: wagt Euren Sprung in die Finsternis wir sanctioniren ihn wohl, aber wir garantiren ihn nicht.

Der Gottesdienst verlief ohne die mindeste Störung. Die letzten Worte waren gesprochen und das Gebetbuch war geschlossen. Die jungen Eheleute schrieben ihre Namen in das Trauregister ein. Der junge Ehemann wurde beglückwünscht, die junge Frau umarmt und das neuvermählte Paar, dem auf seinem Rückweg noch mehr Blumen gestreut wurden, kehrte nach Hause zurück. Das Hochzeits-Frühstück wurde beschleunigt, die üblichen Toaste wurden abgekürzt. Es war keine Zeit zu verlieren, wenn die jungen Leute noch den Frühzug nach Dover erreichen sollten. Eine Stunde später waren sie im Wagen nach der Eisenbahn - Station abgefahren, nachdem ihnen die Gäste von den Stufen des Hauses aus den Abschiedsgruß zugerufen hatten. Welch’ einer goldenen Zukunft sahen diese beiden jungen, glücklichen, einander zärtlich liebenden, gegen alle kleinlichen Sorgen des Lebens gesicherten Menschen entgegen. Wer hätte bei diesem, mit der Sanction ihrer Familien und unter dem Segen der Kirche verheiratheten Paar denken können, daß gleichwohl die Zeit kommen sollte, wo in der Frühlings-Zeit ihrer Liebe die schreckliche Frage an sie herantreten würde: »Seid Ihr Mann und Weib?«



Neununddreißigstes Kapitel - Die Wahrheit kommt endlich an den Tag

Zwei Tage nach der Hochzeit, am Mittwoch den neunten September, wurde ein in Windygates eingetroffenes Packet Briefe von Lady Lundie’s Verwalter nach Ham-Farm weiter befördert. Mit einer einzigen Ausnahme waren die Briefe alle entweder an Sir Patrick oder an seine Schwägerin adressirt. Der einzige Brief aber, der eine Ausnahme machte, war an Mr. Arnold Brinkworth gerichtet, Adresse Lady Lundie, Windygates-House, Perthshire, und sorgfältig versiegelt. Als Sir Patrick sah, daß der Brief mit einem Glasgower Poststempel versehen war, betrachtete er die Handschrift auf der Adresse mit einem gewissen Mißtrauen. Sie war ihm unbekannt, rührte aber offenbar von einer weiblichen Hand her.

Lady Lundie saß ihm gegenüber« am Tische. In gleichgültigem Tone sagte er: »Ein Brief für Arnold« und schob ihr ihn über den Tisch hin zu. Lady Lundie nahm den Brief auf, ließ ihn aber, sobald sie die Handschrift angesehen hatte, plötzlich wieder los, als ob sie sich die Finger an demselben verbrannt hätte.

»Wieder die »Person«, rief Lady Lundie »Die »Person« nimmt sich heraus, einen Brief an Arnold Brinkworth unter der Adresse meines Hauses zu schreiben?«

»Miß Silvester?« fragte Sir Patrick.

»Nein!« sagte Lady Lundie, indem sie die Zähne zusammenbiß, »die »Person« kann mich insultiren, indem sie einen Brief unter meiner Adresse abschickt, aber der Name der »Person« soll meine Lippen nicht beflecken selbst nicht in Ihrem Hause, Sir Patrick, auch nicht Ihnen zu Gefallen!«

Das war für Sir Patrick Antwort genug. Nach Allem, was vorgefallen war, nach ihrem Abschiedsbrief an Blanche, schrieb Miß Silvester hier wieder aus freien Stücken an Blanche’s Mann, das war gelinde gesagt, unerklärlich; er nahm den Brief wieder zur Hand und sah ihn noch einmal an. Lady Lundie’s Verwalter war ein Mann, der sehr methodisch zu Werke zugehen pflegte; er hatte auf der Rückseite jedes in Windygates eingetroffenen Briefs den Tag der Ablieferung notirt. Der an Arnold gerichtete Brief war am Montag, den siebenten September, an Arnold’s Hochzeitstage abgegeben worden. Was hatte das zu bedeuten? Es war müßig, weiter danach zu forschen Sir Patrick stand auf, um den Brief in ein Schubfach des hinter ihm stehenden Schreibtisches zu verschließen, aber Lady Lundie that im Interesse der Sittlichkeit Einspruch.

»Sir Patrick!«

»Nun?«

»Halten Sie es nicht für Ihre Pflicht den Brief zu öffnen?«

»Meine verehrte Frau Schwägerin, wie kommen Sie auf einen solchen Gedanken?«

Die tugendhafteste aller lebenden Frauen war um eine Antwort nicht verlegen. »Ich denke«, sagte Lady Lundie, »an Arnold’s sittliche Wohlfahrt.«

Sir Patrick lächelte. Auf der langen Liste jener respectablen Lügen, unter denen wir unsere Neigung, uns wichtig zu machen und uns in die Angelegenheiten Anderer zu mischen, verhüllen, steht die Rücksicht auf die sittliche Wohlfahrt unserer Nebenmenschen obenan. »Wir werden wahrscheinlich in einem oder zwei Tagen von Arnold hören«, sagte Sir Patrick, indem er den Brief in das Schubfach einschloß. »Er soll den Brief haben, sobald ich weiß, wohin ich ihm denselben schicken kann.«

Schon der nächste Morgen brachte Nachrichten von dem jungen Paare. Sie berichteten, daß sie zu selig seien, um sich darum zu bekümmern, wo sie sich aufhielten, so lange sie nur bei einander seien. Die Entscheidung jeder Frage, außer der Frage ihrer Liebe, sei dem Ermessen ihres erfahrenen Couriers überlassen. Dieser verständige und zuverlässige Mann habe erklärt, daß kein vernünftiger Mensch daran denken dürfe, sich im Monat September längere Zeit in Paris aufzuhalten; er habe bestimmt, daß sie auf ihrem Wege nach der Schweiz am zehnten nach Baden-Baden abreisen sollten; bis auf Weiteres seien daher Briefe dorthin zu dirigiren. Wenn Baden dem Courier gefalle, würden sie wahrscheinlich eine Zeitlang dort bleiben, wenn aber der Courier Lust bekommen sollte, in’s Gebirge zu gehen, so würden sie nach der Schweiz weiter reisen; inzwischen habe Arnold kein anderes Interesse, als Blanche und Blanche kein anderes Interesse, als Arnold.

Sir Patrick beförderte sofort Anne Silvester’s Brief an Arnold poste restante nach Baden-Baden. Gleichzeitig wurde ein zweiter an diesem Morgen eingetroffener, an Arnold gerichteter Brief, anscheinend die Zuschrift eines Advocaten und mit dem Poststempel Edinburgh versehen, befördert.

Zwei Tage später hatten alle Gäste Ham-Farm verlassen. Lady Lundie war wieder nach Windygates zurückgekehrt; die übrigen hatten sich nach verschiedenen Richtungen hin zerstreut. Sir Patrick der gleichfalls daran dachte, nach Schottland zurückzukehren, blieb noch eine Woche allein in Ham-Farm, als einsamer Gefangener in seinem eigenen Landhause. Aufgehäufte Geschäftsrückstände, welche sein Verwalter unmöglich allein beseitigen konnte, nöthigten ihn zu diesem verlängerten Aufenthalte. Das war für einen Mann, der keinen Geschmack an der Rebhühnerjagd findet, ein hartes Loos. Sir Patrick vertrieb sich die nicht durch seine Geschäfte in Anspruch genommene Zeit mit Lectüre. Zu Tische kam der Pfarrer einer benachbarten Kirche zu ihm herübergefahren und spielte Abends mit ihm eine Parthie Piquet; sie verabredeten daß sie einen Abend um den andern, einer zu dem andern kommen wollten. Der Pfarrer war ein ausgezeichneter Spieler und Sir Patrick, obgleich ein geborener Presbyterianer, segnete die englische Staatskirche die ein so harmloses Kartenspiel nicht verpönte, aus Herzensgrunde.

Drei weitere Tage verflossen. Die Abwickelung der Geschäfte nahm einen raschen Fortgang und die Zeit von Sir Patricks Rückkehr nach Schottland nahte heran. Die beiden Herren kamen überein, eine letzte Parthie am nächsten Tage im Hause des Pfarrers zu spielen. Aber diese letzte Parthie Piquet zwischen dem Baronet und dem Pfarrer sollte nie gespielt werden. Am Nachmittag des vierten Tages kam Sir Patrick von einer Ausfahrt zurück und fand einen Brief von Arnold vor, der mit der letzten Post gekommen war. Dem äußern Anschein nach war es ein Brief von ungewöhnlich bedenklicher, vielleicht auch von ungewöhnlich interessanter Natur. Arnold war einer der letzten Menschen in der Welt, dem irgend einer seiner Bekannten eine Neigung zu längerer Correspondenz würde zugetraut haben, und doch lag hier ein Brief von ihm, der dreimal so dick und schwer war, wie seine gewöhnlichen Briefe und übrigens augenscheinlich von mehr als gewöhnlicher Wichtigkeit in Betreff seiner Nachrichten. In der einen Ecke des Couverts stand »rasch zu befördern« und in einer andern Ecke stand gleichfalls unterstrichen das Wort »Vertraulich.« »Halloh, was hat das zu bedeuten?!« dachte Sir Patrick. Als er den Brief eröffnete, fielen zwei Einlagen heraus. Er warf einen Blick darauf und sah, daß es die beiden Briefe waren, die er nach Baden-Baden befördert hatte; der Brief, den er in der Hand behielt und der zwei Bogen füllte, war von Arnold selbst. Sir Patrick las diesen Brief zuerst; er war aus Baden-Baden datirt und fing an, wie folgt:

»Lieber Sir Patrick!

»Erschrecken Sie nicht, wenn Sie irgend umhin können, ich bin in schrecklicher Verlegenheit.«

Sir Patrick blickte einen Augenblick von dem Briefe auf. Wenn ein junger Mann aus Baden-Baden schreibt, daß er in einer schrecklichen Verlegenheit ist, wie hat man diese Verlegenheit zu erklären? Sir Patrick zog den unvermeidlichen Schluß, Arnold müsse gespielt haben; Er schüttelte den Kopf und las weiter:

»Ich darf sagen, daß ich, so schrecklich die Sache auch ist, nicht zu tadeln bin und auch sie, die Aermste nicht.«

Sir Patrick hielt wieder inne, »Sie?« Blanche hatte augenscheinlich auch gespielt. Es fehlte nichts, um das Bild vollständig zu machen, als daß der nächste Satz, meldete, daß auch der Courier seinerseits von der unersättlichen Spielwuth ergriffen worden sei. Sir Patrick las weiter:

»Sie werden gewiß nicht von mir verlangen, daß ich die Gesetze hätte kennen sollen und was die arme Miß Silvester betrifft ——«

Miß Silvester? Was hatte denn Miß Silvester damit zu thun und was konnte die Beziehung auf die Gesetze zu bedeuten haben? Sir Patrick hatte den Brief bis hierher stehend gelesen. Bei dem Namen Silvester aber beschlich ihn ein eigenthümliches Mißbehagen. Er konnte sich keine klare Vorstellung von dem machen, was nun folgen werde; ein unbeschreibliches Etwas regte sich in ihm und afficirte seine Nerven derartig, daß er plötzlich die Schwächen seines Alters zu fühlen glaubte. Er war genöthigt, sich niederzusetzen und einen Augenblick inne zu halten, bevor er fortfahren konnte. Der Brief lautete weiter:

»Und was die arme Miß Silvester betrifft, so konnte sie doch, obgleich sie, wie ich mich erinnere, ein unbestimmtes Vorgefühl von der Bedenklichkeit der Situation hatte, da auch sie nicht gesetzeskundig ist, keine Ahnung davon haben, wie die Sache enden würde. Ich weiß kaum, wie ich es anfangen soll, Ihnen die Sache mitzutheilen, ich kann und will es nicht glauben, aber selbst wenn die Sache wahr sein sollte, so bin ich überzeugt, daß Sie einen Ausweg für uns finden werden. Ich werde vor nichts zurückschrecken und Miß Sylvester wird, wie Sie aus ihrem Briefe ersehen werden, gleichfalls vor nichts zurückschrecken, um die Sache in Ordnung zu bringen. Natürlich habe ich meiner geliebten Blanche, die ganz glücklich ist und nicht den leisesten Verdacht hegt, nichts davon gesagt. Alles dies, lieber Sir Patrick, ist, fürchte ich, sehr schlecht geschrieben, aber es hat den Zweck, Sie vorzubereiten und die Dinge von vornherein in das beste Licht zu stellen. Indessen muß die Wahrheit gesagt werden und die Wahrheit ist eine Schmach für das schottische Gesetz. Die Sache ist kurz folgende: Geoffrey Delamayn ist ein noch größerer Schurke, als wofür Sie ihn halten und ich bereue es, wie die Dinge sich jetzt herausgestellt haben, bitter, daß ich an jenem Abende, wo Sie und ich unsere vertrauliche Unterhaltung in Ham-Farm hatten, geschwiegen habe. Sie werden denken, daß ich zwei Dinge in einander mische, aber das thue ich nicht, bitte, bleiben Sie dessen, was ich eben über Geoffrey gesagt habe, eingedenk, und bringen Sie es in Verbindung mit dem, was ich Ihnen jetzt zu sagen habe. Das Schlimmste kommt noch. Miß Silvester’s einliegender Brief meldet mir die schreckliche Nachricht. Sie müssen wissen, daß ich an dem Tage jenes Gartenfestes in Windygates im Geheimen als Geoffrey’s Bote zu ihr ging. Nun, wie es geschehen sein mag, weiß nur der Himmel, aber es ist Grund zu der Besorgniß vorhanden, daß ich, ohne selbst etwas davon zu wissen, mich im vorigen August im Gasthof zu Craig-Fernie mit Miß Silvester verheirathet habe.«

Der Brief entfiel Sir Patricks Händen. Er sank in seinen Stuhl zurück und war einen Augenblick durch den Schreck völlig betäubt. Bald aber erholte er sich wieder, sprang auf und ging im Zimmer auf und ab, stand dann still, nahm sich zusammen und waffnete sich mit all seiner Willenskraft. Er hob den Brief wieder auf und las den letzten Satz noch einmal. Sein Gesicht überflog eine tiefe Röthe. Er stand auf dem Punkt sich einem nutzlosen Zornesausbruch gegen Arnold zu überlassen, als sein besseres Urtheil ihn noch zu rechter Zeit zurückhielt.

»Ein Narr in der Familie ist genug,« sagte er; »an mir ist es, in dieser schrecklichen Lage um Blanche’s willen, mir den Kopf klar zu halten.« Er hielt abermals inne, um sich seiner eigenen Fassung zu versichern und nahm dann wieder den Brief zur Hand, um zu sehen, was der Schreiber zur Erklärung und Entschuldigung der Sache zu sagen habe. Arnold wußte genug zu sagen, nur wußte er leider nicht, wie er es sagen sollte. Es war schwer zu entscheiden, welche Eigenschaft in seinem Briefe die hervorragendste war, die vollständige Abwesenheit aller klaren Zusammenstellung, oder der vollständige Mangel an jeder Zurückhaltung. Ohne Anfang, Mitte oder Ende erzählte er die Geschichte seiner verhängnißvollen Verbindung mit Anne Silvester’s Angelegenheiten von dem denkwürdigen Tage an, wo Geoffrey Delamayn ihn nach Craig-Fernie geschickt hatte, bis zu dem ebenso denkwürdigen Abende, wo Sir Patrick es vergebens versucht hatte ihm in Hain-Farm die Lippen zu öffnen.

»Ich muß bekennen,« schloß der Brief, »daß, wie die Dinge sich jetzt herausgestellt haben, ich ein Narr gewesen bin, Geoffrey Delamayn’s Geheimniß zu bewahren; Aber wie konnte ich etwas über ihn aussagen, ohne Miß Silvester zu compromittiren. Lesen Sie ihren Brief und Sie werden sehen, was Sie sagt, und wie großmüthig sie mich jeder Verpflichtung entbindet. Es nützt nichts, daß ich sage, es thut mir leid, daß ich, zu rücksichtsvoll war, das Uebel ist geschehen, aber ich werde, wie ich schon vorhin gesagt habe, vor nichts zurückschrecken, um es wieder gut zu machen, nur sagen Sie mir, was der erste Schritt ist, den ich zu thun habe und verlassen Sie sich darauf, daß ich denselben, falls er mich nicht von Blanche trennt, sofort thun werde. In Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich, lieber Sir Patrick, Ihr sich in der peinlichsten Verlegenheit befindender

Arnold Brinkworth.«

Sir Patrick faltete den Brief zusammen und betrachtete die beiden auf dem Tische liegenden Einlagen. Sein Auge blickte finster, als er die Hand ausstreckte, um Anne’s Brief aufzunehmen. Der Brief von Arnold’s Advocaten in Edinburgh lag ihm näher; mechanisch griff er daher zuerst nach, diesem. Der Advocat berichtete in Kurze, daß er die nöthigen Nachforschungen in Glasgow mit folgendem Ergebniß angestellt habe. Anne’s Spur war bis zum Schöpfen-Hotel verfolgt worden; dort hatte sie bis Anfang September schwer krank darnieder gelegen. Man hatte erfolglose Anzeigen in den Glasgower Blättern erlassen. Am fünften September endlich war sie soweit wiederhergestellt gewesen, um das Hotel verlassen zu können; man hatte sie an demselben Tage an der Eisenbahnstation gesehen, aber damit war jede Spur von ihr wieder verloren gegangen. Demnächst habe der Advocat, wie er weiter berichtete jedes weitere Verfahren eingestellt und erwarte jetzt eine Instruction von seinem Clienten.

Der Brief blieb nicht ohne Einfluß auf Sir Patrick, indem er ihn veranlaßte weniger hart und rasch über Anne zu urtheilen, als er es zu thun im ersten Augenblick geneigt gewesen war. Schon ihre Krankheit gab ihr das Recht auf ein wenig Sympathie; ihre hilflose Lage, welche sich in den durch die Zeitungen erlassenen Aufrufen so klar und traurig abspiegelte, forderte dringend dazu auf, ihre Fehler, wenn sie deren begangen hatte, milde zu beurtheilen. Ernst aber nicht mehr zornig öffnete Sir Patrick ihren Brief, —— den Brief, welcher einen Zweifel gegen die Gültigkeit der Ehe seiner Nichte erhob.



Vierzigstes Kapitel - Anne opfert sich

Anne Silvester’s Brief lautete:

»Glasgow, den 5. September.
Lieber Mr. Brinkworth!

Vor etwa drei Wochen versuchte ich es, Ihnen von hier aus zu schreiben, aber in dem Augenblick, wo ich eben die Feder angesetzt hatte, wurde ich plötzlich von einer schweren Krankheit ergriffen, habe von diesem Augenblicke an bis heute hilflos darniedergelegen und war, wie man mir sagt, dem Tode sehr nahe. Vorgestern und gestern fühlte ich mich stark genug, um mich ankleiden zu lassen und kurze Zeit aufzusitzen; heute fühle ich mich noch stärker, ich kann wieder meine Gedanken sammeln. Der erste Gebrauch, den ich von meiner Besserung mache, besteht darin daß sich Ihnen diese Zeilen schreibe. Ich werde Sie voraussichtlich durch meine Mitteilung überraschen, vielleicht erschrecken, aber es giebt kein Mittel, weder für Sie noch für mich, der Sache zu entgehen, es muß geschehen; indem ich darüber nachdenke, wie ich das, was ich Ihnen zu sagen genöthigt bin, am Besten vorbringe, finde ich keinen bessern Weg, als Sie zu bitten, sich eines Tages zu erinnern, den wir Beide Ursache haben bitter zu bereuen, des Tages, an welchem Geoffrey Delamayn Sie zu mir nach dem Gasthof von Craig-Fernie schickte. Vielleicht erinnern Sie sich nicht mehr, wenigstens schien es damals unglülcklicherweise keinen Eindruck auf Sie zu machen, daß ich bei jener Gelegenheit mehr als einmal ein entschiedenes Mißbehagen darüber empfand und zu erkennen gäb, daß Sie mich Vor den Leuten im Gasthofe für Ihre Frau ausgaben. Sie thaten es, weil es nothwendig war, um mir die Erlaubniß zu erwecken, in Craig-Fernie zu bleiben; ich wußte das und doch widerstrebte mir die Sache. Es war mir unmöglich Ihnen zu widersprechen, ohne Sie in die peinlichen Folgen dieses Protestes zu verwickeln und Gefahr zu laufen, einen Scandal zu veranlassen, der Blanche leicht hätte zu Ohren kommen können. Auch das wüßte ich und doch fühlte ich Gewissensbisse, es war ein unbestimmtes Gefühl, ich wußte nichts von der positiven Gefahr in die wir uns selbst brachten, sonst würde ich mich, gleichviel was daraus entstehen mochte, auf der Stelle ausgesprochen haben. Ich hatte, was man ein Vorgefühl nennt davon, daß Ihre Handlungsweise üble Folgen nach sich ziehen könne, das war Alles. Bei dem Andenken meiner geliebten Mutter, bei meinem Vertrauen auf die Gnade Gottes betheure ich, daß sich die Sache so und nicht anders verhält. Sie verließen den Gasthof am nächsten Morgen und wir haben uns seitdem nicht wieder gesehen. Wenige Tage nachdem Sie mich verlassen hatten, vermochte ich meine Einsamkeit nicht länger zu ertragen und ging im Geheimen nach Windygates, wo ich Blanche sprach. Als sie mich auf einige Minuten verlassen hatte, sah ich Geoffrey Delamayn zum ersten Mal, seit ich mich bei Lady Lundie’s Gartenfeste von ihm getrennt hatte, wieder. Er behandelte mich wie eine Fremde, sagte mir, daß er hinter Alles gekommen sei, was zwischen uns im Gasthofe vorgefallen; sagte dann, er habe den Rath eines Rechtskundigen eingeholt, und —— O, Mr. Brinkworth, wie kann ich es aussprechen, wie kann ich die Worte niederschreiben die er dann zu mir sagte, aber es muß geschehen, so schrecklich es auch für mich ist, es muß geschehen, er weigerte sich, mich zu heirathen, weil, wie er sagte, ich schon verheirathet, weil ich Ihre Frau sei.

Jetzt wissen Sie, warum ich Sie bat, sich dessen zu erinnern, was ich fühlte und zu fühlen bekannte, als wir in Craig Fernie zusammen waren. Wenn Sie hart von mir denken und sich hart über mich aussprechen, so habe ich kein Recht, Sie deshalb zu tadeln, ich bin unschuldig und doch ist es mein Fehler.

Mir schwimmt es vor den Augen und die thörichten Thränen drängen sich unwillkürlich vor, ich muß mich unterbrechen und ein wenig ruhen.

Ich habe am Fenster gesessen und die in der Straße vorübergehenden Leute beobachtet, sie sind Alle Fremde aber ihr Anblick wirkt in gewisser Weise beruhigend auf mein Gemüth. Das Geräusch der großen Stadt giebt mir Muth und Kraft fortzufahren. Ich darf es nicht wagen, von dem Manne zu reden, der uns beide betrogen hat. Entehrt und gebrochen wie ich bin, fühle ich doch etwas in mir, was mich über ihn erhebt, Wenn er in diesem Augenblicke reuig zu mir käme und mir Alles böte, was Rang, Reichthum und Ehre der Welt geben können, so würde ich doch sein Weib nicht werden wollen, sondern vorziehen zu bleiben, was ich jetzt bin. Lassen Sie mich von Ihnen und um Blanches willen von mir selbst reden. Ich hätte unzweifelhaft in Windygates auf Sie warten und Ihnen sofort mittheilen sollen, was geschehen war, aber ich war schwach und krank und der Schreck über das, was ich gehört hatte, war so furchtbar, daß ich in Ohnmacht fiel. Als ich wieder zu zu mir kam, ergriff mich bei dem Gedanken an Sie und Blanche ein solches Entsetzen daß ich wie vom Wahnsinn besessen davon eilte und nur darauf bedacht war, mich vor den Blicken der Menschen zu verbergen. Auf dem Wege hierher wurde mein Geist klarer und ruhiger und hier angelangt, that ich, was, wie ich glaube und hoffe, das beste war, das ich thun konnte, ich fragte zwei Advocaten um Rath. Ihre Ansichten darüber, ob wir in Gemäßheit der Gesetze die für diese Dinge in Schottland maßgebend sind, verheirathet seien oder nicht, waren verschieden. Der Eine sagte: »Ja«, der Andere sagte: »Nein«, rieth mir aber, Ihnen auf der Stelle zu schreiben und Sie über Ihre Lage aufzuklären.»Ich versuchte es, noch am selbigen Tage Ihnen zuschreiben, wurde aber dabei, wie Sie bereits wissen krank. Gott sei Dank, daß der dadurch veranlaßte Aufschub nichts zu bedeuten hat. Ich fragte Blanche in Windygates, wann ihre Hochzeit sein werde und sie sagte mir, daß dieselbe nicht Vor Ende Herbst stattfinden würde. Es ist heute erst der fünfte September. Sie haben ja noch Zeit genug vor sich; um unser Aller willen, machen Sie einen guten Gebrauch davon. Was werden Sie thun? Gehen Sie sofort zu Sir Patrick und zeigen Sie ihm diesen Brief, befolgen Sie seinen Rath, gleichviel in welcher Weise ich von demselben betroffen werde. Ich würde Ihre Güte schlecht lohnen, ich würde der Liebe, die ich für Blanche im Herzen trage, wenig gemäß handeln, wenn ich einen Augenblick Bedenken trüge, mich Allem auszusetzen, was in Ihrem und in Blanche’s Interesse etwa nothwendig werden möchte. Sie haben sich in dieser Angelegenheit wahrhaft großmüthig, delicat und gütig benommen, Sie haben mein schmachvolles Geheimniß dessen bin ich gewiß, mit der Treue eines Ehrenmannes der den Ruf einer Frau in Händen hat bewahrt; ich entbinde Sie, lieber Mr. Brinkworth, von ganzem Herzen von jeder Verpflichtung, mein Geheimniß noch länger zu bewahren; ich flehe Sie auf meinen Knieen an, frei die Wahrheit zu verkünden. Ich bin bereit, meinerseits die Sache in jeder durch die Umstände geforderten noch so öffentlichen Weise zu bestätigen. Um jeden Preis machen Sie sich frei und dann, aber nicht eher, schenken Sie Ihre Achtung wieder der unglücklichen Frau, die Sie mit der Last Ihres Kummers beladen und Ihr Leben einen Augenblick mit dem Schatten ihrer Schande verdunkelt hat. Glauben Sie nicht, daß ich mir mit der an Sie gerichteten Aufforderung ein schmerzliches Opfer auferlegte. Für mich handelt es sich nur um die Beruhigung meines Gewissens.

Mich knüpft nichts mehr an das Leben, als die harte Nothwendigkeit des Daseins. Wenn ich jetzt an die Zukunft denke, so überblickt mein Geist die Jahre, die mir noch in diesem Leben beschieden sein mögen; bisweilen wage ich zu hoffen, daß die Gnade Christi, die einst auf Erden für ein schuldiges Weib gleich mir gesprochen hat, auch dereinst nach meinem Tode für meine Seele im Himmel sprechen werde. Bisweilen wage ich zu hoffen, daß ich in einer besseren Welt meine Mutter und Blanches Mutter wiedersehen werde. Ihre Herzen waren zärtlich verbunden wie Schwesterherzen, so lange sie auf Erden wandelten, und sie hinterließen ihren Kindern das Vermächtniß ihrer Liebe. O helfen Sie mir, daß ich, wenn wir uns wiedersehen, mir sagen darf, daß ich nicht umsonst versprochen habe, Blanche eine Schwester zu sein. Jetzt bin ich nur ein Hinderniß für das Glück ihres Lebens, um Gotteswillen opfern Sie mich ihrem Glück, ist das Einzige, um dessentwillen ich noch leben möchte. Ich wiederhole es, an mir ist mir nichts gelegen, ich habe kein Recht darauf, daß irgend welche Rücksicht auf mich genommen werde, und ich wünsche es auch nicht. Sagen Sie die volle Wahrheit in Betreff meiner, und rufen Sie mich so öffentlich, wie es Ihnen gut scheint, auf, die Wahrheit zu bezeugen.

Ich habe wieder eine kleine Pause gemacht und versucht, mir, ehe ich den Brief schließe, zu überlegen, was ich wohl etwa noch zu schreiben haben könnte; ich nichts nichts mehr, außer der Angabe, wo sie mich finden können, wenn Sie wünschen sollten, mir zu schreiben, oder mich zu sprechen. Ehe ich Ihnen dieses mittheile nur noch ein Wort. Es ist mir unmöglich vorauszusehen, was Sie nach Empfang dieses Briefes thun werden, oder was Andere Ihnen rathen werden zu thun. Ich muß es sogar für möglich halten, daß Sie bereits von Geoffrey Delamayn selbst über Ihre Lage aufgeklärt sind; in diesem Fall oder in dem Fall, daß Sie es für richtig halten sollten, Blanche in Ihr Vertrauen zu ziehen, wage ich es Ihnen vorzuschlagen eine Person, der Sie völliges Vertrauen schenken können, damit zu beauftragen, in Ihrem Namen mit mir zu sprechen, oder falls Ihnen das nicht möglich sein sollte selbst in Gegenwart einer dritten Person mit mir zusammenzutreffen. Der Mann, der keinen Anstand genommen hat, uns Beide zu verrathen, würde auch kein Bedenken tragen, uns auch künftig, wo er kann, in der niedrigsten Weise zu verleumden. Um Ihrer selbst willen lassen sie uns wohl beachten, lügnerischen Zungen keine Gelegenheit zu geben, Sie bei Blanche zu verleumden. Hüten Sie sich vor der Gefahr, sich abermals in eine falsche Stellung zu bringen, machen Sie es unmöglich, daß ein ihrer unwürdiges Gefühl in dem liebenden und edlen Herzen Ihres künftigen Weibes erweckt werde. Nachdem ich das geschrieben habe, kann ich Ihnen jetzt sagen, wie Sie mit mir in Verbindung bleiben können, wenn ich von hier fortgereist sein werde. Sie werden auf dem einliegenden Streifen Papier den Namen und die Adresse des zweiten Advocaten finden, den ich in Glasgow consultirt habe; ich habe mit ihm verabredet, daß ich ihn brieflich von, dem nächsten Ort, an den ich mich begeben werde, in Kenntniß setze und daß er diese Mittheilung entweder an Sie oder an Sir Patrick Lundie, sobald Sie persönlich oder schriftlich darum nachsuchen sollten, gelangen lasse. Ich weiß noch selbst nicht, wo ich eine Zuflucht finden werde; nur so viel ist sicher, daß ich in meinem gegenwärtigen schwachen Zustande nicht weit reisen kann. Wenn Sie sich darüber wundern sollten, daß ich überhaupt an Reisen denke, bevor ich mich wieder ganz kräftig fühle, so kann ich Ihnen nur einen Grund angeben, der Ihnen vielleicht excentrisch erscheinen wird. Man hat. mir mitgetheilt, daß in jener Zeit, wo ich todtkrank hier im Hotel lag, Anzeigen in Betreff meiner in Glasgower Blätter erlassen morden sind. Der Kummer hat mich vielleicht krankhaft argwöhnisch gemacht, und so fürchte ich mich vor dem, was geschehen könnte, wenn ich, nachdem mein Aufenthaltsort öffentlich bekannt gemacht worden ist, hier bliebe, und so bin ich, entschlossen, sobald ich dazu fähig. sein werde, im Geheimen abzureisen. Ich werde zufrieden sein, wenn ich an einem stillen Plätzchen auf dem Lande in der Umgebung von Glasgow Ruhe und Frieden finden kann. Sie brauchen sich in Betreff meiner Existenz keine Sorge zu machen, ich habe Geld genug für meine Bedürfnisse, und wenn ich wieder wohl werde, weiß ich mein Brod zu verdienen. Ich trage Ihnen nichts für Blanche auf; ich darf es nicht bevor dies vorüber ist; warten Sie, bis sie Ihr glückliches Weib geworden ist Und geben Sie ihr dann einen Kuß. und sagen, »er kommt von Anne.« Verzeihen Sie mir, wenn Sie konnten, lieber Mr. Brinkworth, ich habe Alles gesagt.

Ihre dankbare
Anne Sylvester.

Sir Patkick legte den Brief mit wahrer Achtung für die Schreiberin nieder; etwas von dem persönlichen Einfluß, den Anne mehr oder weniger auf alle Männer, mit denen sie in Berührung trat, übte, schien sich auch dem alten Advocaten durch das Medium ihres Briefes mitgetheilt zu haben; seine Gedanken wandten sich in einer kaum begreiflichen Weise von der ernsten und drängenden Frage der Stellung seiner Nichte ab, einer Region rein speculativer Fragen in Betreff Anne’s zu.

»Welche thörichte Verblendung hat dieses edle Geschöpf in die Hände eines Menschen wie Geoffrey Delamayn gegeben?« fragte sich Sir Patrick.

Die Meisten von uns haben wohl schon einmal in ihrem Leben einer ähnlichen Frage, wie sie jetzt Sir Patrick außer Fassung brachte, rathlos gegenüber gestanden. Die Erfahrung lehrt uns täglich, daß Frauen sich an ihrer unwürdige Männer wegwerfen, und daß Männer sich Hals über Kopf für ihrer unwürdige Weiber in’s Verderben stürzen. Wir haben das Institut der Ehescheidung neuerdings auch bei uns in England und zwar hauptsächlich deshalb eingeführt, um beiden Geschlechtern die Möglichkeit zu gewähren, die fortwährend so leichtsinnig unter ihnen eingegangenen Verbindungen wieder zu lösen, und doch sind wir bei jedem neuen Beispiel einer solchen leichtsinnigen Verbindung auf’s Neue erstaunt, zu finden, daß der Mann und das Weib sich nicht aus vernünftigen und wohlerwogenen Gründen mit einander für’s Leben verbunden haben. Fragt die besonnensten unter Anne Silvester’s Schwestern, welche vernünftigen Rechtfertigungsgründe sie für die Wahl des Mannes, dem sie Herz und Hand schenkten, hatten, und ihr werdet an diese besonnensten Frauen eine Frage richten, die sie sich niemals selbst vorgelegt haben. Ja noch mehr, befragt Eure eigene Erfahrung und gesteht offen: Konntet Ihr Eure eigene vortreffliche Wahl zu der Zeit da Ihr sie trafet, rechtfertigen? Hättet Ihr Eure Gründe, in dem Augenblick, wo Ihr Euch zuerst gestandet, daß Ihr ihn liebtet, zu Papier bringen können und würden die Gründe, wenn Ihr es gethan hättet, eine strenge Kritik ausgehalten haben?

Sir Patrick sah sich vergebens nach einer genügenden Antwort auf seine Frage um. Auch lag ihm die Beschäftigung mit einer nothwendigeren und unmittelbar practischen Angelegenheit näher. Die Interessen seiner Nichte standen auf dem Spiel. Vor allen Dingen mußte er sich bei dem Pfarrer entschuldigen lassen, damit er den Abend frei behielt, um ungestört überlegen zu können, welche Schritte er Arnold rathen solle, zunächst zu thun.

Nachdem er seinem Piquet-Partner einige Zeilen der Entschuldigung geschrieben hatte, in denen er Familienangelegenheiten als Grund seiner Absage angab, klingelte Sir Patrick.

Der treue, Duncan erschien und sah auf der Stelle an dem Gesicht seines Herrn daß etwas vorgefallen sei.

»Schicke Jemand mit diesem Billet nach dem Pfarrhause«, sagte Sir Patrick, ich kann heute nicht bei dem Pfarrer essen, Du mußt mir ein Hammelkotelett machen lassen.«

»Um Vergebung, Sir Patrick, ist es unbescheiden zu fragen, ob Sie schlimme Nachrichten erhalten haben?«

»Die denkbar schlechtesten Nachrichten, Duncan, Ich kann Dir jetzt nichts Näheres darüber sagen. Bleib’ so nahe, daß Du die Glocke hören kannst, inzwischen aber laß Niemanden mich unterbrechen, selbst den Verwalter würde ich jetzt nicht sprechen können.«

Nachdem er sich die Sache sorgfältig überlegt hatte gelangte Sir Patrick zu der Ueberzeugung, daß es hier keine Wahl gebe, sondern daß er Arnold und Blanche auf der Stelle nach England zurückkommen lassen müsse. Es war von der dringendsten Nothwendigkeit, Arnold über die kleinsten Details in Betreff jedes Umstandes seines Zusammenseins mit Anne Silvester im Gasthof zu Craig-Fernie Gasthof zu befragen. Zu gleicher Zeit schien es um Blanche’s Willen wünschenswerth, sie augenblicklich wenigstens über das, was geschehen war, im Dunkeln zu lassen. Sir Patrick war um einen Ausweg zur Ueberwindung dieser Schwierigkeit nicht verlegen. Er sandte dass folgende Telegramm an Arnold: »Ihren Brief mit Einlagen erhalten, kehren Sie sobald wie möglich nach Ham Farm zurück, halten Sie die Sache noch vor Blanche geheim, sagen Sie als Grund Ihrer Rückkehr, daß die verlorne Spur Anne Silvester’s wieder aufgefunden sei und daß vielleicht Gründe vorhanden seien, die es wünschenswerth machten, daß Sie nach England zurückkehren, bevor irgend etwas Weiteres in der Sache vorgenommen werde.«

Nachdem Duncan mit diesem Telegramm nach der Station abgeschickt worden war, ging Sir Patrick daran sich auszurechnen, bis wann er Arnold frühestens zurückerwarten könne. Arnold erhielt aller Wahrscheinlichkeit nach das Telegramm am nächsten Tage, den siebenzehnten September, in Baden. Drei Tage später konnte er mit Blanche in Ham Farm zurück sein. Diese Frist konnte Sir Patrick dazu benutzen, sich in aller Ruhe zu überlegen, wie er sich der beunruhigenden Sachlage gegenüber zu verhalten haben würde.

Am neunzehnten September erhielt Sir Patrick ein Telegramm des Inhalts, daß er das junge Paar am zwanzigsten spät Abends erwarten könne. Denselben Abend vernahm man das Rollen eines Wagens und Sir Patrick hörte, als er die Thür seines Zimmers öffnete, befreundete Stimmen in der Vorhalle.

»Nun!« rief Blanche, sobald sie seiner ansichtig wurde, ihm entgegen, »ist Anne gefunden?«

»Noch nicht, liebes Kind?«

»Sind Nachrichten von ihr da?«

»Ja!«

»Komme ich früh genug, um Etwas zu nützen?«

»Vollkommen früh genug, Du sollst morgen Alles hören. Geh’ auf Dein Zimmer, lege Deine Reisekleider ab und komm’ so bald wie möglich zum Abendessen hinunter.«

Blanche küßte ihn und ging auf ihr Zimmer.

Die Ehe hatte ihr, wie es ihrem Onkel nach der kurzen Begegnung schien, sehr gut gethan. Ihr Wesen hatte etwas Ruhiges und Festes bekommen und ihr Blick und ihre Haltung waren von einer Grazie, die Sir Patrick früher nicht an ihr gefunden hatte. Arnold seinerseits erschien in einem weniger vorteilhaften Lichte; er war unruhig und besorgt, sein Verhältniß zu Anne Silvester schien schwer auf ihm zu lasten. Sobald seine junge Frau den Rücken gekehrt hatte, wandte er sich flüsternd an Sir Patrick mit den Worten: »Ich wage es kaum, Sie nach dem zu fragen, was mir so schwer auf dem Herzen liegt, ich muß es tragen, wenn Sie mir zürnen sollten, Sir Patrick! Aber sagen Sie mir nur das Eine, giebt es einen Ausweg für uns, haben Sie darüber nachgedacht?«

»Ich bin heute Abend nicht in der Verfassung«, entgegnete Sir Patrick, »die Sache klar und ruhig zu besprechen. Lassen Sie es sich für jetzt genügen, wenn ich Ihnen sage, daß ich die Sache gründlich durchgedacht habe und warten Sie wegen alles Weiteren bis morgen.«

Noch andere in das sich jetzt abspielende Drama verwickelte Personen hatten in den letzten Tagen Veranlassung gehabt, über ihre Angelegenheiten ernstlich nachzudenken.

Zwischen dem siebenzehnten und zwanzigsten September hatte Geoffrey Delamayn Swanhaven-Lodge verlassen, um sich in sein neues Einübungs-Quartier in der Nähe von Fulham, wo der Wettlauf stattfinden sollte, zu begeben. Zu derselben Zeit hatte Capitän Newenden, der auf seiner Reise nach Süden durch London kam, die Gelegenheit benutzt seinen Advocaten zu consultiren. Der Zwecks dieser Consultation war, Mittel ausfindig zu machen, einem anonymen Briefschreiber in Schottland aus die Spur zu kommen, der Mrs. Glenarm durch seine Unverschämten Zuschriften ernstlich beunruhigt hatte.

So fanden sich allmälig die verschiedenen in unser Drama verwickelten Personen in oder bei der großen Stadt ein, in der sie bald Alle zum ersten und letzten Male einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen sollten.



Einundvierzigstes Kapitel - Der Ausweg

Das Frühstück war eben vorüber. Blanche, die einen angenehm müssigen Vormittag vor sich sah, schlug Arnold vor, mit ihr im Garten umherzuschlendern. Der Garten strahlte im hellen Sonnenschein und die junge Frau strahlte im Glanz der heitersten Laune. Sie begegnete dem Auge ihres Onkels als es bewundernd auf ihr ruhte, und erwiderte diese Huldigung mit den verbindlichen Worten:

»Du hast keine Vorstellung davon, lieber Onkel, wie schön es ist, wieder in Ham Farm zu sein.«

»So darf ich also für meine Unterbrechung Eures Honigmondes auf Verzeihung hoffen?« entgegnete Sir Patrick.

»Mehr als das,« antwortete Blanche, »wir sind Dir sehr dankbar dafür. Meine eigene Erfahrung,« fuhr sie mit der Miene einer schon mindestens zwanzig Jahre verheiratheten Matrone fort, »hat mich zu der Ueberzeugung geführt, daß ein auf dem Continent verlebter Honigmonat zu den nationalen Mißbräuchen gehört, die der Reform bedürfen. Wenn zwei Leute in einander verliebt sind —— und ich betrachte eine Ehe ohne Liebe als gar keine Ehe —— wozu bedürfen sie der aufregenden Betrachtung fremder Städte! Ist nicht die Betrachtung eines so neuen Gegenstandes, wie es ein Ehemann ist, aufregend und interessant genug für eine jung verheirathete Frau, und was ist für einen jungen Ehemann wie Arnold der interessanteste Gegenstand der gesammten Schöpfung? Die Alpen? —— Gewiß nicht! Der interessanteste Gegenstand ist seine Frau und die rechte Zeit für eine Hochzeitsreise wäre etwa zehn bis zwölf Jahre nach der Hochzeit, wenn man anfängt, nicht einander überdrüssig zu werden, davon kann ja keine Rede sein, sondern ——— ein bischen zu gut mit einander bekannt zu werden; dann ist die rechte Zeit für ein junges Ehepaar, nach der Schweiz zu reisen, und dann können vielleicht die Alpen einen Eindruck machen. Eine Reihe von Hochzeitsreisen im Herbst des ehelichen Lebens, das wäre mein Vorschlag zur Verbesserung des gegenwärtigen Zustandes. Komm mit mir in den Garten, Arnold, und laß uns berechnen, wie lange es noch dauern wird, bis wir einander überdrüssig werden und der Schönheit der Natur bedürfen, um uns die Langeweile zu vertreiben.«

Arnold warf Sir Patrick einen flehenden Blick zu. Noch war kein Wort in Betreff der ernsten Frage von Anne Silvester’s Brief zwischen ihnen gewechselt worden. Sir Patrick nahm es auf sich, Arnold bei Blanche zu entschuldigen. »Verzeihe mir, Blanche«, sagte er, »wenn ich Dich um Erlaubniß bitte, eine kleine Weile in Dein Monopol auf Arnold einzugreifen; ich habe ihm etwas über seinen Grundbesitz in Schottland mitzutheilen. Willst Du ihn mir überlassen, wenn ich Dir verspreche, ihn so bald wie möglich wieder loszulassen?«

Blanche lächelte gnädig. »Du sollst ihn so lange haben, wie Du willst. —— Da hast Du Deinen Hut«, fügte sie hinzu, indem sie ihn ihrem Manne zuwarf; »ich habe ihn Dir mitgebracht, als ich meinen holte, Du findest mich auf dem Rasen.« Sie nickte freundlich und ging hinaus.

»Lassen Sie mich gleich das Schlimmste hören«, fing Arnold an, sobald Blanche das Zimmer verlassen hatte. »Finden Sie die Sache bedenklich? Trifft mich nach Ihrer Ansicht ein Vorwurf?«

»Ich will Ihre letzte Frage zuerst beantworten. Ja, es trifft Sie nach meiner Ansicht ein Vorwurf, und zwar der, daß Sie es seiner Zeit übernahmen, als Geoffrey Delamayn’s Bote zu Miß Silvester in den Gasthof nach Craig-Fernie zu gehen. Nachdem Sie sich einmal in diese falsche Stellung gebracht hatten konnten Sie später kaum anders handeln, als Sie gethan haben. Niemand kann von Ihnen verlangen, daß Sie das schottische Recht kennen sollen, und als Ehrenmann waren Sie verpflichtet, ein Geheimniß zu bewahren, bei dem der Ruf einer Frau aus dem Spiele stand. Ihr erster und einziger Fehler in dieser Angelegenheit bestand darin, daß Sie sich mit einer Verantwortlichkeit beladen, die allein zu tragen einem andern Manne oblag.«

»Der Mann hat mir das Leben gerettet«, sagte Arnold entschuldigend, »und ich war in dem Glauben, daß ich meinem liebsten Freunde für diesen Dienst einen solchen Gegendienst schuldig sei.«

»Was Ihre andere Frage anlangt«, fuhr Sir Patrick fort, »ob ich Ihre Lage als eine bedenkliche betrachte, antworte ich: Ganz gewiß thue ich das. So lange wir nicht vollkommen sicher sind, daß Blanche nach Recht und Gesetz Ihre Frau ist, ist Ihre Lage mehr als bedenklich, sie ist unerträglich. Ich meinerseits bleibe bei der Ansicht, welche mir zu entlocken, Dank Ihrem ehrenwerthen Schweigen, dem Schurken Delamayn gelungen ist. Ich habe ihm gesagt, was ich jetzt Ihnen sage, daß ihre Worte und Handlungen in Craig-Fernie nach schottischem Recht keine Heirath begründen; aber«, fuhr Sir Patrick fort indem er seinen Finger warnend gegen Arnold erhob, »Sie haben es selbst in Miß Silvester’s Brief gelesen und können es sich jetzt auch als Ergebnis; meiner eigenen Erfahrung gesagt sein lassen, es giebt keine Ansicht eines Einzelnen in dieser Angelegenheit, auf die man sich unbedingt verlassen könnte. Von zweien von Miß Silvester in Glasgow consultirten Advocaten gelangte der eine zu einem meiner Ansicht gerade entgegengesetzten Schlusse, indem er erklärte, daß Miß Silvester und Sie verheirathet seien. Ich halte diese Ansicht für unrichtig aber in unserer Lage haben wir keine andere Wahl, als der von diesem Advokaten vertretenen Ansicht gerade in’s Gesicht zu sehen, mit andern Worten, wir müssen damit anfangen, uns auf das Schlimmste gefaßt zu machen.«

Arnold drückte den Reisehut, den Blanche ihm zugeworfen hatte, in nervöser Aufregung mit beiden Händen zusammen.

»Angenommen, das Schlimmste käme zum Schlimmsten«, fragte er, »was würde geschehen?«

Sir Patrick schüttelte den Kopf. »Die Frage ist nicht leicht zu beantworten ohne auf die juristische Seite der Sache einzugehen,« erwiderte er, »und ich würde Sie nur verwirrt machen, wenn ich das thäte; lassen Sie uns die Frage lieber von der gesellschaftlichen Seite aus betrachten, ich meine in ihren möglichen Wirkungen auf Sie und Blanche und Ihre ungebornen Kinder.«

Arnold drückte den Hut noch krampfhafter zusammen.

»An die Kinder habe ich noch gar nicht gedacht,« sagte er betroffen.

»Nichtsdestoweniger können die Kinder kommen«, bemerkte Sir Patrick trocken. »Nun hören Sie, Sie haben vielleicht daran gedacht, daß der einfachste Ausweg aus unserm gegenwärtigen Dilemma für Sie und Miß Silvester darin bestehen würde, beiderseits das zu bestätigen was, wie wir wissen, die Wahrheit ist, nämlich daß Sie Beide niemals die entfernteste Absicht hatten, einander zu heirathen; aber hüten Sie sich wohl, irgend eine Hoffnung auf ein solches Mittel zu gründen. Wenn Sie darauf rechnen, so rechnen Sie ohne Geoffrey Delamayn. Vergessen Sie nicht, daß er dabei interessirt ist, den Beweis zu erbringen, daß Sie und Miß Silvester Mann und Weib sind. Es können sich Umstände ereignen —— ich will mich nicht dabei aufhalten, sie näher anzugeben —— welche eine dritte Person in den Stand setzen könnten, die Wirthin und den Kellner in Craig-Fernie als Zeugen gegen Sie auftreten zu lassen und zu behaupten, daß Ihre Erklärung sowohl wie die Miß Silvester’s, das Ergebniß eines Einverständnisses zwischen Ihnen Beiden sei. Erschrecken Sie nicht, so etwas ist mehr als einmal vorgekommen; Miß Silvester ist arm und Blanche ist reich, Sie können in die peinliche Lage kommen, als ein Mann hingestellt zu werden, der seine Verheirathung mit einer armen Person verleugnet, um eine reiche Erbin zu heirathen, wobei es wahrscheinlich würde gemacht werden können, daß Miß Silvester sich durch zwei starke Motive bewogen fände, Sie beide in diesem Betrug zu unterstützen, das Motiv eines Anspruchs auf die Ehe mit einem reichen Manne und das Motiv einer durch den Verzicht ihres Anspruchs auf Sie zu erwirkenden Geldentschädigung.

Das ist ein Fall, wie ein Schurke ihn vor Gericht und zwar mit einigem Schein von Wahrheit wohl construiren könnte.«

»Das würden die Gerichte doch wohl nicht zulassen!«

»Die Gerichte lassen sich in Discussion über Alles und mit Jedem ein, welcher die Advocaten für die Aufwendung der erforderlichen Zeit und Mühe bezahlt. Lassen wir diese Seite der Sache jetzt auf sich beruhen. Delamayn kann, wenn er will, ohne Hilfe eines Advocaten Alles in Gang bringen; er braucht es nur zu veranstalten, daß das Gerücht, welches öffentlich behauptet, daß Blanche nicht Ihre gesetzmäßige Frau sei, dieser zu Ohren komme. Glauben Sie, daß sie bei ihrem Temperament uns auch nur einen Augenblick Zeit lassen würde, die Sache aufzuklären? Lassen Sie uns die Angelegenheit aber jetzt von einer andern Seite betrachten. Angenommen, Sie dürften sich dem beruhigenden Gedanken hingeben, daß für den Augenblick Niemandem aus der Sache Ungelegenheiten erwachsen würden, wie können wir wissen, ob sie nicht einmal in Zukunft und zwar unter Umständen wieder auftauchen könnte, Welche die Legitimität Ihrer Kinder zweifelhaft erscheinen lassen würden? Wir haben es mit einem geradezu als skandalös zu bezeichnenden Zustand der Unsicherheit der Gesetze, wir haben es ferner mit einem Manne, der vor nichts zurückschreckt, und wir haben es endlich in Bishopriggs und Mrs. Inchbare mit zwei Leuten zu thun, welche bezeugen können und werden, was zwischen Ihnen und Miß Silvester im Gasthof zu Craig-Fernie vorgefallen ist. Um Blanche’s willen und um Ihrer ungebornen Kinder willen müssen wir der Sache auf der Stelle zu Leibe gehen und sie ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Die uns zunächst vorliegende Frage ist: wollen wir die Verhandlungen damit eröffnen, daß wir uns mit Miß Silvester in Verbindung setzen?«

Bei diesem wichtigen Punkte der Unterhaltung wurden sie durch das Wiedererscheinen Blanche’s unterbrochen. Hatte sie zufällig etwas von dem, was gesprochen wurde, gehört?,Nein, es hatte mit dieser Unterbrechung dieselbe Bewandtniß wie mit den meisten derartigen Störungen. Der Müssigang, der an nichts denkt, war gekommen, den Fleiß, dem Alles obliegt, zu stören. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, daß Leute die nichts in der Welt zu thun haben, es nicht ertragen können, ihre Nebenmenschen ununterbrochen beschäftigt zu sehen. Blanche producirte ein neues Exemplar aus Arnold’s Sammlung von Hüten, »Ich habe mir im Garten die Sache durch den Kopf gehen lassen«, sagte sie ganz ernsthaft, »Du siehst in dem braunen Hut mit hohem Kopf, den ich Dir hier bringe, ungleich besser aus, als in dem weißen mit niedrigem Kopf; ich bin nur gekommen die Hüte zu wechseln, weiter nichts.« Sie tauschte den Hut mit dem, den Arnold in der Hand hielt, aus und fuhr, ohne eine Ahnung davon zu haben wie sehr sie störe, fort: »setze den braunen Hut auf wenn Du hinauskommst und komm bald, lieber Arnold. Nun bleibe ich keinen Augenblick länger hier, lieber Onkel, ich möchte Euch um Alles in der Welt nicht unterbrechen.« Sie warf Sir Patrick eine Kußhand zu, lächelte ihrem Manne zu und ging wieder hinaus.

»Wovon sprachen wir zuletzt«, fragte Arnold. »Es ist fatal auf diese Weise unterbrochen zu werden, nicht wahr?«

»Wenn ich mich im mindesten auf weibliche Naturen verstehe«, erwiderte Sir Patrick ruhig, »so wird Ihre Frau den ganzen Morgen auf diese Weise ein- und ausgehen. In höchstens zehn Minuten wird sie nach meiner Ueberzeugung ihre Ansicht in Betreff der ernsten und schwierigen Frage des weißen und braunen Hutes wieder geändert haben. Diese kleinen, sonst allerliebsten Unterbrechungen veranlassen mich doch zu einer ernsten Erwägung. Ich frage mich, würde es nicht klüger sein, wenn wir die Noth zur Tugend machten und Blanche in unser Vertrauen zogen? Was meinen Sie, wenn wir sie zurückriefen und ihr die Wahrheit sagten!«

Arnold fuhr zusammen und wechselte die Farbe. »Das hat doch seine großen Bedenken«, sagte er.

»Mein lieber Freund, bei jedem Schritt auf der Bahn dieser Angelegenheit werden Sie auf große Schwierigkeiten stoßen, früher oder später muß Ihre Frau wissen, was vorgefallen ist. Den richtigen Zeitpunkt zu bestimmen, ist natürlich Ihre Sache, nicht meine. Ich möchte ihnen nur anheimgeben, ob es Ihnen nicht besser anstehen würde, die Eröffnung aus freien Stücken zu machen, ehe Sie sich zu derselben gezwungen sehen.«

Arnold stand auf, ging im Zimmer auf und ab, setzte sich wieder nieder und sah Sir Patrick mit dem Ausdruck eines völlig rath- und fassungslosen Menschen an. »Ich weiß nicht, was ich thun soll«, sagte er, »die Sache geht über meine Kräfte; zu allem Uebrigen kommt noch, daß ich in Craig-Fernie gezwungen war, Blanche in einer Weise zu hintergehen, die ihr vielleicht als sehr gefühllos und unverzeihlich erscheinen wird.«

»Das klingt ja sonderbar, was wollen Sie damit sagen?«

»Ich will versuchen, es Ihnen zu erzählen. Erinnern Sie sich, wie Sie nach dem Gasthof kamen, um Miß Silvester zu sprechen? Nun, da ja meine Anwesenheit dort ein Geheimniß bleiben sollte, war ich natürlich genöthigt, mich vor Ihnen zu verbergen.«

»Gewiß! Und als nachher Blanche kam, waren Sie genöthigt, sich vor Blanche zu verstecken, grade wie Sie sich vor mir versteckt hatten!«

»Noch schlimmer! Ein paar Tage später zog mich Blanche in’s Vertrauen; sie erzählte mir von ihrem Besuch im Gasthofe, als wenn mir die Umstände völlig unbekannt wären, sie sprach von dem unsichtbaren Mann der sich auf so sonderbare Weise versteckt habe, ohne die entfernteste Ahnung davon zu haben, daß ich dieser Mann gewesen sei, und ich konnte kein Wort sagen, um sie auf die rechte Spur zu bringen, ich mußte schweigen, wenn ich nicht Miß Silvester verrathen wollte. Was aber wird Blancbe von mir denken, wenn ich es ihr jetzt erzähle? Das ist die Frage.«

Kaum war Blanche’s Name über die Lippen ihres Mannes gekommen, als Blanche auch schon die Prophezeihung Sir Patricks wahr machte, indem sie wieder an der offenen Gartenthür mit dem verworfenen weißen Hut in der Hand erschien. »Seid Ihr noch nicht fertig?« rief sie, »es hut mir schrecklich leid, Euch wieder zu unterbrechen, Onkel, aber diese abscheulichen Hüte Arnold’s fangen an, mich zu plagen. Ich habe mir die Sache nochmals überlegt und da finde ich doch, daß der weiße Hut mit dem niedrigen Kopf ihm besser steht. Laß uns noch einmal wechseln, lieber Arnold Ja, ja, der braune Hut ist abscheulich. Da steht ein Bettler an der Thür, ehe ich mich von den Hüten unglücklich machen lasse, gebe ich dem Bettler den Hut und schaffe mir so die Sache vom Halse. Störe ich Euch sehr? Ich komme Euch gewiß ruhelos vor und ich bin auch wirklich ruhelos, ich weiß nicht, was mir diesen Morgen ist.«

»Ich kann es Dir sagen, liebes Kind«, sagte Sir Patrick in seinem feierlichsten und trockensten Tone, »Du leidest an einer Krankheit, die unter den jungen Damen der guten Gesellschaft sehr verbreitet ist; sie ist völlig unheilbar und heißt: Nichtsthun.«

Blanche machte ihrem Onkel einen kleinen Knix. »Du hättest Dich kürzer ausdrücken können und sagen daß ich Euch im Wege bin.« Sie drehte sich rasch um, stieß den in Ungnade gefallenen braunen Hut vor sich hin auf die Veranda und ließ die beiden Herren wieder allein.

»Ihre Stellung Ihrer Frau gegenüber«, nahm Sir Patrick ernsthaft wieder auf, »ist gewiß eine schwierige.« Er hielt inne; er mußte an den Abend denken, wo er und Blanche sich Mrs. Inchbare’s unbestimmte Schilderung von dem Manne im Gasthofe anschaulich gemacht hatten, indem sie Arnold selbst als einen der hundert unschuldigen Leute genannt hatten, der dieser Schilderung entspräche.

»Vielleicht« fügte er hinzu, »ist die Lage noch schwieriger, als Sie glauben; es würde leichter für Sie und in Blanches Augen ehrenwerther gewesen sein, wenn Sie das unvermeidliche Bekenntniß vor Ihrer Hochzeit gemacht hätten. Ich bin bis zu einem gewissen Punkte dafür, daß sie das nicht gethan haben, sowie für das viel ernstere Dilemma, in welchem Sie sich jetzt Miß Silvester gegenüber befinden, verantwortlich. Wenn ich nicht unschuldiger weise Ihre Heirath mit Blanche beschleunigt hätte, würde Miß Silvester’s vortrefflicher Brief uns vollkommen zeitig genug erreicht haben, um dem Schlimmsten vorzubeugen. Es nützt nichts, dabei jetzt noch länger zu verweilen. Seien Sie getrost Arnold, es ist meine Pflicht, Ihnen einen Ausweg aus diesem Labyrinth zu zeigen, was für Schwierigkeiten auch dabei zu überwinden sein mögen und mit Gottes Hülfe wird es mir gelingen.« Er deutete bei diesen Worten auf einen am andern Ende des Zimmers stehenden Tisch, auf welchem Schreibmaterial lag. »Ich liebe es nicht, mich unmittelbar nach dem Frühstück zu bewegen, wir wollen nicht in die Bibliothek gehen; bringen Sie mir Dinte, Feder und Papier hierher.«

»Wollen Sie an Miß Silvester schreiben?«

»Das ist eine Frage, über die wir uns noch erst einigen müssen. Vorher aber muß ich mich ganz genau über Alles, was sich zwischen Ihnen und Miß Silvester im Gasthof zu Craig-Fernie zugetragen hat, unterrichten und zu diesem Zweck ein förmliches Verhör mit Ihnen vornehmen, als ob Sie mir bei einer gerichtlichen Verhandlung als Zeuge gegenüberstanden.«

Nach dieser Einleitung begann Sir Patrick, den Brief Arnold’s aus Baden in der Hand haltend, sein Verhör.

Arnold beantwortete die an ihn gestellten Fragen der Reihe nach, ruhig und nach bestem Wissen und Gewissen.

Das Verhör nahm seinen ungestörten Fortgang, bis es zu dem Moment gelangte, in welchem Anne Geoffrey Delamayn’s Brief in ihrer Hand zerknittert und entrüstet in die andere Ecke des Zimmers geworfen hatte.

Hier zum ersten Mal tauchte Sir Patrick seine Feder ein, augenscheinlich, um eine Notiz zu machen.

»Seien Sie ja genau«, sagte er, »ich muß Alles wissen, was Sie über den Brief sagen können.«

»Der Brief ist verloren«, sagte Arnold.

»Der Brief ist von Bishopriggs gestohlen!« erwiderte Sir Patrick, »und ist noch augenblicklich in Bishopriggs Händen.«

»Da wissen Sie mehr vom dem Brief als ich«, entgegnete Arnold.

»Das will ich nicht hoffen, ich weiß nicht, was in dem Briefe gestanden hat; wissen Sie es?«

»Ja, wenigstens theilweise!«

»Theilweise?«

»Es waren auf demselben Blatt Papier zwei Briefe geschrieben«, entgegnete Arnold, »einer von Geoffrey Delamayn und das ist der, von dem ich etwas weiß.«

Sir Patrick stutzte, sein Gesicht erheiterte sich und er machte rasch eine kurze Notiz. »Fahren Sie fort«, sagte er eifrig. »Wie kommt es, daß die Briefe auf demselben Blatt Papier geschrieben waren? Erklären Sie mir das!«

Arnold erklärte, daß Geoffrey in Ermangelung eines anderen Papiers seine Entschuldigung an Anne auf die letzte weiße Seite eines Briefes geschrieben habe, den er von Anne erhalten hatte.

»Haben Sie den Brief gelesen?« fragte Sir Patrick.

»Ich hätte ihn lesen können, wenn ich gewollt hätte!«

»Und Sie haben ihn nicht gelesen?«

»Nein«

»Und warum nicht?«

»Aus Delicatesse.«

Selbst Sir Patricks wohlgezogenes Temperament war solcher Zumuthung nicht völlig gewachsen. »Das ist der deplacirteste Act der Delicatesse, der mir je vorgekommen ist«, rief der alte Herr hitzig aus. Aber es nutzt nichts, darüber jetzt noch zu klagen, wenigstens werden Sie doch Delamayn’s Antwort aus Miß Silvester? Brief gelesen haben?«

»Ja, das habe ich.«

»Wiederholen Sie mir den Wortlaut, so gut Sie sich desselben nach so langer Zeit noch erinnern können.«

»Es war sehr kurz«, entgegnete Arnold, »es ist da kaum etwas zu wiederholen. Soviel ich mich erinnere, schrieb Geoffrey, er sei durch die Krankheit seines Vaters genöthigt nach London zu reisen und Miß Silvester möge bleiben, wo sie sei. Im Uebrigen verwies er sie auf mich als aus seinen Abgesandten; das ist Alles, dessen ich mich jetzt noch entsinne.«

»Plagen Sie Ihr Gedächtniß noch. ein wenig, lieber Freund, es ist von der höchsten Wichtigkeit für uns, den Inhalt des Briefes so genau wie möglich zu kennen. Hat Geoffrey in dem Briefe keine Anspielung auf sein Versprechen gemacht, Miß Silvester in Craig-Fernie zu heirathen; hat er nicht versucht, sie durch irgend eine Entschuldigung zu beschwichtigen?«

Arnold mühete sich ab, sich zu besinnen. »Ja«, antwortete er, »Geoffrey hat etwas von gewissenhafter Erfüllung seines Versprechens oder etwas der Art gesagt.«

»Sind Sie dessen gewiß?«

»Ganz gewiß!«

Sir Patrick machte eine weitere Notiz und fragte dann: »War der Brief unterzeichnet?«

»Ja.«

»Und datirt?«

»Ja«

Nach diesen drei bejahenden Antworten strengte Arnold sein Gedächtniß nochmals an. »Warten Sie einen Augenblick, ich erinnere mich noch eines Umstandes; der Brief war nicht nur datirt, sondern auch die Tageszeit war darin angegeben.«

»Wie kam das?«

»Ich rieth Geoffrey dazu. Der Brief war so kurz, daß ich mich schämte, ihn so abzugeben, ich rieth ihm daher, die Tageszeit anzugeben, um Miß Silvester dadurch zu beweisen, wie eilig er sei. Er schrieb die Abgangszeit des Zuges und ich glaube auch die Tageszeit, zu der er den Brief schrieb.«

»Und Sie haben diesen Brief an Miß Silvester im Gasthofe abgegeben, sobald Sie sie sahen?«

»Jawohl.«

Sir Patrick machte eine dritte Notiz und schob das Papier dann höchst befriedigt bei Seite. »Ich hatte immer die Idee, daß dieser verlorne Brief ein wichtiges Document sein müsse«, sagte er, »sonst hätte Bishopriggs ihn nicht gestohlen; wir müssen uns um jeden Preis in den Besitz desselben setzen. Das erste, was wir zu thun haben, ist, glaube ich, an den Glasgower Advocaten zu schreiben und den gegenwärtigen Aufenthalt Miß Silvester’s ausfindig zu machen.«

»Wartet einen Augenblick«, rief eine Stimme von der Veranda her, »vergeßt nicht, daß ich von Baden hergekommen bin, Euch zu helfen.«

Sir Patrick und Arnold sahen Beide auf. Dieses Mal hatte Blanche die letzten zwischen ihnen gewechselten Worte gehört. Sie setzte sich neben Sir Patrick an den Tisch und legte ihre Hand liebkosend auf seine Schulter. »Du hast ganz Recht, Onkel»sagte sie, »ich leide diesen Morgen an der Krankheit des Nichtsthuns. Solltest Du an Anne schreiben wollen, thue es nicht, laß mich statt Deiner schreiben.«

Sir Patrick weigerte sich, ihr die Feder abzutreten. »Die Person«, sagte er, »welche die Adresse Miß Silvester’s kennt, ist ein Advocat in Glasgow, ich schreibe an den Advocaten; wenn er uns mitgetheilt haben wird, wo sie ist, dann, liebe Blanche, wird die Zeit gekommen sein, von Deinen guten Diensten Gebrauch zu machen, um Dir Deine Freundin wieder zu gewinnen.« Er zog das Schreibmaterial noch einmal zu sich heran und begann, indem er Arnold’s Verhör für den Augenblick sistirte, seinen Brief an Mr. Crum.

Blanche bat dringend um eine Beschäftigung. »Kann mir denn Niemand etwas zu thun geben?« fragte sie. »Glasgow ist so weit weg und warten ist so langweilig. Arnold, sitz’ nicht so da und starre mich an, kannst Du denn gar nichts vorschlagen?«

Dieses Mal hatte Arnold ganz unerwarteter Weise eine Abhülfe für Blanches Leiden bei der Hand. »Wenn Du durchaus schreiben willst«, sagte er, »Du bist ja Lady Lundie einen Brief schuldig; vor drei Tagen hast Du einen langen Brief von ihr gehabt und hast noch nicht geantwortet.«

Sir Patrick hielt inne und blickte rasch von seinem Schreibpult auf. »Lady Lundie?« murmelte er fragend.

»Ja«, erwiderte Blanche, »Du hast ganz recht, ich bin ihr einen Brief schuldig und natürlich muß ich ihr sagen, daß wir wieder in England sind. Sie wird nicht wenig aufgebracht sein, wenn sie den Grund unserer Rückkehr erfährt.« Die Aussicht, Lady Lundie in Aufregung zu bringen, schien Blanche’s schlummernde Energie zu wecken. Sie nahm ein Blatt von dem Briefpapier ihres Onkels und fing auf der Stelle an, an Lady Lundie zu schreiben.

Sir Patrick vollendete seinen Brief an den Advokaten, nachdem er Blanche einen Blick zugeworfen hatte, der nichts weniger als Zufriedenheit mit ihrer augenblicklichen Beschäftigung ausdrückte. Als er dann seinen Brief geschlossen und in den Postbeutel gesteckt hatte, gab er Arnold einen Wink, ihm in den Garten zu folgen. Sie gingen zusammen hinaus und ließen Blanche, in den Brief an ihre Stiefmutter vertieft, allein zurück.

»Thut meine Frau da etwas Unrechtes?« fragte Arnold, dem der Blick, welchen Sir Patrick Blanche zugeworfen hatte, nicht entgangen war.

»Ihre Frau ist da beschäftigt, so rasch wie ihre kleinen Finger nur von der Stelle wollen, Unheil anzurichten«

Arnold starrte ihn an. »Sie muß aber doch Lady Lundie’s Brief beantworten«, bemerkte er.

»Unstreitig!«

»Und muß doch Lady Lundie sagen, daß wir in England sind?«

»Auch das bestreite ich nicht!«

»Was haben Sie denn gegen ihr Schreiben?«

Sir Patrick nahm eine Prise und deutete mit seinem elfenbeinernen Stock auf die Biene, die geschäftig im Sonnenschein des Herbstmorgens die Blumenbeete umsummte. »Ich will Ihnen sagen, was ich dagegen habe«, sagte er. »Nehmen Sie an, Blanche erklärte einem zudringlichen Insect, daß der Honig in diesen Blumen durch einen Zufall ganz plötzlich sein Ende erreicht habe. Glauben Sie, daß das Insect dieser Angabe Glauben schenken würde? Nein, es würde sich kopfüber in die nächste Blume stürzen und selbst nachforschen.«

»Nun»?« fragte Arnold.

»Da sitzt Blanche im Frühstückszimmer und erzählt Lady Lundie, daß die Hochzeitsreise in Folge eines unerwarteten Umstandes ihr Ende erreicht hat. Glauben Sie, daß Lady Lundie die Person ist, dieser Angabe Glauben zu schenken? Durchaus nicht! Lady Lundie wird, wie die Biene, sich nicht davon abbringen lassen, selbst nachzuforschen Wie die Sache enden wird, wenn sie die Wahrheit entdeckt und welche Verwickelungen sie noch in eine Angelegenheit bringen kann, die, Gott weiß es, schon verwickelt genug ist, das überlasse ich Ihrer eigenen Phantasie sich auszumalen meine schwache Seherkraft reicht nicht aus, es vorher zu sagen.«

Noch ehe Arnold eine Antwort geben konnte, trat Blanche aus dem Frühstückszimmer wieder zu ihnen. »Ich bin fertig«, sagte sie, »es war ein unangenehmer Brief und ich bin froh, ihn geschrieben zu haben.«

»Du bist fertig mit dem Brief«, bemerkte Sir Patrick, »und das mag Dir angenehm sein, die Sache ist aber damit noch keineswegs zu Ende ——«

»Was meinst Du damit?«

»Ich glaube, Blanche, daß wir mit umgehender Post von Deiner Stiefmutter hören werden.«



Zweiundvierzigstes Kapitel - Nachrichten aus Glasgow

Nachdem die Briefe an Lady Lundie und an Mr. Crum am Montag expedirt waren, konnte man die Antworten mit der Post am Mittwoch Nachmittag in Ham-Farm erwarten. Inzwischen hielten Sir Patrick und Arnold mehr als eine geheime Conferenz in Betreff der delicaten und schwierigen Frage, ob man Blanche über das Vorgefallene aufklären wolle oder nicht. Der weise ältere Mann redete und der unerfahrene junge Mann hörte zu.

»Ueberlegen Sie sich die Sache«, sagte Sir Patrick, »ich rathe dazu«, und Arnold überlegte sich die Sache und befolgte Sir Patrick’s Rath nicht.

Mögen Alle, welche ihn dafür zu tadeln geneigt sind, sich erinnern, daß er erst seit vierzehn Tagen verheirathet war. Es ist gewiß hart für einen jungen Ehemanm der erst seit so kurzer Zeit im Besitz seiner Frau ist, vor sie als ein Missethäter hintreten und sich selbst eingestehen zu müssen, daß das allzu freigiebige Schicksal ihm neben der angebeteten Frau noch einen Racheengel in den Kauf gegeben habe.«

Am Mittwoch Nachmittag waren alle drei zu Hause und sahen nach dem Postboten aus. Unter den erwarteten Briefen befand sich, ganz wie Sir Patrick es vorausgesehen hatte, ein Brief von Lady Lundie. In Betreff der viel interessanteren von Glasgow erwarteten Nachrichten war nichts eingetroffen. Der Advocat hatte auf Sir Patricks Anfrage nicht mit umgehender Post geantwortet.

»Ist das ein schlechtes Zeichen?« fragte Blanche.

»Es ist nur ein Zeichen, daß etwas vorgefallen ist«, erwiderte ihr Onkel. »Vielleicht erwartet Mr. Crnm noch irgend eine specielle Auskunft, ehe er mir antwortet. Wir müssen also auf die morgende Post hoffen, liebes Kind!«

»Inzwischen öffne doch einmal Lady Lundie’s Brief,« bemerkte Blanche, bist Du gewiß, daß er für Dich und nicht für mich ist?«

Darüber konnte kein Zweifel bestehen, der Brief von Lady Lundie war ominöser Weise an Lady Lundie’s Schwager adressirt.

»Ich weiß, was das zu bedeuten hat«, sagte Blanche, indem sie ihren Onkel, während er den Brief las, scharf mit den Augen fixirte, »Wenn man Anne’s Namen erwähnt, insultirt man meine Stiefmutter; ich habe mich nicht genirt, den Namen zu nennen und folglich ist Lady Lundie von mir tödtlich beleidigt.«

Voreiliges Urtheil der Jugend. Eine Dame, die bei einem Familienereigniß eine würdige Haltung annimmt, ist niemals tödlich beleidigt, sie ist nur tiefbetrübt.

Lady Lundie nahm in dieser Sache eine würdige Haltung an. »Ich weiß recht gut«, schrieb diese höchst achtungswerthe und recht christliche Frau, »daß ich von Anfang an von der Familie meines theuren verstorbenen Gatten als ein Eindringling betrachtet worden bin, aber ich war doch kaum darauf gefaßt, mich von dem Vertrauen der Familie in einem Augenblick ausgeschlossen zu finden, wo es nur zu offenbar ist, daß eine ernste häusliche Katastrophe stattgefunden hat. Ich wünsche durchaus nicht, lieber Sir Patrick, mich aufzudrängen; da ich es jedoch völlig unvereinbar mit der gebührenden Achtung gegen meine eigene Stellung finde, nach dem was vorgefallen ist, mit Blanche zu correspondiren, so wende ich mich an das Haupt der Familie lediglich im Interesse der Schicklichkeit. Erlauben Sie mir, Sie zu fragen, ob Sie es unter Umständen, welche ernst genug,erscheinen, um meine Stieftochter und ihren Gatten von ihrer Hochzeitsreise zurückzurufen, angemessen finden, die Wittwe des verstorbenen Sir Thomas Lundie über die Gründe dieser Rückkehr vollständig im Dunkeln zu halten. Bitte, überlegen Sie sich das wohl, durchaus nicht aus Rücksicht für mich, sondern aus Rücksicht für Ihre eigene Stellung in der Gesellschaft. Neugierde ist, wie Sie wohl wissen, meiner Natur völlig fremd, aber wenn dieser fürchterliche Scandal gleichviel welcher Natur er sein mag, bekannt wird, —— und bekannt wird er, lieber Sir Patrick, unfehlbar werden —— was wird die Welt davon denken, wenn sie nach Lady Lundie’s Ansicht fragt und hören muß, daß Lady Lundie nichts davon gewußt hat. Wie auch Ihre Entscheidung ausfallen möge, ich werde mich nicht davon beleidigt fühlen; ich werde vielleicht verletzt sein, aber darauf kommt ja nichts an. Der kleine Kreis meiner Pflichten wird mich immer eifrig, immer heiter finden, und selbst wenn Sie mich von der Familie ausschließen sollten, werden meine Wünsche doch nichtsdestoweniger ihren Weg nach Ham-Farm finden. Und eine einsame Wittwe wird, füge ich auf die Gefahr hin, ein sarkastisches Lächeln bei Ihnen zu erregen, hinzu, für das Wohlergehen Aller beten.«

«Nun?« fragte Blanche.

Sir Patrick faltete den Brief zusammen und steckte ihn in seine Tasche. »Deine Stiefmutter spricht die besten Wünsche für Dich aus, liebes Kind.« Bei diesen Worten machte er eine anmuthige Verbeugung vor seiner Nichte und ging zum Zimmer hinaus.

»Ob ich es angemessen finde, wiederholte er, nachdem er die Thür hinter sich geschlossen hatte, »die Wittwe des verstorbenen Sir Thomas Lundie im Dunkeln zu lassen? Wenn eine Dame ein wenig gereizt ist, so halte ich es nicht nur für schicklich, sondern für höchst wünschenswerth, dieser Dame das letzte Wort zu lassen.« Er ging in seine Bibliothek und steckte die Strafpredigt seiner Schwägerin in einen Kasten mit der, Aufschrift »Unbeantwortete Briefe.« Nachdem er sich derselben in dieser Weise entledigt hatte, brummte er seine kleine schottische Lieblingsmelodie vor sich hin, setzte seinen Hut ans und ging wieder in den Garten, um sich zu sonnen.

Inzwischen war Blanche keineswegs völlig befriedigt von Sir Patrick’s Antwort; sie wandte sich an ihren Gatten. »Da ist etwas nicht in Ordnung«, sagte sie, »und Onkel verbirgt es vor mir.«

Arnold hätte sich keine bessere Gelegenheit wünschen können, als die, welche sich ihm in diesen Worten darbot, um Blanche die noch immer verschobene Eröffnung der Wahrheit zu machen. Er sah Blanche in die Augen, aber ein unglückliches Verhängniß ließ sie gerade an diesem Morgen besonders reizend erscheinen. Wie würde sie aussehen werden, wenn er die Geschichte von seinem Versteck im Gasthofe erzählte. Arnold war noch sterblich verliebt in sie und Arnold schwieg.

Die Post des nächsten Tages brachte nicht nur den erwarteten Brief von Mr. Crum, sondern gleichzeitig eine unerwartete Glasgower Zeitung. Dieses Mal hatte Blanche keine Ursache, sich darüber zu beklagen, daß ihr Onkel seine Correspondenz vor ihr geheim hielt. Nachdem er den Brief des Advocaten mit einem Interesse und einer Aufregung gelesen hatte, die deutlich zeigten, daß ihn der Inhalt überraschte, überreichte er den Brief Arnold und seiner Nichte. »Das sind schlimme Nachrichten«, sagte er, »wir müssen sie gemeinschaftlich tragen.«

Nachdem Mr. Crum sich zu dem Empfange des Auskunft erbittenden Briefes von Sir Patrick bekannt hatte, fing er an, Alles mitzutheilen, was ihm über Miß Silvester’s Bewegungen von der Zeit her, wo sie das »Schöpfen-Hotel« verlassen hatte, bekannt war. Ungefähr vor vierzehn Tagen hatte er einen Brief. von ihr erhalten, in welchem sie ihm mittheilte, daß sie einen passenden Aufenthaltsort auf einem Dorfe, in der Nähe von Glasgow gefunden habe. Da er sich lebhaft für Miß Silvester interessire, habe Mr. Crum, wie er schrieb, sie einige Tage später besucht und sich überzeugt, daß sie bei respectablen Leuten wohne und so comfortable eingerichtet sei, wie es die Umstände nur irgend erlaubten. Eine Woche lang habe er darauf nichts von der Danke gehört, dann aber wieder einen Brief von ihr erhalten in welchem sie ihm mittheilte, daß sie in der Glasgower Zeitung von demselben Tage etwas gelesen habe, was sie persönlich lebhaft interessire und was sie nöthigen werde, so rasch wie ihre Kräfte es erlaubten, nach Norden zu reisen. Später, wenn sie erst über ihre eigenen Bewegungen genauer unterrichtet sein werde wolle sie wieder schreiben und Mr. Crum wissen lassen, wohin er ihr, falls es nöthig werden sollte, schreiben könne, inzwischen wolle sie ihm nur für seine Güte danken und ihn bitten, Briefe und Botschaften, die etwa für sie eintreffen würden, in Empfang zu nehmen. Seit dem Empfang dieser Mittheilung habe Mr. Crum nichts weiter gehört, er habe die heutige Morgenpost in der Hoffnung abgewartet, daß er vielleicht im Stande sein werde, fernere Nachrichten mitzutheilen. Aber diese Hoffnung sei nicht in Erfüllung gegangen; er berichte nun Alles, was er selbst wisse, und lege ein Exemplar der Zeitung, auf welche Miß Silvester in ihrem Briefe Bezug nehme, für den möglichen Fall bei, daß eine genaue Prüfung derselben Sir Patrick möglicherweise zu ferneren Entdeckungen führen könne. Schließlich verpflichte er sich, wieder zu schreiben, sobald er irgend eine weitere Auskunft mitzutheilen haben werde.

Blanche griff nach der Zeitung und öffnete sie. »Laßt mich sehen«, sagte sie, »ich finde schneller als irgend Jemand, was Anne darin aufgefallen sein kann.«

Rasch ließ sie ihre Augen von Spalte zu Spalte und von Seite zu Seite über das Blatt schweifen, bis sie dasselbe endlich mit dem Ausdruck der Verzweiflung wieder in ihren Schooß sinken ließ.

»Nichts«, rief sie, »in dem ganzen Blatte nichts, wovon ich mir denken kann, daß es Anne interessirt haben könnte. Nichts, was irgend Jemand außer Lady Lundie interessiren könnte«, fuhr sie fort, indem sie die Zeitung ungeduldig minder. Hand von ihrem Schooße hinunterschob.

»Die Nachrichten von Swanhaven Lodge sind also wahr, Arnold, Geoffrey Delamayn heirathet Mrs. Glenarm.«

»Was!« rief Arnold, dem augenblicklich der Gedanke durch den Kopf fuhr, daß das die Nachricht sein müsse, die Anne in dem Blatte gelesen habe.

Sir Patrick warf ihm einen warnenden Blick zu und nahm die Zeitung vom Fußboden auf. »Es ist vielleicht ebenso gut«, sagte er, »daß auch ich dies Blatt einmal durchsehe, liebe Blache, und mich überzeuge, daß Dir nichts entgangen ist.«

Der Bericht, von dem Blanche eben gesprochen hatte, befand sich in einem »Nachrichten aus der vornehmen Welt« überschriebenen Artikel. »Wir können«, hieß es in dem Glasgower Blatt, »die eheliche Verbindung zwischen dem »ehrenwerthen« Geoffrey Delamayn und der liebenswürdigen und ausgezeichneten Wittwe des verstorbenen Mr. Mathew Glenarm, dem ehemaligen Miß Newenden, unsern Lesern als bevorstehend melden; die Hochzeit wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, noch vor Ende des Herbstes in Schottland gefeiert werden und das Hochzeitsfrühstück wird, wie man sich erzählt, eine große und elegante Gesellschaft in Swanhaven Lodge versammeln.«

Sir Patrick reichte Arnold die Zeitung schweigend hinüber. Für jeden, der Anne Silvester’s Geschichte kannte, mußte es klar sein, daß dies die Worte waren, die ihren verhängnißvollen Weg zu ihr, an den Ort ihrer stillen Zurückgezogenheit gefunden hatten. Der Schluß, der sich daraus ziehen ließ, schien kaum weniger klar. Ihre Reise nach dem Norden konnte nur einen Zweck haben. Das verlassene Weib hatte sich, mit dem letzten Rest seiner alten Energie gewaffnet, zu dem verzweifelten Entschluß aufgerafft, der Heirath Mrs. Glenarm’s Einhalt zu thun.

Blanche war die erste, welche das Schweigen brach. »Es ist doch, als ob ein Verhängniß über uns schwebte«, sagte sie, »Alles schlägt fehl, nichts als Enttäuschungen. Sollen Anne und ich uns denn nie wiedersehen?«

Sie sah ihren Onkel an.

Dieses Mal sprach sich in Sir Patricks Wesen nichts von der Heiterkeit aus, die er sonst dem Unglück gegenüber zu bewahren pflegte. »Sie hat«, sagte er, »versprochen, Mr. Crum zu schreiben, und Mr. Crum hat versprochen, uns, sobald er etwas von ihr hört davon zu benachrichtigen. So stehen die Sachen und wir müssen mit so viel Resignation wie möglich darein finden.«

Verdrießlich stand Blanche wieder auf und ging in’s Treibhaus. Als Sir Patrick mit Arnold wieder allein war, machte er keinen Hehl aus dem Eindruck, den Mr. Crum’s Brief auf ihn gemacht hatte.

»Wir dürfen uns darüber nicht täuschen«, sagte er, »daß die Dinge eine sehr ernste Wendung genommen haben. Alle meine Pläne und Berechnungen sind über den Haufen geworfen. Es ist unmöglich vorauszusehen, zu welchem neuen Unheil es führen kann, wenn diese beiden Frauen zusammentreffen, und welchen Akt der Verzweiflung Mr. Delamayn begehen wird, wenn er sich zum Aeußersten getrieben sieht. Wie die Dinge sich jetzt gestaltet haben, gestehe ich offen, nicht zu wissen, was wir thun sollen. Ein großer Presbyterianischer Gottesgelehrter«, sagte er in einem plötzlichen Anflug seiner ironischen Laune hinzu, »erklärte einmal in meiner Gegenwart die Erfindung der Buchdruckerkunst für ein Werk des Teufels. Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich mich geneigt, ihm beizustimmen.«

Bei diesen Worten hatte er die Glasgower Zeitung, welche er vorhin bei Seite gelegt hatte, mechanisch wieder in die Hand genommen. »Was ist das!« rief er, als eine der ersten Zeilen, auf die sein Blick zufällig fiel, seine Aufmerksamkeit auf sich zog. »Wieder Mrs. Glenarm? Wollen sie die Wittwe des Eisenwerksbesitzers zu einem öffentlichen Charakter machen?«

Wirklich stand der Name der Wittwe zum zweiten Mal gedruckt da und zwar dieses Mal in einem, dem Genre der chronique scandaleuse angehörenden Brief eines besonderen Correspondenten unter der Ueberschrift »Tagesbegebenheiten im Norden.«

Nachdem der Correspondent behaglich über die Aussichten der Jagdsaison, über die Pariser Moden, über den Unfall eines Touristen und über einen scandalösen Austritt in der schottischen Kirche geplaudert hatte, ging er zu der Erzählung eines interessanten Vorfalles über, der sich an eine Heirath in der vornehmen Welt knüpfte »Ungewöhnliches Anfsehen«, schrieb der Correspondent, »habe es in Perth und dessen Umgegend gemacht, daß eine distinguirte Dame der Gegenstand eines anonymen Erpressungs-Versuches geworden sei. Da ihr Name bereits in einer Zuschrift an die Gerichte öffentlich genannt worden sei, so könne es kein Bedenken haben, mitzutheilen, daß die fragliche Dame Mrs. Glenarm sei, auf deren bevorstehende eheliche Verbindung mit dem »ehrenwerthen« Geoffrey Delamayn bereits in einer anderen Spalte dieses Blattes hingewiesen worden ist. Mrs. Glenarm habe, wie es scheint, den Tag nach ihrer Ankunft in dem Hause einer Freundin, in der Nähe von Perth, einen anonymen Brief empfangen; der Brief habe die Warnung enthalten, daß ein ihr selbst vermuthlich unbekanntes Hinderniß ihrer mit Mr. Geoffrey Delamayn bevorstehenden Verbindung im Wege stehe. Dieser Herr, so habe der Brief seine Warnung begründet, habe bereits ein ernstes Verhältniß zu einer andern Dame, und diese Dame werde sich seiner Heirath mit Mrs. Glenarm, mit schriftlichen Veweisen der Berechtigung ihres Anspruchs ausgerüstet, widersetzen. Diese Beweise beständen in zwei, zwischen den Betreffenden gewechselten und von ihnen unterschriebenen Briefen und die Correspondenz stehe Mrs. Glenarm unter folgenden Bedingungen zur Verfügung: Erstens, daß sie einen hinreichend hohen Preis offerire, um den gegenwärtigen Besitzer der Briefe zu bewegen, sich von ihnen zu trennen. Zweitens, daß sie sich dazu verstehe, das Geld in einer Weise zu bezahlen, welche die betreffende Person davor sicher stelle, nicht mit den Gerichten in Conflict zu gerathen. Die Antwort auf diese beiden Vorschläge wurde in Gestalt einer Anzeige in dem Localblatt unter der Adresse! »An einen Freund im Verborgenen« erbeten. Gewisse Wendungen in diesem anonymen Schreiben und ein Paar orthographische Fehler, legten die Vermuthung nahe, daß dieses unverschämte Machwerk von einem Schotten niederen Standes herrührte. Mrs. Glenarm habe das Schreiben sofort ihrem nächsten Verwandten, Capitain Newenden gezeigt, und dieser habe den Rath eines Rechtsfreundes in Perth gesucht. Nach reiflicher Ueberlegung des Falles habe man beschlossen, die verlangte Antwortsanzeige zu erlassen, gleichzeitig aber Maßregeln ergriffen, dem Schreiber des Briefes eine Falle zu stellen, so daß es ihm nicht möglich werden würde, Nutzen aus seinem Erpressungsversuch zu ziehen. Die Schlauheit des »Freundes im Verborgenen, wer er auch sein möge, habe sich aber größer erwiesen, als die Klugheit der Advocaten; mit großem Geschick war er nicht nur dem ersten, sondern auch einem späteren Versuche, ihm eine Falle zu stellen, aus dem Wege gegangen. Mrs. Glenarm hatte darauf einen zweiten und auch noch einen dritten anonymen Brief, den einen noch unverschämter als den andern, erhalten, in welchen der Dame und den für sie thätigen Freunden die Versicherung gegeben wurde, daß sie nur ihre Zeit vergeudeten und den Preis für die Correspondenz unnöthig steigerten. Darauf habe sich Capitain Newenden an die städtischen Behörden gewandt und mit Genehmigung derselben eine Belohnung auf die Entdeckung des Schreibers ausgesetzt. Nachdem auch dieses Verfahren völlig erfolglos geblieben sei, habe, wie man hört, Capitain Newenden unter dem Beistande seiner englischen Advocaten, Vorkehrungen getroffen, die Sache den Händen eines erfahrenen Londoner Polizei-Agenten zu übergeben. Soweit sei, schrieb der Zeitungs-Correspondent, die Sache gediehen, er finde es nur noch erforderlich, hinzuzufügen, daß Mrs. Glenarm, um sich ferneren Unannehmlichkeiten zu entziehen, die Umgegend von Perth verlassen und sich unter den Schutz von Freunden in einen andern Theil der Grafschaft begeben habe.

Mr. Geoffrey Delamayn, dessen Ruf, wie grundloser Weise, fügte der Correspondent in einer Paranthese hinzu, brauche er wohl nicht zu bemerken, angegriffen worden sei, habe, wie man höre, mit dem Ausdruck einer unter den Umständen höchst natürlichen Entrüstung sein lebhaftes Bedauern darüber zu erkennen gegeben, daß er sich nicht in der Lage befinde, Capitain Newenden bei seinen Bemühungen, den anonymen Verläumder in die Hände der Gerechtigkeit zu liefern, behülflich zu sein. Der »ehrenwerthe« Herr sei, wie dem Publicum wohl bekannt, im Begriff, sich für sein bevorstehendes Erscheinen bei einem Wettlaufe scharf trainiren zu lassen und es werde für so wichtig erachtet, bei seiner gegenwärtigen verantwortlichen Stellung jede Gemüthsbewegung von ihm fernzuhalten, daß sein Trainer und seine Freunde es für wünschenswerth hielten, seine Entfernung nach Fulham zu beschleunigen, wo jetzt die Uebungen, durch welche er sich auf den Wettlauf vorbereite, an dem Orte des Wettlaufs selbst fortgesetzt würden.«

»Das Dunkel scheint immer dunkler zu werden,« sagte Arnold.

»Ganz im Gegentheil,« bemerkte Sir Patrick vergnügt, »das Dunkel klärt sich, Dank der Glasgower Zeitung, rasch auf. Miß Silvester ist nach Perth gegangen, um ihren Verlornen Brief wieder zu erlangen.«

»Glauben Sie«, fragte Arnold, indem er auf die Zeitung wies, »daß sie in dem hier erstatteten Bericht ihren verlorenen Brief wieder erkannt haben wird?«

»Gewiß, und noch mehr. Wenn mich nicht Alles trügt, so ist sich Miß Silvester über die Person des anonymen Verfassers der Drohbriefe völlig klar.«

»Wie sollte sie den errathen haben?«

»Sehr einfach; es muß ihr nachgerade, was sie auch früher gedacht haben mag, jetzt der Gedanke gekommen sein, daß der von ihr vermißte Brief nicht verloren, sondern gestohlen ist. Nun kann sie aber nur zwei Leute des Diebstahls für schuldig halten: Mrs. Inchbare oder Bishopriggs. Der Zeitungsartikel hier bezeichnet den Styl der anonymen Briefe als den eines Schotten von geringem Stande, weist also deutlich auf, Bishopriggs als Verfasser hin. Ist Ihnen das klar? Nun gut; nehmen Sie also an, daß Miß Silvester sich wieder in den Besitz des gestohlenen Briefes gesetzt hat, was wird sie aller Wahrscheinlichkeit nach dann thun? —— Sie müßte kein Weib sein, wenn sie sich nicht demnächst, mit ihren schriftlichen Beweisen ausgerüstet, auf den Weg zu Mrs. Glenarm machte. Was sie aber auch thun mag, ob sie uns nun, ohne sich dessen bewußt zu sein, in der Erreichung unseres Zweckes fördert oder hemmt, gleichviel, unser Verfahren ist uns in jedem Falle klar vorgezeichnet Unser Interesse, uns mit Miß Silvester in Verbindung zu setzen, bleibt dasselbe wie ehe wir die Glasgower Zeitung gelesen hatten. Ich schlage vor, daß wir aus den möglichen Fall hin, daß Mr. Crum inzwischen wieder schreibt, bis Sonntag warten; wenn wir bis dahin nichts von ihm hören, werde ich Montag Morgen nach Schottland reisen und sehen, ob ich nicht durch Mrs. Glenarms Vermittlung zu Miß Silvester gelangen kann.«

»Und ich soll hier bleiben?«

»Sie sollen hier bleiben. Jemand muß doch bei Blanche bleiben; muß ich Sie, nachdem sie erst vierzehn Tage verheirathet sind, daran erinnern?«

»Glauben Sie nicht, daß Mr. Crum vor Montag schreiben wird?«

»Es wäre das ein für uns so günstiger Umstand, daß ich es kaum zu hoffen wage.«

»Sie glauben nicht mehr an unser Glück, Sir Patrick!«

»Ich hasse solche Redensarten, lieber Arnold, aber ich muß bekennen, dieses Mal haben Sie mit Ihren Worten meine Stimmung so treffend characterisirt, daß ich mir Ihren Ausdruck schon gefallen lassen muß.«

Aber Arnold ließ sich durch diese Antwort nicht irre machen und sagte: »Für Jeden schlägt früher oder später die Stunde des Glücks und ich glaube fest, daß auch unser Glück noch einmal blühen wird. Wollen Sie wetten, Sir Patrick?«

»Ich wette nie. Das Weiten und die Wartung meiner Pferde überlasse ich meinem Stallknechte.« Mit dieser mürrischen Antwort schloß Sir Patrick für heute die Unterhaltung.

Die Stunden vergingen, und wieder traf zu rechter Zeit die Post ein und entschied zu Arnold’s Gunsten. Sir Patrick’s Mangel an Vertrauen auf die Gunst des Glücks wurde durch die Ankunft eines zweiten Briefes des Glasgower Advocaten, am nächsten Tage practisch widerlegt.

»Ich habe die Ehre, Ihnen mitzutheilen,« schrieb Mr. Crum, »daß ich, nachdem ich meinen Brief nach Ham Farm abgesandt hatte, mit der nächsten Post von Miß Silvester gehört habe. Sie schrieb mir kurz, daß sie sich entschlossen habe, ihren Aufenthalt demnächst in London zu nehmen. Der Grund, welchen sie für diesen Schritt an den sie, als ich sie zuletzt sah, offenbar noch nicht dachte, angiebt, ist die fast gänzliche Erschöpfung ihrer pecuniären Mittel. Sie schreibt weiter: Nachdem sie sich entschlossen habe, sich eine Existenz als Concertsängerin zu gründen, habe sie bereits Schritte gethan, ihr Interesse den Händen eines alten Freundes ihrer verstorbenen Mutter, einem seit lange in London etablirten Concertunternehmer, der selbst früher Musiker von Profession gewesen zu sein scheint und ihr als vertrauenswürdig und respectabel bekannt sei, anzuvertrauen. Ich füge Namen und Adresse dieses Mannes, die sie mir für den Fall aufgiebt, daß ich Veranlassung haben sollte, ihr vor ihrer Niederlassung in London zu schreiben, auf einliegendem Zettel bei. Das ist der wesentliche Inhalt ihres Briefes. Ich habe nur noch hinzuzufügen, daß derselbe nicht die leiseste Andeutung über den Grund ihrer plötzlichen Abreise von Glasgow enthält.«

Sir Patrick war zufällig allein, als er Crum’s Brief öffnete. Das Erste was er that, nachdem er ihn gelesen hatte, war, daß er den Fahr-Plan der Eisenbahn, welcher in der Vorhalle hing, zu Rathe zog. Nachdem er das gethan hatte, kehrte er in die Bibliothek zurück, schrieb ein kurzes Billet, mit der Bitte um Auskunft, an den Concertunternehmer in London und klingelte. »Miß Silvester wird in London erwartet, Duncan, ich brauche einen discreten Menschen, um mich mit ihr in Verbindung zu setzen.«

Duncan verneigte sich. Sir Patrick übergab ihm das Billet und sagte: »Wenn Du Dich gleich auf den Weg machst, so kannst Du den Zug noch erreichen, begieb Dich sofort nach Deiner Ankunft in London, nach der auf der Adresse dieses Billets angegebenen Wohnung und frage nach Miß Silvester. Wenn sie schon dort ist, richte ihr meine Empfehlung aus und sage ihr, ich würde die Ehre haben, sie in der Angelegenheit des Mr. Brinkworth zu einer von ihr beliebig zu bestimmenden Zeit zu besuchen. Wenn Du Deinen Auftrag rasch ausrichtest, kannst Du noch mit dem letzten Zuge wieder herkommen. Sind Mr. Brinkworth und seine Frau schon von ihrer Spazierfahrt zurück?«

»Nein, Sir Patrick!«

Die Zeit bis zur Rückkehr von Arnold und Blanche benutzte Sir Patrick dazu, Mr. Crum’s Brief zum zweiten Mal anzusehen. Er glaubte nicht recht daran, daß die angebliche Erschöpfung ihrer Geldmittel der wahre Grund von Anne’s Reise nach London sei. Er erinnerte sich, daß Geoffrey sich mit seinem Trainer nach dem in unmittelbarer Nähe von London gelegenen Fulham begeben habe, und fürchtete daher, Anne möge durch einen ernsten Streit mit Mrs. Glenarm zu dem Entschlusse gebracht worden sein, sich direct an Geoffrey zu wenden. In diesem Falle wollte Sir Patrick Miß Silvester seinen Rath und seine Hilfe unbedenklich zur Verfügung stellen. Mit der Geltendmachung ihres Anspruchs gegen den Anspruch Mrs. Glenarm’s stellte sie sich zugleich als unverheirathet hin und diente damit Blanche’s Interessen nicht minder als ihren eigenen. »Ich bin es Blanche schuldig, Anne Silvester zu helfen«, dachte Sir Patrick; »und bin es mir selbst schuldig, Geoffrey Delamayn, wo möglich, einen Tag der Vergeltung zu bereiten.«

Das: Bellen der Hunde im Hof kündigte die Rückkehr des Wagens an. Sir Pakrick ging hinaus, um Arnold und Blanche an der Pforte zu empfangen und ihnen die empfangene Nachricht mitzutheilen.

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Pünktlich wie immer, erschien der discrete Duncan in dem Augenblick, wo er zurückerwartet wurde, mit einem Billet des Concertunternehmers ans London, in welchem derselbe meldete: Miß Silvester sei noch nicht in London eingetroffen, werde aber spätestens am Dienstag der kommenden Woche erwartet. Der Agent habe bereits Weisung von ihr erhalten, jedem ihm etwa von Sir Patrick Lundie zugehenden Auftrag auf das Genaueste auszurichten. Er werde Sorge tragen, daß Sir Patricks Botschaft Miß Silvester unmittelbar nach ihrer Ankunft mitgetheilt werde. Hier war also endlich eine Nachricht, auf die man sich verlassen konnte! Hier eröffnete sich eine Aussicht, Anne wiederzusehen! Blanche strahlte vor Glück. Arnold war zum ersten Mal seit seiner Rückkehr von Baden in bester Laune.

Sir Patrick gab sich große Mühe, sich von der Heiterkeit seiner jungen Freunde anstecken zu lassen, aber diese Bemühung erwies sich zu seinem eigenen Erstaunen als völlig fruchtlos. Trotz der entschieden günstigen Wendung der Dinge und obgleich er der Nothwendigkeit einer in ihrem Erfolge zweifelhaften Reise nach Schottland überhoben und seiner Zusammenkunft mit Anne in wenigen Tagen gewiß war, konnte Sir Patrick gleichwohl den ganzen Abend eine gewisse Niedergeschlagenheit nicht los werden.

»Sie glauben noch immer nicht an unser Glück!« rief Arnold, als er die letzte Partie mit Sir Patrick beendigt hatte und ihm Gute Nacht sagte. »Bessere Aussichten, als sie sich uns für die nächste Woche eröffnen, könnten wir uns doch wahrhaftig nicht wünschen! Wie?«

Sir Patrick legte seine Hand auf Arnold’s Schulter und sagte in seiner komisch, ernsten Weise: »Lassen Sie uns das demüthigende Schauspiel der Thorheit eines alten Mannes mit Nachsicht betrachten. Mir ist zu Muth, als möchte ich Alles, was ich auf der Welt besitze, darum geben, die nächste Woche glücklich überstanden zu haben.«

»Aber, warum denn?«

»Das ist ja eben die Thorheit, lieber Arnold, ich kann Ihnen nicht sagen, warum. Trotz so vieler Gründe, in besserer Laune zu sein als gewöhnlich, kann ich mich einer unvernünftigen, aber unüberwindlichen Mißstimmung nicht erwehren. Woher kommt das? Liegt meiner Stimmung vielleicht unbewußt eine böse Ahnung zu Grunde? Oder beruhet sie nur auf einer vorübergehenden Indisposition meiner Leber? Das»ist die Frage, aber wer soll sie entscheiden? Was ist doch der Mensch für ein elendes Geschöpf, Arnold! Geben Sie mir mein Licht und lassen Sie uns hoffen —— daß meine Leber allein für meine Stimmung verantwortlich sei.«



Die Geschirrkammer

Dreiundvierzigstes Kapitel - Anne erringt einen Sieg

An einem Abend im September, um die Zeit, wo Arnold und Blanche sich auf der Rückreise von Baden nach Ham-Farm befanden, saß ein alter Mann, mit einem verschleierten blinden und einem feuchten, gesunden Auge, allein in der Geschirrkammer der »Schottischen Harfe« in Perth, und war damit beschäftigt ein Glas Whisky-Punsch bedächtig mit dem erforderlichen Zucker zu versehen. Es war derselbe alte Mann, den wir im Laufe dieser Erzählung bereits als den väterlichen Freund Anne Silvester’s und als den, willfährigen Diener Blanche’s bei dem Ball in Swanhaven Lodge kennen gelernt haben. Jetzt lebte er der Hoffnung, zu einer dritten Dame, Mrs. Glenarm, in der mystischen Eigenschaft eines »Freundes im Verborgenen« in freundschaftliche Beziehungen zu treten.

Am Tage nach den Festlichkeiten in Swanhaven in Perth angelangt, hatte sich Bishopriggs alsbald in die »Schottische Harfe« begeben, hier, wo er dem Wirth als Mrs. Inchbare’s rechte Hand bekannt war und wo er auf der von dem Oberkellner geführten Liste obenan stand, konnte er hoffen, Beschäftigung zu finden. Seinen Freund, den Kellner Thomas Pennyquick, nach dem Bishopriggs zuerst fragte, fand er in einer traurigen körperlichen Und geistigen Verfassung. Der arme Mensch kämpfte vergebens gegen einen immer weiter um sich greifenden, lähmenden Rheumatismus und sah dem traurigen Loose entgegen, lange krank zu Hause liegen und dabei Frau und Kinder ernähren zu müssen, während die mit seiner Stellung verknüpften Einnahmen in die Tasche des ersten besten Fremden wandern würden, der sich zur Uebernahme seiner Stelle im Gasthof melden möchte. Kaum hatte Bishopriggs diese traurige Geschichte gehört, als er auch schon schlauer Weise seine Gelegenheit ersah, die Rolle eines großmühtigen und ergebenen Freundes von Thomas Pennyquick zu spielen und dabei sein eigenes Interesse wahrzunehmen. Er erbot sich sofort die Stelle des erkrankten Oberkellners, ohne auf die Einnahmen desselben Anspruch zu machen, unter der selbstverständlichen Bedingung zu übernehmen, daß der Wirth ihm unentgeltlich Kost und Logis im Gasthof gewähre. Nachdem der Wirth bereitwillig auf dieses Anerbieten eingegangen war, hatte, sich Thomas Pennyquick in den Schooß seiner Familie zurückgezogen und Bishopriggs sah sich nun durch eine respectable Position und eine tugendhafte Handlung gegen jede Gefahr eines auf ihn, als einen Fremden fallenden Verdachts für den Fall, daß, seine Correspondenz mit Mrs. Glenarm von Seiten ihrer Freunde zum Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung gemacht werden sollte, zwiefach gesichert.

In dieser meisterhaften Weise hattet er seinen Feldzug eröffnet und derselbe umsichtige Scharfsinn leitete auch seine ferneren Schritte. Gleichwohl sollte s ihn die Entdeckung von einer Seite her ereilen, die er in seinen Berechnungen nicht mit in Anschlag gebracht hatte.

Anne Silvester war nach Perth gekommen, um, wie Sir Patrick richtig vorausgesehen hatte, sich Gewißheit darüber zu verschaffen, ob ihr Verdacht, daß Bishopriggs die Person sei, die es versuchte, ihre Correspondenz zu einem pecuniären Vorteile für sich auszubeuten, begründet sei. Die auf Anne’s Veranlassung unmittelbar nach ihrer Ankunft eingezogenen Erkundigungen ergaben leicht, daß Bishopriggs, der frühere Oberkellner in Craig-Ferine und der aufopfernde Freund Thomas Pennyquick’s, ein und dieselbe Person seien.

Bereits am Tage nach ihrer Ankunft in Perth erfuhr Anne, daß Bishopriggs in dem unter dem Namen der »schottischen Harfe« bekannten Gasthofe in Dienst stehe. Der Wirth des Hotels, in welchem sie abgestiegen war, erbot sich, eine Bestellung für sie auszurichten. Sie lehnte aber dieses Anerbieten mit der Bemerkung ab, daß sie ihre Bestellung selbst ausrichten wolle und erbat sich nur Jemandem der ihr den Weg nach dem Gasthof zeige.

In seiner einsamen Geschirrkammer saß Bishopriggs, friedlich damit beschäftigt, den Zucker in seinem Whisky-Punsch zu schmelzen. Es war die Abendstunde, zu welcher gewöhnlich eine Pause der Ruhe einzutreten pflegte, ehe der sogenannte Nachtdienst des Hauses seinen Anfang nahm. Diese Pause pflegte Bishopriggs regelmäßig zu benutzen, um zu trinken und seinen Gedanken Audienz zu geben. Er kostete den Punsch und ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen, als er das Glas wieder niedersetzte, seine Aussichten waren die besten. Bis jetzt hatte er die Adpocaten bei den vorläufigen Verhandlungen überlistet. Jetzt brauchte er nur noch abzuwarten, bis die durch gelegentliche Briefe ihres »Freundes im Verborgenen« unterhaltene Furcht vor einem öffentlichen Skandal auf Mrs. Glenarm die gebührende Pression geübt und sie dahin gebracht haben würde, den Kaufpreis für die Correspondenz mit eigener Hand auszuzahlen. »Ich muß ihr Zeit lassen, sich die Sache zu überlegen«, dachte er, »und die Goldfüchse werden schon aus ihrer Börse herausspazieren.«

Seine Reflexionen wurden durch die Erscheinung eines unordentlich aussehenden Dienstmädchens, das ein baumwollenes Tuch um den Kopf gebunden hatte und eine Casserole in der Hand hielt, unterbrochen. »O, Mr. Bishopriggs«, rief das Mädchen, »da ist eine hübsche junge Dame, die nach Ihnen fragt!«

»Eine Dame?« wiederholte Bishopriggs, mit einem Blick tugendhafter Entrüstung »Du thust nicht gut, mein Kind, zu einem anständigen, für seinen Wandel verantwortlichen Mann mit einer solchen Liebesbotschaft zu kommen; wofür hältst Du mich? Für einen Mark-Anton, der um der Liebe Willen die Welt verlor und ein großer Narr war, oder für einen Don Juan, der seine Geliebten nach Hunderten zählte, wie König Salomo? Fort mit Dir zu Deinen Töpfen und Pfannen und heiße die wandernde Venus, die Dich) abgesandt hat, nach Hause gehen und spinnen.«

Noch ehe das Mädchen antworten konnte, wurde es sanft von der Schwelle der Thür weggeschoben und Bishopriggs sah, wie vom Blitz getroffen, Anne Silvester an der Stelle des Mädchens stehen. »Sie thäten besser, diesem Mädchen zu sagen, daß, ich keine Fremde für Sie bin«, sagte Anne mit einem Blick auf das Küchenmädchen, das sie mit dem Ausdruck dumpfen Staunens vom Vorplatz aus anstarrte.

»Mein eigenes Schwesterkind!« rief Bishopriggs mit einer jener frechen Lügen, um die er nie verlegen war; »gehe Deiner Wege, Maggie, das hüsbsche Kind da ist mein eigenes Fleisch und Blut; dagegen werden böse Zungen doch wohl nichts einzuwenden haben. —— Herr des Himmels!« fügte er in einem andern Ton hinzu, sobald das Dienstmädchen, die Thür hinter sich geschlossen hatte, »was führt Sie hierher?«

»Ich habe Ihnen! etwas zu sagen, ich bin nicht ganz wohl und muß mich erst einen Augenblick erholen —— geben Sie mir einen Stuhl!«

Bishopriggs gehorchte schweigend; Sein eines sehendes Auge ruhte, während er den Stuhl bereit setzte, mit einer behaglichen und argwöhnischen Aufmerksamkeit auf Anne. »Ich muß Sie vor Allem Eines« fragen, meine liebe Madam, auf welchem wunderbaren Wege sind Sie in diesen Gasthof gelangt?«

Arme erzählte ihm kurz und offen, wie sie ihre Erkundigungen eingezogen habe und zu welchem Ergebniß dieselben geführt hätten.

Die gefurchte Stirn Bishopriggs fing an, sich wieder zu glätten. »So, so«, rief er aus, indem er sich wieder in dem Besitz seiner ganzen angeborenen Unverschämtheit fühlte. »Ich habe schon einmal Gelegenheit gehabt, gegen eine andere Dame zu bemerken, daß es ganz wunderbar ist, wie sich die guten Handlungen eines Menschen in diesem Jammerthale doch belohnen; ich habe eine gute Handlung an dem armen Thomas Pennyquick gethan und nun ist ganz, Perth voll von meinem Lobe und Samuel Bishopriggs so bekannt, daß ein Fremder nur nach ihm zu fragen braucht, um ihn zu finden, aber bitte, glauben Sie ja nicht, daß ich für mich selbst in die Posaune gestoßen habe; als ein guter Calvinist habe ich nicht den allermindesten Glauben an gute Werke; wenn ich meine eigene Berühmtheit betrachte, so frage ich grade, wie der Psalmist gefragt hat: »Warum toben die Heiden und die Leute reden so vergeblich! Aber Sie wollen mir etwas mittheilen«, fügte er hinzu, indem er plötzlich wieder auf den Zweck von Anne’s Besuch zurückkam. »Ist es menschenmöglich, daß Sie nur zu diesem Zweck die ganze Reise nach Perth gemacht haben?« In seinem Gesicht fingen die Spuren des Argwohnes wieder an, sich zu zeigen.

Anne versuchte es, so gut es gehen wollte, den Widerwillen, den er ihr einflößte, zu verbergen und theilte ihm den Zweck ihres Kommens ohne alle Umschweife und in möglichst kurzen Worten mit. »Ich bin hergekommen, Sie um etwas zu bitten«, sagte sie.

»Ei, ei, was können Sie von mir wünschen?«

»Ich wünsche den Brief, den ich in Craig-Fernie verloren habe.«

Selbst Bishopriggs’ ganz ungewöhnliche Gewalt über sich, wurde durch diesen unerwarteten Angriff erschüttert; seine geläufige Zunge war einen Augenblick wie gelähmt. »Ich weiß nicht, was Sie wollen«, sagte er nach einer kleinen Pause, in dem verdrießlichen Bewußtsein, daß er sich beinahe verrathen hätte.

Die Veränderung in dem Benehmen Bishopriggs’ überzeugte Amte, daß er der Mann sei, den sie suche.

»Sie haben meinen Brief«, wiederholte sie im Tone fester Ueberzeugung, »und Sie versuchen es, den Brief zu einem unerlaubten Zweck auszubeuten, ich werde nicht zugeben, daß Sie meine Privatangelegenheit zu einer verkäuflichen Waare machen. Sie haben einen Brief von mir einer Fremden zum Verkauf angeboten und ich bestehe darauf, daß Sie mir denselben zurückgeben, bevor ich das Zimmer verlasse.«

Bishopriggs zauderte wieder. Sein erster Argwohn, daß Anne im Geheimen von dem Advocaten Mrs. Glenarm’s instruirt worden sei, schien sich zu bestätigen; er fühlte die ungeheure Wichtigkeit einer vorsichtigen Antwort und sagte nach einer kurzen Ueberlegung: »Ich will die kostbare Zeit nicht damit hinbringen, die Verleumdung die mir hier in den Weg tritt, von mir zu weisen. Die Verleumdung macht vergebliche Anstrengungen meine liebe Madam, wenn sie sich gegen einen ehrlichen Mann wie mich wendet. Pfui, schämen Sie sich, daß Sie so etwas sagen mögen und zu mir, der ich wie ein Vater in Craig-Fernie an Ihnen gehandelt habe. Wer hat Sie dazu angestiftet; ist die Person, die mich hinter meinem Rücken verleumdet hat, ein Mann oder eine Frau?«

Anne zog die »Glasgower Zeitung« aus der Tasche ihres Reisemantels und legte dieselbe so vor ihn hin, daß er die Stelle, welche den Erpressungsversuch bei Mrs. Glenarm schilderte, gerade vor Augen hatte. »Sehen Sie, hier habe ich Alles gefunden, was ich zu wissen brauche.«

»Die ganze Bande von Redacteuren, Druckern, Papierfabrikanten, Zeitungsverkäufern und alle dergleichen Gesindel sollen in der Hölle braten.« Mit diesem innerlich empfundenen aber nicht ausgesprochenen frommen Wunsch setzte. Bishopriggs seine Brille auf und las die vor ihn hingelegte Stelle. »Ich finde da nichts im Betreff Samuel Bishopriggs’ oder eines Verlustes, den Sie in Craig-Fernie gehabt haben könnten«, sagte er, nachdem er die Stelle gelesen hatte, indem er seine Position mit einer Entschlossenheit, die einer bessern Sache werth gewesen wäre, zu vertheidigen suchte.

Anne’s Stolz sträubte sich, dagegen noch länger mit ihm zu disputiren, sie stand auf und sagte ihr letztes Wort:

»Ich weiß zur Genüge, daß das einzige Argument, für welches Sie empfänglich sind, klingende Münze ist. Wenn Geld mich der widerwärtigen Nothwendigkeit, mit Ihnen zu disputiren überheben kann, Geld sollen Sie, so arm ich auch bin, bekommen. Schweigen Sie, bitte, Sie sind persönlich bei dem interessirt, was ich Ihnen jetzt sagen will.«

Sie öffnete ihre Börse und zog eine Fünf-Pfund-Note heraus.

»Wenn Sie sich entschließen, die Wahrheit. zu gestehen und mir den Brief heraus zu geben«, nahm sie wieder auf, »so will ich Ihnen diese Fünf-Pfundnote als eine Belohnung dafür zahlen, daß Sie Etwas, was ich verloren habe, gefunden und mir wiedergegeben haben. Wenn Sie bei Ihrer jetzigen Unterschlagung beharren, so kann und will ich machen, daß der Brief, welchen Sie mir gestohlen haben, in Ihren Händen zu einem werthlosen Stück Papier wird. Sie haben Mrs. Glenarm mit meiner Dazwischenkunft bedroht. Wenn ich nun vor Ablauf der Woche dazwischen träte, wenn ich zu Mrs. Glenarm ginge und noch andere in meinem Besitz befindliche Briefe von Mr. Delamayn zu meiner Rechtfertigung producirte, —— was sollte Mrs. Glenarm dann wohl noch bewegen, den fraglichen Brief von Ihnen zu kaufen, antworten Sie mir darauf«.

Ihre bleichen Wangen färbten sich, ihre Augen, die trübe und matt gewesen waren, als sie das Zimmer betrat, waren jetzt mit dem Ausdruck unverhohlener Verachtung scharf und klar aus Bishopriggs gerichtet.

»Antworten Sie mir darauf!« wiederholte sie mit einem Ausdruck ihrer alten Energie, der es offenbar machte, daß das Feuer und die Leidenschaft in diesem Weibe auch noch jetzt nicht erloschen waren.

Wenn Bishopriggs ein Verdienst hatte, so war es das bei Männern seltene Verdienst, daß er sofort wußte wenn er geschlagen war und es verstand, sich nach einer Niederlage mit allen Kriegsehren zurückzuziehen.

»Der Himmel sei uns gnädig!« rief er mit dem unschuldigsten Tone von der Welt, »haben Sie selbst den Brief an den Mann mit Namen Geoffrey Delamayn geschrieben und die kurze, mit Bleifeder auf der weißen letzten Seite geschriebene Antwort erhalten? Wie in aller Welt konnte ich wissen, daß das der Brief sei, den Sie suchten, als Sie zu mir kamen. Haben Sie mir je in Craig-Fernie gesagt, daß Sie Anne Silvester seien? Niemals! Konnte ich vermuthen, daß der armselige kleine Patron von Ehemann den Sie im Gasthofe bei sich hatten, Geoffrey Delamayn sei? Ich habe ja seitdem Geoffrey Delamayn mit eigenen, Auge gesehen und mich überzeugt, daß man zwei solcher Patrone aus ihm machen könnte! Ihnen Ihren Brief wiedergeben? Gewiß! Jetzt, wo ich weiß, daß es der Ihrige ist, werde ich ihn Ihnen mit Vergnügen wiedergeben.«

Er öffnete seine Brieftasche und zog den Brief mit einer heiteren Bereitwilligkeit heraus, die des ehrlichsten Menschen in der Christenheit würdig gewesen wäre und was noch wunderbarer war, er sah mit einer täuschend nachgeahmten Miene vollendeter Gleichgültigkeit auf die Fünf-Pfundnote in Anne’s Hand.

»Meiner Treu«, sagte er, »ich weiß gar nicht, ob ich ein Recht habe, das Geld von Ihnen zu nehmen. Nun, nun, wenn Sie es wünschen, will ich es ja nehmen als ein kleines Andenken an die Zeit, wo ich Ihnen im Gasthofe kleine Dienste habe leisten können. Sie werden nichts dagegen haben«, fügte er hinzu, indem er plötzlich wieder einen ganz geschäftlichen Ton annahm, »Mir eine kurze Zeile als Quittung auszustellen, um mich vor jedem Verdacht in Betreff des Briefes zu reinigen.«

Anne warf die Banknote auf den Tisch, neben dem sie stand und riß ihm den Brief aus der Hand.

»Sie brauchen keine Quittung«, sagte sie. »Es soll keinen Brief mehr geben, der Zeugniß gegen Sie ablegen könnte.« Sie erhob die andere Hund, um den Brief in Stücke zu zerreißen.

Bishopriggs aber ergriff sie in demselben Augenblick an beiden Handgelenken und hielt sie fest.

»Warten Sie doch einen Augenblick«, sagte er, »den Brief bekommen Sie nicht ohne Quittung, meine liebe Madame. Es kann Ihnen jetzt, wo Sie mit einem andern Mann verheirathet sind, gleichgültig sein, ob Geoffrey Delamayn Ihnen früher einmal die Ehe versprochen hat oder nicht; aber für mich ist es von Wichtigkeit, nachdem Sie mich beschuldigt haben, Ihnen den Brief gestohlen und ihn zu einer Waare gemacht zu haben und der Himmel weiß was noch Alles, eine Empfangsbescheinigung schwarz auf weiß dafür zu haben; geben Sie mir meine kleine Quittung und thun Sie dann mit Ihrem Brief was Sie wollen.«

Anne Verlor die Kraft, den Brief fest zu halten, und ließ es geschehen, daß Bishopriggs denselben vom Boden, auf den sie ihn hatte fallen lassen, wieder aufhob und an sich nahm, ohne einen Versuch zumachen, ihn daran zu hindern.

Bishopriggs Worte: »Es kann Ihnen jetzt, wo Sie mit einem andern Manne verheirathet sind, einerlei sein, ob Geoffrey Delamayn Ihnen einmal früher die Ehe versprochen hat oder nicht«, ließen ihr plötzlich ihre Lage in einem andern Lichte ansehen, als sie es bis jetzt gethan hatte. Sie hatte der Verachtung, die sie für Geoffrey empfand, einen getreuen Ausdruck gegeben, als sie in einem Brief an Arnold erklärte: »daß selbst, wenn Geoffrey ihr jetzt, um das Vergangene wieder gut zu machen, seine Hand anböte, sie lieber in ihrer jetzigen Lage verharren würde, als sein Weib werden.«

Noch nie war es ihr bis jetzt eingefallen, daß Andere den empfindlichen Stolz, der sie von der Geltendmachung ihrer Ansprüche auf den Mann, der sie in’s Unglück gestürzt hatte, abstehen ließ, würden mißdeuten können. Erst in diesem Augenblick wurde es ihr klar, daß, wenn sie im Gefühl ihrer Verachtung für Geoffrey ihn seiner Wege gehen und sich an das erste beste Weib verkaufen ließ, das Geld genug haben würde ihn zu kaufen, ihr Benehmen zu dem falschen Schluß führen könnte, sie habe keine Macht dagegen einzuschreiten, weil sie bereits mit einem andern Mann verheirathet sei.

Die Röthe auf ihren Wangen schwand und wich wieder einer tödtlichen Blässe Sie fing an zu begreifen, daß der Zweck ihrer Reise noch nicht vollständig erreicht sei. »Ich will Ihnen Ihre Quittung geben«, sagte sie, »was soll ich schreiben?«

Bishopriggs dictirte ihr den Wortlaut der Quittung, sie schrieb dieselbe nieder und unterzeichnete sie. Er legte die Quittung mit der Fünf-Pfundnote in seine Brieftasche und händigte ihr den Brief ein. »Zerreißen Sie ihn jetzt, wenn Sie wollen, das ist mir einerlei.«

Sie schwankte einen Augenblick. Plötzlich ergriff sie ein Schauder, vielleicht war es das Vorgefühl des Einflusses, welchen der um eines Haares Breite von ihr in Stücke gerissene Brief auf ihr künftiges Leben zu üben bestimmt war. Sie erholte sich wieder und zog ihren Shawl dichter um ihre Schultern, als ob es sie fröstele »Nein«, sagte sie, »ich will den Brief behalten!« Sie faltete ihn zusammen und steckte ihn in eine Tasche ihres Kleides, drehte sich dann um, um fortzugehen, blieb aber an der Schwelle der Thür noch einmal stehen und fügte hinzu: »Noch eins, wissen Sie die gegenwärtige Adresse von Glenarm?«

»Sie wollen doch nicht wirklich zu Mrs. Glenarm gehen?«

»Das geht Sie gar nichts an. Beantworten Sie mir meine Frage oder nicht, wie Sie wollen.«

»O, meine liebe Madame, ihr Temperament ist nicht mehr so, wie es damals im Gasthofe war. Nun, nun, Sie haben mir ja Geld gegeben und ich will mich Ihnen dankbar dafür erweisen. Mrs. Glenarm ist im Geheimen —— incognito wie man sagt —— bei Geoffrey Delamayn’s Bruder in Swanhaven-Lodge. Sie können sich auf diese Auskunft verlassen, die Sie anderweitig nicht so leicht bekommen hätten. Mrs. Glenarm und ihre Freunde bilden sich ein, sie könnten die Sache vor aller Welt geheim halten, aber Thomas Pennyquick’s vorvorjüngster kleiner Sohn diente als Groom in dem Hause in der Nähe von Perth, wo die Dame zum Besuch gewesen ist, und die Leute mögen machen wie sie wollen, vor den pfiffigen Ohren ihrer Domestiken in der Küche können sie doch kein Geheimniß bewahren.«

»Weiß Gott, sie ist gegangen, ohne mir Adieu zu sagen« rief Bishopriggs plötzlich aus, als Anne ihn ohne Umstände inmitten seiner Abhandlung über Domestiken-Geheimniße stehen ließ. »Ich fürchte, ich bin geprellt«, fügte er hinzu, indem er trübselig über den traurigen Ausgang der viel verheißenden Speculation, in die er sich eingelassen, nachgedacht hatte. »Aber mir blieb wahrhaftig nichts Anderes übrig, nachdem die Madame mich einmal gefaßt hatte, als mich so schlau wie möglich aus der Affaire zu ziehen. Was aber hat sie noch mit Geoffrey’s Heirath oder Nichtheirath zu thun?« dachte er, indem ihm die Frage wieder einfiel, die Anne beim Fortgehen an ihn gerichtet hatte, »und was bezweckt sie damit, Mrs. Glenarm aufzusuchen, wenn sie wirklich daran denkt?« Daß Anne wirklich daran dachte Mrs. Glenarm aufzusuchen, zeigten ihre weiteren Schritte.

Nachdem sie sich zwei Tage ausgeruht, verließ sie Perth mit dem ersten Morgenzuge, um nach Swanhaven-Lodge zu fahren.



Das Musikzimmer

Vierundvierzigstes Kapitel - Julius stiftet Unheil an

Julius Delamayn war allein und schlenderte müssig, seine Violine in der Hand, auf der Terrasse, seines Hauses in Swanhaven-Lodge auf und ab. Am Himmel zeigten sich die ersten Abendwolken. Es war der Abend des Tages, an welchem Anne Silvester Perth verlassen hatte. Noch vor wenigen Stunden hatte Julius sich den Pflichten der politischen Stellung, die der Einfluß seines Vaters ihm verschafft hatte, gewidmet. Er hatte, der bitteren Nothwendigkeit gehorchend, vor seinen Wählern in der Nachbarstadt Kirkandrew in einer öffentlichen Versammlung geredet hatte eine abscheuliche Atmosphäre athmen, unverschämte Oppositionen beschwichtigen, dumme Fragen beantworten, rohe Unterbrechungen ertragen, gierige Simplicanten zufrieden stellen und schmutzige Hände schütteln müssen. Das sind die Stufen, auf welchen der Engländer empor zu klimmen hat, wenn er aus der bescheidenen Dunkelheit des Privatlebens in die ruhmvolle Oeffentlichkeit des Unterhauses gelangen will.

Julius hatte die mit einem ersten öffentlichen Auftreten unerläßlich verbundenen Leiden, wie freie Institutionen sie mit sich bringen, mit der nöthigen Geduld ertragen, und war zu seiner ihm lieben Häuslichkeit womöglich noch gleichgültiger gegen das öffentliche Leben zurückgekehrt. Die Mißklänge des brüllenden Haufens, die noch in seinen Ohren schrillten, hatten seine Empfänglichkeit für die Poesie des Tones, wie sie sich in Mozarts unsterblichen Werken offenbart, noch erhöht. Er hatte seine geliebte Violine zur Hand genommen und war auf die Terrasse hinausgetreten, um sich in der Abendluft abzukühlen.

Ein Diener, dem er eben im Musikzimmer geklingelt hatte, erschien an der Schwelle der Glasthür und berichtete auf die Frage seines Herrn, daß Mrs. Delamayn ausgefahren sei, um Besuche zu machen und mindestens noch eine Stunde ausbleiben würde.

Julius seufzte. Die schönsten Compositionen Mozart’s für die Violine erfordern Clavierbegleitung; ohne die Unterstützung seiner Frau war sein Instrument zum Schweigen verdammt. Nach einer kurzen Ueberlegung fiel Julius etwas ein, was dem Uebel einigermaßen abhelfen zu können schien.

»Ist Mrs. Glenarm auch ausgefahren?« fragte er.

»Nein, Mr. Delamayn!«

«.Machen Sie Mrs. Glenarm meine Empfehlung und fragen Sie, ob sie, wenn sie nicht anderweitig beschäftigt sei, die Güte haben wolle, zu mir in’s Musikzimmer zu kommen.«

Der Diener ging fort, um seine Bestellung auszurichten.

Julius setzte sich auf eine auf der Terrasse stehende Bank und fing an seine Violine zu stimmen.

Mrs. Glenarm, die, wie Bishopriggs richtig gemeldet hatte, sich aus Furcht vor anonymen Correspondenten nach Swanhaven Lodge geflüchtet hatte und sich dort im Geheimen aufhielt, war, was ihre musikalischen Leistungen anlangte, weit entfernt, eine genügende Stellvertreterin für Mrs. Delamayn zu sein. —— Julius besaß in seiner Frau eine der wenigen Clavierspielerinnen, welche diesem seelenlosen Instrument eine ihm sonst nicht eigene Ausdrucksfähigkeit zu verleihen verstand und auf demselben nicht blos Geräusch, sondern wirklich Musik hervorbrachte. Aber eine so feine Organisation, wie sie allein ein solches Wunder bewirken kann, war Mrs. Glenarm nicht beschieden. Sie war gut unterrichtet und spielte correct, aber das war auch Alles.

Julius, der sich nach Musik sehnte, fügte sich in die Umstande und wollte sich mit Mrs. Glenarm’s Spiel begnügen. Der Diener brachte die Antwort zurück, »Mrs. Glenarm werde in zehn Minuten zu Mr. Delamayn in’s Musikzimmer hinunterkommen.«

Julius stand erleichtert auf und fing wieder an auf und abzuschlendern, bald kleine Passagen spielend, bald wieder still stehend, um die Blumen auf der Terrasse mit liebevollem Auge zu betrachten.

Wenn das Parlament, in das Julius einzutreten im Begriff stand, ihn in diesem Augenblick gesehen hätte, würde es sich vielleicht veranlaßt gefunden haben, an seinen berühmten Vater die Frage zu richten: »Ist es möglich, Mylord, daß Sie der Vater eines solchen Parlaments-Candidaten sind?«

Nachdem er wieder einen Augenblick still gestanden hatte, um eine Saite auf seiner Violine fester anzuziehen, sah er, als er von seinem Instrument wieder aufschaute, zu seiner Ueberraschung eine Dame auf sich zukommen. Er ging ihr entgegen und nahm, als er fand, das; sie ihm vollkommen fremd sei, an, daß sie seine Frau besuchen wolle.

»Habe ich die Ehre, eine Freundin von Mrs. Delamayn vor mir zu sehen?« fragte er; »leider ist meine Frau nicht zu Hause.«

»Ich kenne Mrs. Delamayn nicht,« antwortete die Dame. »Der Diener sagte mir, daß sie ausgegangen sei und daß ich Mr. Delamayn hier finden würde.«

Julius verneigte sich und harrte des Weiteren.

»Ich muß sie bitten, mir die Art, wie ich eindringe, zu vergeben,« fuhr die Fremde fort, »mein Zweck ist, Sie um die Erlaubniß zu bitten, hier eine Dame zu sprechen, die, wie ich erfahren habe, als Gast in ihrem Hause verweilt.«

Die außerordentliche Förmlichkeit dieser Bitte hatte für Julius etwas Auffallendes. »Meinen Sie Mrs. Glenarm?« fragte er.

»Ja.«

»Bitte, reden Sie doch nicht von einer besondern Erlaubniß. Eine Freundin Mrs. Glenarm’s kann einer guten Aufnahme in diesem Hause gewiß sein.«

»Ich bin keine Freundin Mrs. Glenarm’s, ich bin ihr vollkommen fremd.«

Das machte die Förmlichkeit der von der Dame vorgetragenen Bitte etwas verständlicher, ließ aber den Zweck, den sie bei ihrem Wunsche, Mrs. Glenarm zu sehen, im Auge hatte, noch völlig unerkennbar.

Julius wartete höflich, bis es ihr gefallen möchte, fortzufahren und sich weiter zu erklären. Aber diese Erklärung schien ihr nicht leicht zu werden. Ihre Augen senkten sich zu Boden; sie zauderte offenbar in peinlicher Verlegenheit. »Wenn ich Ihnen meinen Namen nenne,« begann sie wieder, ohne vom Boden aufzusehen, »kann Ihnen vielleicht Aufschluß darüber werden —— ——«, sie hielt inne. Wiederholt wechselte sie die Farbe, zauderte, rang mit ihrer Aufregung und bezwang sich wieder. »Ich bin Anne Silvester« sagte sie plötzlich, ihr bleiches Antlitz abwendend, mit fester Stimme.

Julius fuhr zusammen und sah sie mit schweigendem Erstaunen an. Dieser Name war ihm zweifach bekannt; es war noch nicht lange her, daß er denselben von den Lippen seines Vaters an dessen Krankenlager gehört hatte. Lord Holchester hatte es ihm dringend an’s Herz gelegt dieses Namens wohl eingedenk zu bleiben und dem Weibe, das ihn trage, wenn dasselbe sich jemals künftig an ihn wenden sollte, zu helfen. Dann aber hatte er erst ganz kürzlich den Namen in einer scandalösen Verbindung mit dem Namen seines Bruders gehört. Beim Empfang des ersten anonymen Briefes hatte Mrs. Glenarm nicht nur Geoffrey selbst aufgefordert, die gegen ihn geschleuderten Verleumdungen zu widerlegen, sondern hatte auch eine Copie des Briefes an seine Verwandten in Swanhaven-Lodge geschickt. Geoffrey’s Vertheidigung hatte Julius nicht völlig überzeugt, daß seinen Bruder kein Tadel treffe.

Als er jetzt die vor ihm stehende Anne Silvester betrachtete, däuchte es ihn wahrscheinlich, ja fast gewiß, daß sein Bruder zu tadeln sei. War dieses so bescheidene, so sanfte, so einfache und ungezierte Weib die schamlose Abenteurerin, die, wie Geoffrey behauptet hatte, auf Grund einer kindischen Liebeständelei Ansprüche gegen ihn geltend mache, während sie sehr wohl wisse, daß sie im Geheimen an einen andern Mann verheirathet sei? War dieses Weib, in deren Stimme, in deren Blick, in deren ganzem Wesen sich wahre Vornehmheit aussprach, wirklich wie Geoffrey behauptet hatte, im Bunde mit dem ungebildeten Spitzbuben der in anonymen Briefen von Mrs. Glenarm Geld zu erpressen suchte? Das war unmöglich! unmöglich, selbst wenn man dem Sprichwort, daß der »Schein trügt« volle Rechnung trug.

»Ihr Name ist mir nicht fremd,« antwortete Julius nach einer kleinen Pause. Sein feines Gefühl ließ ihn davor zurückschrecken auf die Verbindung ihres Namens mit dem seines Bruders anzuspielen. »Mein Vater hat, als ich ihn zuletzt in London sprach, gegen mich Ihres Namens Erwähnung gethan,« fügte er wohlüberlegt hinzu, indem er auf diese Weise seine Bekanntschaft mit ihrem Namen erklärte.

»Ihr Vater?« Mit einem Blick des Mißtrauens und des Erstaunens trat sie einen Schritt näher. »Ihr Herr Vater, Lord Holchester, nicht wahr?«

»Ja.«

»In welcher Veranlassung hat er meiner gegen Sie Erwähnung gethan?«

»Er war damals krank,« antwortete Julius, »und dachte an Ereignisse seines früheren Lebens, die mir völlig fremd sind. Er sagte mir, er habe Ihren Vater und Ihre Mutter gekannt und sprach den Wunsch aus, daß ich, wenn Sie jemals eines Beistandes bedürftig sein sollten, Ihnen meine Dienste zur Verfügung stellen möchte, und er legte mir diesen Wunsch sehr dringend an’s Herz. Ich hatte den Eindruck, als ob die Erinnerung, die ihn zu dieser Mahnung veranlaßte, etwas Schmerzliches für ihn habe.«

Langsam und schweigend trat Anne bis an die, wenige Schritte von ihr entfernte, niedrige Terrassenmauer zurück; sie stützte die eine Hand auf dieselbe, um sich aufrecht zu erhalten. Julius hatte, ohne eine Ahnung von dem zu haben, was er gethan, Worte von fürchterlicher Bedeutung gesprochen. Bis zu dieser Stunde hatte Anne Silvester nicht gewußt, daß der Mann, der sie betrogen hatte, der Sohn jenes anderen Mannes sei, dessen Entdeckung eines Mangels in der Ehe ihrer Mutter einst zu deren Unglück geführt hatte. Bei dieser erschütternden Entdeckung beschlich sie das unheimliche Gefühl einer abergläubischen Furcht. Lag sie in den Banden eines unsichtbaren Verhängnisses, das sie, gleichviel welchen Weg sie einschlug, immer wieder die Spur ihrer unglücklichen Mutter auf der Bahn eines unabwendbaren Schicksals verfolgen ließ? Die Gegenwart schwand vor ihren Blicken, als diese schreckliche Frage in ihr aufstieg. Für einen Augenblick sah sie sich wieder in die Zeit ihrer Kindheit versetzt. Wieder sah sie das Antlitz ihrer Mutter mit dem Ausdruck der Verzweiflung, den es trug, als ihr die Rechte einer verheiratheten Frau abgesprochen und die Pforten der Gesellschaft für immer geschlossen wurden.

Julius trat an sie heran und suchte sie aus ihren Träumen zu erwecken.

»Darf ich Ihnen irgend etwas anbieten?« fragte er. »Sie sehen sehr leidend aus. Ich habe doch hoffentlich nichts gesagt, was Sie schmerzlich berührt hat?«

Aber auch durch diese Frage vermochte er ihre Aufmerksamkeit nicht von ihren Gedanken abzulenken; anstatt die Frage zu beantworten, that sie selbst eine Frage. »Sagten Sie nicht, Sie wüßten durchaus nicht, an was Ihr Vater gedacht habe, als er mit Ihnen über mich sprach?«

»Gewiß, das sagte ich.«

»Glauben Sie, daß Ihr Bruder mehr davon weiß, als Sie?«

»Ganz gewiß nicht.«

Sie versank wieder in Gedanken und schwieg. An jenem denkwürdigen Tage, wo sie zuerst mit Geoffrey zusammengetroffen war, hatte sie ihn, von dem Klang seines Familiennamens frappirt, gefragt, ob nicht ihre Eltern in früherer Zeit mit einander bekannt gewesen seien. In allen übrigen Beziehungen hatte er sie betrogen, in diesem einen Punkte aber war er aufrichtig gegen sie gewesen. Er hatte sie der Wahrheit gemäß versichert, daß er niemals den Namen ihres Vaters oder ihrer Mutter in seinem elterlichen Hause habe nennen hören.

Julius war neugierig geworden, er versuchte es, sie zu weiteren Mittheilungen zu veranlassen. »Sie scheinen zu wissen,« nahm er wieder auf, »woran mein Vater dachte, als er über Sie mit mir sprach. Darf ich fragen ——«

Sie unterbrach ihn mit einer flehenden Geberde: »Bitte, fragen Sie mich nicht! Das gehört der Vergangenheit an und ist vorüber, es kann kein Interesse für Sie haben —— es hat nichts mit dem Zweck meines gegenwärtigen Besuches zu thun. »Ich muß,« fuhr sie rasch fort, »Ihre gütige Aufmerksamkeit noch einen Augenblick für diesen Zweck in Anspruch nehmen. Haben Sie meinen Namen vielleicht noch von einem anderen Mitglied Ihrer Familie außer Ihrem Vater nennen gehört, Mr. Delamayn?«

Julius war nicht darauf gefaßt, daß sie aus eigenem Antriebe das Gespräch auf den peinlichen Gegenstand, den zu berühren er selbst absichtlich vermieden hatte, bringen werde. Er konnte sich eines Mißbehagens über diese Enttäuschung nicht erwehren, er hatte eine größere Delicatesse der Empfindung, als sich in ihrer letzten Frage zu offenbaren schien, von ihr erwartet.

»Halten Sie eine Beantwortung dieser Frage für unerläßlich?« fragte er kalt.

Anne’s Wangen färbten sich wieder höher.

»Glauben Sie, daß ich, wenn ich die Beantwortung dieser Frage nicht für unerläßlich hielte, es über mich gewonnen haben würde, dieselbe an Sie zu richten? Vergessen Sie nicht, daß ich meine Anwesenheit als eine Gunst von Ihnen zu betrachten habe. Wenn ich mich daher nicht entschließen würde, gleichviel, was es mich kosten möge, deutlich zu reden, so würde ich meine Situation nur noch peinlicher machen, als sie es bereits ist. Ich habe Mrs. Glenarm in Betreff der anonymen Briefe, die ihr kürzlich zugegangen sind, etwas mitzutheilen und ich habe ihr demnächst in Betreff ihrer beabsichtigten Verheirathung ein Wort zu sagen. Bevor ich Ihre Erlaubniß, das zu thun, in Anspruch nehmen konnte, mußte ich Ihnen sagen, wer ich bin. Ich muß annehmen, daß Ihnen über mein Betragen das denkbar Schlimmste zu Ohren gekommen ist. Ihr Gesicht sagt mir, daß dem so ist. Nach der rücksichtsvollen Aufnahme, die Sie mir als einer völlig Fremden haben angedeihen lassen, will ich mich nicht einer so niedrigen Handlungsweise schuldig machen, Sie zu überrumpeln. Vielleicht begreifen Sie es jetzt, Mr. Delamayn, warum ich es für meine Pflicht hielt, Ihres Bruders gegen Sie Erwähnung zu thun. Wollen Sie mir das Vertrauen schenken, mir zu gestatten, mit Mrs. Glenarm zu reden?«

Sie sagte diese Worte in einer einfachen und bescheiden Weise, mit einer ungezierten und rührenden Resignation in Blick und Haltung. Julius that ihr innerlich wegen des vorübergehenden Mißtrauens gegen sie Abbitte und empfand wieder dieselbe Achtung und Sympathie für sie, wie vorher.

»Sie haben mir ein Vertrauen geschenkt,« sagte er, »mit welchem die meisten Menschen in Ihrer Lage zurückgehalten haben würden. Ich fühle mich daher verpflichtet, Ihnen auch meinerseits Vertrauen zu schenken. Ich nehme an, daß das Motiv Ihrer Handlungsweise in dieser Angelegenheit auf meine Achtung Anspruch hat. Es wird von Mrs. Glenarm abhängen, ob Ihre Unterhaltung mit derselben stattfinden soll oder nicht. Alles, was ich thun kann, ist, Sie in die Lage zu setzen, Mrs. Glenarm eine solche Unterhaltung selbst zu proponiren.«

Während er diese Worte sprach, drangen die Klänge des Claviers aus dem Musikzimmer zu ihnen hinaus. Julius wies auf die Glasthür hin, welche auf die Terrasse hinausführte.

»Wenn Sie nur gefälligst durch dies Glasthür eintreten wollen, werden Sie Mrs. Glenarm allein finden.«

Anne verneigte sich gegen ihn und ging hinein. Am Fuße der wenigen Stufen, welche zu der Glasthür hinaufführten, blieb sie stehen, um ihre Gedanken zu sammeln, bevor sie einträte.

In dem Augenblick, wo sie ihren Fuß auf die erste Stufe setzen wollte, bemächtigte sich ihrer plötzlich ein Gefühl des Widerstrebens. Die Nachricht von Mrs. Glenarm’s beabsichtigter Heirath hatte keineswegs so, wie Sir Patrick angenommen hatte, auf sie gewirkt; die Nachricht hatte bei ihr keine Liebe für Geoffrey, keine schlummernde Eifersucht, die nur des Anreizes bedurft hätte, um aufzulodern mehr vorgefunden. Der Zweck ihrer Reise nach Perth war erreicht, als sie sich wieder in den Besitz ihrer Correspondenz mit Geoffrey gesetzt sah. Den Entschluß ihren Plan zu ändern und nach Swanhaven zu gehen, hatte sie erst in dem Augenblick gefaßt, wo die gemeine aber verständige Anschauungsweise Bishopriggs’ ihr einen ganz neuen Blick in ihr Verhältniß zu Mrs. Glenarm eröffnet hatte. Wenn sie es unterließ, gegen Mrs. Glenarm’s Heirath im Interesse der Rehabilitation, welche Geoffrey ihr schuldig war, zu protestiren, so würde ihr Benehmen nur als eine Bestätigung der frechen Behauptung Geoffrey’s erscheinen, daß sie eine verheirathete Frau sei. Und doch, wenn es sich nur um sie selbst gehandelt hätte, würde sie vielleicht noch Anstand genommen haben, einen Schritt in der Sache zu thun, es handelte sich aber nicht minder um Blanche’s Interessen, und um Blanche’s willen hatte sie sich entschlossen, die Reise nach Swanhaven zu machen. Auch war es bei der Art, wie sie jetzt für Geoffrey empfand, und da sie die Rehabilitation, welche sie zu fordern im Begriff stand, für sich in der That gar nicht wünschte, für die Behauptung ihrer Selbstachtung von Wichtigkeit, daß sie sich eines Zweckes bewußt war, mit dem sie es ihrem eigenen Gewissen gegenüber rechtfertigen konnte, wenn sie als Mrs. Glenarm’s Nebenbuhlerin auftrat. Sie brauchte sich nur die kritische Situation Blanche’s in’s Gedächtniß zu rufen, um ihr Verfahren klar vorgezeichnet zu sehen. Wenn es ihr gelang, die bevorstehende Zusammenkunft mit dem ruhigen Nachweise zu eröffnen, daß ihr Anspruch auf Geoffrey über jeden Zweifel erhaben sei, so konnte sie als dann, ohne eine Mißdeutung besorgen zu müssen, den Ton einer Freundin, anstatt den einer Feindin anschlagen und Mrs. Glenarm die aufrichtige Versicherung geben daß sie ihre Nebenbuhlerschaft nicht zu fürchten habe, wenn sie sich zu der leicht erfüllbaren Bedingung verstehe, Geoffrey zu veranlassen, das von ihm angerichtete Unheil wieder gut zu machen. Sie sollte ihn ohne die geringste Besorgniß, daß Anne ein Wort dagegen sagen werde, getrost heirathen, vorausgesetzt, daß er die Worte zurücknehme und die Handlungen wieder gut mache, mit denen er einen Zweifel an der Gültigkeit der Ehe zwischen Blanche und Arnold geschaffen hatte. Wenn es ihr nur gelang, so viel durch die Zusammenkunft zu erreichen, so war damit für sie das Mittel gefunden, Arnold aus der falschen Stellung zu befreien, in welche sie ihn unschuldigerweise seiner Frau gegenüber gebracht hatte.

Das war der Zweck, den sie im Auge hatte, als sie jetzt im Begriff stand, die Zusammenkunft mit Mrs. Glenarm zu eröffnen. Bis zu diesem Augenblick hatte sie fest daran geglaubt, daß sie fähig sein werde, ihren etwas phantastischen Plan zur Ausführung zu bringen. Erst, als sie den Fuß auf die erste Stufe setzte, entstand in ihr ein Zweifel an dem Erfolg ihres Experiments. Zum ersten Mal erkannte sie die schwache Seite ihrer Argumentation, zum ersten Mal fühlte sie, wie verkehrt es von ihr gewesen sei, es als gewiß zu betrachten, daß Mrs. Glenarm so viel Gerechtigkeitssinn und Selbstbeherrschung haben werde, um sie geduldig anzuhören. Alle ihre Hoffnungen auf Erfolg beruhten auf ihrer günstigen Meinung von einer Frau, die ihr vollkommen fremd war. Wie, wenn die ersten zwischen ihnen gewechselten Worte sie überzeugen würden, daß ihr Urtheil falsch gewesen sei?

Aber jetzt war es zu spät, inne zu halten und sich die Sache noch einmal zu überlegen. Julius Delamayn der ihr Zaudern bemerkt hatte, näherte sich ihr vom Ende der Terrasse her. Da half nun nichts, sie mußte ihre Unentschlossenheit überwinden und das Wagniß kühnlich unternehmen. »Entstehe daraus, was da wolle! Ich bin zu weit gegangen, um jetzt noch zurück zu treten.« Mit diesem verzweifelten Entschluß stieg sie die wenigen Stufen hinauf, öffnete die Glasthür und trat in’s Zimmer.

»Mrs. Glenarm erhob sich von ihrem Sitz am Clavier Die beiden Frauen, —— die eine so reich gekleidet und die andere so einfach; die eine in der Blüthe ihrer Schönheit, die andere abgehärmt und erschöpft; die eine im Vollbewußtsein ihrer bevorzugten Stellung in der Gesellschaft, die andere eine Ausgestoßene, die unter dem bleichen Schatten der Schuld lebte; die beiden Frauen standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber und wechselten schweigend den kalten Gruß zweier, einander völlig fremder Menschen.

Mrs. Glenarm war die erste, die dem bei solchen Gelegenheiten von beiden Seiten empfundenen Bedürfniß, etwas Gleichgültiges zu sagen, Ausdruck gab Gutmüthig machte sie der Verlegenheit, unter der die schüchterne Fremde so sehr zu leiden schien, ein Ende, indem sie sagte:

»Ich fürchte, die Diener haben Ihnen nicht mitgetheilt, daß Mrs. Delamayn ausgefahren ist.«

»Ich bitte um Verzeihung, ich bin nicht hergekommen, um Mrs. Delamayn zu sprechen.«

Mrs. Glenarm schien etwas überrascht, fuhr jedoch mit derselben Freundlichkeit wie vorher fort:

»Suchen Sie vielleicht Mr. Delamayn? Ich erwarte ihn hier jeden Augenblick.«

Anne entgegnete: »Ich komme eben von Mr. Delamayn her.« Diesesmal sah Mrs. Glenarm sehr erstaunt aus. Aune fuhr fort: »Ich habe für meine Zudringlichkeit um Entschuldigung zu bitten; ich bin hergekommen, um ——«

Sie hielt inne, weil sie nicht wußte, wie sie den Satz vollenden sollte. Mrs. Glenarm, die jetzt sehr neugierig zu werden anfing, versuchte es noch einmal, der Verlegenheit der Fremden zu Hülfe zu kommen.

»Bitte, entschuldigen Sie sich nicht«, sagte sie; »wenn ich recht verstehe, so gilt Ihr werther Besuch meiner Person. Sie sehen ermüdet aus; wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Anne konnte wirklich nicht länger stehen; sie nahm den angebotenen Sitz an. Mrs. Glenarm setzte sich wieder auf ihren Platz an’s Clavier und ließ ihre Finger müssig über die Tasten gleiten. »Wo haben Sie Mr. Delamayn gesehen?« fragte sie wieder. »Er ist der unberechenbarste Mensch, außer wenn er die Violine in der Hand hat. Wird er bald herkommen? Werden wir etwas musiciren? Sind Sie vielleicht gekommen um mit uns zu musiciren? Mr. Delamayn ist ja ein wahrer Musikfanatiker, nicht wahr? Warum ist er nicht mit Ihnen hereingekommen, und hat uns einander vorgestellt? Vermuthlich sind Sie auch eine Freundin classischer Musik? Wußten Sie, daß Sie mich hier im Musikzimmer finden würden? Darf ich um Ihren werthen Namen bitten?«

Unüberlegt und geschwätzig, wie Mrs. Glenarm’s Fragen waren, hatten sie doch ihr Gutes. Sie ließen Anne Zeit, ihre ganze Willensenergie aufzubieten und und sich der Nothwendigkeit bewußt zu werden, sich auszusprechen.

»Ich habe, glaube ich, die Ehre, mit Mrs. Glenarm zu reden«, fing sie an.

Die gutmüthige Wittwe lächelte und machte eine graciöse Verbeugung.

»Ich bin mit Mr. Delamayn’s Bewilligung zu Ihnen gekommen, Mrs. Glenarm, um mit Ihrer gütigen Erlaubniß mit Ihnen von einer Angelegenheit zu reden, bei welcher Sie interessirt sind.«

Mrs. Glenarm’s reich mit Ringen besetzte Finger blieben plötzlich auf den Tasten unbeweglich liegen. Mrs. Glenarm’s rundes Gesicht wandte sich der Fremden mit einem Ausdruck beginnender Befremdung zu. »So? Ich bin bei so vielen Angelegenheiten interessirt. Darf ich fragen, von welcher Angelegenheit Sie reden?«

Der leichte Ton, in dem sie das sagte, berührte Anne wie ein Mißklang. Wenn Mrs. Glenarm’s Wesen wirklich so hohl war, wie es den Anschein hatte, so war wenig Hoffnung für die Herstellung einer sympathischen Beziehung zwischen ihnen vorhanden.

»Ich möchte mit Ihnen«, erwiderte Sie, »von Etwas reden, was sich zugetragen hat, während Sie sich zum Besuch in der Nähe von Perth aufhielten.«

Der Ausdruck des Befremdens in Mrs. Glenarm’s Gesicht verdichtete sich zu einem Ausdruck des Mißtrauens. Ihr herzliches Wesen verschwand unter einer Hülle conventioneller Höflichkeit, mit der sich dasselbe plötzlich überzog. Sie heftete ihren Blick auf Anne. »Eine Schönheit ist die in ihrer besten Zeit nicht gewesen,« dachte sie. »Jetzt ist sie gar miserabel und kränklich; ihr Anzug ist der eines Dienstmädchens aber sie sieht doch aus wie eine Dame. Was kann das zu bedeuten haben? Mrs. Glenarm war nicht die Frau, eine solche Frage zu unterdrücken. Sie suchte sich die Antwort mit der größten, geschickt hinter einer gewinnenden Offenheit, versteckten Rücksichtslosigkeit zu verschaffen.

»Verzeihen Sie mir«,. sagte sie; »ich habe ein schlechtes Gedächtniß für Gesichter, und ich erlaube mir daher meine Frage nach Ihrem werthen Namen, die Sie wohl überhört haben, zu wiederholen. Habe ich schon je die Ehre gehabt, Ihnen irgendwo zu begegnen?«

»Niemals.«

»Und doch wünschen Sie, wenn ich, was Sie eben angedeutet haben, recht verstehe, mit mir über Etwas zu reden, das nur für mich und meine intimsten Freunde Interesse hat.«

»Sie haben mich vollkommen richtig verstanden«, erwiderte Anne; »ich wünsche mit Ihnen über einige anonyme Briefe ——«

»Zum dritten Mal, wollen Sie mir erlauben, nach Ihrem Namen zu fragen?«

»Sie sollen ihn sogleich erfahren, wenn Sie mir erlauben wollen, zuvor zu vollenden, was ich Ihnen eben zu sagen im Begriffe stand. Ich möchte Sie wo möglich überzeugen, daß ich als Freundin zu Ihnen komme, bevor ich Ihnen meinen Namen nenne. Sie werden es gewiß nicht ungern hören, daß Sie keine fernere Belästigung zu besorgen haben ——«

»Ich muß noch einmal um Verzeihung bitten,« unterbrach sie Mrs. Glenarm zum zweiten Mal. »Ich kann mir unmöglich denken, welchem Umstande ich dieses gütige Interesse an meinen Angelegenheiten, von Seiten einer völlig Fremden zu verdanken habe.«

Dieses Mal war ihr Ton mehr als höflich kalt er war höflich impertinent. Mrs. Glenarm hatte ihr ganzes Leben in der guten Gesellschaft zugebracht und war Meisterin in der Handhabung der Feinheiten einer raffinirten Insolenz in ihrem Verkehr mit solchen, die das Unglück hatten, ihr Mißfallen zu erregen. Anne’s feinfühlende Natur empfand den Stich, aber ihre geduldige Entschlossenheit fügte sich. Sie ließ die Insolenz an sich abgleiten und fuhr, als ob nichts vorgefallen sei, in sanftem und festem Tone fort:

»Die Person, die Ihnen anonym geschrieben, hat auf eine Correspondenz angespielt. Die Correspondenz befindet sich nicht mehr in dem Besitz jener Person, sondern ist in Hände übergegangen, die sie respectiren werden. Die Correspondenz wird in Zukunft nicht mehr zu schlechten Zwecken ausgebeutet werden, dafür stehe ich.«

»Sie stehen dafür?« wiederholte Mrs. Glenarm. Dabei beugte sie sich plötzlich über das Clavier hin und fixirte Anne’s Gesicht mit einem unverhohlen forschenden Blick. Die Leidenschaftlichkeit, die sich so oft gerade bei schwachen Charakteren findet, fing an, sich in der steigenden Röthe und den zusammengezogenen Brauen bei Mrs. Glenarm zu äußern. »Woher wissen Sie, was mir die Person geschrieben hat?« fragte sie. »Woher wissen Sie, daß die Correstsondenz in andere Hände übergegangen ist? Wer sind Sie?« Noch bevor Anne ihr antworten konnte, sprang sie, wie von einer neuen Idee elektrisirt, auf. »Der Mann, der mir geschrieben hat, sprach von noch etwas Anderem, außer von einer Correspondenz. Er sprach von einem Frauenzimmer. Jetzt habe ich’s!« rief sie in einem Ausbruch eifersüchtiger Wuth; »Sie sind das Frauenzimmer!«

Auch Anne stand auf, bewahrte aber noch durchaus die Herrschaft über sich.

»Mrs. Glenarm,« sagte sie ruhig; »ich warne, nein ich flehe Sie an, nicht diesen Ton gegen mich anzunehmen. Beruhigen Sie sich, und ich verspreche Ihnen, Sie zu überzeugen, daß Sie mehr, als Sie zu glauben geneigt sind, bei dem, was ich Ihnen noch zu sagen habe, interessirt sind. Bitte, haben Sie noch eine kleine Weile mit mir Geduld. Ich leugne nicht, daß Ihre Vermuthung richtig ist. Ich bekenne, daß ich das unglückliche Weib bin, welches Geoffrey Delamayn zu Grunde gerichtet und verlassen hat.«

»Das ist nicht wahr!« rief Mrs. Glenarm. »Sie elende Person! Glauben Sie, daß ich mir Ihre erfundene Geschichte aufbinden lassen werde? Was fällt Julius Delamayn ein, daß er mich einer solchen Scene aussetzt.« Ihre Entrüstung darüber, daß sie sich mit Anne in demselben Zimmer befand, durchbrach nicht nur die Schranken der Höflichkeit, sondern die einfachsten Gebote des Anstands. »Ich werde den Dienern klingeln!« rief sie; »ich werde Sie zum Hause hinauswerfen lassen.«

Sie versuchte es, nach dem Kamine zu gehen, um die Glocke zu ziehen. In demselben Augenblick aber that Anne, die dem Kamin näher stand, einen Schritt vorwärts. Ohne ein Wort zu sagen, gebot sie der ihr gegenüberstehenden Frau mit einer Handbewegung zurück zu stehen. Es entstand eine Pause. Beide Frauen standen da, die Blicke fest auf einander gerichtet, eine jede von ihnen mit einem Ausdruck der Entschlossenheit, der die andere über ihre Absichten nicht im Zweifel lassen konnte. In dem nächsten Augenblick machte sich aber das Uebergewicht der feineren von beiden Naturen geltend. Mrs. Glenarm trat schweigend einen Schritt zurück.

»Hören Sie auf mich«, sagte Anne.

»Auf Sie hören?« wiederholte Mrs. Glenarm. »Sie haben kein Recht, in diesem Hause zu sein;.»Sie haben kein Recht, sich hier einzudringen. Verlassen Sie das Zimmer!«

Anne’s Geduld, die sie sich bis jetzt mit so bewunderungswürdiger Festigkeit bewahrt hatte, fing endlich an, sie zu verlassen.

»Nehmen Sie sich in Acht, Mrs. Glenarm!« sagte sie, noch immer mit sich ringend. »Ich, bin von Natur nicht geduldig. Der Kummer hat viel gethan, mein Temperament zu mäßigen, aber meine Geduld hat doch ihre Grenzen und Sie sind im Begriff, dieselben zu überschreiten. Ich habe ein Recht darauf, von Ihnen angehört zu werden, und, nach dem, was Sie zu mir gesagt haben, sollen Sie mich hören!«

»Sie haben kein Recht! Sie schamlose Person, Sie sind ja schon verheirathet. Ich weiß den Namen Ihres Mannes: Arnold Brinkworth.«

»Hat Ihnen Geoffrey Delamayn das gesagt?«

»Ich habe keine Lust, einem Frauenzimmer zu antworten, das von Mr. Geoffrey Delamayn in dieser familiären Weise spricht.«

Anne trat einen Schritt näher.

»Hat Ihnen Geoffrey Delamayn das gesagt?« wiederholte sie.

Das Funkeln ihrer Augen und der zitternde Ton ihrer Stimme zeigten, daß sich die Leidenschaft auch ihrer endlich bemächtigt hatte. Dieses Mal antwortete ihr Mrs. Glenarm.

»Allerdings hat er es mir gesagt.«

»Er hat gelogen.«

»Das hat er nicht! Er wußte es gewiß. Ich glaube ihm und glaube Ihnen nicht.«

»Wenn er Ihnen gesagt hat, daß ich verheirathet bin, wenn er Ihnen gesagt hat, daß Arnold Brinkworth mit jemand Anderem als mit Miß Lundie von Windygates verheirathet ist, so wiederhole ich: er hat gelogen.«

»Und ich wiederhole: ich glaube ihm und glaube Ihnen nicht.«

»Sie glauben, daß ich Arnold Brinkworths Frau bin?«

»Ich weiß es gewiß.«

»Sie sagen mir das in’s Gesicht?«

»Ich sage es Ihnen in’s Gesicht: Sie sind vielleicht Geoffrey Delamayn’s Maitresse gewesen, aber Sie sind Arnold Brinkworth’s Frau.«

Bei diesen Worten brach der so lang verhaltene Zorn Anne’s um so gewaltiger hervor, je entschlossener sie sich bis dahin beherrscht hatte. Im Nu riß der Wirbelwind ihrer Entrüstung nicht nur jede Erinnerung an den Zweck, der sie nach Swanhaven geführt hatte, sondern selbst jedes Gefühl für das unverzeihliche Unrecht, das sie von Geoffrey zu erleiden gehabt hatte, hinweg.

Wenn Geoffrey in diesem Augenblick dagewesen wäre und ihr angeboten hätte, sein gegebenes Wort zu erfüllen, so würde sie, so lange Mrs. Glenarm’s Auge auf ihr ruhte, sich bereit erklärt haben, ihn zu heirathen, gleichviel, ob sie in dem ersten ruhigen Augenblick nachher sich das Leben hätte nehmen müssen. Hier war endlich auch in diese große Natur ein kleiner Stachel eingedrungen; das edelste Weib ist doch am Ende nur ein Weib!

»Ich verbiete Ihre Heirath mit Geoffrey Delamayn ich bestehe darauf, daß er sein Versprechen, mich zu seinem Weibe zu machen, erfüllt; ich habe dieses Versprechen hier in seinen eigenen Worten, seinen eigenen Schriftzügen. Er schwört es mir bei seinem Seelenheil, sein Wort zu halten. Seine Maitresse haben Sie gesagt? Sein Weib, Mrs. Glenarm, ehe noch diese Woche zu Ende ist!«

Mit diesem wilden Ausruf zahlte sie, Geoffrey’s Brief triumphirend in der Hand haltend, die gegen sie geschleuderte Beschuldigung zurück.

Wiewohl für den Augenblick durch die ihr buchstäblich aufgedrängte Furcht, daß der von Anne gegen Geoffrey erhobene Anspruch wirklich begründet sein möchte, überwältigt, antwortete Mrs. Glenarm nichts desto weniger fest entschlossen, sich auch von den überzeugendsten Beweisen nicht überzeugen zu lassen, mit dem Eigensinn eines zornigen Kindes: »Ich will ihn nicht aufgeben! Dieser Brief ist ein Falsch, Sie haben keinen Beweis. Ich will, ich will, ich will ihn nicht aufgeben!«

Anne wies mit verächtlicher Miene auf den Brief, den sie in der Hand hielt. »Hier steht sein gegebenes Wort schwarz auf weiß«, sagte sie; »so lange ich lebe, sollen Sie nicht sein Weib werden.«

»Den Tag nach dem Wettrennen werde ich sein Weib; ich werde nach London zu ihm reisen um ihn vor Ihnen zu warnen.«

»Sie werden mich mit diesem Papier in der Hand noch vor Ihnen in London finden. Kennen sie seine Handschrift?« Sie hielt den Brief geöffnet empor.

Mrs. Glenarm streckte die Hand mit der heimtückischen Geschwindigkeit einer Katze aus, den Brief zu ergreifen und zu zerreißen, aber so rasch sie war, ihre Nebenbuhlerin war doch noch rascher. Einen Augenblick sahen sie sich einander athemlos in die Augen, die eine mit dem auf dem Rücken gehaltenen Brief, die andere mit noch ausgestreckter Hand.

In demselben Augenblick, noch bevor sie ein Wort weiter gewechselt hatten, öffnete sich die Glasthür und Julius Delamayn trat in’s Zimmer. Er wandte sich an Anne. »Wir sind auf der Terrasse übereingekommen,« sagte er ruhig, »daß Sie mit Mrs. Glenarm reden wollten, wenn Mrs. Glenarm es wünsche. Halten Sie es für wünschenswerth, daß diese Zusammenkunft noch länger dauere?«

Anne ließ den Kopf auf die Brust sinken. In einem Augenblick war der wilde Zorn in ihr beschwichtigt.

»Ich bin grausam gereizt worden, Mr. Delamayn,« antwortete sie,« aber das ist keine Entschuldigung für mich.« Sie richtete ihr Auge einen Augenblick wieder auf ihn, die heißen Thränen der Scham sammelten sich in ihren Augen und rollten ihr langsam über die Wangen, sie senkte ihren Kopf nieder und verbarg die Thränen vor ihm. »Die einzige Art, wie ich meinen Fehler wieder gut machen kan« sagte sie, »ist, daß ich Sie um Verzeihung bitte und das Haus verlasse.« Schweigend ging sie aus die Thür zu, schweigend erwies ihr Julius Delamayn die kleine Höflichkeit, ihr die Thür zu öffnen. Sie ging fort.

Mrs. Glenarm’s einen Augenblick zum Schweigen gebrachte Entrüstung brach jetzt gegen Julius hervor, »Wenn ich mit Ihrer Genehmigung in die mir von oder Person gestellte Falle gelockt worden bin,« sagte sie hochmüthig, »so bin ich es mir selbst schuldig, Mr. Delamayn, ihrem Beispiel zu folgen und Ihr Haus zu verlassen.«

»Ich habe ihr erlaubt, Sie um eine Zusammenkunft zu bitten, Mrs. Glenarm wenn sie sich, auf meine Erlaubniß gestützt, anmaßend gegen Sie benommen hat, so bedauere ich es aufrichtig und bitte Sie meine Entschuldigung dafür anzunehmen. Gleichzeitig darf ich wohl wagen, zur Vertheidigung meines Benehmens hinzuzufügen, daß ich sie für ein mehr beklagenswerthes als tadelnswerthes Frauenzimmer hielt und noch halte.«

»Beklagenswerth sagten Sie?« fragte Mrs. Glenarm, als ob sie ihren Ohren nicht traue.

»Beklagenswerth,« wiederholte Julius.

»Sie mögen es angemessen finden, Mr. Delamayn, zu vergessen was Ihr Bruder uns in Betreff dieser Person erzählt hat, ich erinnere mich desselben aber zufällig noch sehr geuau.«

»Das thue ich auch Mrs. Glenarm; aber nach dem, was ich über Geoffrey weiß« —— er zauderte und ließ seine Finger in nervöser Aufregung über die Saiten seiner Violine gleiten. ——

»Sie glauben ihm nicht,« sagte Mrs. Glenarm.

Julius erklärte, daß er keineswegs an dem Worte, das sein Bruder der Dame gegeben habe, die sein Weib zu werden bestimmt sei, zweifle. »Soweit gehe ich nicht«, aber es wird mir schwer, das, was uns Geoffrey erzählt hat, mit dem Wesen und der Erscheinung Miß Silvester? in Einklang zu bringen.«

»Ihre Erscheinung?« rief Mrs. Glenarm in einem Ausbruch des höchsten Erstaunens und Widerwillens, »ihre Erscheinung? O, die Männer, ich bitte um Verzeihung, ich hätte nicht vergessen sollen, daß sich über den Geschmack nicht streiten läßt. Bitte, fahren Sie fort, fahren Sie fort.«

»Wollen wir uns durch ein wenig Musik beruhigen?« schlug Julius vor.«

»Ich bitte Sie dringend, fortzufahren,« antwortete Mrs. Glenarm emphatisch, »Sie finden es unmöglich in Einklang zu bringen?«

»Ich sagte, es wird mir schwer.«

»Gut, gut, schwer in Einklang zu bringen, was Geoffrey uns erzählt hat, mit Miß Silvester#s Wesen und Erscheinung und was weiter? Sie wollten noch etwas mehr sagen, als ich so unhöflich war, Sie zu unterbrechen, bitte, was war das?«

»Nur dieses sagte Julius. »Es wird mir nicht leicht, mir Sir Patrick Lundie’s Benehmen zu erklären, wenn ich annehmen soll, daß er Mr. Brinkworth gestattet haben könne, sich durch die Heirath seiner Nichte einer Bigamie schuldig zu machen.«

»Warten Sie einen Augenblick. Die Heirath dieser abscheulichen Person mit Mr. Brinkworth war eine geheime Heirath, natürlich wußte Sir Patrick nichts davon.«

Julius gab zu, daß dies möglich sei, und machte einen zweiten Versuch die zürnende Dame an’s Klavier zurückzuführen, aber wieder vergebens.

Obgleich Mrs. Glenarm sich selbst nicht eingestehen wollte, war doch ihr Glaube an die Aufrichtigkeit der Vertheidigung ihres Verlobten erschüttert. Der Ton, in dem Julius sprach, hatte, so gemäßigt er auch war, den ersten Argwohn gegen die Glaubwürdigkeit der Angaben Geoffrey’s, welchen Anne’s Sprache und Benehmen Mrs. Glenarm aufgedrängt hatten, wieder bei ihr aufgefrischt. Sie sank in den nächsten Stuhl und bedeckte sich die Augen mit dem Taschentuch. »Sie haben den armen Geoffrey immer gehaßt!« rief sie in Thränen ausbrechend aus und jetzt verleumden Sie ihn gar gegen mich.«

Julius wußte sie meisterlich zu behandeln. Im Begriff, ihr eine ernste Antwort zu geben, hielt er inne. »Ich habe den armen Geoffrey immer gehaßt«, wiederholte er lächelnd, »Sie sollten die letzte Person sein, Mrs. Glenarm, die so etwas behauptet. Ich habe ihn den ganzen Weg von London her mitgebracht, nur zu Dem Zweck, um ihn Ihnen vorzustellen.«

»Dann wünschte ich, Sie hätten ihn in London gelassen«, entgegnete Mrs. Glenarm, indem sie plötzlich von Thränen zu einem Ausbruch übler Laune überging. »Ich war glücklich ehe ich Ihren Bruder kennen lernte; ich kann ihn nicht aufgeben«, brach sie aus, indem sie plötzlich wieder von übler Laune zu Thränen überging. »Es ist mir einerlei, ob er mich betrogen hat, ich will nicht zugeben, daß ein anderes Weib ihn bekommt, ich will sein Weib werden!« »Mit einer theatralischen Geberde warf sie sich vor Julius auf die Knie. »O helfen Sie mir die Wahrheit herauszubringen«, sagte sie, »o Julius, haben Sie Mitleid mit mir, ich liebe ihn innig!«

Ihr Gesicht trug das Gepräge wahrer Bekümmerniß und ihre Stimme verkündete eine wahre Empfindung. Wer hätte glauben können, daß diese Frau gleichwohl erbarmungsloser Insolenz und herzloser Grausamkeit fähig war und daß sie diese Empfindungen vor noch nicht fünf Minuten über eine gefallene Schwester reichlich ergossen hatte.

»Ich will thun, was ich kann«, sagte Julius, indem er sie aufhob; »lassen Sie uns darüber reden, wenn Sie ruhiger geworden sein werden. Versuchen Sie ein wenig Musik zu machen«, wiederholte er, »das wird beruhigend auf Ihre Nerven wirken.«

»Möchten Sie, das; ich spiele?« fragte Mrs. Glenarm, plötzlich zu einem Muster weiblicher Folgsamkeit umgewandelt.

Julius öffnete einen Band Mozart’scher Sonaten und legte seine Violine unter das Kinn.

»Lassen Sie uns die fünfzehnte Sonate versuchen«, sagte er, indem er Mrs. Glenarm an’s Klavier führte, »wir wollen mit dem Adagio beginnen. Wenn es je von einem sterblichen Menschen geschriebene, göttliche Musik gegeben hat, so ist es diese. Sie fingen an. Bei dem dritten Tact versah es Mrs. Glenarm mit einer Note und Julius’ Bogen blieb schaudernd auf den Saiten hängen.

»Ich kann nicht spielen«, sagte sie, »ich bin so aufgeregt, ich bin so ängstlich, wie soll ich herausfinden ob diese nichtswürdige Person wirklich verheirathet ist oder nicht. Wen kann ich fragen? Ich kann nicht zu Geoffrey nach London gehen, die Trainers würden. mich nicht zu ihm lassen. Ich kann mich nicht an Mr. Brinkworth selbst wenden, ich kenne ihn nicht einmal. Wen giebt es also sonst noch, den ich fragen könnte, denken Sie doch einmal nach und rathen Sie mir.«

Es gab nur eine Chance sie das Adagio wieder aufnehmen zu machen, wenn es ihm gelang auf einen Gedanken zu kommen, der sie beruhigen und zufriedenstellen könnte.

Julius legte seine Violine auf’s Klavier und überlegte sich die Sache sorgfältig. »Da sind die Zeugen«, sagte er. »Wenn man Geoffrey’s Geschichte Glauben schenken darf, könnten die Wirthin und der Kellner im Gasthofe über die Thatsachen aussagen.«

»Geringes Volk!« wandte Mrs. Glenarm ein, »Leute die ich nicht kenne, Leute, die meine Situation vielleicht ausbeuten und insolent gegen mich sein würden.«

Julius überlegte noch einmal und machte einen andern Vorschlag. Mit verhängnißvoller Naivität kam er auf den Gedanken, Mrs. Glenarm an keine geringere Person, als an Lady Lundie zu verweisen. »Da ist unsere gute Freundin in Windygates«, sagte er, »Vielleicht, daß Gerüchte von der Sache schon bis zu Lady Lundie’s Ohren gedrungen sind. In diesem Fall würde es sich vielleicht etwas sonderbar machen, sie zur Zeit in einer so ernsten Familiencalamität zu besuchen, indessen das müssen Sie selbst am Besten beurtheilen können. Alles, was ich thun kann, ist, Ihnen die Idee an die Hand zu geben. Windygates ist nicht sehr weit von hier und vielleicht könnte ein Besuch bei Lady Lundie zu etwas führen.«

Der Leser möge sich erinnern, daß Lady Lundie vollkommen im Dunkeln gelassen war, daß Sie an Sir Patrick in einem Ton geschrieben hatte, der deutlich zeigte, wie sehr sie sich in ihrem Selbstbewußtsein verletzt fühlte, daß ihr Argwohn geweckt worden war und daß sie jetzt, Dank Julius Delamayn, wahrscheinlich die erste Kunde von der ersten Verlegenheit, in der sich Arnold Brinkworth befand, aus dem Munde einer entfernten Bekannten zu erhalten im Begriff stand. Dessen möge sich der Leser erinnern und sich dann selbst sagen, zu welchen ernsten Folgen nicht nur in Windygates, sondern auch in Ham Farm diese Mittheilung führen konnte.

»Was meinen Sie dazu Mrs. Glenarm?« fragte Julius Delamayn.

Mrs. Glenarm war entzückt. Das ist die richtige Person sagte sie; wenn ich nicht vorgelassen werde, kann ich leicht schreiben und zu meiner Entschuldigung den Zweck meines Besuches anführen. Lady Lundie ist eine so rechtlich gesinnte und so theilnehmende Frau. Wenn sie Niemand anders sehen will, brauche ich sie nur zur Vertrauten meiner Verlegenheit zu machen und ich bin überzeugt, sie wird mich vorlassen. Sie werden mir einen Wagen leihen, nicht wahr? Ich will gleich morgen nach Windygates!«

Julius nahm seine Violine vom Klavier. »Halten Sie mich nicht zudringlich«, sagte er schmeichelnd, »bis morgen haben wir doch nun nichts weiter zu thun und es ist eine so herrliche Musik, wenn Sie sich ihr einmal hingegeben haben. Haben Sie etwas dagegen, es noch, einmal zu versuchen?«

Mrs. Glenarm war nach dem unschätzbaren Winke, den ihr Julius eben gegeben hatte, bereit, Alles zu thun, um ihre Dankbarkeit an den Tag zu legen. Bei dem zweiten Versuch waren Augen und Hände der schönen Clavierspielerin in vollkommener Harmonie. Endlich rann die liebliche Melodie, welche Violine und Clavier in Ausführung des Adagio’s der fünfzehnten Sonate von Mozart vorzutragen haben, sanft dahin, und Julius Delamayn war in dem siebenten Himmel musikalischen Entzückens.

Am nächsten Tage fuhren Mrs. Glenarm und Mrs. Delamayn zusammen nach Windygate-House.



Das Schlafzimmer

Fünfundvierzigstes Kapitel - Lady Lundie thut ihre Pflicht

Die Scene spielt in einem Schlafzimmer und enthüllt den Blicken des Zuschauers bei hellem Tageslicht eine Dame im Bett. Leser mit allzu reizbarem Schicklichkeitsgefühl, deren selbstauferlegte Pflicht es ist, bei jeder Gelegenheit Zeter zu schreien, werden gebeten, einen Augenblick inne zu halten, ehe sie auch bei diesem Anblick ihrem Unwillen Luft machen.

Da die Dame, die sich jetzt den Blicken des Zuschauers darbietet, keine geringere Person ist, als Lady Lundie, so ergiebt sich daraus ohne Weiteres, daß den höchstgespannten Forderungen der Schicklichkeit durch die bloße Anführung dieser Thatsache Genüge geschieht. Behaupten, daß daraus, daß Lady Lundie sich, anstatt in einer perpendiculären in einer horizontalen Lage präsentirte, für irgend einen Menschen, der dieses Anblicks theilhaftig wurde, etwas Anderes, als moralischer Vorteil erwachsen konnte, hieße behaupten, daß die Tugend einer Frau durch ihre Positur bedingt sei und daß sie aufhöre respektabel zu sein, sobald sie in einer anderen als einer Tages- oder Abend-Toilette erscheine.

Lady Lundie lag im Bett. Lady Lundie hatte Blanche’s schriftliche Ankündigung von der plötzlichen Unterbrechung der Hochzeitsreise erhalten und hatte an Sir Patrick ihre schriftliche Antwort ergehen lassen, deren Eintreffen in Ham-Farm bereits geschildert worden ist. Nachdem sie das gethan hatte, hielt Lady Lundie es für ihre Pflicht, bis zum möglichen Eintreffen der Antwort Sir Patrick’s, eine angemessene Stellung in ihrem eigenen Hause einzunehmen. Was thut eine rechtschaffene Frau, wenn sie Grund zu glauben hat, daß die Mitglieder ihrer eigenen Familie ihr grausam mißtrauen? Eine rechtschaffene Frau empfindet das so schmerzlich, daß sie krank wird; demgemäß wurde Lady Lundie krank. Da der Fall sehr ernst war, wurde nach einem ausgezeichneten Arzte in der Nachbarstadt Kirkandrew geschickt. Alsbald erschien in einem zweispännigen Wagen der Arzt mit der unerläßlichen Glatze auf dem Kopf und der unvermeidlichen weißen Cravatte. Er fühlte Lady Lundie den Puls und that sanft einige Fragen. Mit feierlich gewichtiger Miene, wie nur ein großer Arzt sie anzunehmen versteht, trat er dann vom Bette zurück und sagte, innerlich fest überzeugt, daß seiner Patientin absolut nichts fehle, im Ton der Unfehlbarkeit: »Es sind Ihre Nerven, Lady Lundie, Ruhe ist unerläßlich, Sie dürfen das Bett nicht verlassen, ich werde Ihnen etwas verordnen.« Und nun verordnete er mit unerschütterlichem Ernste: Aromatischer Amoniak-Spiritus: 10 Tropfen; rother Lavendel-Spiritus: 10 Tropfen; Orangenschaalen-Syrup: 2 Drachmen; Kampher-Julep: 1 Unze. Nachdem er noch unter das Recept geschrieben hatte, »Misce fiat haustus«, will sagen, »mische den Trank«; und ferner: »Ter die sumendus«, will sagen: »Drei Mal täglich zu nehmen«, und nachdem er endlich sein Latein durch seine Anfangsbuchstaben beglaubigt hatte er nur noch seinen Bückling zu machen, zwei Guineen in die Tasche gleiten zu lassen und mit einem völlig beruhigten, ärztlichen Gewissen von dannen zu gehen.

Lady Lundie lag im Bette. Ihr sichtbarer Theil war, der Gelegenheit angemessen, in sehr sorgfältige Toilette gekleidet, eine feine Spitzenhaube umrahmte ihr Antlitz, ein mit Spitzen und rosa Schleifen besetztes entzückendes Jäckchen von weißen Cambrik umhüllte ihre Büste. Der Rest war Bettdecke.

Auf einem Tische neben dem Bette stand die rothe, dem Auge und der Zunge gleich angenehme Lavendel-Medicin, dicht daneben lag ein Buch religiösen Inhalts, hinter dem frommen Buche lagen in bescheidener Entfernung die Hausstandsbücher und der Küchenbericht des Tages. Zelbst Lady Lundie’s Nerven konnten sie von der Erfüllung ihrer Pflichten nicht abhalten. Ein Fächer, ein Riechfläschchen und ein Taschentuch lagen für Lady Lundie’s Hand erreichbar auf der Bettdecke; das geräumige Zimmer war halb dunkel gemacht, eines der untern Fenster war geöffnet, um Lady Lundie den nothwendigen Cubikinhalt frischer Luft zuzuführen. Von der dem Fußende des Bettes gegenüberliegenden Wand blickte der verstorbene Sir Thomas im Bilde auf seine Wittwe herab. Im Zimmer herrschte die peinlichste Ordnung. Kein Stuhl, der nicht an seinem Platze gestanden hätte, keine Spur eines Kleidungsstückes außerhalb der geheiligten Schranken der Garderobe und der Schubladen. In halbdunkler Ferne schimmerten die glänzenden Geräthschaften des Toilettentisches; die Kannen und Schaalen des Waschgeschirrs waren von einem köstlichen, fleckenlosem milchweißen Porzellan. Wohin man den Blick wandte, sah man ein vollkommenes Zimmer, richtete man aber den Blick auf das Bett, so sah man eine vollkommene Frau.

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Es war am Tage nach Anne’s Erscheinen in Swanhaven Lodge, ziemlich spät am Nachmittage. Lady Lundies Kammermädchen öffnete die Thür geräuschlos und näherte sich auf den Fußspitzen dem Bette. Lady Lundie hatte ihre Augen geschlossen; sie öffnete sie plötzlich und sagte: »ich schlafe nicht, Hopkins, ich leide, was haben Sie?«

Hopkins legte zwei Karten auf die Bettdecke »Mrs. Delamayn und Mrs. Glenarm.«

»Man hat ihnen doch gesagt, daß ich krank bin!«

»Ja, Mylady; aber Mrs. Glenarm ließ mich rufen, ging in die Bibliothek und schrieb dieses Billet.«

Hopkins überreichte das zierlich zu einem Dreieck zusammengefaltete Billet.

»Sind sie fort?«

»Nein Mylady, Mrs. Glenarm sagte, ein einfaches ja oder nein als Antwort würde genügen, wenn Sie nur die Güte haben wollten, diese Zeilen zu lesen«

»Wie unüberlegt von Mrs. Glenarm zu einer Zeit zu kommen, wo der Doctor auf die vollständigste Ruhe dringt«, sagte Lady Lundie, »aber gleichviel, auf eine Aufregung mehr oder weniger, kommt es nicht an.«

Sie stärkte sich durch den Gebrauch des Riechfläschchens und öffnete das Billet, das also lautete:

»Es thut mir so leid, zu hören, daß Sie liebe Lady Lundie an Ihr Zimmer gefesselt sind. Ich hatte die Gelegenheit, Ihnen in Mrs. Delamayn’s Begleitung einen Besuch zu machen, in der Hoffnung benutzt, daß es mir möglich sein würde, eine Frage an Sie zu richten. Werden Sie mir in Ihrer unerschöpflichen Güte verzeihen, wenn ich diese Frage schriftlich an Sie richte? Haben Sie kürzlich eine unerwartete Nachricht über Mr. Arnold Brinkworth erhalten? Ich meine, haben Sie irgend etwas über ihn gehört, was Sie sehr überrascht hat? Ich habe sehr ernste Gründe Sie das zu fragen, sobald Sie im Stande sein werden, mich zu sehen, werde ich Ihnen diese Gründe mittheilen. Bis dahin genügt mir ein Wort der Antwort; lassen Sie mir »ja« oder »Nein« sagen. Tausend Entschuldigungen und bitte, seien Sie bald wieder wohl.«

Die sonderbare in diesem Billet enthaltene Frage ließ für Lady Lundie zwei Erklärungen zu. Entweder Mrs. Glenarm hatte von der unerwarteten Rückkehr des jungen Paares nach England gehört, oder sie besaß, was viel wichtiger für Lady Lundie war, einen Schlüssel zu dem Geheimniß das hinter den Vorgängen in Ham-Farm steckte. Der in dem Billet gebrauchte Ausdruck: »ich habe ernste Gründe Sie zu fragen«, schien zu Gunsten dieser letzteren Annahme zu sprechen; so unmöglich es auch schien, daß Mrs. Glenarm etwas über Arnold wissen sollte, wovon Lady Lundie keine Ahnung hatte, so konnte sich doch Lady Lundie’s Neugierde, die bereits durch Blanche’s geheimnißvollen Brief gewaltig erregt worden war, nur in einer sofort durch eine persönliche Zusammenkunft zu erlangenden Auskunft Genüge thun.

»Hopkins«, sagte sie, »ich muß Mrs. Glenarm sprechen.«

Hopkins erhob die Hand mit einer ehrfurchtsvollen aber entsetzten Geberde, »Besuche im Schlafzimmer bei dem gegenwärtigen« Zustand Ihrer Gesundheit Lady Lundie?«

»Es handelt sich hier um die Erfüllung einer Pflicht. Gieb mir den Spiegel.«

Hopkins reichte Lady Lundie einen eleganten Handspiegel. Lady Lundie unterwarf ihre ganze Erscheinung bis an den Rand der Bettdecke einer sorgfältigen Musterung. In jeder Beziehung über jede Kritik erhaben!

»Führen Sie Mrs. Glenarm herauf.«

Eine Minute später rauschte die Wittwe des Eisenwerkbesitzers in das Zimmer, wie gewöhnlich etwas zu reich gekleidet und zu überschwänglich in ihrem Ausdruck der Dankbarkeit für Lady Lundies Güte, und der Besorgniß für Lady Lundie’s Gesundheit.

Lady Lundie ertrug es so lange wie möglich, wehrte ihr dann mit einer Geberde höflichen Protestes und kam zur Sache.

»Nun? Liebes Kind, zu der Frage in Ihrem Billet. —— Ist es möglich, daß Sie schon davon gehört haben, daß Arnold Brinkworth und seine Frau von Baden zurückgekehrt sind?«

Mrs. Glenarm machte sehr erstaunte Augen.

Lady Lundie erklärte sich noch näher.

»Sie wissen, sie wollten auf ihrer Hochzeitsreise weiter in die Schweiz reifen, aber sie haben plötzlich ihren Entschluß geändert und sind vorigen Sonntag nach England zurückgekehrt.«

»Liebe Lady Lundie, das ist es nicht. Haben Sie nichts anderes über Mr. Brinkworth gehört, als was Sie eben sagten.«

»Nein, nichts!«

Es entstand eine Pause. Mrs. Glenarm spielte zögernd mit ihrem Sonnenschirm Lady Lundie beugte sich in ihrem Bett vorüber und faßte Mrs. Glenarm scharf in’s Auge. »Was haben Sie denn über ihn gehört?« fragte sie.

Mrs. Glenarm war verlegen. »Es ist so schwer für mich, es auszusprechen, fing sie an.

»Ich kann Alles ertragen, nur keine Ungewißheit«, erwiderte Lady Lundie, »sagen Sie mir auf einmal das Schlimmste.«

Mrs. Glenarm entschloß sich, es auszusprechen: »Haben Sie niemals gehört, daß Mr. Brinkworth sich vor seiner Heirath mit einem andern Frauenzimmer compromittirt hat?«

Lady Lundie schloß entsetzt die Augen und tastete dann blindlings nach dem Riechfläschchen auf der Bettdecke umher.

Mrs. Glenarm reichte es ihr und wartete ab, bis die Kranke es werde ertragen können, weiter zu hören.

»Es giebt Dinge, die wir hören müssen« bemerkte Lady Lundie. »Ich habe hier eine Pflicht zu erfüllen, keine Worte vermögen es auszudrücken, wie sehr mich diese Nachricht in Erstaunen setzt. Wer hat sie Ihnen mitgetheilt?«

»Mr. Geoffrey Delamayn!«

Zum zweiten Mal griff »Lady Lundie nach dem Riechfläschchen. »Der intimste Freund Arnolds« rief sie aus; »wenn irgend Jemand, so muss er es wissen! Das ist ja schrecklich. Warum hat Mr. Geoffrey Delamayn es Ihnen erzählt?«

»Ich bin mit ihm verlobt!« antwortete die junge Wittwe, »und das ist auch meine Entschuldigung dafür, daß ich Sie mit dieser Angelegenheit behellige.«

Lady Lundie öffnete ihre Augen ein klein wenig in einem Zustande fassungsloser Schwäche. »Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie, »um des Himmels willen erklären Sie sich deutlicher.«

»Haben Sie etwas von den anonymen Briefen gehört?« fragte Mrs. Glenarm.

Ja. Lady Lundie hatte davon gehört, aber nicht mehr, als das Publikum im Allgemeinen, ohne zu wissen, wer mit der dahinter steckenden Dame gemeint sei, und überzeugt, daß Mr. Geoffrey Delamayn so unschuldig sei, wie ein neugeborenes Kind. War diese Annahme nicht richtig?

»Geben Sie mir Ihre Hand liebes Kind und vertrauen Sie mir die Sache an.«

»Geoffrey ist nicht ganz unschuldig«, begann Mrs. Glenarm, »er hat sich zu einem thörichten Liebeshandel bekannt, an dem natürlich sie die ganze Schuld trug. Ich drang auf eine bestimmte Erklärung, ich wollte wissen, ob sie wirklich einen Anspruch an ihn habe, aber sie hat nicht den Schatten eines Anspruchs. Ich hatte dafür keinen anderen Beweis als sein Wort und erklärte ihm, mich dabei nicht beruhigen zu können. Darauf erwiderte er, er könne es beweisen, er wisse, daß sie bereits heimlich verheirathet sei. Ihr Mann habe sie verleugnet und verlassen, ihre Hülfsmittel seien erschöpft, sie sei desparat genug um Alles zu versuchen. Mir schien das Alles sehr verdächtig, bis Geoffrey mir den Namen des Mannes nannte. Dieser Name war mir die sicherste Bürgschaft dafür, daß der Träger desselben seine Frau verlassen haben mußte, da er kürzlich ein anderes Mädchen geheirathet hatte.«

Lady Lundie richtete sich plötzlich in ihren Kissen auf, diesmal wirklich aufgeregt und wahrhaft beunruhigt. »Mr. Delamayn hat Ihnen den Namen des Mannes genannt?« fragte sie athemlos.

»Ja.«

»Kenne ich denselben?«

»Fragen Sie mich nicht!«

Lady Lundie sank in ihre Kissen zurück.

Mrs. Glenarm stand auf und wollte um Hilfe klingeln, aber noch bevor sie die Klingel berühren konnte, hatte Lady Lundie sich wieder erholt.

»Lassen Sie«, rief sie, »ich kann es selbst bestätigen, es ist wahr, Mrs. Glenarm, es ist wahr. Oeffnen sie die silberne Dose auf dem Toilettentisch, darin werden sie den Aufschluß finden. Bringen Sie mir den obersten Brief. Hier, sehen Sie, das hat mir Blanche geschrieben. Warum haben sie plötzlich ihre Hochzeitsreise aufgegeben? Warum sind sie zu Sir Patrick nach Ham-Farm zurückgekehrt? Warum haben sie mich mit einer elenden Ausflucht als Erklärungsgrund abgespeist? Ich war überzeugt, daß etwas Entsetzliches geschehen sein müsse, jetzt weiß ich, was es ist.« Sie sank wieder mit geschlossenen Augen in ihre Kissen zurück und wiederholte die Worte in einem wilden Geflüster vor sich hin: »Jetzt weiß ich, was es ist!«

Mrs. Glenarm las den Brief. Der für die auffallend plötzliche Rückkehr des jungen Paares angegebene Grund war ersichtlich eine Ausflucht und was noch auffallender war, der Name Anne Silvester’s hing mit dieser Rückkehr zusammen. Mrs. Glenarm ihrerseits wurde sehr aufgeregt. »Das ist eine Bestätigung« sagte sie, »Mr. Brinkworth ist entdeckt, die Person ist mit ihm verheirathet. Geoffrey ist frei! Theure Freundin, welche Sorgenlast nehmen Sie von mir. Die niederträchtige Person!«

Lady Lundie öffnete plötzlich die Augen. »Meinen Sie«, fragte sie, »die Person, die all dieses Unheil angestiftet hat?«.

»Ja, ich habe sie selbst gestern gesehen, sie hatte sich geschickt in Swanhaven einzudrängen gewußt. Sie sprach von ihm als »Geoffrey Delamayn«, sie erklärte, sie sei unverheirathet, und erhob mir in’s Gesicht ihren Anspruch an Geoffrey in der frechsten Weise. Sie brachte es dahin, Lady Lundie, daß sie meinen Glauben an Geoffrey’s Treue erschütterte.«

»Wer ist sie denn, wer ist sie denn?«

»Wer?« wiederholte Mrs. Glenarm, »wissen Sie das nicht einmal? Ihr Name steht ja wenigstens sechs Mal in diesem Briefe!«

Lady Lundie stieß einen durchdringenden Schrei aus.

Mrs. Glenarm sprang auf, das Kammermädchen ließ sich entsetzt an der Thür blicken.

Lady Lundie winkte dem Mädchen mit der Hand, sich augenblicklich zurückzuziehen und wies dann auf Mrs. Glenarm’s Stuhl. »Setzen Sie sich wieder«, sagte sie, »lassen Sie mir ein paar Augenblicke, mich zu fassen, mehr brauche ich nicht.«

Einige Augenblicke herrschte tiefes Schweigen im Zimmer, bis Lady Lundie das Wort ergriff. Sie verlangte nach Blanche’s Brief. Nachdem sie denselben wieder sorgfältig durchgelesen hatte, legte sie ihn bei Seite und versank einige Augenblicke in tiefes Nachdenken. »Ich habe mich gegen Blanche einer Ungerechtigkeit schuldig gemacht; meine arme Blanche!«

»Glauben Sie, daß sie nichts davon weiß?«

»Ich bin davon überzeugt! Sie vergessen Mrs. Glenarm, daß diese schreckliche Entdeckung die Gültigkeit der Ehe meiner Stieftochter zweifelhaft erscheinen läßt. Glauben Sie, daß sie, wenn sie die Wahrheit wüßte, von einer elenden Person, die sie tödtlich beleidigt hat, so schreiben würde, wie sie es hier gethan? Sie haben sie mit derselben Entschuldigung, die sie mir schreibt, abgespeist, ich sehe dass so deutlich vor mir, wie ich Sie sehe. Mr. Brinkworth und Sir Patrick haben sich verbündet uns beide im Dunkeln zu halten. Das arme Kind; ich bin ihr eine Erklärung schuldig. Wenn ihr Niemand anders die Augen öffnet, so will ich es thun. Sir Patrick soll sehen, daß Blanche eine Freundin an mir hat.« Plötzlich überflog ihr Gesicht ein Lächeln, das gefährliche Lächeln einer von Grund aus rachsüchtigen, leidenschaftlich aufgeregten Frau.

Mrs. Glenarm erschrak. Lady Lundies wahres Gesicht, das von ihrem gewöhnlichem Gesicht äußerst verschieden war, war kein sehr angenehmer Anblick. »Bitte beruhigen Sie sich«, sagte Mrs. Glenarm, »beste Lady Lundie, Sie erschrecken mich!«

Die glatte Freundlichkeit Lady Lundie’s legte sich wieder über ihr Gesicht und verhüllte den wahren Ausdruck desselben, der nur in einem flüchtigen Augenblick zum Vorschein gekommen war.

»Verzeihen Sie meine Aufregung«, sagte sie in dem Tone geduldiger Sanftmuth, den sie sich in Zeiten der Prüfung so wunderbar zu bewahren wußte. »Es ist ein wenig hart für eine arme kranke Frau, die nichts Böses ahnt, sich durch die herzloseste Vernachlässigung insultirt zu sehen; aber ich will Sie nicht betrüben, ich werde mich erholen, liebes Kind, ich werde mich erholen. In dieser schrecklichen Calamität, in diesem Abgrund von Verbrechen und Betrug habe ich Niemanden auf der Welt, auf den ich mich verlassen« kann, als mich selbst. Um Blanche’s willen muß die ganze Sache aufgeklärt, ergründet, bis in die Tiefe ergründet werden. Blanche muß aus dieser unwürdigen Lage befreit werden, Blanche muß unter meinem Schutze ihre Rechte geltend machen, gleichviel was ich dabei leide oder was für Opfer ich bringen muß. Ich Aermste habe hier eine Pflicht zu erfüllen und ich will sie erfüllen«, sagte Lady Lundie, indem sie sich mit dem Ausdruck unbeugsamer Entschlossenheit fächelte.

»Aber was können Sie thun, Lady Lundie? Alle Betheiligten sind ja so weit von hier und was die abscheuliche Person anbetrifft ——«

Hier berührte Lady Lundie Mrs. Glenarm’s Schulter mit ihrem Fächer.

»Warten Sie, liebe Freundin, jetzt ist die Reihe an mir, Ihnen eine Ueberraschung zu bereiten. Diese abscheuliche Person war als Blanche’s Gouvernante früher hier im Hause. Und das ist noch nicht Alles. Sie verließ uns plötzlich, lief unter dem Vorwande, heimlich verheirathet zu sein, davon. Aber ich weiß, wohin sie gegangen ist, ich kann ihre Spur verfolgen und erfahren, wer mit ihr war, ich kann auch Mr. Brinktworth’s Schritte hinter seinem Rücken controliren, ich kann die Wahrheit herausbringen, ohne mich auf Leute verlassen zu müssen, die in diese häßliche Affaire verwickelt sind und denen daran gelegen sein muß, mich zu betrügen, und das soll noch heute geschehen.«

Sie klappte ihren Fächer mit einer triumphirenden Miene zusammen und rückte sich ihre Kissen zurecht, um sich in ungestörter Behaglichkeit an der Ueberraschung ihrer lieben Freundin weiden zu können.

Mrs. Glenarm rückte vertraulich näher an das Bett heran.

»Wie wollen Sie das anfangen?« fragte sie eifrig. »Glauben Sie nicht, daß ich neugierig bin. Ich habe gleichfalls ein Interesse daran, hinter die Wahrheit zu kommen. Bitte, enthalten Sie mir nichts vor.«

»Können Sie morgen um diese Zeit wieder herkommen?«

»Jawohl, gewiß?«

»Dann kommen Sie her und Sie sollen Alles erfahren.«

»Kann ich Ihnen irgendwie dienen?«

»Augenblicklich nicht.«

»Kann mein Onkel Ihnen behilflich sein?«

»Würden Sie eine Mittheilung an Capitain Newenden gelangen lassen können?«

»O ja, er ist zum Besuch bei Freunden in Sussex.«

»Wir werden seines Beistandes vielleicht bedürfen. Ich kann es noch nicht bestimmt sagen. Jetzt lassen Sie Mrs. Delamayn nicht länger warten, liebes Kind. Auf Wiedersehen morgen zur bestimmten Stunde.«

Sie umarmten sich zärtlich, und Lady Lundie befand sich wieder allein. Mit zusammengezogenen Brauen und festgeschlossenen Lippen überließ sie sich ihren Gedanken. Den Arm auf die Kissen gestützt und den Kopf auf die Hand gelegt, saß sie halb aufgerichtet da und sah ganz so alt, vielleicht noch einige Jahre älter aus, als sie wirklich war. Nachdem sie einmal den Arzt hatte rufen und sich die rothe Lavendelmixtur hatte verschreiben lassen, durfte sie natürlich heute das Bett noch nicht verlassen. Und doch war es von höchster Wichtigkeit, daß die beabsichtigte Untersuchung sofort ins Werk gesetzt werde. War das Problem nicht leicht zu lösen, so war doch auch Lady Lundie nicht die Person, die sich leicht von einem einmal gefaßten Entschluß abbringen ließ. Wie es anzufangen sei nach der Wirthin in Craig-Fernie zu schicken ohne Verdacht oder doch Aufsehen zu erregen, das war die nächste Frage. In weniger als fünf Minuten hatte sie die Ereignisse in Windygates vor ihrem Geiste Revue passiren lassen, und das Problem war gelöst. Sie klingelte ihrer Kammerjungfer.

»Ich fürchte, ich habe Sie vorhin erschreckt, Hopkins. Daran sind meine Nerven Schuld. Mrs. Glenarm überraschte mich etwas zu plötzlich mit einer Nachricht. Es geht mir jetzt besser und ich fühle mich wieder stark genug, mich mit Hausstandsangelegenheiten zu beschäftigen. In der Schlächterrechnung ist ein Fehler. Schicken Sie die Köchin herauf.«

Sie verglich ihr Hausstandsbuch mit den Ausgaben der Köchin, berichtigte die Schlächterrechnung, ermahnte die Köchin zu größerer Vorsicht und beseitigte alle Rückstande in häuslichen Angelegenheiten, bevor sie Hopkins wieder vor sich entbot. Nachdem Sie auf diese Weise geschickt verhindert hatte, daß die Kammerjungfer auf den Gedanken kommen könne, irgend etwas, was ihre Herrin jetzt sage oder thue, hänge mit etwas, das während Mrs. Glenarm’s Besuch vorgekommen sei, zusammen, fühlte Lady Lundie sich ungenirt in der Anbahnung der Untersuchung, die sie noch vor dem Schlafengehen einzuleiten entschlossen war.

»So wären die häuslichen Angelegenheiten beseitigt«, sagte sie. »Sie müssen mein Premierminister sein Hopkins, so lange ich hier hilflos im Bette liege. Verlangen die außerhalb des Hauses wohnenden Leute, der Kutscher, der Gärtner, irgend etwas von mir?«

»Ich habe eben den Gärtner gesprochen, Mylady. Er hat die Rechnung von der letzten Woche gebracht. Ich habe ihm gesagt, daß er Sie heute nicht sprechen könne, Mylady.«

»Ganz recht. Hatte er mir etwas zu melden?«

»Nein, Mylady.«

»Ich wollte ihm oder einem Andern noch etwas sagen, was war es doch? Geben Sie mir einmal mein Notizbuch her, Hopkins. Es liegt da in dem Korb auf dem Stuhl. Warum haben Sie mir den Korb nicht vor’s Bett gestellt?«

Hopkins holte das Notizbuch herbei. Lady Lundie zog mit demselben unerschütterlichen Ernst, mit welchem der Doctor sein ganz überflüssiges Recept geschrieben hatte, das Notizbuch ganz unnöthiger Weise zu Rathe.

»Da habe ich es«, sagte sie, als ob sie ihrem Gedächtniß durch eine in dem Buch befindliche Notiz zu Hülfe gekommen wäre. »Es ist nicht der Gärtner, sondern die Frau des Gärtners. Meine Notiz erinnert mich, daß ich mit ihr wegen Mrs. Inchbare sprechen wollte. Achten Sie auf die Ideenassociation, Hopkins. Mrs. Inchbare hat etwas mit dem Hühnerhof zu thun, der Hühnerhof ist die Domaine der Gärtnersfrau, die Gärtnersfrau hängt sehr natürlich mit dem Gärtner zusammen, und so fiel mir der Gärtner ein. Begreifen Sie? Ich bemühe mich immer, Ihren Verstand zu schärfen. Sie begreifen es? Gut. Jetzt also, was ich von Mrs. Inchbare will. —— Ist sie wieder hier gewesen?«

»Nein, Mylady.«

»Ich weiß nicht, Hopkins, ob ich recht gethan habe, die Anfrage von Mrs. Inchbare in Betreff des Hühnerhofs ganz von der Hand zu weisen. Warum sollte sie mir nicht anbieten, mir Hühner, die ich entbehren kann, abzunehmen. Sie ist eine respectable Frau, und es ist wichtig für mich, mit allen meinen Nachbarn, groß oder klein, auf gutem Fuße zu leben. Hat sie einen eigenen Hühnerhof in Craig-Fernie?«

»Ja, Mylady, und zwar einen, wie ich höre, sehr gut gehaltenen.«

»Ich sehe wirklich nicht ein, Hopkins, wenn ich mir’s recht überlege, warum ich nicht mit Mrs. Inchbare ein Geschäft machen sollte. Ich halte es doch nicht unter meiner Würde, das auf meinem Gute geschossene Wild an den Wildhändler zu verkaufen. Was wollte sie doch von mir kaufen? Einige von meinen schwarzen spanischen Hühnern?«

»Ja, Mylady, Ihre schwarzen spanischen Hühner sind in der ganzen Gegend berühmt, Mylady. Niemand hat dergleichen. Und Mrs. Inchbare ——«

»Möchte gern den Ruhm, solche Hühner zu haben, mit mir theilen«, ergänzte Lady Lundie. »Ich möchte nicht unfreundlich scheinen. Ich will sie sprechen, sobald ich etwas besser bin und ihr sagen, daß ich meine Meinung geändert habe. Schicken Sie einen der Diener nach Craig-Fernie mit einer Bestellung. Ich kann solche Kleinigkeiten nicht im Kopf behalten; schicken Sie gleich, damit ich die Sache nicht wieder vergesse. Lassen Sie ihr sagen, ich sei bereit, wegen der Hühner mit Mrs. Inchbare zu sprechen, sobald es ihr passen werde, herzukommen.«

»Ich fürchte, Mylady, Mrs. Inchbare trägt ein so sehnliches Verlangen nach schwarzen spanischen Hühnern, daß es ihr passen wird, auf der Stelle herzukommen, so rasch ihre Füße sie tragen.«

»Dann müßten Sie sie zu der Gärtnersfrau bringen. Sagen Sie dieser, sie solle Mrs. Inchbare, natürlich für den richtigen Preis, einige Eier geben.

Lassen Sie mich aber jedenfalls wissen, wenn sie kommt.«

Hopkins ging hinaus. Lady Lundie lehnte sich in ihre bequemen Kissen zurück und fächelte sich sanft. Um ihre Lippen spielte wieder das böse rachsüchtige Lächeln. »Ich denke, ich werde wohl genug sein, Mrs. Inchbare zu sprechen«, dachte sie bei sich. »Und da kann es geschehen, daß die Unterhaltung die Grenzen unserer respectiven Hühnerhöfe überschreitet.«

Nach Verlauf von wenig mehr als zwei Stunden zeigte es sich, daß Hopkins den in Mrs. Inchbares Busen schlummernden Enthusiasmus richtig beurtheilt hatte. Die eifrige Wirthin folgte dem nach Windygates zurückkehrenden Diener auf dem Fuße. Auf der langen Liste menschlicher Schwächen gebührt der Leidenschaft für Federvieh wegen des damit verbundenen praktischen Nutzens in Gestalt von Eiern, der Vorzug vor den mehr im Verborgenen cultivirten Manieen, der Sammlung von Schnupftabacksdosen, Violinen, Autographen und alten Postmarken. Als die Herrin von Craig-Fernie der Herrin von Windygates gebührend gemeldet wurde, gab sich bei Lady Lundie ein bei ihr seltener Anflug von Humor kund. Dank den erheiternden Eigenschaften der rothen Lavendelmixtur entwickelte Lady Lundie alsbald eine ungewöhnlich gute Laune.

»Höchst komisch, Hopkins! Die arme Frau muß an einer Federviehgehirnaffection leiden. Krank wie ich bin, hätte ich nicht geglaubt, daß mich irgend etwas so belustigen könnte. Aber wahrhaftig, der, wie Sie sagen, plötzliche Aufbruch dieser guten Person, die so schnell ihre Füße sie tragen wollten, hergelaufen kommt, hat etwas unwiderstehlich Komisches. Ich glaube wahrhaftig, ich muß Mrs. Inchbare selbst sprechen. Bei meinen thätigen Gewohnheiten ist dieses Eingesperrtsein schrecklich für mich. Ich kann weder schlafen noch lesen. Alles, was mich von meinen eigenen Gedanken abzieht, ist mir willkommen, Hopkins. Und wenn sie mir lästig wird, will ich sie schon wieder los werden. Schicken Sie sie herauf.

Mrs. Inchbare erschien mit sehr tiefen Knixen und konnte sich von dem Erstaunen über die Herablassung, mit welcher ihr der Zutritt zu den geheiligten Räumen von Lady Lundie’s Schlafzimmer gestattet wurde, gar nicht erholen.

»Setzen Sie sich«, sagte Lady Lundie freundlich; »ich bin krank, wie Sie sehen?«

»Wenn Sie auch krank sind Mylady, es ist eine Freude, Sie anzusehen!« erwiderte Mr. Inchbare, auf welche die elegante Toilette, in die sich vornehme Frauen, auch wenn sie krank sind, zu kleiden pflegen, einen tiefen Eindruck machte.

»ich bin eigentlich gar nicht im Stande, irgend Jemanden zu empfangen«, fuhr Lady Lundie fort »aber ich habe einen besonderen Grund, der mich wünschen ließ, Sie zu sprechen, sobald Sie hier wieder in’s Haus kamen. Ich habe es versäumt nuf einen freundnachbarlichen Vorschlag, den Sie mir kürzlich gemacht haben, näher einzugehen, und ich möchte Ihnen mein Bedauern darüber ausdrücken, daß ich die Rücksicht außer Augen gelassen habe, die eine Frau in meiner Stellung einer Frau in der Ihrigen schuldig ist. Ich bin durch Ihre unerwartete Bereitwilligkeit, meiner Aufforderung zu entsprechen, genöthigt, Ihnen das unter sehr ungewöhnlichen Umständen zu sagen«, fügte Lady Lundie mit einem Blick auf ihr prächtiges Schlafzimmer hinzu. »Sie haben keine Zeit verloren, Mrs. Inchbare der Aufforderung, die ich so frei war, an Sie gelangen zu lassen, Folge zu leisten.«

»Ja, Mylady, ich war nicht sicher, daß Sie nicht, nachdem Sie schon einmal Ihre Meinung geändert hatten, sie nicht wieder ändern könntest, wenn ich nicht wie man sagt, das Eisen schmiedete, so lange es heiß war. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich zu schnell gekommen bin, mein Hühnerhof ist mein Stolz, und die »schwarzen Spanier«, wie man sie nennt, sind eine böse Versuchung für mich, das zehnte Gebot zu übertreten, so lange sie in Ihrem Besitz sind, Mylady, und ich keine davon habe.«

»Es thut mir leid zu hören, daß ich die unschuldige Ursache einer Versuchung für sie gewesen bin, Mrs. Inchbare. Machen Sie mir Ihre Proposition, und ich werde mit Vergnügen darauf eingehen, wenn es möglich ist.«

»Ich muß mit dem zufrieden sein, was Sie die Güte haben werden mir zuzugestehen, Mylady mit einer Brut Eier, wenn ich nicht mehr bekommen kann.«

»Was würden Sie denn noch lieber nehmen als eine Brut Eier?«

»Noch lieber hätte ich einen Hahn und zwei Hühner«, erwiderte Mrs. Inchbare bescheiden.

»Oeffnen Sie den hinter Ihnen stehenden Kasten«, sagte Lady Lundie, »Sie werden darin Schreibpapier finden. Geben Sie mir ein Blatt davon und nehmen Sie einen Bleistift von der Schale.«

Von Mrs. Inchbare scharf beobachtet, schrieb sie eine Ordre an die mit der Verwaltung des Hühnerhofs betraute Gärtnersfrau und händigte ihr dieselbe mit einem gnädigen Lächeln ein.

»Bringen Sie das der Gärtnersfrau. Wenn Sie sich mit ihr über den Preis einigen, so können Sie den Hahn und die beiden Hühner bekommen.«

Mrs. Inchbare öffnete die Lippen, ohne Zweifel, um ihrer überströmenden Dankbarkeit Ausdruck zu geben; aber, kaum hatte sie das erste Wort gesprochen als Lady Lundie nicht länger an sich zu halten vermochte und, in ihrer Ungeduld den Zweck, den sie von Anfang an im Auge gehabt hatte, zu erreichen, die Schranken, die sie bis dahin so vorsichtig eingehalten hatte, durchbrach. Ohne Umstände fiel sie der Wirthin in’s Wort und brachte das Gespräch unvermittelt auf das Verhalten Anne Silvester’s während ihres Aufenthalts im Craig-Fernie-Hotel.

»Wie geht’s mit Ihrem Hotel, Mrs. Inchbare? Sie haben viel Touristen in dieser Jahreszeit, nicht wahr?«

»Wir haben Gott sei Dank das Haus voll, Mylady, vom Keller bis zum Dach.«

»Vor einiger Zeit hatten Sie, glaube ich, einen Gast, »von dem ich etwas weiß. Eine Person ——« Sie hielt inne und that sich große Gewalt an; es blieb ihr keine Wahl, sie mußte sich der harten Nothwendigkeit fügen, ihre Frage deutlich zu machen. »Eine Dame«, fügte sie hinzu, »die ungefähr Mitte vorigen Monats bei Ihnen gewesen sein muß.«

»Hätten Sie wohl die« Güte, mir den Namen zu nennen, Mylady?«

Lady Lundie that sich noch größere Gewalt an.

»Silvester« sagte sie in scharfem Ton.

»Gott sei mir gnädig« rief Mrs. Inchbare; »Sie meinen doch nicht Eine, die allein, mit einem kleinen Reisesack in der Hand ankam, und hinter der ein Mann erst eine Stunde nachher, oder noch später angeschlendert kam?«

»Ohne Zweifel ist es die.«

»War das eine Freundin von Ihnen, Mylady?« fragte Mrs. Inchbare, vorsichtig das Terrain sondirend.

»Gewiß nicht!« erwiderte Lady Lundie »Ich frage nur aus einer vorübergehenden Neugierde nach ihr.«

Mrs. Inchbare fühlte sich sichtlich erleichtert. »Die Wahrheit zu gestehen, Mylady, bestand kein sehr freundschaftliches Verhältnis; zwischen der Dame und mir. Sie war eine sehr heftige eigenwillige Person und ich war sehr froh, als sie wieder fort ging.«

»Das begreife ich sehr gut, Mrs. Inchbare, ich weiß, auch etwas von ihren Launen zu erzählen. Habe ich Sie richtig verstanden, daß sie allein in Ihr Hotel kam und daß ihr Mann ihr kurz nachher folgte?«

»Vollkommen richtig, Mylady Ich konnte ihr nicht eher Zimmer im Hotel geben, bis ihr Mann hinter ihr herkam und sich für sie verbürgte.«

»Ich glaube, ich habe den Mann auch einmal gesehen;« sagte Lady Lundie, »was für eine Art von Mann war es?«

Mrs. Inchbare antwortete Ungefähr in denselben Ausdrücken, deren sie sich bei Beantwortung der ähnlichen Frage Sir Patricks bedient hatte.

»O! er war sehr jung für eine Person von ihrem Alter. Ein hübscher Mann, Mylady, nicht groß und nicht klein; mit freundlichen braunen Augen, dunklem Teint und schönem kohlschwarzem Haar. Ein netter, zuthunlicher Bursche. Ich habe nichts gegen ihn, außer, daß er spät Abends erschien und sich früh am nächsten Morgen wieder davon machte und mir die Madame auf dem Hals ließ.«

Die Antwort brachte genau denselben Eindruck auf Lady Lundie hervor, den sie auf Sir Patrick gemacht hatte. Sie fühlte an, daß die Schilderung in ihrer Unbestimmtheit auf zu viele junge Männer von gewöhnlichem Aussehen und Temperament paßte, als daß man irgend einen bestimmten Anhaltepunkt darin hätte finden können. Aber Lady Lundie war bei ihrem Versuch, die Wahrheit zu ergründen, außerordentlich im Vorteil gegen ihren Schwager. Sie hatte Arnold im Verdacht und sie konnte daher Mrs. Inchbare’s Gedächtniß durch Winke zu Hülfe kommen.

»Hatte er in Blick und Wesen etwas von einem Seemann?« fragte sie. »Und haben Sie vielleicht, wenn Sie mit ihm sprachen, bemerkt, daß er die Gewohnheit hatte, mit einem Medaillon an seiner Uhrkette zu spielen?«

»Das ist er, wie er leibt und lebt!« rief Mrs. Inchbare; »Sie müssen ihn gut kennen, Mylady, das ist sicher.«

»Ich glaube ihn einmal gesehen zu haben«, erwiderte Lady Lundie; »ein bescheidener, feiner, junger Mann, wie Sie ihn schildern, Mrs. Inchbare. Aber ich will Sie nicht länger von Ihrem Weg nach dem Hühnerhof zurückhalten. Nach der Vorschrift des Arztes soll ich eigentlich Niemanden sehen. Wir sind ja ganz einig, nicht wahr? Ich habe mich gefreut, Sie zu sehen. Guten Abend.«

So entließ Lady Lundie Mrs. Inchbare, als sie ihren Zweck erreicht hatte.

Die meisten Frauen würden sich mit der Auskunft, die Lady Lundie erhalten hatte, begnügt haben, aber sie, die mit einem Mann wie Sir Patrick zu thun hatte, beschloß, sich ihrer Sache erst völlig zu vergewissern, bevor sie es wagen würde, in Ham-Farm einzuschreiten. Sie hatte von Mrs. Inchbare erfahren, daß der sogenannte Gatte Anne Silvester’s an dem Tage, wo sie in Craig-Fernie angekommen war, mit ihr zusammengetroffen sei und sie am nächsten Tage wieder verlassen habe. Anne hatte Windygates am Tage des Gartenfestes, das heißt am vierzehnten August, heimlich verlassen. An demselben Tage war Arnold Brinkworth von Windygates zu dem Zwecke abgereist, das ihm von seiner Tante hinterlassene Gut in Schottland zu besuchen. —— Wenn Mrs. Inchbare’s Bericht genau war, so mußte Arnold, anstatt nach seinem Gute, nach Craig-Fernie gegangen und daher zur Besichtigung seines Hauses und seiner Ländereien einen Tag später eingetroffen sein, als er ursprünglich für diesen Zweck festgesetzt hatte. Wenn diese Thatsache auf die Aussage eines uninteressirten Zeugen hin bewiesen werden konnte, so würden die Indicien gegen Arnold zehnfach verstärkt erscheinen und Lady Lundie konnte, auf ihre Entdeckung fußend, mit großer Sicherheit Vorgehen.

Nach einer kurzen Ueberlegung beschloß sie einen Boten mit einem Billet an Arnold’s Verwalter abzuschicken; als Erklärung für die sonderbare Frage gab sie eine kleine Familien-Discussion über das genaue Datum von Arnold’s Rückkehr auf sein Gut und eine darüber gemachte Wette vor. Wenn der Verwalter, schloß sie ihr Billet, genau angeben könne, ob sein Principal am 14. oder 15. August auf seinem Gute angekommen sei, so würde das zur Entscheidung der streitigen Frage hinreichen.

Lady Lundie beorderte, daß das Billet am nächsten Morgen in aller Frühe befördert werde und daß der Bote mit dem ersten Retourzug noch am selben Tage nach Windygates zurückkehren solle. Nachdem sie das angeordnet hatte, konnte sich Lady Lundie die Erfrischung einer neuen Dosis der Lavendelmixtur gewähren und den Schlaf der Gerechten schlafen.

Am nächsten Tage kam die Post und brachte keine Antwort von Sir Patrick. Lady Lundie trug daß Ausbleiben dieser Antwort in ihr Register alter Schulden ihres Schwagers ein, welche er ihr am Tage der Abrechnung mit Zinsen bezahlen sollte. Demnächst erschien der Bote wieder mit der Antwort des Verwalters. Derselbe hatte in seinem Tagebuche nachgesehen und darin gefunden, daß Mr. Brinkworth sich für den 14. August angemeldet habe, aber nicht vor dem l5. August eingetroffen sei. Als Lady Lundie sich im Besitz der Entdeckung befand, die ihr erforderlich schien, um Mrs. Inchbare’s Aussage zu bekräftigen, beschloß sie, noch einen Tag abzuwarten, ob Sir Patrick vielleicht seinen Sinn ändern und ihr schreiben werde. Falls kein Brief von ihm und auch keiner von Blanche eintreffen sollte, war sie entschlossen mit dem nächsten Morgenzuge nach Ham-Farm zu fahren und das kühne Experiment eines persönlichen Einschreitens zu versuchen.

Das dritte Ereigniß des Tages war das Erscheinen des Doctors. Es wartete seiner eine sehr unangenehme Ueberraschung; er fand seine Patientin durch seine Lavendelmixtur geheilt. Das war allen ärztlichen Regeln und Präcedenzfällen entgegen, das sah nach Quacksalberei aus; die rothe Lavendelmixtur sollte gar nicht bewirken, was sie bewirkt hatte. Aber gleichviel. Da stand Lady Lundie vor ihm in voller Toilette und mit dem Gedanken beschäftigt, am nächstfolgenden Tage eine Reise nach London zu machen. »Es handelt sich um die Erfüllung einer Pflicht, Doctor, wie groß auch das Opfer für mich sein mag, ich muß gehen.«

Eine weitere Erklärung konnte der Doctor nicht erlangen. Die Patientin war fest entschlossen, dem Arzt blieb nichts übrig als, nachdem er sein Honorar in Empfang genommen hatte, einen ehrenvollen Rückzug anzutreten.

»Im Vertrauen Lady Lundie«, sagte er, bevor er sich verabschiedete, unsere Kunst besteht wesentlich darin, fortwährend unter Berücksichtigung der verschiedenartigsten Factoren unsere Entscheidung zu treffen. So zum Beispiel in Ihrem Fall sind Sie zwar keineswegs so völlig wieder hergestellt, wie Sie glauben, sondern halten sich nur vermöge einer ungewöhnlichen Aufregung aufrecht. Da muß ich mich nun fragen, was das geringere Uebel sei, Sie reisen zu lassen oder Ihre Nerven, indem ich Sie zurückhalte, noch mehr aufzuregen. Bei Ihrer Constitution müssen wir die Reise wagen; achten Sie nur darauf, daß das Wagenfenster an der Seite, von welcher der Wind weht, geschlossen bleibt, halten Sie Ihre Extremitäten mäßig warm und Ihr Gemüth sorgenfrei und, bitte vergessen Sie nicht, sich mit einer zweiten Flasche der Mixtur zu versehen, bevor Sie abreisen.«

Er verneigte sich wie immer, ließ zwei Guineen in seine Tasche gleiten wie immer, und ging mit dem beruhigenden Bewußtsein von dannen, seine ärztliche Pflicht gethan zu haben.

Welcher beneidenswerthe Beruf ist der der Aerzte, warum ergreifen wir ihn nicht Alle.«

Das letzte Ereigniß des Tages war die Ankunft Mrs. Glenarm’s.

»Nun?« fing diese eifrig an, »was haben Sie neues?«

Der ausführliche Bericht Lady Lundie’s über ihre Entdeckungen und die Mittheilung ihres in der bündigsten Weise ausgesprochenen Entschlusses regte Mrs. Glenarm auf’s Höchste auf.

»Sie reisen Sonnabend nach London? Ich gehe mit Ihnen. Seit jene Person erklärt hat, sie werde vor mir in London sein, vergehe ich vor Verlangen, meine Abreise zu beschleunigen und nun bietet sich mir die herrliche Gelegenheit, mit Ihnen zu gehen. Ich kann es leicht einrichten; mein Onkel und ich hatten verabredet, uns in den ersten Tagen der nächsten Woche in London zu treffen, um zusammen das Wettrennen zu besuchen; ich brauche ihm nur zu schreiben und ihm die Veränderung meines Plans mitzutheilen. Beiläufig, da ich grade von meinem Onkel spreche, ich habe, seit ich Sie zuletzt gesehen habe, von dem Advocaten in Perth gehört.«

»Nun, wieder anonyme Briefe?«

»Nur einen und zwar diesmal an die Advocaten gerichtet. Mein unbekannter Correspondent theilt ihnen mit, daß er seine Propositionen zurückziehe und kündigt ihnen an, daß er Perth verlassen habe. Die Advocaten rathen mir, meinen Onkel zu verhindern, jetzt noch die Londoner Polizei mit der Angelegenheit zu befassen. Ich habe den Brief der Advocaten meinem Onkel geschickt und er wird wahrscheinlich, wenn ich mit Ihnen hinkomme, schon in London sein, um seine Advocaten zu sprechen. So viel von dem, was ich in dieser Angelegenheit gethan habe. Aber liebe Lady Lundie, was denken Sie zu thun, wenn wir London erreicht haben werden?«

»Mein Verfahren wird sehr einfach sein«, erwiderte Lady Lundie ruhig, »Sir Patrick wird am nächsten Morgen nach meiner Ankunft in London in Ham-Farm von mir hören.«

»Hören, was sie herausgebracht haben?«

»Nein, gewiß nicht, sondern nur, daß ich durch Geschäfte genöthigt worden sei, nach London zu gehen und daß ich beabsichtige, ihm am nächsten Montag einen kurzen Besuch zu machen.«

»Natürlich wird er Sie empfangen?!«

»Daran ist wohl nicht zu zweifeln. Soweit wird sein Haß gegen seine Schwägerin doch nicht gehen, daß er ihr, nachdem er schon ihren Brief unbeantwortet gelassen hat, auch noch seine Thür verschließt.«

»Und was wollen Sie thun, wenn Sie dort sind?«

»Dort, liebes Kind, werde ich in einer Atmosphäre von Verrath und Betrug athmen. Um meines armen Kindes willen muß ich, so entsetzlich zuwider mir alle Heuchelei ist, sehr vorsichtig in dem sein, was ich thue. Ich werde kein Wort sagen, bevor ich nicht Blanche allein gesprochen habe. Wie schmerzlich es mir auch sein wird, ich werde vor meiner Pflicht nicht zurückschrecken, auch wenn sie mich zwingen sollte, meiner theuren Blanche die Augen zu öffnen. Sir Patrick und Mr. Brinkworth werden am nächsten Montag neben dem unerfahrenen jungen Geschöpf eine Andere finden, mit der sie fertig werden müssen. Ich werde da sein!«

Mit diesem furchtbaren Ausspruch schloß Lady Lundie die Unterhaltung und Mrs. Glenarm stand auf, um sich zu verabschieden. »Wir treffen uns also an der Station, liebe Lady Lundie?«

»Jawohl, am nächsten Sonnabend!«



Sir Patricks Haus

Sechsundvierzigstes Kapitel - Das Fenster des Rauchzimmers

»Ich kann es nicht glauben und ich will es nicht glauben; Sie versuchen es, mich meinem Manne abtrünnig zu machen, wie Sie es versuchten, mich gegen meine beste Freundin aufzureizen, das ist infam, das ist abscheulich, was habe ich Ihnen gethan, o mein Kopf, mein Kopf! Wollen Sie mich wahnsinnig machen?« Mit diesen Worten begegnete Blanche bleich und wild, ihr Haar mit den Händen durchwühlend, ruhelos im Zimmer auf und ab eilend, ihrer Stiefmutter, die wie sie es sich vorgenommen, ihrer Tochter die grausame Wahrheit enthüllt hatte.«

Lady Lundie saß in stolzer Ruhe am Fenster und blickte auf die friedliche Landschaft, die Wälder und Felder, welche Ham-Farm umgeben hinaus. »Ich war auf diesen Ausbruch gefaßt«, sagte sie in traurigem Tone. »Diese verzweifelten Worte erleichtern Dein übervolles Herz, mein armes Kind. Ich kann warten Blanche, ich kann warten!«

Blanche stand still und sah Lady Lundie in’s Auge. »Wir Beide haben uns nie geliebt«, sagte sie, »ich habe Ihnen von hier einen ungezogenen Brief geschrieben, ich habe immer Anne’s Partei gegen Sie genommen, ich habe Ihnen deutlich gezeigt, daß ich froh war, mich zu verheirathen, nur um von Ihnen wegzukommem. Und jetzt wollen Sie sich dafür an mir rächen, wie?«

»O Blanche, Blanche, welche Gedanken, welche Worte! Ich kann nur für Dich beten.«

»Ich bin wahnsinnig, Lady Lundie, haben Sie Nachsicht mit mir. Es sind kaum vierzehn Tage, daß ich verheirathet bin! Ich liebe ihn, ich liebe ihn von ganzem Herzen. Bedenken Sie wohl, was Sie mir von Beiden gesagt haben, bedenken Sie es wohl!

Sie wiederholte diese Worte mit einem leisen Schmerzensschrei, mit ihren Händen fuhr sie sich wieder nach dem Kopf und fing wieder an, ruhelos nach allen Richtungen im Zimmer auf und ab zu gehen.

Lady Lundie versuchte es mit einer sanfteren Vorstellung. »Um Deiner selbst willen,« sagte Sie »beharre nicht dabei, Dich mir zu entfremden, in dieser schrecklichen Situation bin ich Deine einzige Freundin.«

Blanche trat wieder von ihre Stiefmutter hin und sah ihr fest in’s Gesicht.

Lady Lundie ertrug den durchdringenden Blick vollkommen gelassen.

»Sieh’ mir in’s Herz, Blanche,« sagte sie, »es blutet für Dich.«

Blanche hörte die Worte, ohne auf ihren Sinn zu achten, sie war ganz von ihren eigenen Gedanken in Anspruch genommen.

»Sie sind jaeine fromme Frau,« sagte sie plötzlich, »wollen Sie auf Ihre Bibel schwören, daß das, was Sie mir gesagt haben, wahr ist?«

»O, meine Bibel?« wiederholte Lady Lundie mit trauriger Emphase, »mein Kind, hast Du keinen Theil an dieser kostbaren Erbschaft, ist es nicht auch Deine Bibel?«

In Blanche’s Mienen malte sich einen Augenblick ein Gefühl des Triumphes. »Sie wagen es nicht zu schwören, das ist mir genug!« und mit einem höhnischen Ausdruck wandte sie sich ab.

Lady Lundie aber ergriff ihre Hand und zog sie fest an sich. Die fromme Dulderin verschwand und das Weib, mit dem nicht zu spaßen war, trat an ihre Stelle »Die Sache muß ein Ende haben«, sagte sie, »Du glaubst nicht, was ich Dir gesagt habe? Hast Du Muth, die Wahrheit meiner Worte auf die Probe zu stellen?«

Blanche fuhr zusammen und riß ihre Hand los, sie zitterte ein wenig. In Lady Lundie’s plötzlich verändertem Wesen lag eine furchtbare Sicherheit.

»Auf welche Probe?« fragte sie.

»Das sollst Du sogleich erfahren; aber zuvor sage Du mir die Wahrheit; wo ist Sir Patrick, ist er wirklich nicht zu Hause, wie sein Diener gesagt hat?«

»Nein, er ist mit seinem Verwalter ausgegangen. Sie haben uns Alle überrascht, Sie hatten sich erst für den nächsten Zug gemeldet.«

»Wann kommt der nächste Zug? es ist jetzt elf Uhr.«

»Der Zug kommt zwischen ein und zwei Uhr.«

»Früher wird Sir Patrick nicht zurückkommen?«

»Nein, nicht früher.«

»Wo ist Mr. Brinkworth?«

»Mein Mann?«

»Dein Mann, wenn Du willst, ist er auch nicht zu Hause?«

»Er ist im Rauchzimmer.«

»Meinst Du das lange Zimmer, das einen Ausbau an der Rückseite des Hauses bildet?«

Ja.«

»So komm gleich mit mir hinunter!«

Blanche trat einen Schritt vor und ging wieder zurück.

»Was wollen Sie von mir?« fragte sie,« indem sie plötzlich von Mißtrauen ergriffen wurde.

Lady Lundie wandte sich um und sah sie ungeduldig an. »Siehst Du noch nicht,« sagte sie im scharfen Ton, daß Dein Interesse in dieser Sache mit dem meinigen Hand in Hand geht? Was habe ich Dir gesagt?«

»Wiederholen Sie es nicht!«

»Ich muß es wiederholen. Ich habe Dir gesagt, daß Arnold Brinkworth sich mit Miß Silvester im Geheimen als ihr anerkannter Ehemann in Craig-Fernie aufhielt, als wir ihn auf seinem Gute vermutheten; Du haft mir nicht glauben wollen, und ich bin im Begriff, es Dir zu beweisen. Ist es Dein Interesse oder nicht, zu erfahren, ob dieser Mann das Vertrauen verdient, daß Du ihm schenkst.«

Blanche zitterte am ganzen Leibe und gab keine Antwort.

»Ich will in den Garten gehen und durch das Fenster des Rauchzimmers mit Mr. Brinkworth sprechen«, fuhr Lady Lundie fort. »Hast Du Muth mit mir zu gehen und an einer Stelle zu warten, wo er Dich nicht sehen kann, wo Du aber hören kannst, was er sagt; ich scheue mich nicht, diesen Beweis zu unternehmen, scheust Du Dich davor?«

Der Ton, in dem sie diese Frage that, erweckte, Blanches Zorn. »Wenn ich ihn für schuldig hielt« erwiderte sie entschlossen, »so würde ich nicht den Muth haben, ich halte ihn aber für unschuldig. Gehen Sie voran, Lady Lundie, ich folge Ihnen.«

Sie verließen Blanches Zimmer und gingen in die Vorhalle hinunter, wo Lady Lundie stehen blieb, um nach dem Eisenbahn-Fahrplan,, der neben der Hausthür hing, zu sehen. »Um ein Viertel vor zwölf Uhr geht ein Zug nach London,« sagte sie, »Wie lange braucht man um nach der Station zu kommen?«

»Warum fragen Sie das?«

»Das wirst Du später erfahren, beantworte mir meine Frage.«

»Man braucht zwanzig Minuten, um nach der Station zu gehen.«

Lady Lundie sah nach ihrer Uhr. »Wir haben gerade noch Zeit!«

»Zeit für was?«

»Komm’ mit mir in den Garten»Mit diesen Worten ging sie voran.

Das Rauchzimmer bildete ein längliches Viereck und war in einem rechten Winkel an die Rückseite des Hauses angebaut, mit einem in den Garten blickenden Bogenfenster am andern Ende. Bevor Lady Lundie um die Ecke bog und sich den Blicken des am Fenster Sitzenden darbot, sah sie sich um und gab Blanche ein Zeichen, an der Ecke der Mauer zu warten. Blanche blieb stehen. Im nächsten Augenblick hörte sie die folgende, am offenen Fenster geführte Unterhaltung. Arnold sprach zuerst.

»Sieh’ da, Lady Lundie? Wir hatten Sie nicht vor dem zweiten Frühstück erwartet!«

Lady Lundie war um eine Antwort nicht verlegen. »Es war mir nicht möglich, London früher zu verlassen, als ich glaubte; bitte lassen Sie Ihre Cigarre nicht ausgehen! O, bleiben Sie ruhig sitzen, ich komme nicht hinein.« Nun folgten sich Frage und Antwort rasch Schlag aus Schlag, ohne daß bei der großen Ruhe der Luft Blanche ein einziges Wort entgangen wäre.

Arnold fing wieder an. »Haben Sie Blanche schon gesehen?«

»Blanche macht sich fertig, ein wenig mit mir spazieren zu gehen. Ich habe viel mit ihr zu reden, aber ehe ich fortgehe, habe ich auch Ihnen etwas zu sagen.«

»Etwas Wichtiges?«

»Seht Wichtiges!«

»Betrifft es mich?«

»Allerdings! Ich weiß, wohin Sie an jenem Abend gegangen sind, nach Craig-Fernie!«

»Guter Gott, woher wissen Sie das?«

»Ich weiß, mit wem Sie da zusammengetroffen sind: mit Miß Silvester! Ich weiß, was man von Ihnen und ihr sagt, Sie seien Mann und Weib.«

»Still, sprechen Sie nicht so laut, es könnte Sie Jemand hören.«

»Was wäre denn daran gelegen; ich bin die einzige Person, vor der Sie die Sache geheim gehalten haben, hier wissen sie es ja Alle!«

»Durchaus nicht, Blanche weiß nichts davon.«

»Was? Weder Sie noch Sir Patrick haben Blanche von der Situation gesagt, in der Sie sich befinden?«

»Nein, Sir Patrick hatte es mir überlassen; ich habe es noch nicht über mich gewinnen können, das zu thun; reden Sie kein Wort davon, ich bitte Sie dringend, ich weiß nicht, wie Blanche die Sache aufnehmen würde und möchte warten, bis Sir Patrick sie mit ihrer Freundin, die morgen in London eintrifft, zusammenbringt; ihre Freundin wird ihr die Sache besser mittheilen können als ich. Das halte ich für das Richtigste und Sir Patrick stimmt mir bei. Sie wollen doch noch nicht fortgehen?«

Blanche würde mich hier aussuchen, wenn ich länger wartete.«

»Ein Wort, ich möchte wissen ——«

»Das sollen Sie später am Tage erfahren.«

Lady Lundie bog wieder um die Ecke. Die nun gesprochenen Worte wurden geflüstert »Bist Du jetzt überzeugt Blanche?«

»Haben Sie Erbarmen, Lady Lundie, und bringen Sie mich aus diesem Hause weg.«

»Mein liebes Kind, zu welchem andern Zweck hätte ich denn nach dem Fahrplan in der Vorhalle gesehen!«



Siebenundvierzigstes Kapitel - Die Explosion

Arnold war weit entfernt, sich ruhig zu fühlen, als er sich im Rauchzimmer wieder allein befand. Nachdem er eine Weile mit dem vergeblichen Versuch zugebracht hatte, die Quelle zu errathen, aus welcher Lady Lundie ihre Auskunft geschöpft hatte, setzte er den Hut auf und schlug die Richtung nach Blanche’s Lieblings-Spaziergang in Ham-Farm ein. Ohne gerade Lady Lundie’s Verschwiegenheit zu mißtrauen schien es ihm doch räthlich, sich seiner Schwiegermutter, anzuschließen. Wenn er sich als Dritter zu ihnen gesellte, konnte er vielleicht verhindern, daß die Unterhaltung einen gefährlich vertraulichen Character annahm; aber vergebens suchte er die Damen, sie hatten offenbar nicht die Richtung eingeschlagen, die er vermuhete. Er ging wieder in’s Rauchzimmer und versuchte es, so gut es gehen wollte, die Ereignisse ruhig abzuwarten.

In dieser Situation erinnerte er sich, während er noch an Lady Lundie dachte, an eine kurze Unterhaltung, die er Tags zuvor mit Sir Patrick gehabt hatte. Sir Patrick hatte seine Ueberzeugung ausgesprochen, daß die Reise seiner Schwägerin einen andern, als den von ihr angegebenen Zweck habe.

»Ich bin durchaus nicht sicher, Arnold«, hatte er gesagt, »daß ich recht gethan habe, ihren Brief unbeantwortet zu lassen und ich bin sehr geneigt zu glauben, daß es das Richtigste sein wird, sie in’s Vertrauen zu ziehen, wenn sie morgen herkommt. Wir können nichts für die Situation, in der wir uns befinden; es war unmöglich, so lange Sie Ihre Frau nicht in’s Vertrauen gezogen hatten, Blanche zu verhindern, ihren unglücklichen Brief an Lady Lundie zu schreiben und selbst wenn wir sie daran verhindert hätten, so würde sie auf andere Weise von Ihrer Rückkehr nach England gehört haben. Ich zweifle bis jetzt nicht an der Richtigkeit meines Verfahrens»und daß es zweckmäßig war, sie im Dunkeln zu halten, um sie zu verhindern, sich in Ihre Angelegenheit zu mischen, bis ich die Sache in Ordnung gebracht habe; aber sie kann durch irgend einen unglücklichen Umstand selbst hinter die Wahrheit kommen und in dem Falle fürchte ich sehr den Einfluß den sie auf Blanche’s Gemüth üben könnte.« —— Das waren Sir Patricks Worte gewesen und was war an dem Tage, nachdem er diese Worte gesagt, geschehen? Lady Lundie hatte die Wahrheit entdeckt und sie war in diesem Augenblick er wußte nicht wo, allein mit Blanche.

Arnold setzte seinen Hut wieder auf und ging abermals in den Garten, um die Damen in einer anderen Richtung zu suchen; aber die zweite Expedition erwies sich ebenso erfolglos, wie die vorige. Nichts war von Lady Lundie und Blanche zu sehen und zu hören. Arnold’s Uhr sagte ihm, daß die Zeit nicht fern sei, wo Sir Patrick zurück erwartet werden könne. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren die Damen während er sie suchte, auf einem anderen Wege nach Hause zurückgekehrt. Er betrat die Zimmer zur ebenen Erde, eines nach dem andern, aber sie waren alle leer. Er ging hinauf und klopfte an Blanche’s Thür Es erfolgte keine Antwort. Er öffnete die Thür und blickte hinein; das Zimmer war leer, wie die Zimmer unten, aber dicht an der Thür wurde sein Blick durch ein auf dem Teppich liegendes Billet angezogen. Er nahm es aus und sah, daß es von der Hand seiner Frau an ihn adressirt sei; er öffnete es. Es lautete ohne alle Anrede, wie folgt:

»Ich weiß das abscheuliche Geheimniß, das Du und mein Onkel vor mir verborgen gehalten habt. Ich kenne Deine und ihre Infamie und die Lage, in der ich mich Dank Dir und ihr jetzt befinde. Vorwürfe würden einem Manne wie Dir gegenüber verlorene Worte sein. Der Zweck dieser Zeilen ist nur, Dir zu sagen, daß ich mich unter dem Schutze meiner Stiefmutter nach London begeben habe. Es wäre ein vergebliches Bemühen, mir zu folgen; Andere werden es festzustellen wissen, ob die Heiraths-Ceremonie, die Du mit mir vollzogen hast, für Dich bindend ist oder nicht. Ich für meine Person weiß schon genug. Ich bin fortgegangen, um nicht wiederzukommen und Dich nie wieder mein Angesicht sehen zu lassen. Blanche.«

In höchster Eile stürzte Arnold die Treppe hinab, nur von dem einen Gedanken erfüllt, seiner Frau augenblicklich zu folgen, als er auf Sir Patrick stieß, der mit einem offenen Brief in der Hand an einen Tisch in der Vorhalle, auf welchen von Besuchern abgegebene Karten und Billets gelegt zu werden pflegten, gelehnt stand. Sir Patrick begriff sofort, was geschehen war, schlang einen seiner Arme um Arnold und hielt ihn an der Hausthür zurück. »Sie sind ein Mann,« sagte er im festen Ton, »tragen Sie es wie ein Mann.«

Arnold’s Kopf sank auf die Schulter seines gütigen alten Freundes. Er brach in Thränen aus.

Sir Patrick versuchte es nicht, dem natürlichen Ausbruch des Schmerzes Einhalt zu thun. In diesem Augenblick war Schweigen Erbarmen. Er sagte nichts. Der Brief, den er eben gelesen, war selbstverständlich von Lady Lundie; er ließ ihn auf den Boden fallen.

Arnold erhob seinen Kopf wieder und trocknete seine Thränen.

»Ich schäme mich«, sagte er, »lassen Sie mich gehen.«

»Sie haben Unrecht, mein lieber Freund«, erwiderte Sir Patrick, »doppelt Unrecht, solcher Thränen braucht sich Niemand zu schämen und Sie gewinnen nichts, wenn Sie mich verlassen.

»Ich muß und will sie sehen.«

»Lesen Sie das«, sagte Sir Patrick, indem er auf den am Boden liegenden Brief wies. »Ihre Frau sehen? Ihre Frau ist bei dem Weibe, das diese Zeilen geschrieben hat. Lesen Sie!«

Arnold las: »Wenn Sie mich mit Ihrem Vertrauen beehrt hätten, so würde ich mich glücklich geschätzt haben, Sie um Rath zu fragen, bevor ich einschritt, um Blanche aus der Lage, in die Sie sie gebracht haben, zu befreien. Wie die Dinge jetzt stehen, befindet sich das Kind Ihres verstorbenen Bruders unter meinem Schutz in meinem Hause in London. Wenn Sie es versuchen wollen, Ihre Autorität geltend zu machen, so müssen Sie es mit Gewalt thun, ich werde nur der Gewalt weichen. Sollte Mr. Brinkworth es versuchen wollen, seine Autorität geltend zu machen so müßte er zuvor eine Anerkennung seines vermeintlichen Rechts im Polizeigericht erwirken.

Ihre ganz ergebene
Juliane Lundie.«

Arnold’s Entschluß wurde selbst durch diesen Brief nicht erschüttert. »Was kümmert es mich,« brach er leidenschaftlich aus, ob ich von der Polizei auf die Straße geschleppt werde oder nicht, ich will mein Weib sehen, ich will mich von dem fürchterlichen Verdacht, den sie gegen mich hegt, reinigen. Sie haben mir Ihren Brief gezeigt, jetzt lesen Sie auch den meinigen.«

Sir Patricks klarer Verstand sah die wilden Worte, die Blanche geschrieben hatte, alsbald in ihrem wahren Licht. »Glauben Sie, daß Ihre Frau für diesen Brief verantwortlich ist?« fragte er. »Ich höre ihre Stiefmutter in jeder Zeile. Sie würden etwas Ihrer Unwürdiges thun, wenn Sie sich dagegen ernstlich vertheidigen wollten. Begreifen Sie das nicht? Sie beharren bei Ihrer Auffassung? Nun, so schreiben Sie! Sie können nicht zu ihr gelangen, möglicher Weise findet ein Brief von Ihnen den Weg zu ihr. Wenn Sie dieses Haus verlassen, so müssen Sie es in meiner Gesellschaft verlassen. Ich habe Ihnen meinerseits schon eine Concession gemacht, indem ich Ihnen erlaube zu schreiben; ich bestehe darauf, daß Sie mir Ihrerseits auch eine Concession machen. Kommen Sie mit mir in die Bibliothek, ich stehe Ihnen dafür, daß ich die Sache zwischen Ihnen und Blanche in Ordnung bringen werde, wenn Sie Ihre Interessen in meine Hände legen. Wollen Sie mir vertrauen?«

Arnold gab nach. Sie gingen zusammen in die Bibliothek.

Sir Patrick wies auf den Schreibtisch hin. »Erleichtern Sie Ihr Gemüth da,« sagte er, »und lassen Sie mich Sie als einen verständigen Menschen wieder finden, wenn ich zurückkomme.«

Als er in die Bibliothek zurückkam, war der Brief geschrieben und Arnold’s Gemüth war für den Augenblick ein wenig erleichtert.

»Ich werde Ihren Brief selbst an Blanche bringen,« sagte Sir Patrick, »und zwar mit dem Zuge, der in einer halben Stunde nach London abgehen wird.«

»Darf ich dann mit Ihnen gehen?«

»Heute nicht, ich bin bis zum Mittagessen zurück, Sie sollen Alles von mir erfahren und Sie sollen mich morgen nach London begleiten, wenn ich es nothwendig finde einen längeren Aufenthalt dort zu nehmen, bis dahin werden Sie nach dem furchtbaren Schlag, der Sie getroffen hat, gut thun, sich still zu verhalten; beruhigen Sie sich bei meiner Versicherung, daß Blanche Ihren Brief bekommen soll, soweit werde ich meine Autorität gegen ihre Stiefmutter, wenn dieselbe sich widersetzen sollte, rücksichtslos geltend zu machen wissen. Der Respect, den ich vor dem andern Geschlechte habe, geht nur soweit, wie das Geschlecht diesen Respect verdient und erstreckt sich nicht auf Lady Lundie. Es giebt keinen Vorteil den ein Mann gegen eine Frau geltend machen kann, dessen ich mich nicht nöthigenfalls gegen meine Schwägerin bedienen werde.«

Mit diesen Worten reichte er Arnold die Hand und ging nach der Station.

Um sieben Uhr abends stand das Mittagessen auf dem Tisch und um sieben Uhr kam Sir Patrick in so vollendeter Toilette wie immer und so ruhig, als ob nichts vorgefallen wäre, zum Mittagessen herunter.

»Sie hat Ihren Brief bekommen«, flüsterte er Arnold zu, während er seinen Arm nahm und ihn in’s Eßzimmer führte.

»Hat sie Ihnen etwas gesagt?«

»Kein Wort.«

»Wie sah sie aus?«

»Wie sie aussehen mußte, traurig über das, was sie gethan hat.«

Das Mittagessen nahm seinen Anfang. Selbstverständlich mußte die Unterhaltung über Sir Patrick’s Expedition stocken, so lange die Diener im Zimmer waren, um in jeder Pause zwischen zwei Gängen regelmäßig von Arnold wieder aufgenommen zu werden. Er fing an, als die Suppe abgetragen war. »Ich gestehe, daß ich mir Hoffnung gemacht hatte, Blanche mit Ihnen zurückkommen zu sehen«, sagte er in traurigem Tone.

»Mit anderen Worten«, sagte Sir Patrick, »Sie haben den angeborenen Eigensinn des anderen Geschlechts vergessen. Blanche fängt an zu fühlen, daß sie Unrecht gethan hat und was ist die nothwendige Folge davon? Sie beharrt dabei Unrecht zu thun. Lassen Sie sie in Ruhe und lassen Sie den Brief seine Wirkung üben. Die ernsten Schwierigkeiten auf unserem Wege rühren nicht von Blanche her, lassen Sie sich dass gesagt sein.«

Ein Fischgericht erschien und Arnold mußte schweigen, bis sich wieder mit der nächsten Pause eine neue Gelegenheit für ihn darbot, das Wort zu ergreifen. »Was sind denn unsere Schwierigkeiten?« fragte er.

»Der Schwierigkeiten sind verschiedene für mich und für Sie«, antwortete Sir Patrick »Meine Schwierigkeit ist, daß ich meine Autorität als Vormund nicht geltend machen kann, wenn ich davon ausgehe, daß meine Nichte eine verheirathete Frau ist. Ihre Schwierigkeit ist, daß Sie Ihre Autorität als Gatte nicht geltend machen können, bis es klar bewiesen ist, daß Sie und Miß Silvester nicht Mann und Frau sind. Lady Lundie wußte sehr gut, daß sie uns in diese Position versetzen würde, als sie Blanche von hier fortbrachte. Sie hat Mrs. Inchbare verhört, sie hat Ihrem Verwalter wegen des Datums Ihrer Ankunft auf Ihrem Gute geschrieben, sie hat Alles gethan, Alles überlegt und Alles in Rechnung gebracht, —— nur nicht meinen unerschütterlichen Gleichmuth. Der einzige Fehler, den sie gemacht hat, ist, daß sie geglaubt hat, mich aus der Fassung bringen zu können. Aber nein, mein lieber Junge, meine Trumpfkarte ist meine Gemüthsruhe und diese Trumpfkarte halte ich fest in meiner Hand.«

Der nächste Gang erschien und die Unterhaltung wurde wieder unterbrochen. Sir Patrick ließ sich seinen Hammelbraten vortrefflich schmecken und erging sich in einer langen und interessanten Erzählung der Geschichte eines alten, von ihm selbst importirten weißen Burgunders. Aber Arnold nahm ebenso entschlossen, sobald der Hammelbraten abgetragen war, die Erörterung seiner Angelegenheit wieder auf.

»Der Fall scheint hoffnungslos zu sein.«

»Keine verbrauchten Redensarten, wenn ich bitten darf«, erwiderte Sir Patrick.

»Um’s Himmels Willen Sir Patrick, denken Sie an meine Lage und sagen Sie mir was Sie zu thun beabsichtigen.«

»Ich beabsichtige Sie morgen mit mir nach London zu nehmen, unter der Bedingung, daß Sie mir auf Ihr Ehrenwort versprechen, keinen Versuch zu machen, Ihre Frau vor dem Abend zu sehen.«

»Soll ich sie dann sehen.«

»Wenn Sie mir Ihr Wort geben.«

»Ich gebe es Ihnen!«

Der nächste Gang wurde aufgetragen. Sir Patrick erörterte die Frage, ob Rebhühner eigentlich eßbare Vögel seien. »Nach meiner Meinung werden die Rebhühner sehr überschätzt. Wir haben hier zu Lande die Leidenschaft, sie zu schießen und in Folge dessen auch die Leidenschaft, sie zu essen. Aber eigentlich sind Rebhühner nur eine gute Unterlage für Trüffelsauce, weiter nichts; aber nein, um ihnen volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß ich noch hinzufügen, daß Rebhühner einen ehrenvollen Antheil an dem berühmten französischen Recept für die Zubereitung der Olive haben. Kennen Sie das Recept?«

Die Rebhühner und das Compot wurden abgetragen.

Arnold ließ sich seine Gelegenheit nicht entgehen. »Was wollen wir morgen in London thun?« fragte er.

»Morgen«, erwiderte Sir Patrick, »ist ein denkwürdiger Tag in unserm Kalender, morgen ist Dienstag, der Tag, an dem ich Miß Silvester in London sprechen soll.«

Arnold setzte das Glas Wein, welches er eben im Begriff war, an die Lippen zu führen, wieder nieder. »Nach dem, was hier vorgefallen ist, kann ich es kaum ertragen, ihren Namen nennen zu hören«, sagte er, »Miß Silvester hat mich von meiner Frau getrennt.«

»Miß Silvester kann das wieder gut machen, Arnold, indem sie Euch wieder zusammenführt.«

»Einstweilen hat sie mich zu Grunde gerichtet.«

»Sie kann Ihre Retterin werden.«

Der Käse kam und Sir Patrick nahm seinen Vortrag über Kochkunst wieder auf. »Kennen Sie das Recept über die Bereitung einer Olive, Arnold?«

»Nein.«

»Was weiß auch die jetzige Generation von solchen Dingen? Sie versteht zu rudern, zu schießen, Cricket zu spielen und zu wetten. Was muß das für eine Generation werden, wenn sie einmal ihre Muskelkraft und ihr Geld verloren hat, das heißt alt geworden sein wird! Aber einerlei, ich werde es nicht mehr erleben. Hören Sie zu, Arnold?«

»Ja, Sir Patrick!«

»Also die Zubereitung einer Olive. Man stecke eine Olive in eine Lerche, die Lerche in eine Wachtel, die Wachtel in einen Kibitz, den Kibitz in ein Rebhuhn, das Rebhuhn in einen Fasan, den Fasan in eine Kalkute. —— Gut. Man brate das Ganze ein wenig an, schmore es dann vorsichtig so lange, bis alles durch und durch bis zu der Olive gar ist, dann öffne man das Fenster, werfe die Kalkute, den Fusan, das Rebhuhn, den Kibitz, die Wachtel und die Lerche hinaus und —— esse die Olive! Das Gericht ist zwar etwas theuer, aber wie uns die zuverlässigsten Autoritäten versichern, des Opfers wohl Werth, die Quintessenz des Aromas von sechs Vögeln in einer Olive concentrirt, eine große Idee! Trinken Sie doch noch ein Glas von dem weißen Burgunder, lieber Arnold!«

Endlich brauchte Arnold, nachdem das Dessert aufgetragen war, keine weitere Störung durch die Diener zu befürchten.

»Ich habe nun lange genug an mich gehalten, Sir Patrick«, sagte er, »machen Sie das Maaß Ihrer Güte gegen mich voll, indem Sie mir sagen, wie es bei Lady Lundie zuging.«

Es war ein kühler Abend; ein helles Holzfeuer brannte im Kamin. Sir Patrick rückte seinen Stuhl vor das Kamin.

»Wie es bei Lady Lundie zuging«, sagte er, »das will ich Ihnen sagen. Für’s erste fand ich Gesellschaft bei Lady Lundie, zwei mir völlig fremde Personen: Capitain Newenden und seine Nichte Mrs. Glenarm. Lady Lundie erbot sich, mit mir ein anderes Zimmer aufzusuchen; die beiden Fremden erboten sich, fortzugehen. Ich lehnte beide Anerbieten ab. Erste Niederlage Lady Lundie’s! Sie müssen wissen, lieber Arnold, daß sie ihren ganzen Plan auf die Annahme gebaut hat, daß wir die Oeffentlichkeit scheuen werden. Ich zeigte ihr aber gleich von vornherein, daß wir ganz so bereit seien, wie sie, uns dem Urtheil der öffentlichen Meinung zu unterwerfen. Ich acceptire, sagte ich, jederzeit, was die Franzosen ein fait accompli nennen. Sie haben die Dinge zu einer Krisis gebracht, Lady Lundie So wollen wir es dabei lassen. »Ich habe zunächst meiner Nichte, in Ihrer Gegenwart, wenn Sie es wünschest, etwas zu sagen, und dann, ohne dabei Ihre Gäste im mindesten stören zu wollen, ein Wort mit Ihnen zu reden. Die beiden Fremden setzten sich, beide natürlich von Neugierde verzehrt, wieder nieder. Konnte Lady Lundie mir schicklicher Weise Angesichts zweier Zeugen eine Besprechung mit meiner Nichte versagen? Unmöglich. Ich sprach Blanche, natürlich in Lady Lundie’s Gegenwart, in dem anstoßenden Wohnzimmer. Ich gab ihr Ihren Brief. Ich legte ein gutes Wort für Sie ein; ich sah, daß ihr die Sache leid that, obgleich sie es nicht eingestehen wollte, und das war mir genug. Wir kehrten in das vordere Wohnzimmer zurück. Ich hatte noch keine fünf Worte über unsere Angelegenheit gesprochen, als ich zu meinem Erstaunen und großem Vergnügen inne wurde, daß Capitan Newenden’s Gegenwart durch dieselbe Angelegenheit, Ihr Verhältniß zu Miß Silvester, veranlaßt war. Im Interesse meiner Nichte lag es mir ob, Ihre Verheirathung mit jener Dame zu leugnen. Ihm dagegen lag es im Interesse seiner Nichte ob, diese Verheirathung als eine Thatsache hinzustellen. Zu dem unaussprechlichen Mißvergnügen der beiden Frauen, einigten wir uns auf der Stelle in der freundschaftlichsten Weise über die Behandlung der Angelegenheit. »Es freut mich ungemein, Sie zu treffen, Capitain Newenden.« —— »Es ist mir eine große Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir Patrick.« —— »Ich glaube, wir können die Sache in zwei Minuten abmachen.« —— »Ganz meine Meinung!« —— »Präcisiren Sie gefälligst Ihr Verhältniß zu der Angelegenheit, Capitan Newenden.« —— »Mit dem größten Vergnügen. Meine Nichte hier, Mrs. Glenarm hat sich mit Mr. Geoffrey Delamayn verlobt. Das wäre sehr einfach, wenn sich nicht ein Hinderniß in Gestalt einer Dame in den Weg gestellt hätte. Sie verstehen mich!« ——

»Vollkommen, Capitain Newenden; wenn es nicht ein zu großer Verlust für die englische Flotte gewesen wäre, möchte man wünschen, daß Sie Advokat geworden wären. Bitte, fahren Sie fort.«

»Sie sind zu gütig, Sir Patrick. Ich nehme wieder auf. Mr. Delamayn behauptet, daß diese im Hintergrunde stehende Person keinen Anspruch an ihn habe und unterstützt diese Behauptung durch die Erklärung, daß sie bereits mit Mr. Arnold Brinkworth verheirathet sei. Lady Lundie und meine Nichte versichern mich, auf Aussagen hin, die sie für ausreichend halten, daß diese Behauptung wahr sei. Ich halte die Aussagen nicht für ausreichend. Ich hoffe, Sir Patrick, ich mache auf Sie nicht den Eindruck eines besonders eigensinnigen Menschen.«

»Mein verehrter Herr, Sie erfüllen mich mit Bewunderung für Ihre Fähigkeit, Zeugenaussagen zu sichten! Darf ich nun fragen, welches Verfahren Sie einzuschlagen gedenken?«

»Eben wollte ich darauf kommen, Sir Patrick! Mein Verfahren wird folgendes sein: Ich weigere mich, die Verlobung meiner Nichte mit Mr. Delamayn zu sanctioniren, bis Mr. Delamayn einen genügenden Beweis seiner Angabe in Betreff der Heirath der Dame durch Zeugen erbracht haben wird. Er verweist mich auf zwei Zeugen, lehnt es aber gleichzeitig ab, selbst für sich in der Sache zu handeln und zwar aus dem Grunde, weil er damit beschäftigt ist, sich für einen Wettlauf trainiren zu lassen. Ich gebe zu, daß das ein Hinderniß für ihn ist und erkläre mich bereit, die beiden Zeugen selbst nach London zu schaffen. Mit der letzten Post habe ich an meine Advocaten in Perth geschrieben und dieselben beauftragt, die Zeugen aufzusuchen, ihnen für Mr. Delamayn’s Rechnung die erforderliche Vergütung anzubieten und sie bis Ende der Woche hierher zu befördern. Der Wettlauf findet nächsten Donnerstag statt. Nachher wird Mr. Delamayn über seine Zeit verfügen und seine Behauptung durch seine eigenen Zeugen unterstützen können. Was meinen Sie, Sir Patrich zu einer am nächsten Sonnabend mit Lady Lundie’s Erlaubniß in diesem Zimmer zu veranstaltenden Zusammenkunft?«

»Da haben Sie das Wesentliche von Capitain Newenden’s Angaben. Er ist so alt wie ich und macht eine Toilette die ihm das Aussehen eines Dreißigjährigen giebt; aber er ist bei alledem ein liebenswürdiger Mensch. Meine Schwägerin war wie vom Schlage gerührt, als ich die Proposition, ohne mich einen Augenblick zu besinnen, annahm. Mrs. Glenarm und Lady Lundie sahen einander in stummem Staunen an. Hier handelte es sich um eine Streitfrage, über welche zwei Frauen sich auf Tod und Leben gezankt haben würden; und zwei Männer einigten sich über dieselbe in der denkbar freundschaftlichsten Weise. Ich wollte, Sie hätten Lady Lundie’s Gesicht sehen können, als ich mich Capitain Newenden zum innigsten Dank dafür verpflichtet erklärte, daß er jede längere Zusammenkunft mit meiner Schwägerin überflüssig gemacht habe. Dank Capitain Newenden sagte ich in dem herzlichsten Tone zu ihr, brauchen wir durchaus nichts weiter mit einander zu erörtern. Ich werde noch den nächsten Zug abfassen und Arnold Brinkworth beruhigen können. Um aber ernsthaft wieder auf unsere Angelegenheit zurückzukommen. ich habe mich verpflichtet, Sie am nächsten Sonnabend in Gegenwart aller betheiligten Personen, Ihre Frau mit einbegriffen, zu präsentiren. Vor den Anderen nahm ich die Sache sehr kühl. Aber Ihnen gegenüber fühle ich mich zu der Erklärung verpflichtet, daß es angesichts unserer jetzigen Situation durchaus nicht leicht vorauszusagen ist, was das Ergebniß der am nächsten Sonnabend vorzunehmenden Untersuchung sein wird. Alles hängt von dem Erfolg meiner morgen stattfindenden Zusammenkunft mit Miß Silvester ab. Es ist keine Uebertreibung, Arnold, wenn ich sage, daß Ihr Schicksal in ihrer Hand ruht.«

»Wollte Gott«, erwiderte Arnold, »ich hätte sie nie gesehen!«

»Sie wenden sich nicht an die richtige Adresse«, entgegnete Sir Patrick; »wollte Gott, Sie hätten Geoffrey Delamayn nie gesehen!«

Arnold ließ den Kopf hängen. Sir Patricks scharfe Zunge hatte ihn wieder einmal den Kürzeren ziehen lassen.



Drury-Lane

Achtundvierzigstes Kapitel - Der Brief und das Gesetz

Das»vielstimmige Geräusch des Londoner Straßenlebens, wie es durch das trübe Drury Lane fluthet, drang gedämpft in das Hinterzimmer. Theatermasken, Waffen und Portraits von Sängerinnen und Tänzerinnen hingen an den Wänden umher. Ein leerer Violinkasten in der einen Ecke bildete das Pendant zu einer zerbrochenen Büste von Rossini in einer andern Ecke. Eine uneingerahmte Lithographie, welche den Proceß der Königin Caroline darstellte, war über dem Kamin an die Wand geklebt. Die Stühle bestanden aus echten Exemplaren alter Eichenholzschnitzerei. Der Tisch war ein ebenso vortreffliches Muster elenden moderner Fabrikation. Auf dem Fußboden lag ein kleines Stück groben Teppichs, und der Plafond starrte von Steinkohlenruß.——

Den so geschilderten Schauplatz bildete ein nach hinten gelegenes Zimmer in einem Hause in Drury Lane, in welchem untergeordnete theatralische und musikalische Geschäfte verhandelt zu werden pflegten. Es war spät Nachmittags am Michaelistage. Zwei Personen saßen in dem Zimmer bei einander: Anne Silvester und Sir Patrick Lundie.

Der erste Theil ihrer Unterhaltung, der sich einerseits um die Erzählung der Vorfälle in Perth und Swanhaven, andererseits um die Mittheilung der Umstände, welche die Trennung Arnold’s und Blanche’s begleiteten, gedreht hatte, war zu Ende. Es lag nun Sir Patrick ob, den Uebergang zu dem eigentlichen Zweck seines Besuchs zu finden. Er sah Anne Silvester an und zauderte.

»Fühlen Sie sich stark genug, die Unterhaltung fortzusetzen?« fragte er. »Wenn Sie es vorziehen sollten, ein wenig zu ruhen, bitte, sagen Sie es doch.«

»Ich danke Ihnen, Sir Patrick, ich bin mehr als bereit, ich brenne vor Verlangen, unsere Unterhaltung fortzusetzen. Keine Worte vermögen es auszudrücken, wie innig ich wünsche, Ihnen, wenn möglich, von irgend welchem Nutzen sein zu können. Ich gebe es völlig Ihrer Einsicht und Erfahrung anheim, mir zu zeigen, ob und wie ich es kann.«

»Das vermag ich nur, Miß Silvester, indem ich Sie ohne Umstände bitte, mir alle die Auskunft zu ertheilen, deren ich bedarf. Hatten Sie bei Ihrer Reise nach London irgend welchen Zweck, den Sie mir noch nicht mitgetheilt haben? Ich rede natürlich nur von solchen Zwecken, in die eingeweiht zu werden ich als Arnold Brinkworth’s Bevollmächtigter einen Anspruch habe.«

»Ich hatte allerdings einen solchen Zweck, Sir Patrick, und habe denselben nicht erreicht.«

»Darf ich fragen, worin derselbe bestand?«

»Mein Zweck war, Geoffrey Delamayn zu sehen!«

Sir Patrick war betroffen. »Sie haben den Versuch gemacht, ihn zu sehen? Wann?«

»Heute Morgen.«

»Wie? Sie sind ja erst gestern Abend in London angekommen!«

»Ich hatte sehr lange Zeit unterwegs zugebracht«, erwiderte Anne; »ich war genöthigt gewesen, mich in Edingburgh und wieder in York auszuruhen, und fürchtete deshalb, ich möchte Mrs. Glenarm Zeit gelassen haben, vor mir zu Geoffrey Delamayn zu gelangen.«

»Sie fürchteten?« wiederholte Sir Patrick. »Ich hatte verstanden, daß es gar nicht Jhre ernste Absicht sei, Mrs. Glenarm den Schurken streitig zu machen. Welches Motiv konnte Sie also zu ihm führen?«

»Dasselbe Motiv, das mich nach Swanhaven geführt hatte.«

»Wie! Der Gedanke, daß es in Delamayn’s Händen liege, die Sache in Ordnung zu bringen? Und daß Sie ihn dadurch vielleicht vermögen könnten, ihn seiner Verpflichtungen gegen Sie zu entbinden?«

»Haben Sie Nachsicht mit meiner Thorheit, wenn es möglich ist, Sir Patrick. Ich bin jetzt immer allein und brüte über alle Dinge. So habe ich über die Lage gebrütet, in welche mein Unglück Mr. Brinkworth gebracht hat. Ich bildete mir mit unverständigem Eigensinn ein, daß ich über Geoffrey Delamayn vielleicht noch etwas vermöge, nachdem ich bei Mrs. Glenarm gescheitert war; und ich kann noch nicht von dem Gedanken lassen. Wenn er mich nur hätte anhören wollen, so würde mein unsinniger Gang nach Fulham vielleicht eine Entschuldigung gefunden haben.« Sie seufzte schwer und schwieg.

Sir Patrick ergriff ihre Hand.

»Es bedarf keiner Entschuldigung«, sagte er freundlich; »Ihr Motiv ist über jeden Tadel erhaben. Lassen Sie mich jedoch zu Ihrer Beruhigung hinzufügen, daß, selbst wenn Delamayn bereit gewesen wäre, Sie anzuhören und auf Ihre Bedingung einzugehen, dadurch an der Sachlage nichts geändert sein würde. Sie irren sich durchaus, wenn Sie glauben, daß er nur zu sprechen braucht, um die Sache in Ordnung zu bringen. Die Angelegenheit liegt jetzt durchaus nicht mehr in seinen Händen. Das Unheil war geschehen, als Arnold Brinkworth jene unglücklichen Stunden mit Ihnen in Craig-Fernie zugebracht hatte.«

»O, Sir Patrick, wenn ich das nur gewußt hätte, bevor ich diesen Morgen nach Fulham ging!«

Sie schauderte, indem sie diese Worte sprach. Offenbar knüpfte sich an ihren Besuch bei Geoffrey etwas, dessen bloße Erinnerung ihre Nerven erschütterte. Und was war das? Sir Patrick beschloß, sich eine Antwort auf diese Frage zu verschaffen, bevor er es wagte, in der Verfolgung des eigentlichen Zwecks seines Besuches weiter fortzufahren.

»Sie haben mir gesagt«, bemerkte er, »was Sie bewogen hat nach Fulham zu gehen, Sie haben mir aber noch nicht gesagt, was dort vorgefallen ist.«

Anne zauderte.

»Ist es unerläßlich, daß ich Sie mit dieser Mittheilung behellige?« fragte sie mit offenbarem Widerstreben näher auf diesen Gegenstand einzugehen.

»Es ist durchaus unerläßlich«, antwortete Sir Patrick, »weil Delamayn dabei im Spiel ist.«

Anne bot alle ihre Energie auf und erstattete ihren Bericht in folgenden Worten:

»Der Agent, bei dem ich hier wohne«, fing sie an, »hatte mir Geoffrey’s Adresse in Fulham verschafft; gleichwohl war es mir nicht leicht, das Haus zu finden. Es ist nur ein kleines Landhaus und liegt ganz versteckt in einem großen von hohen Mauern umgebenen Garten. Vor dem Hause hielt ein Wagen. Der Kutscher fuhr mit seinen Pferden auf und ab und zeigte mir die Eingangsthür. Es war eine hohe hölzerne Thür in der sich ein Gitterwerk befand. Ich klingelte, ein Dienstmädchen öffnete das Gitter und sah mich an. Sie weigerte sich, mich hineinzulassen. Sie habe strenge Ordre von ihrer Herrin, keinen Fremden, besonders keine fremden Frauenzimmer einzulassen. Ich steckte ihr durch das Gitter hindurch etwas Geld in die Hand und bat sie, mich bei ihrer Herrin zu melden. Nach dem ich eine Zeitlang gewartet hatte, sah ich ein anderes Gesicht durch die Gitterstangen blicken, das mich frappirte. Ich glaube, meine Nerven waren in einem sehr aufgeregten Zustand; das Gesicht machte auf mich einen seltsamen Eindruck, ich glaubte, es schon einmal gesehen zu haben. Ich sagte: Ich glaube, wir müssen einander kennen. Ich erhielt keine Antwort. Plötzlich öffnete sich die Thür und vor mir stand, —— wer glauben Sie wohl?«

»War es Jemand, den ich kenne?«

»Ein Mann oder eine Frau?«

»Es war Hester Dethridge.«

»Hester Dethridge!«

»Ja. Genau so gekleidet und genau so aussehend wie früher —— mit der an ihrer Seite herabhängenden Schiefertafel.«

»Merkwürdig! Wo habe ich sie doch zuletzt gesehen? Richtig, auf der Station bei Windygates, als sie im Begriff stand, nach London zu gehen, nachdem sie den Dienst meiner Schwägerin verlassen hatte. Hat sie also doch eine andere Stelle angenommen, ohne sich vorher bei mir zu melden, wie ich es ihr freigestellt hatte?«

»Sie wohnt in Fulham.«

»Ist sie dort im Dienst?«

»Nein, sie bewohnt dort ihr eigenes Haus.«

»Was? Hester Dethridge im Besitze eines eigenen Hauses? Nun warum sollte sie’s am Ende nicht so gut zu etwas in der Welt gebracht haben, wie so manche Andere! Ließ sie Sie hinein?«

»Eure kurze Zeit sah sie mich in der sonderbaren Weise an, die Sie an ihr kennen. Die Dienstboten in Windygates sagten immer, sie sei nicht recht bei Sinnen, und wenn Sie hören, was geschah, werden Sie finden, daß die Dienstboten nicht Unrecht hatten. Sir Patrick, sie muß verrückt sein. Ich sagte zu ihr: »Erinnern Sie sich meiner nicht mehr?« Sie nahm ihre Tafel zur Hand und schrieb darauf: »Ich erinnere mich Ihrer, wie Sie ohnmächtig in Windygates dalagen.« Ich hatte gar nicht gewußt, daß Sie zugegen war, als ich damals in der Bibliothek in Ohnmach fiel. Ich weiß nicht, war es diese Entdeckung oder war es der fürchterliche, eisig tödtliche Blick ihres Auges, was mich so aufregte, genug, ich konnte anfänglich nicht weiter reden. Sie schrieb abermals etwas auf ihre Tafel, und zwar dieses Mal eine höchst sonderbare Frage: »Ich sagte damals, das hat ein Mann gethan. Habe ich Recht gehabt?« Wenn die Frage von irgend jemand Anderm mündlich an mich gerichtet worden wäre, so würde ich sie ihrer Insolenz wegen gar nicht beantwortet haben. Können Sie begreifen, daß ich Sie beantwortete, Sir Patrick? Ich begreife jetzt selbst nicht mehr, und doch habe ich es gethan. Sie zwang mir mit ihren starren Blicken die Antwort ab. Ich sagte »Ja.«

»Fand diese Unterhaltung an der Thür statt?«

»Allerdings.«

»Und dann ließ sie Sie ein?«

»Unmittelbar nach meiner Antwort. Sie ergriff mich mit einer derben Bewegung am Arm, zog mich hinein und schloß die Thür wieder. Meine Nerven sind zerrüttet, mein Muth ist geschwunden. Es überlief mich eiskalt, als sie mich berührte; dann ließ sie meinen Arm wieder los. Ich stand da wie ein willenloses Kind und wartete ruhig ab, was sie nun sagen oder thun werde. Sie stemmte die Hände in die Seiten und sah mich lange scharf an. Dann gab sie einen fürchterlichen Laut von sich, der aber doch nicht klang, als ob sie erzürnt wäre, es klang vielmehr, als ob etwas ihr Befriedigung ——, ich hätte beinahe gesagt, —— Vergnügen gewährt hätte, wenn es nicht Hester Dethridge gewesen wäre. Begreifen Sie das?«

»Noch nicht. Lassen Sie mich, ehe Sie fortfahren, versuchen, dem Verständniß durch eine Frage näher zu kommen. Hatte Sie Ihnen in Windygates je eine Anhänglichkeit bewiesen?«

»Nicht die mindeste. Sie schien jeder Anhänglichkeit an mich oder an irgend jemand Anderen völlig unfähig zu sein.«

»Schrieb sie noch fernere Fragen auf ihre Tafel?«

»Ja. Sie schrieb eine zweite Frage unter die erste. Ihr Geist war noch mit meiner Ohnmacht und mit dem Manne, der dieselbe verursacht hatte, beschäftigt. Sie hielt ihre Tafel empor und ließ mich die Frage lesen: »Sagen Sie mir, wie er mit Ihnen umgegangen ist, hat er Sie zu Boden geschlagen?« Die meisten Menschen würden über eine solche Frage gelacht haben, mich regte dieselbe tief auf. Ich antwortete ihr: »Nein.« Sie schüttelte den Kopf als ob sie mir nicht glaube. Sie schrieb wieder auf ihre Tafel: »Wir gestehen es nicht gern ein, wenn sie mit geballten Fäusten auf uns losgehen und uns schlagen, nicht wahr?« Ich erwiderte: »Sie irren sich durchaus.« Sie ließ aber nicht nach zu fragen und schrieb wieder: »Wer ist der Mann?«

Ich hatte doch Gewalt gering über mich, um die Beantwortung dieser Frage zu verweigern. Sie öffnete die Thür und hieß mich mit einer Handbewegung wieder hinausgehen. Ich machte eine bittende Geberde, die sie veranlassen sollte, noch ein wenig zu warten. In ihrer starren Weise nahm sie wieder die Tafel zur Hand und schrieb abermals etwas im Betreff »des Mannes« darauf. Dieses Mal lautete die Frage noch bestimmter. Offenbar hatte sie sich mein Erscheinen in dem Hause auf ihre Weise erklärt. Sie schrieb: »Ist es der Mann, der hier wohnt?« Ich mußte überzeugt sein, daß sie mir die Thür verschließen würde, wenn ich diese Frage nicht beantworten. Mir blieb also keine andere Wahl, als zu gestehen, daß sie richtig gerathen habe. Ich sagte: »Ja. Ich möchte ihn sehen.« Sie ergriff mich wieder ebenso derb wie vorher am Arm und führte mich in’s Haus.«

»Jetzt fange ich an, sie zu begreifen«, bemerkte Sir Patrick, »Ich erinnere mich, bei Lebzeiten meines Bruders gehört zu haben, daß Hester Dethridge von ihrem Manne in brutaler Weise mißhandelt worden ist. Wenn man sich dessen erinnert, wird Einem die Ideenasociation ihres confusen Kopfes verständlich. —— Ihre letzte Erinnerung an Sie ist die Erinnerung an ein in Windygates ohnmächtig daliegendes Weib!«

»Nun?«

»Sie bringt Sie zu dem Eingeständniß, richtig gerathen zu haben, daß ein Mann in gewisser Weise für den Zustand, in dem sie Sie gefunden hat, verantwortlich war. Von einer durch Gemüthsbewegung hervorgerufenen Ohnmacht hat sie keine Vorstellung. Sie zieht ihre eigene Erfahrung zu Rath und bringt die Ohnmacht mit einem Act brutaler Gewalt von Seiten des Mannes in Verbindung und erblickt in Ihnen ein Widerspiel ihrer eigenen Leiden und ihres eigenen Falles. Diese, für einen Beobachter der menschlichen Natur merkwürdige Erscheinung erklärt auch, was sonst nicht zu begreifen sein würde, daß sie ihre eigenen, ihren Dienstboten ertheilten Instructionen entgegenhandelt und Sie in’s Haus läßt. Was geschah weiter?«

»Sie brachte mich in ein Zimmer, das sie, glaube ich, selbst bewohnte. Sie bot mir mit den sonderbarsten Geberden ohne eine Spur von Freundlichkeit, Thee an. Nachdem was Sie mir eben erzählt haben, glaube ich mir einigermaßen erklären zu können, was in ihr vorging. Ich denke mir, es that ihrem harten Herzen wohl, ein Weib zu sehen, das sie für eben so unglücklich hielt, wie sie früher einmal selbst gewesen war. Ich dankte ihr für den Thee und versuchte es, das Gespräch auf den Zweck meines Besuches zurückzubringen. Sie nahm keine Notiz davon. Sie deutete auf das Zimmer, führte mich dann an ein Fenster, deutete auf den Garten und dann auf sich selbst. »Haus und Garten gehören mir« —— das war der Sinn, ihrer Zeichen.«

Im Gärten standen vier Männer und unter ihnen Geoffrey Delamayn. Ich machte einen zweiten Versuch, ihr zu sagen, daß ich ihn zu sprechen wünsche.»Aber vergebens, sie hatte ihre eigenen Ideen und ließ sich davon nicht abbringen Sie winkte mir, vom Fenster zurückzutreten führte mich an das Kamin und zeigte mir ein beschriebenes unter Glas und Rahmen an der Wand hängendes Stück Papier. Sie schien eine Art von Stolz über den Besitz ihres eingerahmten Manuscriptes zu empfinden, wenigstens bestand sie darauf, daß ich es lese. Es war ein Auszug aus einem Testamente.«

»Aus dem Testamente, in welchem ihr das Haus vermacht worden war?«

»Jawohl; dem Testamente ihres Bruders. Es heißt darin, er habe auf seinem Todtenbette seine Entfremdung von seiner einzigen Schwester, die von der Zeit her datirte, wo sie sich gegen seine Wünsche und seinen Rath verheirathet hatte, bedauert. Als Zeichen seines aufrichtiger! Wunsches, sich vor seinem Tode mit ihr auszusöhnen und als eine kleine Vergütigung für die Leiden, die sie von ihrem verstorbenen Manne auszustehen gehabt habe, hinterläßt er ihr ein jährliches Einkommen von zweihundert Pfund, und die Benutzung seines Hauses und Gartens für ihre Lebenszeit. Das war, so viel ich mich erinnere, der wesentliche Inhalt des Auszuges.«

»Das macht»sowohl ihrem Bruder wie ihr selbst alle Ehre«, bemerkte. Sir Patrick. »Bei ihrem sonderbaren Charakter begreife ich sehr wohl, daß sie diesen Testamentsauszug gern zeigt. Was ich nicht recht verstehe ist, daß sie bei einer Einnahme, von der sie bequem leben kann, Zimmer vermiethet.«

»Dieselbe Frage richtete ich an sie. Ich mußte vorsichtig zu Werke gehen und zuerst stach den Miethern fragen, wozu die noch im Garten sichtbaren Herren die natürliche Veranlassung boten. Die Zimmer im Hause, die sie zu vermiethen hatte, waren, so viel ich von ihr verstand, von Jemandem gemiethet worden, der in Geoffrey Delamayn’s Namen handelte; von seinem Trainer vermuthe ich. Er hatte, zu Hester Dethridge’s Ueberraschung, kaum Notiz von dem Hause genommen, dagegen das größte Interesse für den Garten gezeigt.«

»Das ist vollkommen begreiflich, Miß Silvester. Der geräumige und durch die hoben Mauern gegen jede Beobachtung geschützte Garten, wie Sie ihn geschildert haben, mußte ihm gerade als der richtige Platz für die Exercitien seines Patrons erscheinen. Und was geschah demnächst?«

»Ich fragte sie, warum sie überhaupt Zimmer in ihrem Hause vermiethe. Bei dieser meiner Frage wurden ihre Gesichtszüge härter als je. Ihre finstere Antwort, wie sie dieselbe auf die Tafel schrieb, lautete: »Ich habe keinen Freund in dieser Welt; ich darf nicht allein wohnen.« Das war ihr Grund, ein trauriger, schrecklicher Grund, nicht wahr, Sir Patrick?«

»Traurig genug. Aber wie endete die Sache? Gelangten Sie endlich in den Garten?«

»Ja, allerdings, nach einem abermaligen Versuche. Sie schien plötzlich ihren Sinn geändert zu haben und öffnete mir selbst die Thür. Als ich draußen an dem Fenster des Zimmers, in welchem ich sie verlassen hatte, vorüberkam, sah ich noch einmal hinein. Sie hatte sich vor einen Tisch an das Fenster gesetzt und wartete offenbar ab, was etwa vorfallen möchte. In ihren Augen lag, als sie den meinigen wieder begegneten etwas, das ich nicht genau bezeichnen kann, das mir aber einen unheimlichen Eindruck machte. Wenn ich Ihre Auffassung für richtig halten darf, so möchte ich jetzt beinahe glauben, so schrecklich es auch zu denken ist, daß sie darauf rechnete, mich eben so behandelt zu sehen, wie sie vor Zeiten behandelt worden war. Ich fühlte mich, obgleich ich wußte, daß ich einer ernsthaften Gefahr entgegen ging, wahrhaft erleichtert, als ich ihr Gesicht nicht mehr sah. Als ich mich den im Garten stehenden Männern näherte, hörte ich zwei von ihnen sehr ernst mit Geoffrey Delamayn reden. Der vierte, ein älterer Herr, stand in einiger Entfernung von den Uebrigen. Ich suchte mich, bis die Unterhaltung zu Ende wäre möglichst fern zu halten, um nicht gesehen zu werden. Aber ich konnte es nicht vermeiden sie zu hören. Die beiden Männer versuchten es, Geoffrey Delamayn zu überreden, mit dem älteren Herrn zu sprechen. Sie bezeichneten ihn als einen berühmten Arzt. Sie wiederholten aber- und abermals, daß es sich wohl der Mühe lohne, die Ansicht dieses Mannes zu vernehmen.«

Sir Patrick unterbrach sie mit der Frage: »Nannten sie seinen Namen?«

»Ja, sie nannten ihn Mr. Speedwell.«

Also derselbe! Dass interessirt mich mehr, als Sie sich vorstellen können, Miß Silvester. Ich selbst habe gehört, wie Mr. Speedwell, als wir im vorigen Monat Alle zusammen in Windygates waren, Mr. Delamayn warnend erklärte, daß seine Gesundheit erschüttert sei. That er, was die Anderen ihm, riethen? Sprach er mit dem Arzt?«

»Nein, er weigerte sich in mürrischem Ton und erinnerte sich, wie Sie, an die Scene in Windygates. Er sagte: »Ich sollte mit dem Mann sprechen, der mir auf den Kopf zugesagt hat, ich sei ein verlorner Mensch? Fällt mir nicht ein!« Nachdem er dieser Erktärung noch durch einen Fluch Nachdruck verliehen hatte, verließ er die Anderen. Unglücklicherweise ging er in der Richtung nach dem Platze zu, auf welchem ich stand und entdeckte mich. Der bloße Anblick meiner Person schien ihn auf der Stelle ganz außer sich zu bringen. Er —— es ist mir un1nöglich, die Ausdrücke zu wiederholen, deren er sich gegen mich bediente; es ist schlimm genug, daß ich sie hab hören müssen. Ich glaube, Sir Patrick wenn nicht die beiden Männer herbeigelaufen wären und ihn festgehalten hätten, so würde Hester Dethridge des Anblicks, den sie erwartete, theilhaftig geworden sein. So furchtbar war sein Wuthanfall —— selbst für mich, die ich doch geglaubt hatte, ihn in seinen leidenschaftlichen Momenten zu kennen ——, daß ich zittere, wenn ich nur daran denke. Einer von den Männern, die ihn zurückgehalten hatten, war übrigens fast ebenso brutal in seiner Sprache gegen mich; er erklärte in den gemeinsten Ausdrücken, daß, wenn Dalamayn einen Nervenanfall bekäme, er beim Wettlauf verlieren, und daß ich dafür verantwortlich sein würde. Wäre Mr. Speedwell nicht dagewesen, ich weiß nicht, was ich gethan hätte. Er trat aber sofort auf mich zu, und sagte: »Das ist kein Ort weder für Sie noch für mich!« reichte mir seinen Arm und führte mich nach dem Hause zurück. Hester Dethridge begegnete uns auf dem Wege und machte mir mit erhobener Hand ein Zeichen, ich möge stille stehen. Mr. Speedwell fragte sie, was sie wolle. Sie sah mich an, blickte nach dem Garten und machte dann mit der geballten Faust eine Bewegung, als wolle sie Jemandem einen Schlag versetzen. Zum ersten Mal, so lange ich sie kannte, glaubte ich, —— hoffentlich habe ich es mir nur eingebildet —— sie lächeln zu sehen. Mr. Speedwell führte mich fort. »Die Leute in dem Hause passen gut zu einander«, sagte er. »Das»Weib ist eine ebenso vollständige Wilde, wie der Mensch ein Wilder.« Der Wagen, den ich vor der Thür hatte halten sehen, war der seinige. Er rief den Kutscher herbei und bot mir höflich einen Patz in seinem Wagen an. Ich erwiderte, ich wolle von seiner Güte nur bis zur Eisenbahnstation Gebrauch machen. Während wir mit einander sprachen, folgte uns Hester Dethridge bis an die Thür. Sie wiederholte die Bewegung mit ihrer geballten Faust, sah sich nach dem Garten um, blickte dann wieder auf mich und nickte mit dem Kopf, als wolle sie sagen: »Er wird es doch noch thun!« Ich kann es nicht mit Worten ausdrücken, wie froh ich war, von ihr wegzukommen. Ich hoffe zuversichtlich, ich werde sie nie wiedersehen.«

»Haben Sie erfahren, in welcher Veranlassung Mr. Speedwell dahin gekommen war? War er aus freien Stücken gekommen oder hatte man nach ihm geschickt?«

»Man hatte nach ihm geschickt. Ich wagte es, mit ihm über die Personen zu reden, die ich im Garten gesehen hatte. Mr. Speedwell erklärte mir in der freundlichsten Weise Alles, was ich mir selbst nicht zu erklären vermochte. Einer von den sonderbaren Männern im Garten war der Trainer; der andere war ein Arzt, den der Trainer gewöhnlich zu consultiren pflegte. Es scheint, daß der wahre Grund, weshalb sie Geoffrey Delamayn von Schottland fortgebracht hatten, der war, daß der Trainer wegen Geoffrey’s Gesundheit unruhig geworden war und mit ihm in der Nähe von London zu sein wünschte, um ärztlichen Rath bei der Hand zu haben. Der Doctor hatte, als der Trainer ihn consultirte, gestanden, daß er sich die Symptome gegen die er zu agiren aufgefordert sei, nicht zu erklären vermöge, und hatte deshalb an jenem Morgen selbst den berühmten Arzt nach Fulham mitgebracht. Mr. Speedwell erwähnte nichts davon, daß er schon in Windygates vorausgesehen habe, was eintreten werde. Alles, was er sagte, war: »Ich war Mr. Delamayn schon früher einmal in einer Gesellschaft begegnet und sein Fall interessirte mich hinlänglich, um ihm einen Besuch zu machen, —— mit welchem Erfolg, haben Sie selbst gesehen.«

»Aeußerte er irgend etwas gegen Sie im Betreff von Delamayn’s Gesundheitszustand.«

»Er sagte, er habe dem Doctor auf dem Wege nach Fulham verschiedene Fragen vorgelegt und er betrachte einige von den Symptomen, die nach der Mittheilung des»Doktors bei dem Patienten hervorgetreten seien, als sehr bedrohlich. Worin diese Symptome bestanden, sagte er mir nicht. Mr. Speedtvell sprach nur von Verschlimmerungen des Zustandes, die gerade eine Frau leicht verstehen würde. »Zuweilen sei er so apathisch und teilnahmlos, daß nichts ihn erregen könne; zu anderen Zeiten habe er ohne irgend eine erkennbare Ursache die furchtbarsten Wuthanfälle. Der Trainer hatte es in Schottland fast unmöglich gefunden, ihn zur Beobachtung einer richtigen Diät zu veranlassen und der Doctor hatte den Aufenthalt in dem Hause in Fulham erst genehmigt, nachdem er sich zuvor davon überzeugt hatte, daß der Garten nicht nur passend gelegen sei, sondern auch, daß man sich auf Hester Dethridge fest verlassen könne. Mit ihrer Hilfe hatten sie ihn auf eine ganz neue Diät gesetzt. Aber selbst dabei waren sie auf eine unerwartete Schwierigkeit gestoßen. Als der Trainer ihn in die neue Wohnung gebracht, hatte es sich gezeigt, daß er Hester Dethridge schon früher in Windygates gesehen und eine entschiedene Abneigung gegen sie gefaßt habe, denn als er ihrer in Fulham wieder ansichtig wurde, schien ihn ein wahres Entsetzen zu ergreifen.«

»Entsetzen? Warum denn das?«

»Das weiß kein Mensch. Der Trainer und der Doctor vermochten ihn nur dadurch zu bewegen, in dem Hause zu bleiben, daß sie ihm drohten, sie würden sich mit seiner Vorbereitung für den Wettlauf nicht mehr befassen, wenn er sich nicht auf der Stelle Gewalt anthue und sich wie ein verständiger Mann und nicht wie ein Kind benehme. Seitdem hat er sich allmälig mit seiner neuen Wohnung ausgesöhnt; theils in Folge der von Hester Dethridge selbst beobachteten Vorsicht, sich nie vor ihm blicken zu lassen, theils in Folge seiner eigenen Würdigung der Veränderung seiner Diät, welche der Doktor durch Hester’s Kochkunst vorzunehmen in den Stand gesetzt worden ist. Mr. Speedwell erwähnte noch Einiges, was ich aber vergessen habe. Ich erinnere mich nur noch des schließlichen Resultats, zu welchem Mr. Speedwell in seiner Beurtheilung des Mannes gelangt war. Seine Ansicht erscheint als die einer so bedeutenden Autorität im höchsten Grade beunruhigend. Wenn Geoffrey Delamayn den Wettlauf am nächsten Donnerstag unternimmt, so thut er es auf die Gefahr hin, sein Leben dabei einzubüßen.«

»Auf die Gefahr hin, auf der Rennbahn todt liegen zu bleiben?«

»Ja.«

Sir Patrick wurde eine Weile nachdenklich und sagte dann: »Die Zeit, die wir damit zugebracht haben, uns mit den Vorgängen während Ihres Besuchs in Fulham zu beschäftigen, war keine verlorne. Die Möglichkeit des Todes dieses Mannes giebt mir zu den ernstesten Erwägungen Veranlassung. Es erscheint im Interesse meiner Nichte und ihres Mannes höchst wünschenswerth, daß ich mir, soviel wie möglich klar mache, von welchem Einfluß ein verhängnißvoller Ausgang des Wettrennens auf die für nächsten Sonnabend angesetzte Untersuchung sein könnte. Ich glaube, Sie könnten mir dabei behilflich sein.«

»Wenn Sie mir nur sagen wollen, wie, Sir Patrick.«

»Darf ich auf Ihre Gegenwart am nächsten Sonnabend rechnen?«

»Gewiß?«

»Sind Sie sich darüber klar, daß Sie in Blanche eine Ihnen für den Augenblick entfremdete Person, die, hauptsächlich unter Lady Lundie’s Einfluß, aufgehört hat, wie eine Freundin und Schwester für Sie zu fühlen, finden werden?«

»Ich war einigermaßen darauf gefaßt, zu hören, daß Blanche mich falsch beurtheilte. In meinem Brief an Mr. Brinkworth suchte ich ihm so zart wie möglich anzudeuten, daß die Eifersucht seiner Frau sehr leicht zu erregen sein werde. Verlassen Sie sich auf meine Selbstbeherrschung, auf wie schwere Proben dieselbe auch gestellt werden möge. Blanche kann nichts sagen oder thun, was meine dankbare Erinnerung an die Vergangenheit verwischen könnte. So lange ich lebe, werde ich sie lieben. Diese Versicherung wird hoffentlich genügen Sie über mein Benehmen am Sonnabend ganz zu beruhigen; sagen Sie mir nur, wie ich die Interessen, die mir eben so sehr wie Ihnen am Herzen liegen, fördern kann.«

»Sie können dieselben fördern, indem Sie mich über das Verhältniß aufklären, in welchen Sie zu Delamayn in jenem Augenblicke standen, als Sie nach dem Craig-Fernie-Gasthof gingen.«

»Fragen Sie mich nach Allem, was Sie zu wissen wünschen, Sir«Patrick.«

»Ist das Ihr Ernst?«

»Mein vollkommener Ernst.«

»So will"ich an etwas anknüpfen, was Sie mir bereits mitgetheilt haben. Delamayn hat Ihnen die Ehe versprochen ——«

»Unzählige Male.«

»In Worten?«

»Ja.«

Schriftlich?«

»Ja.«

»Merken Sie, wo ich hinaus will?«

»Noch nicht recht.«

»Sie sprachen im Beginn meines Besuchs von einem Briefe, den Sie sich in Perth von Bishopriggs wieder verschafft hätten. Ich weiß von Arnold Brinkworth, daß das Ihnen gestohlene Blatt Briefpapier zwei Briefe enthielt. Der eine war von Ihnen an Delamayn, der andere von Delamayn an Sie gerichtet. Des wesentlichen Inhalts dieses letzteren erinnerte sich Arnold, Ihren Brief aber hatte er nicht gelesen. Es ist von der äußersten Wichtigkeit für mich, Miß Silvester, daß Sie mir heute, bevor ich Sie verlasse, diese Correspondenz zeigen.

Anne schwieg. Sie hielt die Hände in ihrem Schooße gefaltet. Zum ersten Mal kehrte sie ihre Blicke unruhig von Sir Patrick ab.

»Würde es nicht genügen«, fragte sie nach einer Pause, »wenn ich Ihnen den Inhalt meines Briefes mittheilte, ohne Ihnen denselben zu zeigen?«

»Das würde nicht genügen«, erwiderte Sir Patrick kurz, »ich spielte, wie Sie sich erinnern werden, schon bei Ihrer ersten Erwähnung des Briefes, darauf an, ob Sie es für angemessen halten würden, mir den Brief zu zeigen und fand, daß Sie auf meine Anspielung absichtlich nicht eingingen. Es thut mir aufrichtig leid, Sie bei dieser Gelegenheit auf eine so schmerzliche Probe stellen zu müssen. Aber wenn Sie mir wirklich in dieser ernsten Krisis helfen wollen so habe ich Ihnen den Weg dazu gezeigt«

Anne stand auf und reichte Sir Patrick statt aller Antwort den Brief. »Vergessen Sie nicht, was er gethan »hat, seit ich das schrieb«, sagte sie, »und versuchen Sie es, mich zu entschuldigen, wenn ich gestehe, daß ich mich schäme, Ihnen den Brief jetzt zu zeigen.«

Mit diesen Worten trat sie an das Fenster. Da stand sie, die Hand gegen die Brust gepreßt und sah mit abwesenden Blicken auf die trübe Aussicht von Hausdächern und Schornsteinen, während Sir Patrick den Brief öffnete.

Um dem Leser das richtige Verständniß kommender Ereignisse zu erleichtern, wollen wir die bereits im Anfange der Erzählung mitgetheilten beiden Briefe noch einmal hier mittheilen:

Von Anne Silvester an Geoffrey Delamayn:

»Windygates, 12. August 1860.

Ich habe bis»jetzt vergeblich gehofft, daß Du von dem Gute Deines Bruders herüberkommen würdest, um mich zu sehen. Dein Benehmen gegen mich ist unbarmherzig und ich bin entschlossen, es nicht länger zu ertragen; überlege Dir die Sache in Deinem eigenen Interesse, ehe Du ein unglückliches Weib, daß sich Dir hingegeben hat, zur Verzweiflung treibst. Du hast mir bei Allem, was Dir heilig ist, die Ehe versprochen, ich berufe mich auf Dein Versprechen und bestehe darauf, das zu werden, wozu mich zu machen Du gelobt hast, was zu werden ich all’ diese Zeit her gewartet habe und was ich vor Gott schon bin, Dein eheliches Weib! —— Lady Lundie giebt hier am 14. d. ein Gartenfest; ich weiß, daß Du dazu eingeladen« bist und rechne sicher darauf, daß Du die Einladung annimmst. Wenn Du mich in meiner Erwartung täuschest, so stehe ich für nichts ein. Ich bin fest entschlossen, diesen Zustand der Dinge nicht länger zu ertragen. O, Geoffrey, denke an die Vergangenheit, sei treu und gerecht.

Dein Dich liebendes Weib
Anne Silvester«

2. Von Geoffrey an Anne Silvester:

»Liebe Anne!

In diesem Augenblicke werde ich zu meinem Vater nach London gerufen. Die Nachricht von ihm lautet schlimm. Bleibe, wo Du bist und ich will dahin schreiben. Vertraue dem Ueberbringer. Auf mein Ehrenwort, ich werde mein Versprechen halten.

Dein Dich liebender Gatte
Geoffrey Delamayn.

Windygates, den l4. August, 4 Uhr Nachmittags.
In furchtbarer Eile geschrieben, der Zug geht um 4 Uhr 30 Minuten ab!«

Sir Patrick las den Brief mit gespanntester Aufmerksamkeit. Bei den letzten Zeilen des zweiten Briefes that er, was er seit zwanzig Jahren nicht gethan hatte, er sprang, seines lahmen Fußes völlig vergessend, plötzlich von seinem Stuhle auf und ging ohne Hilfe seines Krückstockes nach dem anderen Ende des Zimmers.

Anne fuhr zusammen, wandte sich um und sah Sir Patrick mit überraschten Blicken an. Alles an ihm, sein Gesicht, seine Stimme, seine Haltung bekundeten die größte Aufregung.

»Wie lange waren Sie in Schottland gewesen, als Sie diesen Brief schrieben?« Mit dem Finger auf Anne’s Brief deutend, war er so erregt bei seiner Frage, daß er die ersten Worte nur hervor zu stammeln vermochte. »Länger als drei Wochen?« fügte er hinzu, indem er seine hellen schwarzen Augen forschend auf sie heftete.

»Ja.«

»Sind Sie dessen völlig gewiß?«

»Ganz gewiß!«

»Können Sie sich auf Personen beziehen, die Sie während dieser Zeit gesehen haben?««

»Allerdings.«

Er wendete den Briefbogen um und deutete auf Geoffrey’s mit Bleistift geschriebene Zeilen aus der letzten Seite.

»Wie lange war er in Schottland gewesen, als er dieses schrieb? Auch länger als drei Wochen?«

Anne dachte einen Augenblick nach.

»Um des Himmels willen seien Sie vorsichtig?« sagte Sir Patrick. »Sie wissen nicht, was davon abhängt. Wenn Sie Ihrer Sache nicht völlig gewiß sind, bitte, sagen Sie es mir!«

»Meine Erinnerungen waren einen Augenblick etwas verwirrt, jetzt aber sind sie wieder vollkommen klar. Er war drei Wochen lang auf dem Landsitze seines Bruders in Perthshire gewesen, ehe er dieses schrieb. Und noch ehe er nach Swanhaven ging, hatte er drei oder vier Tage, im Eskthale zugebracht.«

»Sind Sie auch dessen völlig gewiß?«

»Vollkommen gewiß«

»Wissen Sie Jemanden, der ihn in dem Eskthale gesehen hat?«

»Ich weiß Jemanden der ihm dorthin ein Billet von mir gebracht bat.«

»Wäre diese Person leicht wieder aufzufinden?«

»Ganz leicht.«

Sir Patrick legte den Brief bei Seite und ergriff in einer Aufregung, deren er nicht mehr Herr zu werden vermochte, Anne’s beide Hände.

»Hören Sie mich;« sagte er. »Die ganze Verschwörung gegen Sie und Arnold Brinkworth, fällt vor dieser Correspondenz zu Boden. Als Arnold mit Ihnen im Gasthof zusammentraf« —— er hielt inne und sah sie an, ihre Hände fingen an in den seinigen zu zittern. —— »Als Arnold Sie in dem Gasthof traf«, nahm er wieder auf, »Waren Sie nach schottischem Recht bereits eine verheirathete Frau. An dem Tage und in der Stunde, wo er diese Zeilen auf die vierte Seite Ihres an ihn gerichteten Briefes schrieb, waren Sie Geoffrey Delamayn’s eheliches Weib.«

Er hielt abermals inne und sah sie an. Ohne ein Wort zu antworten, ohne« sich zu regen, erwiderte sie seinen Blick mit! dem stummen Ausdruck des Entsetzens.

Schweigend trat Sir Patrick, auf dessen Gesicht sich ihr Entsetzen in einem schwächeren Ausdruck wiederspiegelte, einen Schritt zurück. Verheirathet mit dem Schurken, der kein Bedenken getragen hatte, das Weib, welches er zu Grunde gerichtet, zu verleumden Verheirathet mit dem Verräther, der sich nicht gescheut hatte, Arnold’s auf ihn gesetztes Vertrauen zu täuschen und dessen häusliches Glück zu zerstören, —— verheirathet —— mit dem Nichtswürdigen, der sie noch an diesem Morgen geschlagen haben würde, wenn seine eigenen Freunde ihn nicht zurückgehalten hätten, —— und an Alles das hatte Sir Patrick nicht gedacht.

So erfüllt war er von dem einen Gedanken an Blanche’s Zukunft, daß erst das schaudernde Entsetzen in Anne’s Blicken ihm die Frage aufdrängte, wie sich in Folge dieser Nachricht ihre Zukunft gestalten werde.

Er trat wieder an sie heran. Er ergriff wieder ihre Hand und sagte:

»Vergeben Sie mir, daß ich zuerst an Blanche gedacht habe.«

Blanche’s Name schien Anne neu zu beleben. Ihre Wangen fingen an sich wieder zu färben, ein zärtlicher Ausdruck leuchtete wieder in ihren Augen auf. Er sah, daß er es wagen dürfe noch deutlicher zu werden, und er fuhr fort:

»Ich ermesse jetzt vollkommen das fürchterliche Opfer, das Ihnen zugemuthet wird. Ich frage mich selbst, habe ich, hat Blanche ein Recht ——« Sie unterbrach ihn mit einem leisen Druck ihrer Hand.

»Ja«, sagte sie mit schwacher Stimme, »wenn Blanche’s Glück davon abhängt!«



Fünfter Band.

Fulham

Neunundvierzigstes Kapitel - Der Wettlauf

Ein einsamer Fremder, welcher sich in London umhertrieb, kam auf seinen Wanderungen am Tage des Wettlaufs nach Fulham.

Allmählich fand er sich von dem Strom eines Gedränges leidenschaftlich aufgeregter Menschen umgeben, welche Alle einem und demselben Ziele zueilten, und Alle gleichmäßig mit Abzeichen verschiedener Farben, rosa oder gelb, geschmückt waren. Er ließ sich auf dem Fußwege von dem Strome der Fußgänger weiter treiben, während auf dem Fahrwege ein Wagen sich an den anderen reihte, bis sie alle vor einer Pforte anhielten, an einen dort sitzenden Mann Eintrittsgeld bezahlten, und sich dann in einen großen freien Raum ergossen.

Hier angelangt, blickte der Fremde mit Staunen auf die Scene, die sich seinen Augen darbot. Er sah Tausende von Leuten versammelt, die fast ausschließlich den mittleren und höheren Klassen der Gesellschaft angehörten. Sie saßen und standen um einen großen, offenen Raum herum, theils auf hölzernen Sitzen, die sich amphitheatralisch erhoben, theils auf den Verdecken von abgespannten in Reihen aufgestellten Wagen. Aus der Mitte dieser Versammlung erhob sich ein solcher Lärm durcheinanderwogender Stimmen, wie ihn der Fremde noch nie von irgend einer versammelten Menge in diesem Lande gehört hatte. So weit er von diesem Geschrei etwas verstehen konnte, bestand dasselbe hauptsächlich aus einer immer wiederkehrenden Frage, deren erster Theil in den Worten bestand, »Wer wettet auf ——?« und deren Schluß regelmäßig einer von zwei Namen bildete, die für ausländische Ohren beide gleich unverständlich waren. Als der Fremde dieses merkwürdigen Schauspiels ansichtig wurde, und diese aufgeregten Rufe vernahm, wandte er sich an einen dienstthuenden Polizeibeamten, und fragte denselben in seinem besten Englisch! »Bitte sagen Sie mir, was hat dies Alles zu bedeuten?«

Der Polizeibeamte antwortete: »Norden gegen Süden.«

Der Fremde hatte zwar eine Auskunft, die ihn aber nicht befriedigte. Er deutete auf die versammelte Menge und fragte: »Warum?«

Der Polizeibeamte hielt es unter seiner Würde, seine Worte an einen Mann zu verschwenden, der eine solche Frage thun konnte. Er erhob seinen großen rothen Zeigefinger, mit einem breiten, weißen Nagel an der Spitze, und deutete mit feierlichem Ernst auf einen an der Mauer hinter ihm klebenden gedruckten Anschlagezettel. Der Fremde schlenderte nach dem Anschlagezettel hin.

Nachdem er denselben aufmerksam von Anfang bis zu Ende durchlesen hatte, wandte er sich fragend an einen neben ihm stehenden höflichen Herrn, der sich viel mittheilsamer erwies als der Polizeibeamte. Was unser Freund, der als ein Ausländer keine Vorstellung von der ungeheuren nationalen Wichtigkeit athletischer Wettkämpfe hatte, aus der ihm hier gewordenen Auskunft entnahm, war etwa Folgendes:

Die Farbe des Nordens ist Rosa; die Farbe des Südens ist Gelb. Der Norden stellt vierzehn rosa Männer und der Süden stellt dreizehn gelbe Männer. Das Zusammentreffen von Rosa und Gelb ist eine Festlichkeit. Diese Festlichkeit hat ihren Grund in einer unbezwinglichen nationalen Leidenschaft, Arme und Beine dadurch zu stählen, daß man mit den ersteren Hammer und Criketbälle wirft, und daß man mit den letzteren läuft und springt. Der Zweck der Festlichkeit besteht darin, diese gestählten Glieder in öffentlichen Wettkämpfen zu erproben. Die Folgen dieser Wettkämpfe sind physisch eine um den Preis einer ungeheuren Anstrengung des Herzens und der Lungen erkaufte, außerordentliche Entwickelung der Muskeln; moralisch Ruhm, der im Augenblick des Sieges in dem öffentlichen Applaus seinen ersten Ausdruck und am nächsten Tage in den Zeitungsberichten seine Bestätigung findet. Wer es sich einfallen läßt, mit diesen körperlichen Uebungen für Diejenigen, welche sich ihrer befleißigen, irgend ein körperliches Uebel verknüpft zu sehen oder in den Wettspielen selbst eine moralische Beeinträchtigung jener civilisirenden Einflüsse zu erblicken, von welchen die wahre Größe aller Nationen abhängt —— der ist ein völlig unbegreiflicher, mit seiner Meinung durchaus vereinzelt dastehender Mensch.

Der Fremde mischte sich unter die versammelte Menge und sah sich das sociale Schauspiel, dass sich seinen Blicken darbot, etwas genauer an.

Er hatte dieselben Menschen schon bei anderen Gelegenheiten gesehen, zum Beispiel im Theater, und hatte dort ihre Sitten und Gebräuche mit Staunen und Ueberraschung beobachtet. So oft der Vorhang fiel, zeigten sie ein so geringes Interesse an dem, was sie eben auf der Bühne gesehen hatten, daß sie sich während der Zwischenacte laut mit einander unterhielten.

Bei offener Scene aber nahmen sie das dargestellte Stück, wenn es an die höheren und edleren Regungen des menschlichen Gemüths appellirte, gelangweilt oder mit höhnischen Bemerkungen auf. Nach der vorherrschenden Anschauung dieser Landsleute Shakespeare’s hatte der dramatische Schriftsteller nur zwei Pflichten, sie lachen zu machen und sich so kurz wie möglich zu fassen. Die beiden größten Verdienste eines Bühnenbesitzers in England bestanden, nach dem seltenen Applaus der gebildeten Besucher seines Theaters zu urtheilen, darin, sehr viel Geld für seine Decorationen auszugeben und möglichst viele Balletttänzerinnen zu engagiren.

Und nicht blos im Theater, sondern auch an anderen öffentlichen Orten und in anderen Versammlungen hatte der Fremde, so oft er an das Denkvermögen und an das Herz der eleganten englischen Gesellschaft appellirt, dieselbe stumpfe Apathie und dieselbe stupide Geringschätzung beobachtet. Auf allen Mienen las man deutlich: der Himmel bewahre uns davor an irgend etwas Anderem Vergnügen zu finden, als an groben Scherzen und Scandal, und vor irgend etwas Anderem Respect zu haben, als vor Rang und Geld.

Hier war das Alles anders. Hier zeigte sich das starke Gefühl, das athemlose Interesse, der echte Enthusiasmus, den man anderswo vergebens suchte. Hier standen die stolzen Herren, die es nicht der Mühe Werth fanden den Mund aufzuthun, wenn es sich um einen Kunstgenuß handelte und schrieen sich in unausgesetzten Ausbrüchen fanatischen Beifalls heiser. Hier saßen die zarten Damen, die schon bei der Idee nachdenken und empfinden zu müssen, hinter ihren Fächern gähnten, und wehten, unter ihrer Schminke vor Aufregung erröthend, begeistert mit ihren Schnupftüchern.

Der Fremde betrachtete dieses Schauspiel und suchte sich die Bedeutung desselben, nach den ihm als Bewohner eines civilisirten Landes geläufigen Gesichtspunkten, klar zu machen.

Er war noch mit diesem Versuch beschäftigt, als etwas Neues seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

Einige Hürden, welche dazu gedient hatten, den gegenwärtigen, befriedigenden Zustand der Ausbildung der Springkunst unter den höheren Klassen der Gesellschaft, vorzuführen, wurden fortgenommen. Die privilegirten Personen, welche bestimmte Pflichten in dem freien Raum zu erfüllen hatten, sahen sich in demselben um und verschwanden dann einer nach dem andern. Athemlos gespannte Erwartung durchdrang die ganze Versammlung. Offenbar sollte jetzt etwas besonders Interessantes und Wichtiges an die Reihe kommen.

Plötzlich wurde das Schweigen durch ein Hurrahgeschrei des auf der Landstraße außerhalb der Rennbahn stehenden Pöbels unterbrochen. Die Leute sahen sich einander mit aufgeregten Blicken an und riefen »Einer von Ihnen ist da.«

Wieder trat ein allgemeines Schweigen ein, das abermals durch Beifallsgeschrei unterbrochen wurde. Die Leute nickten einander mit dem Ausdruck der Erlösung zu und riefen: »Jetzt sind sie Beide da.« Und dann trat wieder das Schweigen der gespannten Erwartung ein, und alle Augen wandten sich einem bestimmten Punkte des freien Raumes zu an welchem sich ein kleiner hölzerner Pavillon befand, vor dessen offenen Fenster die Jalousien herab gelassen waren und dessen Thür geschlossen war.

Die athemlose Stille der großen Menschenmenge um ihn her machte einen tiefen Eindruck auf den Fremden. Er fing an, ohne selbst zu wissen warum, an dem Vorgange einen lebhaften Antheil zu nehmen. Er fühlte, daß er im Begriff stehe, das englische Volk zu verstehen.

In diesem Augenblick wurde offenbar eine sehr feierlich ernste Ceremonie vorbereitet. Sollte wohl ein großer Redner sich anschicken, das Wort an die versammelte Menge zu richten, oder wollte man die Gedenkfeier eines ruhmwürdigen Ereignisses begehen, oder endlich sollte hier ein Gottesdienst abgehalten werden?

Der Fremde blickte abermals umher, ob er sich nicht irgendwo die gewünschte Auskunft verschaffen könne. Zwei Herren, die in ihrer Erscheinung in Rücksicht auf seine Manieren von den meisten der anwesenden Zuschauer vorteilhaft abstachen, bahnten sich eben in diesem Augenblick, da wo der Fremde stand, langsam einen Weg durch die Menge hindurch. Er fragte dieselben mit respectvoller Höflichkeit, welcher Art die Nationalfeier sei, die eben vorbereitet würde.

Er erhielt die Auskunft, daß ein Paar starker, junger Männer im Begriff stehe, eine gewisse Anzahl von Bahen um den freien Raum herumzulaufen, und zwar zu dem Zweck, um festzustellen, wer von Beiden am schnellsten laufen könne.

Der Fremde erhob Hände und Augen zum Himmel und rief: »O, Du weise Vorsehung! Wer hätte es für möglich gehalten, daß auf Deiner Welt auch Geschöpfe wie diese wandeln?!«

Mit diesem Ausruf wandte er der Rennbahn den Rücken und ging von dannen.

Auf seinem Heimwege wollte der Fremde sich seines Taschentuchs bedienen und gewahrte, daß es fort sei. Er fühlte dann nach seiner Börse und fand, daß auch sie verschwunden sei. Als er wieder in sein Vaterland zurückgekehrt war, wurden wißbegierige Fragen über England an ihn gerichtet. Er hatte nur eine Antwort auf alle diese Fragen: »Die ganze Nation ist mir ein Räthsel. Von allen Engländern sind mir nur die englischen Diebe ganz verständlich.«

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Inzwischen erreichten die beiden Herren, die sich eben ihren Weg durch die Menge gebahnt hatten, eine kleine Thür in der Umzäunung, welche den freien Raum umgab.

Nachdem sie dem bei der Thür aufgestellten Polizeiofficianten eine schriftliche Ordre vorgezeigt hatten, wurde ihnen sofort der Zutritt zu dem geweihten Raum gestattet. Die dicht gedrängten Zuschauer betrachteten sie mit einem aus Neid und Neugierde gemischten Gefühl, und fragten sich, wer sie wohl seien. Waren es Schiedsrichter, die bei dem bevorstehenden Rennen zu fungiren hatten, oder waren es Zeitungsberichterstatter oder Polizeibeamte? Sie waren nichts von alledem. Es waren einfach der uns bereits bekannte Arzt, Mr. Speedwell und Sir Patrick Lundie.

Die beiden Herren gingen nach der Mitte des freien Raumes und sahen sich von hier aus um.

Um den Rasen, auf welchem sie standen, zog sich ein breiter, glatter mit fein gesiebtem Sande und Asche bedeckter Weg und um diesen Weg wieder zog sich das Gehege, um welches sich die Zuschauer schaarten. An den beiden Enden dieses Raumes erhoben sich an der einen Seite die Amphitheater mit ihren Reihen gedrängt voller Bänke, und an den andern Seiten die langen Reihen von Wagen mit Zuschauern von innen und außen. Die Abendsonne schien hell, Licht und Schatten lagen in großen Massen nebeneinander, die bunten Farben der mannigfaltigen Gegenstände bildeten ein harmonisches Ganze. Es war ein glänzender und erfrischender Anblick.

Sir Patrick wandte sich von den Reihen der ihn umgebenden aufgeregten Menge wieder seinem Freunde mit der Frage zu:

»Glauben Sie, daß sich in dieser ungeheuren Menge ein einziger Mensch befindet, den ein ähnlicher Zweifel bewegt, wie der, welcher uns hergeführt hat?«

Mr. Speedwell schüttelte den Kopf.

»Kein einziger von all diesen Zuschauern weiß oder bekümmert sich darum, was dieser Wettkampf die Leute, die ihn unternehmen, kosten kann.«

Sir Patrick blickte wieder umher. »Ich wünschte fast, ich wäre nicht hergekommen,« sagte er. »Wenn dieser elende Mensch ——«

Der Arzt unterbrach ihn mit den Worten: »Lassen Sie Ihre Gedanken nicht unnöthiger Weise bei der trüben Aussicht verweilen, Sir Patrick. —— Die Ansicht die ich mir gebildet habe, entbehrt bis jetzt einer positiven Grundlage. Meine Vermuthungen sind nach meiner Ueberzeugung richtig, gleichwohl fehlt es ihnen an den nöthigen Anhaltspunkten. Der Anschein kann mich getäuscht haben. In dem Organismus Delamayn’s können noch Lebenskräfte schlummern, von denen ich keine Ahnung habe. Ich bin hergekommen, um zu lernen, nicht, um die Erfüllung einer Weissagung zu erleben. Ich weiß, daß seine Gesundheit erschüttert ist, und ich glaube, daß er bei diesem Wettlauf sein Leben riskirt. Halten Sie sich jedoch des Ereignisses nicht für zu gewiß, der Ausgang kann mir Unrecht geben.«

Für den Augenblick ließ Sir Patrick den Gegenstand fallen, er war nicht in seiner gewöhnlichen Laune.

Seit seine Unterhaltung mit Anne ihm die Gewißheit verschafft hatte, daß sie Geoffrey’s legitimes Weib sei, hatte sich ihm die Ueberzeugung aufgedrängt, daß die einzig mögliche Chanee einer glücklichen Zukunft für sie in Geoffrey’s Tod lag. Entsetzlich wie ihm der Gedanke war, hatte ihn derselbe, er mochte dagegen ankämpfen, wie er wolle, überallhin verfolgt. Er ließ seine Blicke über den breiten, mit Asche bestreuten Weg, auf welchem der Wettlauf vor sich gehen sollte, mit dem Bewußtsein schweifen, daß er ein geheimes Interesse an dem Ausgang des Wettlaufs habe, welches unaussprechlich schwer auf ihm lastete. Er versuchte es, die Unterhaltung mit seinem Freunde wieder aufzunehmen und dieselbe auf andere Gegenstände zu lenken. Aber es war eine vergebliche Mühe. Gegen seinen Willen kam er auf den verhängnißvollen Ausgang des bevorstehenden Wettlaufs zurück.

»Wie viele Male«, fragte er, »miissen sie um diesen Raum herum laufen, bevor der Wettlauf zu Ende ist?«

Mr. Speedwell wandte sich an einen Herrn, der in diesem Augenblick auf sie zukam. »Da kommt Jemand«, sagte er, »der uns das sagen kann.«

»Kennen Sie ihn?«

»Er ist mein Patient.«

»Wer ist er?«

»Nach den zwei Läufern die wichtigste Person auf der Rennbahn. Er ist die höchste Autorität, der Schiedsrichter bei dem Wettrennen.«

Der so bezeichnete Herr war ein Mann von mittleren Jahren, mit einem vorzeitig gefurchten Gesicht, mit vorzeitig ergrautem Haar und mit militärischem Anstande, von kuapper Rede und raschen Bewegungen.«

»Der zu durchlaufende Raum«, erwiderte er auf die von Mr. Speedwell an ihn gerichtete Frage, »mißt vierhundert und vierzig Yards oder eine Viertel englische Meile. Jedes Mal herum heißt ein »Lap.« Die Renner müssen sechszehn Laps laufen, um den Wettlauf zu gewinnen. Kurz gesagt, sie müssen vier englische Meilen laufen, das längste Rennen, das bei Wettkämpfen dieser Art vorzukommen pflegt.«

»Läufer von Profession laufen noch länger, nicht wahr?«

»Bedeutend, bei gewissen Gelegenheiten.«

»Pflegen diese Leute lange zu leben?«

»O nein, sie werden selten alt.«

Mr. Speedwell sah Sir Patrick an. Jetzt richtete dieser eine Frage an den Schiedsrichter.

»Sie haben uns eben gesagt, daß die beiden jungen Männer, die sich heute an dem Wettlaufe betheiligen. die längste Strecke laufen werden, die sie jemals zu durchlaufen versucht haben. Sind die Leute, die sich auf solche Dinge verstehen, im Allgemeinen der Ansicht, daß beide junge Männer der ihnen zugemutheten Anstrengung gewachsen sind?«

»Urtheilen Sie selbst, da kommt der Eine.«

Er deutete nach dem Pavillon hin. In demselben Augenblick erscholl aus den Reihen der Zuschauer ein gewaltiges Händeklatschen. Fleetwood, der Kämpfer des Nordens, stieg, mit seinem rosa Abzeichen geschmückt, eben die Stufen des Pavillons herab und betrat dann die Arena.«

Jung, schlank und elegant, mit einer in jeder Bewegung der Glieder sich kundgebenden geschmeidigen Stärke, mit einem freundlichen Lächeln auf seinem entschlossenem jungen Gesicht gewann der Kämpfer des Nordens sofort bei seinem Erscheinen alle Frauenherzen. Ueberall hörte man die Frauen sich auf das Lebhafteste über ihn unterhalten. Die Männer waren weniger aufgeregt, namentlich die, welche sich auf die Sache verstanden. Für diese Sachverständigen erhob sich das sehr ernste Bedenken, ob Fleetwood nicht ein wenig zu fein gebaut sei. Daß er vorzüglich trainirt war, wurde bereitwilligst zugegeben, es fragte sich aber, ob er nicht für einen Lauf von vier englischen Meilen ein wenig zu stark trainirt sei.

Dem Helden des Nordens folgten in die Arena seine Freunde, diejenigen, die auf ihn gewettet hatten, und sein Trainer. Dieser letztere trug eine zinnerne Kanne. »Kaltes Wasser,« erklärte der Schiedsrichter. »Wenn er erschöpft niedersinkt, gießt ihm sein Trainer etwas Wasser in’s Gesicht und richtet ihn damit wieder auf.«

Ein neues Händeklatschen erscholl aus allen Reihen der Zuschauer. Delamayn, der Kämpfer des Südens präsentirte sich mit seinen gelben Farben geschmückt, den Blicken des Publikums.

Das Gesumme der zahllosen Stimmen wurde lauter und lauter, als er auf die Mitte des großen, grünen Platzes zuschritt. Was die Zuschauer für den Augenblick am meisten frappirte, war der außerordentliche Contrast, den die beiden jungen Männer bildeten. Geoffrey war mehr als einen Kopf größer als sein Gegner und in entsprechendem Verhältniß breiter. Die Frauen, welche von dem selbstgewissen Lächeln Fleetwood’s entzückt gewesen waren, fühlten sich Alle mehr oder weniger unangenehm berührt von der verdrossenen Haltung des riesigen Kämpfers des Südens, wie sie sich zeigte, als er langsam mit gesenktem Kopfe und zusammengezogenen Brauen, taub für den ihm gespendeten Beifall, unbekümmert um die auf ihn gerichteten Blicke, mit Niemandem redend, in sich selbst versenkt, seine Zeit abwartete, und an den Reihen der Zuschauer vorüberging. Für die Sachverständigen war seine Erscheinung ein Gegenstand des höchsten Interesses. In derselben fanden sie die Gewähr der Ausdauer, die auch während der letzten schrecklichen halben Meile des Wettrennens aushalten würde, während der flinke leichtfüßige Fleetwood gar nicht mehr weiter können würde. Man hatte sich zugeraunt, daß beim Trainiren Delamayn’s nicht Alles in Ordnung gewesen sei. Und jetzt wo Aller Augen selbst über ihn urtheilen konnten, rief seine Erscheinung doch von einigen Seiten kritische Bemerkungen hervor, die gerade das entgegengesetzte Extrem von dem betrafen, was man an seinem Gegner zu kritisiren gefunden hatte. Das Bedenken im Betreff Delamayn’s war, ob er hinreichend trainirt worden sei. Indessen übten doch seine solide Kraft, die langsame pantherartige Elasticität seiner Bewegungen, und vor Allem sein großer Ruf in der Welt der Muskeln und der Wettspiele ihre Wirkung. Die Wetten, welche, trotz gelegentlicher Schwankungen, doch bis jetzt überwiegend zu seinen Gunsten abgeschlossen waren, blieben auch jetzt, wo er sich dem Publikum präsentirte zu seinen Gunsten fest

»Fleetwoood mag meinetwegen für kürzere Distanzen gut sein aber für einen Lauf von vier englischen Meilen lobe ich mir Delamayn.«

»Glauben Sie, daß er uns sieht?« flüsterte Sir Patrick dem Arzt zu.

»Er sieht Niemanden.«

»Haben Sie aus dieser Entfernung ein Urtheil über seinen Gesundheitszustand?«

»Er ist noch einmal so muskelstark wie der Andere. Sein Rumpf und seine Glieder sind prachtvoll. Mehr aber kann ich über seine Verfassung nicht sagen. Wir sind zu entfernt, um seine Gesichtszüge deutlich erkennen zu können.«

Die durch das Erscheinen der Läufer hervorgerufene lebhafte Unterhaltung der Zuschauer ließ wieder nach, und schweigende Erwartung bemächtigte sich Aller. Einer nach dem Andern, stellten sich die verschiedenen, in officieller Eigenschaft bei dem Rennen fungirenden Personen auf dem Rasen auf, unter ihnen der Trainer Perry, mit seiner Wasserkanne in der Hand, in einer lebhaften, geflüsterten Unterhaltung mit seinem Zögling begriffen, dem er vor dem Beginn des Rennens noch seine letzten Rathschläge ertheilte. Der Arzt des Trainers ließ die Beiden stehen und trat auf Mr. Speedwell zu, um diesen berühmten Collegen respectvoll zu begrüßen.

»Wie ist es ihm gegangen, seit ich in Fulham war?« fragte Mr. Speedwell.

»Ganz vortrefflich, Herr College! Sie haben ihn gerade an einem seiner schlechten Tage gesehen. In den letzten achtundvierzig Stunden hat er wahre Wunder verrichtet.«

»Wird er das Rennen gewinnen?«

Im Geheimen hatte der Arzt dasselbe gethan, was Perry schon vor ihm zu thun für gut befunden, er hatte auch auf Geoffrey’s Gegner gewettet. Oeffentlich war er seinen Farben treu. Mit einem geringschätzigen Blick auf Fleetwood antwortete er, ohne sich einen Augenblick zu besinnen:

»Ja.«

In diesem Augenblick wurde die Unterhaltung durch eine plötzliche Bewegung indem eingehegten Raume unterbrochen. Die Läufer begaben sich eben nach dem für das Ablaufen bestimmten Platz. Der Augenblick des Wettlaufes war gekommen.



Fünfzigstes Kapitel - Verloren

Die beiden jungen Männer Delamayn und Fleetwood standen Schulter an Schulter da, jeder die markirte Stelle mit seinem Fuß berührend zum Ablaufen bereit. Ein Pistolenschuß war das Signal dazu. Im Moment des Knalles liefen sie ab.

Fleetwood war alsbald voraus, und Delamayn um zwei bis drei Yards hinter ihm. In dieser Weise liefen sie dreimal in die Runde, Beide ihre Kräfte aufsparend, und Beide mit athmloser Spannung von jedem Auge in der Versammlung beobachtet. Die Trainers liefen mit ihren Kannen in den Händen vorund rückwärts über den Rasen hin und her, um an gewissen Stellen ihre Zöglinge zu treffen und sie sich schweigend, genau anzusehen. Die officiellen Personen standen in einer Gruppe zusammen und verfolgten mit ihren Blicken jeden Schritt der Läufer mit dem gespanntesten Interesse. Der Arzt des Trainers der noch immer bei seinem berühmten Collegen stand, gab diesem und dessen Freunde alle nöthigen Erklärungen.

»Während der ersten Meile kann man außer der Haltung der beiden Leute nicht viel sehen.«

»Sie meinen sie gebrauchen absichtlich noch nicht ihre ganze Kraft.«

»Allerdings. Sie versuchen sich erst im Athemholen und im Aufsetzen der Füße. Ein charmanter Läufer der Fleetwood, nicht wahr? Er hält seine Beine ein klein wenig besser grade vor sich und hebt die Hacken nicht ganz so hoch wie unser Mann. Seine Art zu laufen ist die Bessere, das muß ich zugeben. Aber nun beachten Sie, wenn sie an uns vorbeikommen, wer von Beiden die gradeste Linie einhält. Darin ist Delamayn dem Andern überlegen. Er hat einen festeren, sichereren, zuverlässigeren Schritt, und Sie werden sehen, was das sagen will, wenn sie den halben Weg zurückgelegt haben werden.«

So erging sich der Arzt während der drei ersten Rundläufe in Erörterungen über die beiden verschiedenen Gangarten der Läufer —— und zwar in Ausdrücken, die er rücksichtsvoll dem Verständniß von Leuten anpaßte, die der eigentlichen Kunstsprache der Rennbahn nicht kundig waren.

Bei dem vierten Rundlauf, mit andern Worten, bei dem Rundlauf, der die erste Meile vollendete, trat die erste Veränderung in der Stellung der Läufer zu einander ein. Delamayn eilte plötzlich voran, Fleetwood lächelte, als ihn sein Gegner überholte. Delamayn behauptete den Vortritt bis zur Hälfte des fünften Rundlaufs, wo Fleetwood, auf einen Wink seines Trainers, sich wieder der Führung bemächtigte. Mit leichtem Schritt eilte er im Nu an Delamayn vorüber und behauptete die Führung bis an’s Ende des sechsten Rundlaufs.

Beim Beginn des siebenten Rundlaufs übernahm wieder Delamayn die Führung. Einige Augenblicke liefen sie dicht nebeneinander. Dann kam Delamayn wieder zollweise voran und übernahm abermals die Führung. Der erste Ausbruch des Beifalls aus der Mitte der Anhänger des Südens ertönte, als der riesige Läufer, Fleetwood mit seiner eigenen Taktik schlug und ihn in dem kritischen Moment, wo die erste Hälfte des Wettlaufs beinahe ihr Ende erreichte, überholte.

»Es hat beinahe den Anschein, als ob Delamayn wirklich das Rennen gewinnen würde!« beinerkte Sir Patrick.

Der Arzt des Trainer’s vergaß sich einen Augenblick. Von der wachsenden Aufregung der ganzen Versammlung angesteckt, verrieth er die Wahrheit.

»Warten Sie noch ein wenig« sagte er. »Fleetwood hat seine Ordre, ihn vorbeizulassen Fleetwood wartet seine Zeit ab.«

»Sie sehen, Sir Patrick,« bemerkte Mr. Speedwell ruhig, »daß Schlauheit eines der Elemente männlicher Wettkämpfe bildet.«

Am Schluß des siebenten Rundlaufs zeigte Fleetwood, daß der Arzt Recht hatte. Wie ein vom Bogen abgeschossener Pfeil schnellte er an Delamayn vorüber. Am Schluß des achten Rundlaufs war er um zwei Yards voraus; jetzt war das Rennen zur Hälfte vorüber. Die dazu gebrauchte Zeit betrug zehn Minuten und dreiunddreißig Secunden.

Gegen Ende des neunten Rundlaufs ließ Fleetwood wieder ein wenig nach und Delamayn gewann wieder einen Vorsprung. Er behauptete die Führung bis zum Beginn des elften Rundlaufs In diesem Augenblick aber lief Fleetwood plötzlich mit einer triumphirenden Bewegung der erhobenen Hand und dem Ausruf »Hurrah für den Norden!« an Delamayn vorüber. Die Zuschauer wiederholten den Ruf. In dem Grade, wie sich die Wirkung des Laufes auf die Renner geltend zu machen anfing, stieg die Aufregung unter den Zuschauern.

Bei dem zwölften Rundlauf war Fleewood um sechsd Yards voraus. Triumpgeschrei ertönte aus der Mitte der Anhänger des Nordens und wurde durch herausfordernde Rufe des Südens erwidert. Beim nächsten Rundlauf bot Delamayn Alles auf, seinem Gegner wieder näher zu kommen. Beim Beginn des vierzehnten Rundlaufs liefen sie wieder nebeneinander her. Noch einige Yards weiter, und Delamayn war, unter einem Beifallsturmes der ganzen Versammlung, wieder voran. Einige Yards weiter aber, und Fleetwood kam ihm wieder ganz nahe, eilte an ihm vorüber, blieb wieder zurück, kam wieder voran und wurde am Ende des Rundlaufs wieder von Delamayn überholt. Die Aufregung der Zuschauer erreichte ihren höchsten Gipfel, als die Renner, nach Athem schnappend, mit dunkelrothen Gesichtern und keuchender Brust abwechselnd an einander vorübereilten. Hurrahrufen und Flüche wechselten in rascher Folge, Frauen erbleichten und Männer knirschten mit den Zähnen, als der vorletzte Rundlauf anfing.

Im Beginn desselben war Delamayn noch voraus. Aber, noch ehe sechs Yards weiter durchlaufen waren, zeigte es sich, warum Fleetwood sich bei dem vorigen Rundlauf hatte überholen lassen; zum ersten Mal lief er, so rasch er konnte, an seinem Gegner vorüber und electrisirte dadurch die ganze Versammlung. Jetzt wurde es für Jedermann klar, daß Fleetwood Delamayn absichtlich die Führung gelassen, daß er ihn geschickt verleitet hatte, seine ganze Kraft auszugeben und ihn nun erst ernstlich überholt hatte. Delamayn machte mit verzweifelter Entschlossenheit eine neue Anstrengung, die den Enthusiasmus der Versammlung bis zum Wahnsinn steigerte. Während die Stimmen der Menge gewaltig ertönten, während Hüte und Taschentücher auf allen Seiten in der Luft geschwungen wurden, und während der wirkliche Ausgang des Rennens noch für einen letzten Augenblick zweifelhaft war, stieß Mr. Speedwell Sir Patrick an.

»Machen Sie sich darauf gefaßt!« sagte er. »Es ist mit ihm vorbei.«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen als Delamayn schwankte, sein Trainer übergoß ihn mit Wasser. Er erholte sich, lief noch ein paar Schritte, schwankte dann wieder, stolperte, hielt sich die Hand mit einem heiseren Wuthschrei vor den Mund, biß sich wie ein wildes Thier in das eigene Fleisch und fiel besinnungslos zu Boden.

Ein ungeheures Gewirr von wild durch einander tönenden Rufen erscholl im nächsten Augenblick, indem sich die an einigen Stellen ausgestoßenen Rufe der Angst und Besorgniß mit dem Triumphgesehrei der Anhänger Fleetwood’s mischten, welcher leichten Schrittes weiter lief, um den nun unbestrittenen Sieg zu erringen. Nicht nur in den eingehegten Rau sondern sogar auf die Rennbahn drang die Menge ein. Inmitten des Tumults wurde der am Boden liegende Delamayn auf den Rasen gezogen, wo ihm Mr. Speedwell und der Arzt des Trainers ihren Beistand leisteten. In dem schrecklichen Augenblick, da der Arzt dem Bewußtlosen die Hand auf’s Herz legte, kam Fleetwood, für den seine Freunde und die Polizei einen Weg durch die Menge gebahnt hatten, auf seinem sechszehnten und letzten Rundlauf an der Stelle, wo Delamayn lag, vorüber. War der Besiegte nur ohnmächtig oder todt? Jedermann blickte in höchster Spannung auf die Hand des Arztes.

Der Arzt sah auf und rief nach Wasser und Branntewein zum Besprengen. Das Leben kehrte wieder, Geoffrey hatte das Rennen überlebt. Eben ertönte der letzte Beifallsruf, der Fleetwood’s Sieg begrüßte, als sie Delamayn vom Boden erhoben, um ihn nach dem Pavillon zu tragen. Sir Patrick war der einzige Fremde, dem auf Mr. Speedwell’s Ersuchen der Zutritt zu dem Pavillon gestattet wurde. In dem Augenblick, wo er die Stufen zu demselben hinauf stieg, berührte Jemand seinen Arm. Es war Capitain Newenden.

»Stehen die Doctoren für sein Leben ein?« fragte er. »Ich kann meine Nichte nicht bewegen, die Rennbahn zu verlassen, bis sie darüber beruhigt ist.«

Mr. Speedwell, der die Frage gehört hatte beantwortete sie kurz von der obersten Stufe aus mit den Worten:

»Für den Augenblick, ja.«

Der Capitain dankte ihm und ging wieder fort.

Sie traten in den Pavillon. Hier wurden die nöthigen Belebungsmittel sofort nach Mr. Speedwell’s Anweisung zur Anwendung gebracht.

Da lag der überwundene Athlet. Dem äußeren Ansehen nach eine ruhende, von Kraft strotzende Körpermasse, selbst nachdem sie zusammengebrochen noch ein gewaltiger Anblick, in Wahrheit in Allem, was die innere Lebenskraft begründet, ein schwächeres Geschöpf, als die Fliege die an der Fensterscheibe summte. Langsam flackerte das Lebenslicht wieder auf.

Die Sonne ging unter und die Abenddämmerung brach ein. Mr. Speedwell winkte Perry, ihm in einem Winkel des Zimmers zu folgen.

»In höchsteiis einer halben Stunde wird er hinreichend wieder hergestellt sein, um nach Hause gebracht werden zu können. Wo sind seine Freunde? Hat er nicht einen Bruder?«

»Sein Bruder ist in Schottland, Mr. Speedwell.« ——

»Und sein Vater?«

Perry kratzte sich den Kopf. »Nach Allem was ich hörte, Mr. Speedwell, steht er mit seinem Vater nicht auf dein besten Fuße.«

Mr. Speedwell wandte sich an Sir Patrick. »Wissen Sie irgend etwas von seinen Familienverhältnissen?«

»Sehr wenig, aber ich glaube, was der Mann Ihnen gesagt hat, ist wahr.«

»Lebt seine Mutter noch?«

»So will ich selbst an sie schreiben. Inzwischen muß Jemand ihn nach Hause bringen. Er hat ja eine Menge von Freunden hier, wo sind denn die?«

Bei diesen Worten sah er zum Fenster hinaus. Eine dichte Menschenmasse hatte sich vor dem Pavillon versammelt, um zu hören, wie es mit Delamayn stehe. Mr. Speedwell wies Perry an, hinaus zu gehen und zu sehen, ob er nicht unter den Versammelten ihm von Ansehen bekannte Freunde Delamayn’s finde. Perry zauderte und kratzte sich wieder den Kopf.

»Worauf warten Sie?« fragte Mr. Speedwell in scharfem Tone. »Sie kennen doch seine Freunde von Ansehen, nicht wahr?«

»Ich glaube nicht, daß ich sie draußen finden werde« erwiderte Perry.

»Warum denn nicht?«

»Sie haben doch auf ihn gewettet, Mr. Speedwell, und haben Alle verloren.«

Trotz dieses unwiderleglichen Grundes der Abwesenheit der Freunde Geoffrey’s bestand Mr. Speedwell ganz entschieden darauf, daß Perry hinaus gehen sollte, um in der Menge nach einem Freunde Delamayn’s zu suchen. Der Trainer ging und kehrte alsbald zurück, um zu berichten.

»Sie haben Recht, Mr. Speedwell. Es sind einige von seinen Freunden draußen, die ihn zu sehen wünschen.«

»Lassen Sie zwei oder drei von ihnen herein kommen.«

Es erschienen ihrer drei. Sie starrten Geoffrey an und gaben ihr Mitleid in kurzen, der Rennsprache entnommenen Ausrufen zu erkennen. Zu Mr. Speedwell sagten sie:

Was ist mit ihm los?«

»Seine Gesundheit ist tief erschüttert!«

»Ist er schlecht trainirt?«

»Die Schuld liegt an den athletischen Wettspielen«

»O, danke Ihnen. Guten Abend!«

Mr. Speedwell’s Antwort trieb sie fort, wie Hundegebell eine Heerde Schaafe. Sie ließen Mr. Speedwell nicht einmal Zeit, sie zu fragen, ob einer von ihnen Geoffrey nach Hause bringen wolle.

»Ich will schon für ihn sorgen, Mr. Speedwell«, sagte Perry. »Sie können sich aus mich verlassen.«

»Ich werde auch mit gehen«, fügte der Arzt des Trainers hinzu, »und mich überzeugen, daß er für die Nacht ordentlich versorgt ist.«

Die beiden einzigen Männer, die ihre Wetten dadurch sicher gestellt hatten, daß sie im Geheimen auch auf seinen Gegner gewettet hatten, waren auch die Einzigen die sich bereit erklärten, ihn nach Hause zu bringen.

Sie traten wieder an das Sopha heran, auf welchem er lag. Seine mit Blut unterlaufenen Augen rollten schwer und unsicher umher, wie wenn sie etwas suchten. Seine Blicke hefteten sich einen Augenblick auf den Arzt, kehrten sich aber dann wieder ab, richteten sich auf Mr. Speedwell und hafteten auf seinem Gesichte wie festgebannt.

Der Arzt beugte sich über ihn hin und fragte: »Was wünschen Sie?«

Er antwortete keuchend und mit schwerer Zunge ein Wort mühsame nach dem anderen herausbringend: »Muß —— ich —— sterben?«

»Ich hoffe es nicht.«

»Gewiß nicht?«

»Nein.«

Er blickte wieder um sich. Dieses Mal hafteten seine Blicke auf dem Trainer.

Perrh trat dicht an ihn heran. »Was kann ich für Sie thun, Mr. Delamayn?«

Langsam wie vorher antwortete er: »Meine —— Rock —— tasche.«

»Diese, Mr. Delamayn?«

»Nein.«

»Diese?«

Der Trainer fühlte in die Tasche hinein und zog das Wettbuch heraus.

»Was soll damit geschehen, Mr. Delamayn?«

»Lesen.«

Der Trainer öffnete das Tascbenbuch, und schlug die letzten beiden Seiten, auf denen Wetten eingetragen waren auf. Er drehte seinen Kopf ungeduldig auf dem Sophakissen hin und her. Es war klar, daß er sich noch nicht hinreichend wieder erholt hatte, um lesen zu können, was er geschrieben hatte.«

»Soll ich es für Sie lesen, Mr. Delamayn?«

»Ja.«

Der Trainer las hinter einander drei von den eingetragene Wetten aber keine davon war die rechte; sie waren alle erledigt. Bei der vierten rief der schwer Darniederliegende »Halt!« Das war die erste von den eingetragenen Wetten, deren Entscheidung noch von einem künftigen Ereigniß abhing. Die Notiz betraf jene in Windygates gemachte Wette, bei welcher Geoffrey der von dem Arzt geäußerten Ansicht zum Trotz, auf sich selbst gewettet hatte, daß er im nächsten Frühjahr an dem Universitätsrudern theilnehmen werde, und Arnold Brinkworth gezwungen hatte, gegen ihn zu wetten.

»Nun, Mr. Delamayn, was soll hier geschehen?«

Er sammelte mühsam seine Kräfte und antwortete dann mit großer Anstrengung, indem er, wie vorhin, Iangsam ein Wort nach dem andern hervorbrachte:

»Schreiben —— an Bruder —— Julius. —— Bezahlen, —— Arnold —— gewinnt.«

Er ließ die Hand, die er wie zu einer feierlichen Bekräftigung seiner Worte erhoben hatte, wieder sinken, schloß die Augen und versank in einen tiefen Schlaf.

Seien wir gerecht gegen ihn; wenn er auch ein Schurke war der furchtbare Augenblick, wo sein Leben an einem Faden hing, fand ihn treu gegen das Einzige was den Menschen seiner Gattung in unserer Zeit noch heilig ist: gegen die Verpflichtungen des Wettbuchs.

Sir Patrick und Mr. Speedwell verließen die Rennbahn zusammen, nachdem Geoffrey zuvor in seine in der Nähe befindliche Wohnung gebracht worden war. An der Eingangspforte trafen sie Arnold Brinkworth. Er hatte sich während des Rennens in der Menge verborgen gehalten und wollte jetzt allein wieder nach Hause gehen. Die kurze Trennung von Blanche hatte einen ganz andern Menschen ans ihm gemacht. Für die Zeit, die verfließen mußte, bis er seine Frau wiedersehen würde, hatte er sich von seinen Freunden nur die Gunst erbeten, daß man ihm gestatte, sein Schicksal auf seine Weise zu tragen und ihn sich selbst zu überlassen.

Sir Patrich der sich jetzt von dem drückenden Gefühl, das während des Rennens anf ihm gelastet und ihm Schweigen auferlegt hatte, befreit fand, richtete im Nachhausefahren eine Frage an den Arzt, die ihn von dem Augenblick an, wo Geoffrey beim Rennen unterlegen war, beschäftigt hatte.

»Es wird mir schwer«, sagte er, »die Besorgniß zu verstehen, die Sie im Betreff Delamayn’s äußerten als Sie fanden, daß er nur in Folge der Anstrengung ohnmächtig geworden sei. War denn die Sache mehr als eine gewöhnliche Ohnmacht?«

»Ich habe keinen Grund, es jetzt noch zu verheimlichen«, erwiderte Mr. Speedwell; »aber er war ganz nahe daran, einen Schlaganfall zu bekommen.«

»War es das, was Sie besorgten, als Sie damals in Windygates mit ihm sprachen?«

»Das war es, was ich in seinem Gesichte vorauszusehen glaubte, als ich ihn warnte. Ich hatte also bis zu einem gewissen Punkte Recht, unrichtig war meine Schätzung der noch in ihm vorhandenen Lebenskraft. Als er auf der Rennbahn zu Boden fiel, glaubte ich fest, er sei todt.«

»Ist es eine erbliche, paralytische Disposition? Die letzte Krankheit seines Vaters war ähnlicher Art.«

Mr. Speedwell lächelte. »Eine erbliche, paralytische Disposition?« widerholte er. »Dieser Mensch ist nach seiner körperlichen Anlage ein Phänomen von Gesundheit und Kraft —— und steht in der Blüthe seiner Jahre. Eine erbliche, paralytische Disposition hätte vielleicht in dreißig Jahren bei ihm zum Vorschein kommen können. Nur sein Rudern und Rennen während der letzten vier Jahre sind Schuld an dem heutigen Vorfall.«

Sir Patrick erlaubte sich die Bemerkung, Mr. Speedwell müsse diese seine Ansicht, der sein Name ein besonderes Gewicht verleihen werde, zur Warnung für Andere veröffentlichen.

»Das würde völlig vergeblich sein«, erwiderte Mr. Speedwell; »Delamayn ist nicht der Erste, der bei Wettläufen der verderblichen Ueberanstrengung der Lebensorgane erlegen ist. Aber das Publikum hat ein merkwürdiges Talent, diese Unfälle zu vergessen. Es würde sich vollkommen befriedigt erklären, wenn man ihm, als Entgegnung auf meine Bemerkungen, den andern, zufällig glücklich durchgekommenen Läufer vorhielte.«

Sir Patrick war noch immer mit Gedanken an Anne Silvester’s Zukunft beschäftigt. In dieser Ideenverbindung galt seine nächste Frage den Aussichten auf eine Wiederherstellung Geoffrey’s.

»Er wird nie wieder hergestellt werden«, erwiderte Mr. Speedwell; »ein Schlaganfall bedroht ihn beständig, wie ein Damokles-Schwert. Wie lange er noch leben wird, kann ich unmöglich sagen: viel hängt dabei von ihm selbst ab. Bei seiner Verfassung kann ihm jede neue Unvorsichtigkeit jede heftige Gemüthsbewegung aus der Stelle das Leben kosten.«

»Wird er sich«, fragte Sir Patrick«, »wenn nichts Besonderes dazu tritt, so weit wieder erholen, um das Bett verlassen und ausgehen zu können?«

»Gewiß.«

»Ich weiß, daß er für nächsten Sonnabend ein Engagement hat. Halten Sie es für wahrscheinlich, daß er im Stande sein wird, dasselbe einzuhalten?«

»Für ganz wahrscheinlich.«

Sir Patrick schwieg. Wieder sah er Anne’s Gesicht vor sich, wie sie in jenem denkwürdigen Augenblick vor ihm gestanden, als er ihr mittheilte, daß sie Geoffrey’s Frau sei.



Portland Place

Einundfünzigstes Kapitel - Eine schottische Heirath

Es war am Sonnabend, dem 3. October, dem Tage, an welchem die Behauptung, daß Arnold mit Anne Silvester verheirathet sei, bewiesen werden sollte.

Gegen zwei Uhr Nachmittags betraten Blanche und ihre Stiefmutter den Salon in Lady Lundies Stadthaus in Portland Place.

Seit dem vorigen Abend war das Wetter schlecht geworden. Der Regen, der früh am Morgen zu fallen angefangen hatte, dauerte noch immer fort. Von den Fenstern des Salons aus gesehen, bot Portland Place in seiner trostlosen Oede während der Saison morte den trübseligsten Anblick dar. An allen gegenüberliegenden Häusern waren die Läden geschlossen; auf der Straße lag der feuchte Schmutz zollhoch; der die Atmosphäre in kleinen schwarzen Flocken erfüllende Ruß mischte sich mit den herabfallenden Regentropfen und machte das schmutzige Dunkel des aufsteigenden Nebels noch dunkler. Nur selten unterbrach das Geräusch von Fußtritten und einzelnen vorüberfahrenden Wagen die tiefe, auf dem Platz, herrschende Stille. Selbst die Orgeldreher waren heute stumm und die Straßenhunde zu naß, um zu bellen. Wandte man das Auge von Lady Lundie’s Fenstern dem Innern des Salons zu, so war der Anblick, der sich hier darbot, wo möglich noch melancholischer, als der der Straße. Das Haus war während der Saison geschlossen; man hatte es nicht für nöthig gehalten, für den kurzen Aufenthalt Lady Lundie’s den bestehenden Zustand der Dinge zu ändern. Die Möbel waren mit Ueberzügen von einem trüben Braun bedeckt. Die Candelaber standen, von ungeheuren Säcken verhüllt, unsichtbar da. Die schweigenden Pendulen schliefen unter Glasdächern, die man vor zwei Monaten über sie gestülpt hatte. Auf den in den Ecken stehenden Tischen, die sonst mit Zierrathen aller Art beladen zu sein pflegten, stand jetzt nichts, als Papier, Feder und Tinte, die auf das hinwiesen, was»hier vor sich gehen sollte. Eine dumpfe Atmosphäre und eine dumpfe Stille erfüllten dass Haus. Ein einziger melancholisches Hausmädchen hauste oben in den Schlafzimmern wie ein Geist. Ein einziger melancholischer Diener, der dazu bestellt war die Besuchenden einzulassen, saß einsam in den unteren Regionen.

Lady Lundie und Blanche sprachen kein Wort mit einander. Sie harrten Beide, in Gedanken versunken, des Erscheinens der bei der bevorstehenden Untersuchung betheiligten Personen. Ihre Situation in diesem Augenblick war wie eine traurige Travestie der Situation zweier Damen, welche vor einer Sonne, die sie geben, ihre Gäste erwarten. Fühlte keine von Beiden das Tragikomische ihrer Lage? Oder fühlten sie es und wollten es sich nicht eingestehen. Wer scheute sich nicht in einer ähnlichen Situation, sich etwas der Art einzugestehen? es giebt der Gelegenheiten genug, wo wir die dringendste Veranlassung hätten zu lachen, obgleich uns die Thränen in den Augen stehen; aber nur Kinder haben in solchen Augenblicken den Muth, ihrem natürlichen Antrieb keinen Zwang anzuthun. Die beiden Frauen erwarteten das bevorstehende Gottesgericht in feierlicher Stimmung, wie der Ernst des Augenblicks es erfordern. Das Hausmädchen verrichtete oben schweigend, mit leisen Schritten ihre Arbeit, der Diener wartete regungslos und schweigend unten seines Amtes. Draußen lag die öde Straße wie eine Wüste; im Hause herrschte Grabesstille.

Die Kirchenglocken schlugen zwei Uhr.

In demselben Augenblick erschien die erste von den nicht im Hause wohnenden Personen, die bei der Untersuchung betheiligt waren.

Lady Lundie erwartete in würdiger Haltung das Eintreten des neuen Ankömmlings. Blanche fuhr zusammen und zitterte. War es Arnold? War es Anne?

Die Thiir öffnete sich und Blanche athmete auf. Der zuerst Eingetroffene war nur Lady Lundie’s Advocat, der auf ihre specielle Aufforderung erschien. Er gehörte zu jener großen Klasse von Menschen, deren juristische Thätigkeit in rein handwerksmäßigen Verrichtungen besteht, welche in einem fortgeschritteneren Zeitalter vermutlich durch Maschinen werden ersetzt werden. Er machte sich sofort nützlich, indem er die Tische und Stühle in der Art stellte, daß die streitenden Parteien von einander getrennt sitzen konnten. Zugleich bat er Lady Lundie dringend, nicht zu vergessen, daß er nichts vom schottischen Rechte verstehe, und daß er nur in der Eigenschaft eines Freundes hier sei. Nachdem er das gethan hatte, setzte er sich an’s Fenster und vertiefte sich schweigend in eine Betrachtung des Regens, als ob es sich hier um die Beobachtung eines nie gesehenen Naturschauspiels handele.

Das nächste Klopfen an der Hausthür verkündete einen von dem ersten wesentlich verschiedenen Ankömmling. Der melancholische Diener meldete Capitain Newenden.

War es aus Rücksicht für die feierliche Gelegenheit, oder war es um dem unfreundlichen Wetter Trotz zu bieten, kurz die Erscheinung des Capitain’s war jugendlicher denn je. Er war so geschminkt und auswattirt, so frisirt und angezogen, wie es der Absicht entsprach, das Ideal eines Mannes von fünfundzwanzig Jahren in blühender Gesundheit darzustellen. Mit anderen Worten: die Erscheinung bot das Bild eines Fünfunddreißigjährigen, mit der Prätension einen Fünfundzwanzigjährigen vorzustellen, während in Wahrheit ein Siebenzigjähriger dahinter versteckt war. Mit einer Rose im Knopfloch, einem zierlichen Spazierstöckchen in der Hand, heiter lächelnd, rosig, parfümirt, trat der Capitain raschen Schrittes ein und verbreitete eine freundlichere Atmosphäre in dem ganzen Zimmer. Sein Eintreten erweckte die angenehme Vorstellung eines zu einem Morgenbesuch erscheinendem unbeschäftigten jungen Dandys. Er schien etwas überrascht, Blanche auf dem Schauplatz des bevorstehenden Kampfes anwesend zu finden. Lady Lundie glaubte es sich selbst schuldig zu sein, diese Anwesenheit zu erklären. »Meine Stieftochter ist hier gegen meinen Rath und ungeachtet meiner dringenden Bitten. Es können hier Personen erscheinen, die sie nach meiner Ansicht schicklicher Weise nicht sehen sollte, es werden Enthüllungen gemacht werden, die keine junge Frau in ihrer Stellung mit anhören müßte. Aber sie hat darauf bestanden, Capitain Newenden, und ich habe ihr nachgeben müssen.«

Der Capitain zuckte die Achseln und zeigte seine schönen Zähne.

Blanche war viel zu sehr von dem Interesse an dem kommenden Gottesgericht hingenommen, um es der Mühe werth zu halten sich zu vertheidigen, sie sah aus, als hätte sie die Worte ihrer Stiefmutter gar nicht gehört. Der Advocat verharrte in der Beobachtung des interessanten Schauspiels des Regens. Lady Lundie erkundigte sich nach Mrs. Glenarm. Der Capitain erwiderte, die Angst und Besorgniß seiner Nichte sei so groß —— so groß —— so groß, er fand keinen Ausdruck und begnügte sich damit, seine ambrosischen Locken zu schütteln und sein zierliches Spazierstöckchen zu schwingen. Mrs. Delamayn sei bei ihr und habe versprochen, bei ihr zu bleiben, bis ihr Onkel mit der Nachricht von dem Ausgange der Verhandlung zurückkommen werde. Und wo war Julius? In Schottland durch Wahlgeschäfte zurückgehalten. Und Lord und Lady Holchester? Lord und Lady Holchester wußten nichts von der Sache.

Wieder klopfte es an die Hausthür. Blanche’s bleiches Gesicht wurde noch bleicher. War es Arnold? War es Anne? Nach einer längeren Pause als gewöhnlich meldete der Diener Mr. Geoffrey Delamayn und Mr. Moy.

Geoffrey, der zuerst langsam eintrat, grüßte die beiden Damen schweigend und nahm von den beiden anwesenden Herren keine Notiz. Der Londoner Advocat müssigte sich einen Augenblick von der Beobachtung des interessanten Naturschauspiels ab und deutete auf die für den neuen Ankömmling und seinen juristischen Rathgeber bestimmten Platze. Geoffrey setzte sich, ohne auch nur einen Blick auf das Zimmer zu werfen. Die Ellnbogen auf die Kniee gestützt, zeichnete er Figuren auf den Teppich mit seinem plumpen Knittel von Eichenholz. Sein gesenkter Blick und sein schlaff herabhängender Mund drückten stumpfe Gleichgültigkeit aus. Seine Niederlage beim Wettrennen und die dieselbe begleitenden Umstände schienen ihn noch träger und stumpfer als gewöhnlich gemacht zu haben; sonst ging nichts in ihm vor.

Capitain Newenden, der auf ihn zugehen wollte, um ihn anzureden, zauderte, besann sich eines Besseren, und wandte sich an Mr. Moy, Geoffrey’s juristischen Rathgcber.

Dieser, ein Schotte von raschem und freundlichem Wesen, kam dem Capitain höflich entgegen. Auf die Frage des Capitains theilte er ihm mit, daß die Zeugen Mrs. Inchbare und Bishopriggs unten im Zimmer der Haushälterin warteten, bis man ihrer bedürfen werde. Ihre Auffindung hatte nicht die mindeste Schwierigkeit gemacht. Mrs. Inchbare war selbstverständlich in ihrem Hotel gewesen, und Bishopriggs war, wie die angestellten Erkundigungen alsbald ergeben hatten, mit seiner früheren Prinzipalin ausgesöhnt und wieder in seine alte Stellung als Oberkellner im Gasthof eingetreten. Der Capitain und Mr. Moy setzten die so zwischen ihnen begonnene Unterhaltung behaglich und munter fort. Nur ihre Stimmen hörte man in der peinlichen Pause, die verfloß, bis sich wieder ein Klopfen an der Hausthür vernehmen ließ.

Endlich erfolgte dasselbe. Dieses Mal konnte es nicht zweifelhaft sein, wer die zu erwartenden Personen sein würden. Lady Lundie ergriff die Hand ihrer Stieftochter und hielt sie fest. Sie war nicht sicher, ob nicht Blanche’s erster Impuls sie zu einem unüberlegten Schritt verleiten würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben ließ Blanche ihre Hand bereitwillig in der ihrer Stiefmutter.

Die Thür öffnete sich und sie erschienen, Sir Patrick Lundie mit Anne am Arm voran, und Arnold Brinkworth hinter ihnen. Sir Patrick und Anne verneigten sich schweigend gegen die Versammelten. Lady Lundie erwiderte den Gruß ihres Schwagers sehr förmlich und ignorirte Anne’s Anwesenheit im Zimmer mit demonstrativer Absichtlichkeit. Blanche saß gesenkten Blickes da. Arnold ging mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Lady Lundie stand auf, wies ihn mit einer Handbewegung zurück und sagte in ihrem ruhigsten und unbarmherzigsten Tone: »Noch nicht, Mr. Brinkworth.«

Arnold nahm keine Notiz von ihr und sah seine Frau an, diese blickte ihn wieder an; ihre Augen füllten sich mit Thränen Arnold’s dunkle Hautfarbe wurde todtenbleich unter der Anstrengung, die es ihn kostete, sich zu beherrschen. »Ich will Dich nicht betrüben«, sagte er sanft und trat wieder an den Tisch zurück, an welchem Sir Patrick und Anne von den Uebrigen getrennt saßen.

Sir Patrick ergriff Arnold’s Hand und drückte sie zum Zeichen seiner Billigung.

Der einzige Anwesende, der keinerlei Antheil, selbst nicht als Zuschauer an dem nahm, was nach dem Erscheinen Sir Patrick’s und seiner Begleiter im Zimmer vorging, war Geoffrey. Die einzige an ihm bemerkbare Veränderung bestand in einem Wechsel dessen, was« er mit seinem Knittel vornahm. Anstatt Figuren auf den Teppich zu zeichnet schlug der Stock jetzt Tact; im Uebrigen saß er da, seinen schweren Kopf auf die Brust gesenkt, seine starken mächtigen Arme auf die Kniee gestützt, schon im voraus der Vorgänge die seiner warteten, überdrüssig.

Sir Patrick war der erste, der das Schweigen brach. Er wandte sich an seine Schwägerin mit den Worten: »Lady Lundie, sind alle Personen, die Sie heute hier erwarten, anwesend?«

Lady Lundie benutzte sofort die Gelegenheit, den in ihrem Herzen angesammelten Giftstoff auszuspritzen.

»Alle, die ich erwarte, sind hier«, antwortete sie, »und noch mehr als ich erwartete«, fügte sie mit einem Blick auf Anne hinzu.

Diese erwiderte den Blick nicht, sah ihn nicht einmal. Von dem Augenblick an, wo Anne ihren Platz neben Sir Patriek eingenommen hatte, ruhten ihre Augen auf Blanche. Sie veränderten sich nicht, sie verloren nicht einen Augenblick ihren Ausdruck zärtlicher Trauer, als die Frau, die sie haßte, sprach. Alles, was treu und schön in dieser edlen Natur war, schien eine hinreichende Ermuthigung in Blanche zu finden; als sie die Schwester der unvergessenen vergangenen Tage wieder erblickte, erschien auch die angebotene Schönheit des Ausdrucks wieder in ihrem ermatteten und erschöpften Gesicht. Alle im Zimmer anwesenden Männer außer Geoffrey sahen sie bei den Worten Lady Lundie’s an und Alle fühlten fiir sie.

Sir Patrick richtete eine zweite Frage an seine Schwägerin.

»Ist Jemand hier, der die Interessen des Mr. Geoffrey Delamayn vertritt?« fragte er.

Lady Lundie beantwortete die Frage durch den Hinweis auf Geoffrey selbst.

Ohne aufzusehen, deutete Geoffrey mit einer Bewegung seiner großen braunen Hand auf den neben ihm sitzenden Mr. Moy.

Mr. Moy stand auf und verneigte sich gegen Sir Patrick mit der Höflichkeit, die einem seiner Zeit als Advocat in Schottland so berühmten Manne gebührte.

»Ich vertrete Mr. Dalamayn«, sagte er, »ich wünsche mir Glück dazu, Sir Patrick, daß ich bei der Leitung der bevorstehenden Untersuchung an Ihre Geschicklichkeit und Erfahrung appelliren kann.«

Sir Patrick erwiderte artig Verbeugung und Compliment.«

»Im Gegentheil«, antwortete er, »ich hoffe von Ihnen zu lernen, ich habe Zeit gehabt, das zu vergessen, was ich früher gewußt habe, Mr. Moy.«

Lady Lundie sah bei diesem Austausch von Höflichkeitsbezeigungen zwischen Sir Patrick und Mr. Moy mit unverhohlener Ungeduld von Einem zum Andern. »Erlauben Sie mir, meine Herren, Sie an die peinliche Veranlassung zu erinnern, in der wir uns hier befinden, und gestatten Sie mir die Frage, wann Sie anzufangen beabsichtigen.«

Sir Patrick sah mit einem Blick der Aufforderung auf Mr. Moy, Mr. Moy seinerseits sah mit einem Blick der Aufforderung auf Sir Patrick; dann folgten wieder neue Complimente. Dieses Mal gab es einen höflichen Disput darüber, wer von den beiden gelehrten Herren zuerst das Wort ergreifen solle. Da Mr. Moy’s Bescheidenheit durchaus unerschütterlich war, so machte Sir Patrick dem Streit dadurch ein Ende, daß er das Verfahren eröffnete.

»Ich bin hier«, fing er an, »um im Interesse meines Freundes, Mr. Arnold Brinkworth, zu agiren. Ich bitte um die Erlaubniß, Ihnen Mr. Brinkworth als den Gatten meiner Nichte vorzustellen, mit der er am siebenten September dieses Jahres, in der St. Margarethen-Kirche im Kirchspiel Hawley in Kent getraut worden ist. Ich habe eine beglaubigte Abschrift des Trauscheins bei mir, falls Sie denselben zu sehen wünschen.«

Mr. Moy’s Bescheidenheit lehnte es ab, den Trauschein einzusehen.

»Ist durchaus nicht nöthig, Sir Patrick, ich gebe zu, daß eine Trauung an dem genannten Tage zwischen den genannten Personen stattgefunden hat, ich bestreite aber, daß die geschlossene Heirath eine gültige war. Ich behaupte im Interesse meines hier anwesenden Clienten Mr. Geoffrey Delamayn, daß Mr. Arnold Brinkworth sich bereits an einem früheren Tage, als am siebenten September dieses Jahres, nämlich am vierzehnten August dieses Jahres an einem Craig-Fernie genannten Ort in Schottland, verheirathet hat, mit einer Dame Namens Anne Silvester, die noch lebt und wie ich höre, in diesem Augenblick unter uns weilt.«

Sir Patrick stellte Anne vor. »Das ist die Dame, Mr. Moy.«

Mr. Moy verneigte sich und machte einen Vorschlag: »Sollen wir nicht, Sir Patrick, um unnöthige Formalitäten zu vermeiden, die Frage der Identität beiderseits als festgestellt betrachten?«

Sir Patrick stimmte seinem gelehrten Freunde bei. Lady Lundie öffnete und schloß ihren Fächer mit unverhohlener Ungeduld. Der Londoner Advocat that, als ob ihn die Sache lebhaft interessire. Capitain Newenden zog sein Taschentuch hervor und bediente sich desselben als eines Schirmes, hinter dem er nach Herzenslust gähnen konnte.

Sir Patrick nahm wieder auf. »Sie behaupten, daß eine frühere Ehe stattgefunden habe«, sagte er zu seinem Collegen, »es ist daher an Ihnen, zu beginnen.«

Mr. Mov warf einen Blick auf die um ihn her sitzenden Personen und begann.

»Der Zweck unserer Zusammenkunft ist, wenn ich mich nicht irre, ein zwiefacher; erstens hält eine Person, die ein specielles Interesse an dem Ausgange dieser Untersuchung hat, es für wünschenswerth«, —— dabei sah er den Capitain an, der plötzlich aufmerksam, wurde ——, »die Behauptung meines Clienten im Betreff der Heirath des Mr. Brinkworth bewiesen zu sehen. Zweitens wünschen wir Alle gleich sehr, wie verschiedener Ansicht wir auch sonst sein mögen diese formlose Untersuchung womöglich zu einem Mittel zu machen, die peinliche Oeffentlichkeit zu vermeiden, die ein Appell an einen Gerichtshof mit sich bringen würde.«

Bei diesen Worten spritzte der in Lady Lundie’s Herzen angesammelte Giftstoff unter der Hülle eines an Mr. Moy gerichteten Protstes eine zweite Ladung aus.

»Ich erlaube mir, Sie, Mr. Moy, im Interksse meiner Stieftochter darauf aufmerksam zu machen, daß wir die Oeffentlichkeit durchaus nicht zu scheuen haben. Wir wohnen dieser, wie Sie es nennen, formlosen Untersuchung bei, behalten uns aber unser Recht vor, die Angelegenheiten über die Mauern dieses Zimmers hinaus zu verfolgen. Ich rede augenblicklich nicht von der Möglichkeit des Mr. Brinkworth, sich von dem häßlichen Verdachte zu reinigen, der auf ihm und auf einer anderen hier anwesenden Person lastet, das wird sich später finden. Der uns zunächst obliegende Zweck ist —— soweit sich eine Frau ein Urtheil darüber erlauben darf —— das Recht meiner Stieftochter festzustellen, Mr. Brinkworth als ihren Mann zur Rechenschaft zu ziehen. Wenn das Ergebniß dieser Feststellung uns in dieser Beziehung nicht befriedigt, so werden wir keinen Anstand nehmen, uns an einen Gerichtshof zu wenden.« Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück, öffnete ihren Fächer und blickte um sich mit der Miene einer Frau, welche die Menschheit zum Zeugen aufruft, daß sie ihre Pflicht gethan habe. Ueber Blanches Gesicht zuckte ein schmerzlicher Zug, während ihre Stiefmutter sprach. Lady Lundie ergriff zum zweiten Male ihre Hand, aber dieses Mal zog Blanche sie entschlossen und mit einer sehr entschiedenen Bewegung zurück, welche Sir Patrick mit besonderem Interesse bemerkte.

Noch bevor Mr. Moy ein Wort erwidern konnte, lenkte Arnold die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, indem er plötzlich das Wort ergriff.

Blanche sah ihn an. Eine plötzliche Röthe überzog ihr Gesicht und verschwand alsbald wieder.

Sir Patrick entging auch dieser Wechsel der Farbe nicht und er beobachtete sie noch aufmerksamer als bisher.

Arnold’s Brief an seine Frau hatte mit Hilfe der Zeit den Einfluß Lady Lundie’s aus Blanche völlig erschüttert.

»Nach Dem, was Lady Lundie in Gegenwart meiner Frau ausgesprochen hat«, platzte Arnold in seiner offenen, jugendlichen Weise heraus, »wird es mir, denke ich, gestattet sein, auch meinerseits ein Wort zu sagen. Ich möchte nur erklären, wie es gekommen ist, daß ich überhaupt nach Craig-Fernie gegangen bin, und ich fordere Mr. Delamayn auf, meinen Angaben zu widersprechen, wenn er kann.«

Bei diesen letztens Worten erhob sich seine Stimme und seine Augen leuchteten vor Entrüstung, als er Geoffrey ansah.

Mr. Moy wandte sich wieder an seinen gelehrten Freund.

»Ich bescheide mich vor Ihrem bessern Urtheil, Sir Patrick, aber der Vorschlag dieses jungen Mannes scheint mir im gegenwärtigen Stadium des Verfahrens ein wenig unzeitig zu sein.«

»Verzeihen Sie«, antwortete Sir Patrick, »Sie selbst haben unsere Verhandlung als eine formlose Untersuchung charakterisirt; unter diesen Umständen möchte ich, Mr. Moy, Ihr besseres Urtheil vorbehalten, einen formlosen Vorschlag kaum als unzeitig bezeichnen Wie denken Sie darüber?«

Mr. Moty’s unerschöpfliche Bescheidenheit gab ohne Weiteres nach. Die Antwort Sir Patrick’s übte gleich beim Beginn der Untersuchung eine verwirrende Wirkung auf Mr. Moy. Ein Mann von Sir Patricks Erfahrung mußte ja wissen, daß Arnold’s bloße Behauptung seiner eigenen Unschuld zu nichts führen könne, als zu einer unnöthigen Verzögerung der Verhandlung, und doch sanctionirte Sir Patrick diese Verzögerung. Wartete er im Geheimen auf irgend eine zufälligen Umstand, der ihm dazu verhelfen könnte, einem Falle, den er selbst für verloren, halten mußte, ein besseres Ansehen zu geben?

Nachdem er die Erlaubniß erhalten hatte, zu reden, fuhr Arnold fort. Jedes seiner Worte trug das unverkennbare Gepräge der Wahrheit. Er erstattete einen wohl zusammenhängenden Bericht der Begebenheiten von dem Augenblicke an, wo Geoffrey auf dem Gartenfeste in Windygates sich seinen Beistand erbat, bis zu dem Augenblicke wo er den Gasthof in Craig-Fernie betreten hatte. Dann bat er um die Erlaubniß sich an Geoffrey mit der Aufforderung zu wenden, die Wahrheit seiner Worte zu bestätigen.

Sir Patrick setzte Mr. Moy in das höchste Erstaunen, als er auch diese Unregelmäßigkeit sanctionirte.

Arnold wandte sich kurz an Geoffrey: »Leugnen Sie, daß das, was ich gesagt habe, wahr ist?« fragte er.

Mr. Moy that seine Pflicht im Interesse seines Clienten »Sie sind nicht verpflichtet zu antworten«, sagte er, »wenn Sie es nicht selbst wünschen.«

Geoffrey erhob langsam seinen schweren Kopf und sah den Mann, den er verrathen hatte, an. »Ich leugne jedes Wort«, sagte er mit einer stumpfer Herausforderung in Ton und Wesen.

»Haben wir jetzt Behauptungen und Gegenhauptungen genug gehört, Sir Patrick?« fragte Mr. Moy mit unverminderter Höflichkeit.

Nachdem Sir Patrick zuvor Arnold nicht ohne Mühe genöthigt hatte, sich zu beherrschen, setzte er Mr. Moy in neues maßloses Erstaunen. Aus besonderen Gründen beschloß er den günstigen Eindruck, den Arnold ersichtlich auf seine Frau hervorgebracht hatte, noch bevor die Untersuchung weiter fortging, auszubeuten.

»Ich muß nochmals um Ihre Nachsicht bitten, Mr. Moy«, sagte er, »ich habe selbst jetzt noch nicht genug Behauptungen und Gegenbehauptungen gehört.«

Mr. Moy lehnte sich mit einem halb verwirrtem halb resignirten Ausdruck in seinen Sessel zurück. Entweder war die Geisteskraft seines Collegen im Annehmen, oder er hatte einen besonderen Zweck im Auge, der noch nicht zu erkennen war. Er fing an zu argwohnen, daß die richtige Lösung des Räthsels in der zweiten Alternative liege. Anstatt einen neuen Protest zu erheben, wartete und beobachtete er kluger Weise.

Sir Patrick schritt, ohne zu erröthen, von einer Unregelmäßigkeit zur andern vor. »Ich bitte um die Erlaubniß des »Mr. Moy«, sagte er, »noch einmal auf die, wie behauptet wird, am vierzehnten August stattgefundene Heirath zurückzukommen. Arnold Brinkworth, antworten Sie mir in Gegenwart der hier versammelten Personen. War bei Allem, was Sie während Ihres Aufenthaltes im Gasthofe sagten und thaten, Ihr einziges Augenmerk darauf gerichtet, Miß Silvester’s Lage so wenig peinlich wie möglich zu machen und die Ihnen von Mr. Geoffrey Delamayn ertheilte Instruction so gut wie möglich auszuführen? Ist das die volle Wahrheit?«

»Das ist die volle Wahrheit, Sir Patrick.«

»Hatten Sie nicht an dem Tage, wo Sie nach Craig-Fernie gingen, wenige Stunden vorher bei mir die Erlaubniß zur Heirath mit meiner Nichte nachgesucht?«

»Ich suchte um diese Erlaubniß nach, Sir Patrick, und Sie ertheilten sie mir.«

»Waren Sie von dem Augenblicke an, wo Sie den Gasthof betraten, bis zu dem Augenblicke, wo Sie denselben verließen, völlig frei von jeder Absicht, Miß Silvester zu heirathen?«

»Nicht der entfernteste Gedanke, Miß Silvester zu heirathen, kam mir jemals in den Sinn.«

»Und das erklären Sie auf Ihr Ehrenwort als Gentleman?«

»Auf mein Ehrenwort als Gentleman.«

Sir Patrick wandte sich an Sinne. »War es nothwendig, Miß Silvester, daß Sie am vierzehnten August dieses Jahres im Craig-Fernie-Gasthofe in der angenommenen Eigenschaft einer verheiratheten Frau auftraten?«

Zum ersten Mal wandte sich Anne von Blanche ab. Sie antwortete Sir Patrick ruhig, rasch und fest. Blanche hörte, Anne fest ansehend, mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

»Ich kam allein nach dem Gasthofe, Sir Patrick. Die Wirthin weigerte sich auf das Entschiedenste, mich aufzunehmen, wenn ich sie nicht vorher überzeugte, daß ich verheirathet sei.«

»Welches: von den beiden Herren erwarteten Sie im Gasthof, Mr. Arnold Brinkworth oder Mr. Geoffrey Delamayn?«

»Mr. Geoffreh Delamayn!«

»Als Mr. Arnold Brinkworth anstatt des Mr. Delamayn erschien und das sagte, was unerläßlich war, um die Skrupel der Wirthin zu beseitigen, war es Ihnen klar, daß er es nur in Ihrem Interesse thue, nur aus Güte und in Gemäßheit der Instruction des Mr. Delamayn?«

»Das war mir vollkommen klar und ich protestirte so entschieden wie möglich dagegen, daß Mr. Brintworth sich um meinetwillen in eine falsche Stellung bringe.«

»Lag Ihrem Proteste irgend eine Kenntniß des schottischen Rechtes und der Stellung zu Grunde, in welche die Eigenthümlichkeiten dieses Rechtes»Mr. Brinkworth versetzen könnten?«

»Ich hatte keine Kenntniß des schottischen Rechtes, ich hatte nur eine vage Abneigung und Furcht vor der Täuschung, welche Mr. Brinkworth gegen die Leute im Gasthofe übte und ich fürchtete, daß diese Täuschung zu einer Mißdeutung meiner Handlungen von Seiten einer Person, die ich zärtlich liebe, führen könnte.

»War diese Person meine Nichte?«

»Ja.«

»Baten Sie nicht Herrn Brinkworth, dessen Neigung zu meiner Nichte Sie kannten, in ihrem Namen und um ihretwillen Sie sich selbst zu überlassen?«

»Allerdings that ich das.«

»Er aber weigerte sich als Gentleman, der Versprochen hatte, eine Dame zu schützen in Abwesenheit einer Person, die Sie sicher erwartet hatten, Sie sich selbst zu überlassen?«

»Unglücklicherweise weigerte er sich aus diesen Gründen.«

»Vom ersten bis zum letzten Augenblick waren Sie völlig frei von jeder Absicht, Mk. Brinkworth zu heirathen?«

»Ich antworte, Sir Patrick, wie Mr. Brinkworth geantwortet hat; nicht der leiseste Gedanke an eine Heirath mit Mr. Brinkworth kam mir je in den Sinn.«

»Und die; erklären Sie auf Ihren Eid als Christin.«

»Auf meinen Eid als Christin.«

Sir Patrick sah Blanche an. Sie hatte ihr Gesicht mit den Händen bedeckt. Ihre Stiefmutter bat sie vergebens sich zu beruhigen.

Während der nun folgenden Pause legte sich Mr. Moy im Interesse seines Clienten in’s Mittel.

»Ich verzichte auf mein Recht, Sir Patrick, meinerseits irgend welche Fragen zu stellen; ich möchte nur Sie und die anwesenden Personen daran erinnern, daß Alles, was wir hier eben gehört haben, Behauptungen zweier Personen sind, die das stärkste Interesse daran haben, sich aus einer Lage zu befreien, welche sie beide auf das Verhängnißvollste compromittirt. Ich werde daran gehen, die Heirath, welche Sie leugnen, zu beweisen, nicht durch einseitige Behauptungen sondern durch Vorführung competenter Zeugen.«

Nach einer kurzen Berathung mit ihrem eigenen Advocaten schloß sich Lady Lundie Mr. Moy in noch stärkeren Ausdrücken an. »Ich möchte Sir Patrick, ehe Sie fortfahren, bestimmt erklären, daß ich meine Stieftochter von hier entfernen werde, wenn noch weitere Versuche gemacht werden sollten, ihre Gefühle zu verletzen und ihr Urtheil zu mißleiten. Mir fehlen die Worte, um meine Empfindung über diese höchst grausame und unangemessene Art, die Untersuchung zu leiten, auszudrücken.«

Der Londoner Advocat schloß sich ihr an, indem er seine berufsmäßige Zustimmung zu der Ansicht seiner Clientin aussprach. »Als juristischer Rathgeber Lady Lundie’s,« sagte er, »unterstütze ich den von ihr eben erhobenen Protest.«

Selbst Capitain Newenden schloß sich der allgemeinen Mißbilligung von Sir Patrick’s Benehmen an. »Hört, hört«, bemerkte der Capitain als der Advocat gesprochen hatte, »richtig, vollkommen richtig!«

Anscheinend völlig unempfänglich für jedes richtige Verständniß seiner Position, wandte sich Sir Patrick wieder an Mr. Moy, als ob nichts vorgefallen wäre.

»Wünschen Sie Ihre »Zeugen sofort zu produciren?« fragte er. »Ich würde nicht das Mindeste dagegen haben, vorausgesetzt daß es mir gestattet würde, auf das eben unterbrochene Verfahren zurückzukommen.« Moy überlegte. Sein Gegner, darüber konnte in diesem Augenblick kein Zweifel mehr obwalten, führte etwas im Schilde und hatte feine Karten noch nicht gezeigt.

Es« war für Mr. Moy von unmittelbar größerer Wichtigkeit, den Gegner dazu zu bringen, seine Karten zu zeigen, als auf seinen formellen Rechten und Privilegien zu bestehen. Nichts konnte die starke Stellung, in der sich Mr. Moy befand, erschüttern. Je länger die Unregelmäßigkeiten Sir Patricks das eigentliche Verfahren hinausschoben um so unwiderstehlicher mußten sich später die klaren Thatsachen mit aller Kraft des Widerspruchs aus dem Munde der Zeugen, die unten warteten, herauszustellen. Mr. Moy beschloß zu warten. »Indem ich mir mein Recht der Einwendung vorbehalte, Sir Patrick,« antwortete er, »bitte ich Sie fortzufahren.«

Zu Jedermanns Ueberraschung wandte sich Sir Patrick an Blanche, indem er die Ausdrücke, deren sich Lady Lundie gegen ihn bedient hatte, mit vollkommener Ruhe in Ton und Wesen wiederholte. »Du kennst mich hinlänglich, liebes Kind«, sagte er, »um zu wissen, daß ich unfähig bin, absichtlich Deine Gefühle zu verletzen oder Dein Urtheil zu mißleiten. Ich habe Dir eine Frage vorzulegen die Du ganz nach Belieben beantworten oder nicht beantworten kannst.«

Ehe er seine Frage stellen konnte, entspann sich ein kurzer Dispnt zwischen Lady Lundie und ihrem juristischen Rathgeber. Nachdem dieser Lady Lundie nicht ohne Mühe zum Schweigen gebracht hatte, legte er sich in’s Mittel. Er bat gleichfalls um die Erlaubniß, sich seine Rechte und Einwendungen, soweit seine Clientin in Betracht komme, vorzubehalten.

Sir Patrick gab durch ein Zeichen seine Zustimmung zu erkennen und stellte dann seine Fragen an Blanche. »Du hast gehört«, nahm er wieder auf, »was Arnold Brinkworth und Miß Silvester gesagt haben. Der Gatte der Dich liebt und die schwesterliche Freundin die Dich« liebt, haben ein Jeder eine feierliche Erklärung abgegeben; erinnere Dich Deiner früheren Erfahrungen über Beide, bedenke was sie soeben gesagt haben und nnn sage mir, glaubst Du, daß sie die Wahrheit gesprochen haben?«

Blanche antwortete auf der Stelle; »Ich glaube, lieber Onkel, daß sie die Wahrheit gesprochen haben.«

Beide Advocaten gaben ihre Einwendungen zu Protocoll.

Lady Lundie machte einen zweiten Versuch zu reden, wurde aber zum zweiten Mal zum Schweigen gebracht, dieses Mal nicht nur von ihrem eignen Rathgeber, sondern auch von Mr. Moy.

Sir Patrick fuhr fort: »Hast Du das geringste Bedenken gegen die vollständige Angemessenheit des Benehmens Deines Mannes und das Deiner Freundin, jetzt wo Du sie von Angesicht zu Angesicht gesehen und gehört hast?«

Blanche antwortete wieder mit derselben Raschheit, »Ich bitte sie um Vergebung, ich glaube, ich habe ihnen Beiden Unrecht gethan.« Sie sah erst ihren Mann, dann Anne an.

Arnold versuchte es, vom Stuhl aufzustehen. Sir Patrick hielt ihn mit Gewalt zurück. »Warten Sie«, flüsterte er ihm zu »Sie wissen nicht was noch kommt.« Nachdem er das gesagt, wandte er sich an Anne.

Blanche’s Blicke waren dem treuen Weibe, das sie Liebte, bis in’s Herz gedrungen.

Anne wandte ihr Gesicht ab. Die Thränen drangen durch die abgemagerten, schwachen Hände hindurch, die vergebens versuchten, sie zu verbergen.

Die förmlichen Einwendungen der Advocaten wurden abermals zu Protocoll genommen.

Sir Patrick wandte sich zum letzten Mal an seine Nichte. »Du glaubst, was Arnold Brinkworth und Miß Silvester gesagt haben? Du weißt, daß Beide während ihres Aufenthalts im Gasthofe nicht den leisesten Gedanken an eine Heirath hatten; Du weißt, daß, was auch in Zukunft geschehen möge, nicht die entfernteste Möglichkeit vorhanden ist, einer von Beiden werde anerkennen daß sie jemals Mann und Weib gewesen seien oder sein könnten. Genügt Dir das? Bist Du bereit, ehe diese Untersuchung ihren Fortgang nimmt die Hand Deines Gatten zu ergreifen, Dich wieder unter seinen Schutz zu begeben, mir das Uebrige zu überlassen und Dich mit meiner Versicherung zu begnügen, daß auf Grund der vorliegenden Thatsachen selbst nach schottischem Rechte, die ungeheuerliche Behauptung, daß eine Heirath in Craig-Ferttie stattgefunden habe, nicht bewiesen werden kann?«

Lady Lundie erhob sich, beide Advocaten standen erstaunt auf.

Arnold saß in Staunen versunken da. —— Geoffrey selbst, der bisher in stumpfer Theilnahmlosigkeit verharrt hatte, erhob plötzlich seinen Kopf mit einem Ausdruck des Staunens.

Inmitten des tiefen auf alle Anwesenden hervorgebrachten Eindruckes antwortete Blanche, von deren Entschluß der ganze fernere Verlauf der Untersuchung abhing, mit den Worten: »Ich weiß, Onkel, Du wirst mich nicht für undankbar halten; ich bin überzeugt, daß Arnold mir absichtlich kein Unrecht zugefügt hat, aber ich kann nicht zu ihm zurückkehren, bevor ich gewiß weiß, daß ich seine Frau bin!«

Lady Lundy umarmte ihre Stieftochter mit einem plötzlichen Ausbruch von Zärtlichkeit. »Mein liebes Kind«, rief sie im wärmsten Tone aus, »vortrefflich gesprochen, mein liebes, gutes Kind!«

Sir Patrick ließ den Kopf auf die Brust sinken. »O Blanche, Blanche!« hörte ihn Arnold vor sich hin flüstern, »wenn Du mußtest, wozu Du mich zwingst!«

Mr. Moh legte sein Wort zu Gunsten Blanche’s ein: »Ich muß«, sagte er, »auch meinerseits meine juristische Billigung des Verfahrens der jungen Dame aussprechen. Es war schwer, einen gefährlicheren Vergleich zu schließen, als der so eben vorgeschlagene.« Mit aller Achtung vor Sir Patrick Lundie muß ich doch erklären, daß seine Ansicht von der Unmöglichkeit, die Heirath in Craig-Fernie zu beweisen, der Bestätigung bedarf. Meine eigene juristische Ueberzeugung ist die entgegengesetzte; die Ansicht eines anderen schottischen Advocaten in Glasgow ist, wie ich bestimmt weiß, gleicher Weise die entgegengesetzte. Wenn die junge Dante nicht mit der Weisheit und dem Muthes gehandelt hätte, die ihr Ehre machten, so wäre sie der Gefahr ausgesetzt gewesen, im Laufe der Zeit ihren Ruf vernichtet und ihre Kinder für illegitim erklärt zu sehen. Wer kann wissen, ob nicht einmal künftig Umstände eintreten, welche Mr. Brinkworth oder Miß Silvester zwingen könnten, die Gültigkeit derselben Heirath, die sie jetzt leugnen, zu behaupten. Wer kann wissen, —— da es sich hier um Eigenthum handelt —— ob nicht erbberechtigte Verwandte im Laufe der Jahre Veranlassung nehmen möchten, die angeblich in Kent geschlossene Heirath in Zweifel zu ziehen? Ich muß bekennen, daß ich Sir Patrick um daß außerordentliche Selbstvertrauen beneide, welches ihm den Muth giebt, das, was er zu unternehmen sich bereit erttärt hat, auf seine persönliche Ansicht über einen unentschiedenen Rechtsfall hin zu wagen.«

Inmitten eines beifälligen Gemurmels setzte Mr. Moy sich nieder und warf seinem überwundenen Gegner einen verstohlen lauernden Blick zu.

»Wenn ihn das nicht dazu bringt, seine Karte zu zeigen«, dachte Mr. Moy, »so wir ihn nichts dazu bringen.«

Sir Patrick erhob langsam den Kopf. Der Ausdruck seines Gesichts zeigte bei dem, was er jetzt sagte, keinerlei Gereiztheit, sondern nur Trauer.

»Ich beabsichtige nicht, Mr. Moy«, sagte er in sanftem Tone, »den Rechtspunkt mit Ihnen zu erörtern. Ich Begreife, daß mein Verfahren mich nicht nur in Ihren, sondern auch in den Augen Anderer sonderbar und sogar tadelnswerth erscheinen läßt. Mein jugendlicher Freund hier wird Ihnen bestätigen,« —— dabei sah er Arnold an, —— »daß die Ansicht, welche Sie so eben im Betreff der mit diesem Falle verknüpften künftigen Gefahren ausgesprochen haben, auch die meinige war und daß ich bei meinem bisherigen Verfahren in directem Widerspruch mit dem Rathe gehandelt habe, den ich selbst vor noch nicht langer Zeit ertheilt habe. Erlassen Sie es mir, bitte, wenigstens für jetzt die Motive darzulegen, die mich von dem Augenblicke an, wo ich dieses Zimmer betreten, geleitet hatten. Ich befinde mithin einer beispiellos verantworlichen und unbeschreiblich traurigen Lage. Gestatten Sie mir das zu meiner Entschuldigung anzuführen, wenn ich zum letzten Mal um Ihre Nachsicht für die letzte Unregelmäßigkeit, deren ich mich in Betreff dieser Verhandlung schuldig machen werde,bitte.«

Lady Lundie blieb unempfänglich für die ungezierte und rührende Art, in der Sir Patrick gesprochen hatte. »Wir haben nun Unregelmäßigkeiten genug gehabt,« sagte sie kurz, »ich meinerseits widersetze mich weiteren Unregelmäßigkeiten.«

Sir Patrick wartete ruhig Mr. Moy’s Antwort ab.

Der schottische und der englische Advocat sahen einander an und verstanden sich. Mr. Moy antwortete in beider Namen. »Wir wollen Ihnen keinen andern Zwang auferlegen, Sir Patrick, als den, welchen Sie sich als Gentleman selbst aufzuerlegen für gut finden. Vorbehaltlich,« fügte der vorsichtige Schotte hinzu, »des schon früher reservirten Rechtes der unsererseits zu machenden Einwendungen.«

»Haben Sie etwas dagegen, daß ich mich an Ihren Clienten wende?« fragte Sir Patrick.

»An- Mr. Geoffrey Delamayn?«

»Ja.«

Aller Augen wandten sich auf Geoffrey. Allem Anscheine nach war er halb eingeschlafen, seine schweren Hände hingen bewegungslos über seine Kniee und sein Kinn ruhte auf dem krummen Griff seines Knittels.

Mr. Moy sah auf Anne, als Sir Patrick Geoffrey’s Namen nannte und bemerkte eine Veränderung in ihrem Gesicht. Sie zog ihre Hände von ihrem Gesicht zurück und wandte sich plötzlich an ihren Rathgeber. Wußte sie um den sorgfältig geheim gehaltenen Zweck des eigenthümlichen Verfahrens, das Sir Patrick vom ersten Augenblicke an eingeschlagen hatte? Aber Mr. Moy beschloß sich über diesen Zweifel Gewißheit zu verschaffen. Er forderte Sir Patrick mit einer Hauptbewegung auf fortzufahren.

Sir Patrick wandte sich an Geoffrey. »Sie sind bei dieser Untersuchung lebhaft interessirt,« sagte er, »und Sie haben bis jetzt keinen Antheil daran genommen, ich fordere Sie jetzt auf, auch Ihrerseits Antheil daran zu nehmen. Sehen Sie diese Dame an.«

Geoffrey rührte sich nicht. »Ich habe schon genug von ihr gesehen,« sagte er.

»Sie haben wohl Grund sich zu schämen, sie anzusehen,« erwiderte. Sir Patrick ruhig, »aber Sie hätten das in besseren Worten ausdrücken können. Erinnern Sie sich des vierzehnten August, leugnen Sie, daß Sie Miß Silvester versprochen hatten, sie im Craig-Fernie Gasthofe zu heirathen?«

»Ich muß mich dieser Frage widersetzen,« bemerkte Mr. Moy. »Mein Client ist in keiner Weise verpflichtet, sich zu verantworten.«

Geoffrey’s reizbares Temperament, das ihn gegen Alles empfindlich machte, ließ ihn auch die Einmischung seines Rathgebers übel aufnehmen. »Ich werde die Frage beantworten, wenn ich Lust habe,« erwiderte er in insolentem Tone. Ohne das Kinn von dem Griffe seines Stockes fortzubewegen, sah er Sir Patrick einen Augenblick an, dann senkte er den Blick wieder, und sagte: »Ich leugne es!«

»Sie leugnen, daß Sie versprochen haben, Miß Silvester zu heirathen?«

»Ja.«

»Ich forderte Sie eben auf sie anzusehen.«

»Und ich habe Ihnen gesagt, daß ich schon genug von ihr gesehen habe.«

»Sehen Sie mich an! Leugnen Sie in meiner und der hier anwesenden Personen Gegenwart, daß Sie dieser Dame hier, in Gemäßheit Ihres eigenen feierlich gegebenen Wortes, schulden, sie zu heirathen?«

Plötzlich erhob Geoffrey seinen Kopf, seine Augen wandten sich, nachdem sie nur einen Augenblick auf Sir Patrick geruht hatten, langsam von ihm ab und hefteten sich, indem sie zu leuchten anfingen, mit einem schauerlichen, tigerartigen Glanz auf Anne’s Gesicht. »Ich weiß, was ich ihr schulde«, sagte er. Dem verzehrenden Haß seines Blickes entsprach die wilde Rachsucht des Tones, mit dem er diese Worte sprach. Es war furchtbar ihn anzusehen und ihn zu hören.

Mr. Moy flüsterte ihm zu: »Nehmen Sie sich zusammen oder ich gebe Sie auf.«

Ohne zu antworten, ohne auch nur hinzuhören, erhob er eine seiner Hände und betrachtete sie mit unsicherm Blick. Er murmelte etwas vor sich hin und zählte die vor sich hingemurmelten Sätze an dreien seiner Finger ab. Wieder heftete er seine Blicke auf Anne mit demselben verzehrenden Haß und sprach, indem er sich diesmal direct an sie wandte, in demselben rachsüchtigen Ton: »Wenn Du nicht wärst, so wäre ich mit Mrs. Glenarm verheirathet; wenn Du nicht wärst, so stünde ich gut mit meinem Vater; wenn Du nicht wärst, so hätte ich das Wettrennen gewonnen. Ich weiß, was ich Dir schulde!« Seine schlaff herabhängenden Hände ballten sich im Verborgenen, sein Kopf sank wieder auf seine breite Brust, er sagte nichts weiter.

Keiner in der Versammlung rührte sich, keiner sprach ein Wort. Ein gemeinsames Gefühl des Grauens machte sie Alle sprachlos. Anne’s Blicke wandten sich wieder Blanche zu, ihr Muth hielt Sie selbst in diesem schrecklichen Augenblick aufrecht.

Sir Patrick stand auf. Die starke Gemüthsbewegnug, die er bis jetzt gewaltsam zurückgedrängt hatte, zeigte sich jetzt deutlich in dem Ausdruck seines Gesichts und in dem Klang seiner Stimme. »Folgen Sie mir gefälligst in das Nebenzimmer«, sagte er zu Anne. »Ich muß Sie augenblicklich sprechen!«

Ohne von dem Erstaunen, das seine Worte hervorriefen, oder von den Einwendungen seiner Schwägerin und des schottischen Advocaten die mindeste Notiz zu nehmen, reichte er Anne den Arm, öffnete die in’s Nebenzimmer führende Flügelthür, trat mit ihr hinein und schloß die Thür hinter sich. Lady Lundie wandte sich an ihren Advocaten. Blanche stand auf, that einige Schritte vorwärts und blieb, den Blick auf die Flügelthür gerichtet, in athemloser Spannung stehen. Arnold machte eine Bewegung, als wolle er seine Frau anreden. Der Capitain trat zu Mr. Moy.

»Was bedeutet das«?« fragte er.

Mr. Moy antwortete in großer Aufregung. »Es bedeutet, daß ich nicht gehörig instruirt worden bin. Sir Patrick Lundie ist offenbar im Besitz eines Beweismittels, das für Mr. Delamayn sehr compromittirend ist. Er hat bis jetzt Abstand genommen, davon Gebrauch zu machen, jetzt aber sieht er sich in die Nothwendigkeit versetzt, es zu produciren. Wie kommt es«, fragte der Advocat, indem er sich kurz und in strengem Ton an seinen Clienten wandte, »daß Sie mir davon nichts mitgetheilt haben?«

»Ich weiß nichts davon«, antwortete Geoffrey, ohne auch nur aufzusehen.

Lady Lundie gab Blanche ein Zeichen, an die Seite zu treten und ging selbst auf die Flügelthür zu. Mr. Moy hielt sie zurück.

»Ich möchte Ihnen rathen, Lady Lundie, sich zu gedulden Ein Einschreiten würde hier zu nichts führen.«

»Wie, Mr. Moy, darf ich in einem solchen Falle in meinem eigenen Hause nicht einschreiten?«

»Wenn mich nicht Alles täuscht, gnädige Frau, so gehen die Verhandlungen in Ihrem Hause ihrem Ende rasch entgegen. Wenn Sie in diesem Augenblick einschreiten, würden Sie gegen Ihr eigenes Interesse handeln. Lassen Sie uns endlich erfahren, woran wir sind.«

Lady Lundie fügte sich und kehrte auf ihren Platz zurück. Alle harrten schweigend der Wiederöffnung der Flügelthür.



Zweiundfünfzigstes Kapitel - Der Beweis

Sir Patrick Lundie und Anne Silvester befanden sich allein im anstoßenden Zimmer. Sir Patrick zog aus der Brusttasche seines Rocks das Blatt Briefpapier, welches Anne’s Brief und Geoffrey’s Antwort enthielt. Mit zitternder Hand hielt er es, mit zitternder Stimme sagte er:

»Ich habe Alles gethan, was ich thun konnte. Ich habe nichts unversucht gelassen, der Nothwendigkeit vorzubeugen, dieses Blatt Papier produciren zu müssen.«

»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Güte, Sir Patrick, aber Sie müssen es jetzt produciren.«

Die Ruhe mit der Anne diese Worte sprach, bildete einen merkwürdigen und ergreifenden Contrast gegen die Aufregung des alten Herrn.

Mit fester Stimme und ohne das leiseste Zeichen eines Bedenkens im Ausdruck ihres Gesichts, gab sie diese Antwort. Er ergriff ihre Hand. Zweimal versuchte er es, zu reden, aber beide Male übermannte ihn seine Aufregung. Schweigend bot er ihr den Brief an. Schweigend wies sie denselben zurück, ohne zu wissen, was er meine.

»Nehmen Sie den Brief wieder zu sich,« sagte er. »Ich kann ihn nicht produciren! Ich darf es nicht! Nach dem, was ich im Nebenzimmer mit meinen eigenen Augen gesehen und mit meinen eigenen Ohren gehört habe, darf ich, so wahr mir Gott helfe, nicht von Ihnen verlangen, daß Sie sich für Geoffrey Delamayn’s Weib erklären!«

Ihre ganze Antwort bestand in einem einzigen Worte: »Blanche!«

»Er schüttelte ungeduldig den Kopf.

»Selbst nicht in Blanche’s Interesse! Selbst nicht um Blanche’s willen! Wenn eine Gefahr damit verbunden ist, so bin ich bereit, sie zu laufen. Ich beharre bei meiner persönlichen Ansicht. Ich halte meine Auffassung der Sache für die richtige. Mag es zu einer gerichtlichen Verhandlung kommen! Ich will selbst den Prozeß führen und will ihn gewinnen.«

»Sind Sie sicher, ihn zu gewinnen, Sir Patrick?«

Statt ihr zu antworten, suchte er ihr auf’s Neue den Brief aufzudrängen.«

»Vernichten Sie den Brief« flüsterte er, »und verlassen Sie sich darauf, daß ich schweigen werde.«

Sie nahm ihm den Brief ab.

»Vernichten Sie ihn«, wiederholte er. »Jeden Augenblick kann die Thür geöffnet werden, können die Drinnensitzenden den Brief in Ihrer Hand sehen.«

»Bevor ich ihn vernichte, muß ich Sie etwas fragen, Sir Patrick. Blanche weigert sich, zu ihrem Gatten zurückzukehren, so lange sie nicht mit der vollen Gewißheit, wirklich seine rechtmäßige Frau zu sein, zu ihm zurückkehren kann. Wenn ich diesen Brief producire, so kann sie sich noch heute wieder mit ihm vereinigen. Wenn ich mich für Geoffrey Delamayn’s Frau erkläre, so reinige ich Arnold Brinkworth sofort und für immer von jedem Verdacht, mit mir verheirathet zu sein. Können Sie ihn auf irgend eine andere Weise eben so sicher und wirksam von diesem Verdachte reinigen? Beantworten Sie mir diese Frage als Mann von Ehre, der einem Weibe gegenüber steht, das volles Vertrauen zu ihm hat!«

Sie sah ihm scharf ins Gesicht. Er senkte die Augen vor ihren Blicken und schwieg.

»Sie haben mir geantwortet«, sagte sie. Mit diesen Worten schritt sie an ihm vorüber und legte die Hand auf den Thürgriff. Er hielt sie zurück. Mit Thränen in den Augen zog er sie sanft an sich.

»Warum sollen wir noch länger warten?« fragte sie.

»Warten Sie noch, mir zu Liebe«, antwortete er.

Sie setzte sich ruhig auf den nächst stehenden Sessel und stützte den Kopf nachdenklich auf die Hand.

Er beugte sich über sie und suchte sie ungeduldig, fast zornig, aus ihrer Träumerei zu reißen. Die feste Entschlossenheit in dem Ausdruck ihres Gesichts war ihm entsetzlich, wenn er an den Mann in dem anstoßenden Zimmer dachte.

»Lassen Sie sich Zeit zur Ueberlegung«, bat er. »Lassen Sie sich nicht von Ihrem ersten Impuls hinreißen. Handeln Sie nicht in einer Aufregung, die Sie mißleiten kann. Nichts zwingt Sie zu diesem schrecklichen Selbstopfer.«

»Aufregung! Opfer!« wiederholte sie mit traurigem Lächeln. »Wissen Sie, Sir Patrick, woran ich eben dachte? An alte Zeiten, an die Tage meiner Kindheit. Ich habe das Leben früher als die meisten Kinder von seiner trüben Seite kennen gelernt. Meine Mutter wurde von ihrem Gatten grausam verlassen. Die harten Ehegesetze dieses Landes trafen sie noch härter als mich. Sie starb an gebrochenem Herzen. Aber eine Freundin stand ihr in ihrem letzten Augenblick tröstend zur Seite und versprach ihr, ihrem Kinde eine Mutter zu sein. Ich erinnere mich keines einzigen unglücklichen Tages während der ganzen Zeit, die ich dann bei dieser treuen Freundin und ihrer kleinen Tochter verlebte, bis zu dem Tage, der uns trennte. Sie reiste mit ihrem Gatten fort und ließ mich und ihre kleine Tochter zurück. Die letzten Worte, die sie vor ihrer Abreise sprach, waren an mich gerichtet. Ihr Herz war ihr schwer von Todesahnungen. »Ich versprach Deiner Mutter«, sagte sie, »Dich wie mein eigenes Kind zu halten, und das beruhigte sie. Beruhige Du nun auch mich, Anne, bevor ich abreise. Was auch die Zukunft bringen möge, versprich mir, immer zu bleiben, was Du jetzt bist, eine Schwester für Blanche.« Können Sie das Verweilen bei solchen alten Erinnerungen eine mißleitende Aufregung nennen, Sir Patrick? Und wie kann irgend etwas, was ich für Blanche thue, ein Opfer sein?«

Sie stand auf und reichte ihm die Hand. Sir Patrick ergriff dieselbe und führte sie schweigend an die Lippen.

»Kommen Sie!« sagte sie. »Um unser Beider willen, lassen Sie uns nicht länger hier bleiben.«

Er wandte sein Gesicht ab. Es war nicht der Augenblick, sie merken zu lassen, daß sie seine Mannheit vollständig erschüttert hatte. Sie wartete auf ihn, die Hand auf dem Thürgriff. Er raffte sich wieder auf und zwang sich, der grauenvollen Situation ruhig in’s Gesicht zu sehen. Sie öffnete die Thür und trat ihm voran wieder in das andere Zimmer.

Tiefes Schweigen herrschte im Zimmer, als Sir Patrick und Anne wieder auf ihre Plätze zurückkehrten. Das Geräusch eines auf der Straße vorüberfahrenden Wagens machte sich peinlich vernehmbar. Bei dem zufälligen Auf- und Zugehen einer Thür im Hause fuhren Alle zusammen. Anne’s sanfte Stimme unterbrach die unheimliche Stille.

»Muß ich selbst für mich das Wort ergreifen, Sir Patrick? Oder wollen Sie, daß ich Sie als eine letzte und größte Gunst darum ersuche, für mich zu reden?«

»Bestehen Sie darauf, sich auf den Brief, den Sie in Händen haben, zu berufen?«

»Ich bin entschlossen, mich darauf zu berufen.«

»Kann Sie nichts bewegen, den Schluß dieser Untersuchung, soweit Sie dabei betheiligt sind, um vierundzwanzig Stunden zu verschieben?«

»Sie oder ich, Sir Patrick, einer von uns Beiden muß, ehe wir dieses Zimmer verlassen sagen und thun, was gesagt und gethan werden muß.«

»Dann geben Sie mir gefälligst den Brief.«

»Sie reichte ihm denselben. Mr. Moy flüsterte seinem Clienten zu: »Wissen Sie etwas von diesem Brief?« Geoffrey schüttelte den Kopf. »Erinnern Sie sich desselben wirklich gar nicht?« Geoffrey’s ganze Antwort bestand in dem einen verdrossen hingeworfenen Wort: »Nein!«

Sir Patrick wandte sich nun an die ganze Versammlung mit den Worten: »Ich habe Sie um Verzeihung dafür zu bitten, daß ich so plötzlich das Zimmer verlassen und Miß Silvester veranlaßt habe, mir zu folgen. Alle Anwesenden, mit Ausnahme dieses Mannes« —— dabei deutete er auf Geoffrey —— »werden mir, glaub’ ich, verzeihen und mich verstehen, wenn ich jetzt nothgedrungen mein auffallendes Benehmen auf das Bündigste und Erschöpfendste erklären werde. Ich werde diese Erklärung aus Gründen, die sich alsbald offenbaren werden, an meine Nichte richten.«

Blanche fuhr zusammen. »An mich!« rief sie aus.

»An Dich«, antwortete Sir Patrick.

Blanche richtete ihren Blick im Vorgefühle einer wichtigen Enthüllung auf Arnold. Der Brief, den sie unmittelbar, nachdem sie Ham-Farm verlassen, von Arnold erhalten, hatte nothwendiger Weise Anspielungen auf ein zwischen Geoffrey und Anne bestehendes Verhältniß enthalten müssen, von welchem Blanche bis dahin nichts gewußt hatte. Sollte jetzt vielleicht auf dieses Verhältnis; Bezug genommen werden? Stand noch eine Enthüllung bevor, auf welche sie Arnold’s Brief noch nicht vorbereitet hatte?

Sie Patrick fuhr gegen Blanche gerichtet fort: »Vorhin habe ich Dir vorgeschlagen Dich wieder unter den Schutz Deines Gatten zu begeben und mir die Erledigung dieser Angelegenheiten zu überlassen. Du hast Dich geweigert, zu ihm zurückzukehren, wenn Du nicht zuvor die volle Gewißheit erlangt haben werdest, daß Du seine rechtmäßige Frau seiest. Dank einem von Miß Silvester Deinem Interesse und Deinem Glück gebrachten Opfer, —— von welchem ich, wie ich Dir offen bekenne, sie, soviel in meiner Macht stand, zurückzuhalten versucht habe, —— befinde ich mich in der Lage, den positiven Beweis zu erbringen, daß Arnold Brinkworth ein unverheiratheter Mann war, als er Dich auf meinem Landsitz in Kent heirathete.

Die Erfahrungen des Mr. Moy ließen ihn vorhersehen, was jetzt folgen werde. Er deutete auf den Brief in Sir Patricks Hand.

»Sind Sie gemeint, ein Heirathsversprechen geltend zu machen?« fragte er.

Sir Patricks Antwort bestand in einer seinerseits an Mr. Moy gerichteten Frage.

»Erinnern Sie sich der berühmten Entscheidung des Gerichtshofes von Doctor Commons, welche die Gültigkeit der Ehe zwischen Capitain Dalrymple und Miß Gordon feststellte?«

Mr. Moy genügte diese Antwort. »Ich verstehe Sie, Sir Patrick,« sagte er, —— »und,« fuhr er nach einer kurzen Pause gegen Anne gewendet fort, »und Ihnen, verehrte Frau, kann ich es mir nicht versagen, meine höchste Achtung zu bezeugen.« Er sprach diese Worte in einem so aufrichtig von Herzen kommenden Ton, daß das Interesse der übrigen Anwesenden, die noch nicht klar in der Sache sahen, auf das Höchste gespannt wurde. Lady Lundie und Capitain Newenden flüsterten in großer Aufregung mit einander. Arnold wurde bleich. Blanche brach in Thränen aus.

Sir Patrick wandte sich wieder an seine Nichte mit den Worten: »Vor Kurzem hatte ich Veranlassung, mit Dir von der scandalösen Unsicherheit der schottischen Ehegesetze zu sprechen. Wenn diese in allen andern civilisirten Ländern Europas unerhörte Unsicherheit nicht existirte, würde Arnold Brinkworth niemals in die Lage gerathen sein, in der er sich gegenwärtig befindet, und würden unsere gegenwärtigen Verhandlungen niemals stattgefunden haben. Bleibe dieser Thatsache wohl eingedenk. Dieselbe ist nicht nur für das bereits angerichtete Unheil, sondern auch für die noch viel schlimmeren Dinge verantwortlich, die uns noch bevorstehen.«

Mr. Moy machte sich eine Notiz. Sir Patrick fuhr fort: »So unsicher und unzuverlässig aber auch das schottische Recht ist, so giebt es doch einen Fall, in welchem die Auslegung der schottischen Gesetze durch die englischen Gerichte übereinstimmend festgestellt worden ist. Ein schriftliches, zwischen einem Mann und einem Weibe in Schottland ausgetauschtes Heirathsversprechen begründet nach schottischen Rechte eine gültige Ehe zwischen den betreffenden Personen. Ein englischer Gerichtshof hat in seinem Erkenntniß über den eben von mir gegen Mr. Moy erwähnten Fall diese Bestimmung des schottischen Rechts für unzweifelhaft erklärt, und diese Entscheidung ist seitdem von der höchsten Instanz, dem Oberhause, bestätigt worden. In allen Fällen, wo in Schottland wohnende Personen sich schriftlich die Ehe versprochen haben, ist die Gültigkeit der zwischen ihnen bestehenden Ehe daher jetzt nicht mehr zweifelhaft. Solche Personen sind nach dein Gesetz gewiß und wahrhaftig Mann und Weib.« Gegen Mr. Moy gewandt, fragte er: »Habe ich Recht?«

»Vollkommen Recht, Sir Patrick, was die von Ihnen angeführten Thatsachen anlangt. Ich muß jedoch bekennen, daß Ihre zu denselben gemachten Bemerkungen mich überraschen. Ich habe die höchste Meinung von unserem schottischen Eherecht. Ein Mann, der ein Frauenzimmer durch ein Heirathsversprechen verführt that, ist nach diesem Rechte im Interesse der öffentlichen Sittlichkeit genöthigt, dieses Frauenzimmer als seine Ehefrau anzuerkennen!«

»Die hier Anwesenden«, erwiderte Sir Patrick, »werden sogleich in der Lage sein, den moralischen Werth des schottischen von England anerkannten Rechts an einem bestimmten Fall zu ermessen. Sie werden selbst die Bedeutung einer —— schottischen oder englischen —— Sittlichkeit beurtheilen können, welche erst ein verlassenes Weib dem Schurken, der sie verführt hat, wieder aufdrängt und dann dieses Weib die Folgen eines gesetzlichen Zwanges tragen läßt.«

Bei diesen Worten wandte er sich gegen Anne und zeigte ihr den Brief, den er offen in der Hand hielt. »Zum letzten Mal frage ich, bestehen Sie darauf, daß ich mich auf dieses Schriftstück berufe?«

Sie stand auf und machte eine feierlich bejahende Kopfbewegung.

Darauf sprach Sir Patrick: »Es ist meine traurige Pflicht, in dem Namen dieser Dame zu erklären, daß sie auf Grund von zwischen den seiner Zeit in Schottland wohnenden Betheiligten ausgetauschten Eheversprechen, den Anspruch erhebt, seit dem Nachmittage des vierzehnten August dieses Jahres die Ehefrau des Mr. Geoffrey Delamayn zu sein.«

Ein Schrei des Entsetzens aus dem Munde Blanche’s und ein leises verworrenes, ängstliches Gemurmel aller Uebrigen folgte diesen Worten Sir Patrick’s. Es entstand eine Pause. Darauf stand Geoffrey langsam auf und heftete seine Blicke auf das Weib, das diesen Anspruch gegen ihn geltend machte. Die Zuschauer dieser schrecklichen Scene richteten ihre Blicke alle auf das unglückliche Weib. Allen war der Blick, den er ihr vorhin zugeworfen, und die Worte, die er an sie gerichtet hatte, noch in frischem Gedächtniß. Sie stand ruhig abwartend neben Sir Patrick, während ihre sanften grauen Augen mit traurigen zärtlichen Blicken auf Blanche ruhten. Diesem unvergleichlichen, entsagenden Muth gegenüber mochten die Anwesenden sich fragen, ob sie wirklich noch kurz zuvor die Zeugen jenes schrecklichen Auftritts gewesen seien. Sie mußten den Mann wieder ansehen, um sich zu überzeugen, daß sie nicht geträumt hatten. Der Triumph des Gesetzes und der Sittlichkeit über ihn war vollkommen. Schweigend stand er da. Sein leidenschaftliches Temperament schien unheimlich in Schranken gehalten zu werden. Mit dem teuflischen Ausdruck einer unbarmherzigen Rache auf seinem Gesicht heftete er seine Blicke fest auf das verhaßte Weib, das er zu Grunde gerichtet hatte, auf das verhaßte Weib, das ihm nun als seine Ehefrau aufgedrängt wurde.

Sein Advocat trat an den Tisch, an welchem Sir Patrick saß; dieser reichte ihm den Briefbogen. Mr. Moy las die beiden in demselben enthaltenen Briefe bedächtig mit gespanntester Aufmerksamkeit durch. Die Augenblicke, die so vergingen, bis er seine Augen wieder von dem Blatt Papier erhob, erschienen den Anwesenden wie Stunden. »Können Sie die Identität der Handschriften und die Thatsache des Aufenthalts in Schottland beweisen?« fragte er.

Sir Patrick nahm ein zweites vor ihm liegendes Stück Papier zur Hand.

»Hier stehen die Namen der Personen, welche die Identität der Handschriften und die Thatsache des Aufenthalts beweisen können«, er widerte er. »Einer von Ihren beiden unten wartenden und sonst überflüssigen Zeugen kann die Stunde, zu welcher Mr. Brinkworth in dem Gasthof eintraf, genau angeben, und kann so beweisen, daß die Dame, nach welcher Mr. Brinkworth fragte, zu jener Stunde bereits Mrs. Geoffrey Delamayn war. Die Notiz auf dem Rücken des Briefbogens, die sich gleichfalls auf die Zeitfrage bezieht, rührt von der Hand eben desselben Zeugen her, wie Sie sich vergewissern können, wenn Sie ihn gefälligst darüber befragen wollen.«

»Ich werde der Form wegen die von Ihnen angegebenen Zeugen vernehmen, Sir Patrick. Inzwischen fühle ich mich, ohne nutzloser und vexatorischer Weise einen Aufschub in Anspruch zu nehmen, zu der Erklärung verpflichtet, daß ich mich der Evidenz des Beweises einer wirklich stattgehabten Ehe nicht verschließen kann.«

Nach dieser Antwort wandte er sich mit dem unverkennbaren Ausdruck der Hochachtung und der Sympathie an Anne.

»Sie erheben«, fragte er, »auf Grund des schriftlichen in Schottland zwischen Ihnen ausgetauschten Eheversprechens den Anspruch, die Ehefrau des Mr. Geoffrey Delamayn zu sein?«

Sie wiederholte mit festem Ton seine Worte: »Ich erhebe den Anspruch, die Ehefrau des Mr. Geoffrey Delamayn zu sein.«

Mr. Moy wandte sich an seinen Clienten. Endlich brach dieser sein Schweigen. »Ist die Sache in Ordnung?« fragte er.

»Vollkommen!«

»Hat das schottische Gesetz«, fuhr er, den Blick noch immer fest auf Anne gerichtet, fort, »sie zu meiner Frau gemacht?«

»Das schottische Gesetz hat sie zu Ihrer Frau gemacht.«

Geoffrey that eine dritte und letzte Frage: »Heißt das Gesetz sie ihrem Manne überall hin folgen?«

»Ja.«

Er lachte roh in sich hinein und winkte sie zu sich heran.

Sie gehorchte. Bei dem ersten Schritt, mit dem sie sich näherte, ergriff Sir Patrick ihre Hand und flüsterte ihr zu: »Verlassen Sie sich auf mich.« Sie drückte seine Hand sanft, zum Zeichen, daß sie ihn verstanden hatte und trat auf Geoffrey zu.

In demselben Augenblick stürzte sich Blanche zwischen und schloß Anne stürmisch in ihre Arme. »O Anne, Anne!« ein Strom von Thränen erstickte ihre Stimme.

Anne machte sich sanft von ihrer Umarmung los, hob sanft den Kopf, der hülflos an ihrer Brust lehnte, empor und sagte: »Es werden noch glücklichere Tage kommen, theure Blanche; denke nicht an mich!« Sie küßte sie, sah sie an, küßte sie wieder und legte sie ihrem Gatten in die Arme.

Arnold erinnerte sich ihrer Abschiedsworte in Craig-Fernie, als sie sich einander gute Nacht gewünscht hatten. »Sie haben sich keine Undankbare zur Freundin gemacht, vielleicht kommt noch einmal der Tag, wo ich es werde beweisen können«. —— Dankbarkeit und Bewunderung rangen in ihm miteinander, welche von beiden sich zuerst kundgeben sollte, und machten ihn sprachlos.

Sanft senkte sie den Kopf, zum Zeichen daß sie ihn verstanden, dann ging sie weiter, bis sie dicht vor Geoffrey, stand. »Hier bin ich!« sagte sie, »was soll ich thun?«

Ein widerwärtiges Lächeln umspielte seine Lippen. Er reichte ihr seinen Arm. »Mrs. Geoffrey Delamayn«, sagte er, »kommen Sie mit mir nach Hause.«

Das Bild des einsamen, hinter hohen Mauern gelegenen Hauses, die einer üblen Vorbedeutung gleichende Gestalt des stummen Weibes mit dem steinernen Blicke und den wilden Geberden, die ganze Scene, wie Anne sie erst am Tage vorher geschildert hatte, stieg vor Sir Patricks innerem Auge lebendig auf. »Nein« rief er, hingerissen von dem edlen Impuls des Moments, »es soll nicht sein!«

Geoffrey stand unbeweglich da, mit seinem dargereichten Arm wartend.

Blaß und entschlossen erhob Anne ihren edlen Kopf, raffte den Muth, der sie einen Augenblick zu verlassen gedroht hatte, zusammen und ergriff den Arm. Er führte sie an die Thür.

»Lassen Sie Blanche nichts für mich fürchten«, sagte sie einfach zu Arnold, als sie an ihr vorübergingen. Dann kamen sie an Sir Patrick vorüber. Noch einmal ließ ihn seine Sympathie für sie über jede andere Rücksicht hinwegsetzen. Er sprang auf, um Geoffrey den Weg zu versperren.

Geoffrey hielt inne und sah zum ersten Male Sir Patrick in’s Gesicht. »Das Gesetz heißt sie ihrem Gatten folgen«, sagte er, »das Gesetz verbietet Ihnen, Mann und Weib zu trennen.«

Wahr, vollkommen und unleugbar wahr. Das Gesetz sanctionirte die Aufopferung Anne’s in derselben unverantwortlichen Weise, wie es die Aufopferung ihrer Mutter vor ihr sanctionirt hatte. —— So führte er sie denn heim im Namen der Sittlichkeit, im Interesse der Tugend. Mag sie sehen, wie sie mit ihm fertig wird!

Ihr Gatte öffnete die Thür. Mr. Moy legte die Hand auf Sir Patrick’s Arm; Lady Lundie, Capitain Newenden und der Londoner Advocat, Alle verließen sie dieses eine Mal, von demselben Interesse beseelt, in derselben gespannten Erwartung ihre Plätze. Arnold folgte ihnen, indem er seine Frau stützte.

Einen Augenblick sah Anne nach ihnen Allen zurück; dann überschritten sie und ihr Mann die Schwelle und stiegen zusammen die Treppe hinab. Man hörte das Oeffnen und Schließen der Hausthür. Sie waren fort.

Das war in einem Zeitalter des Fortschritts, unter der vollkommensten Regierung der Welt, im Namen der Sittlichkeit, im Interesse der Tugend geschehen.



Holchester-House

Dreiundfünfzigstes Kapitel - Die letzte Chance

»Seine Lordschaft sind gefährlich krank Sir, Lady Holchester kann keinen Besuch empfangen.«

»Seien Sie so gut, Lady Holchester diese Karte zu bringen. Es ist durchaus nothwendig, daß Ihre Herrin im Interesse ihres jüngeren Sohnes von Etwas Kenntniß erhalte, was ich nur Lady Holchester persönlich mittheilen kann.«

Die beiden so mit einander Redenden waren der Kellermeister Lord Holchester’s und Sir Patrick Lundie.

Kaum eine halbe Stunde seit dem Schluß der Verhandlung in Portland Place war vergangen. Der Diener zögerte noch, die Karte in der Hand.

»Ich riskire meine Stellung«, sagte er, »wenn ich es thue.«

»Ich sage Ihnen«, erwiderte Sir Patrick, »Sie verlieren ganz sicher Ihre Stellung, wenn Sie es nicht thun. Ich warne Sie, es handelt sich hier um eine zu wichtige Angelegenheit, als daß damit zu spaßen wäre.«

Der Ton, in dem Sir Patrick diese Worte sagte, übte seine Wirkung. Der Diener ging mit seiner Botschaft hinauf.

Sir Patrick lehnte es ab, sich in eines der Empfangszimmer führen zu lassen, weil ihm selbst dieser kurze Verzug unerträglich schien, und wartete in der Vorhalle.

Anne’s Glück war schon hoffnungslos geopfert, die Erhaltung ihrer persönlichen Sicherheit, welche Sir Patrick in ernster Gefahr glaubte, war der einzige Dienst, den ihr zu leisten ihm noch möglich war. Die gefährliche Stellung, in der sie sich ihrem Gatten gegenüber als ein nicht zu beseitigendes Hindernis; zwischen Geoffrey und Mrs. Glenarm befand, war nicht zu verbessern, aber es war noch möglich Schritte zu thun um es zu verhindern, daß sie die unschuldige Ursache von Geoffreys pecuniären Ruin dadurch würde, daß sie einer Aussöhnung zwischen Vater und Sohn im Wege stände. Entschlossen kein Mittel unversucht zu lassen, um Anne’s Interessen zu dienen, hatte Sir Patrick Arnold und Blanche allein nach seinem Hause in London gehen lassen, und hatte sich nicht einmal soviel Zeit gelassen, um irgend einer der Personen, die an der Untersuchung Theil genommen hatten, Lebewohl zu sagen. »Ihr Leben kann von dem abhängen, was ich vielleicht für sie in Holchester House thun kann.«

Mit dieser Ueberzeugung hatte Sir Patrick Portland-Place verlassen und mit dieser Ueberzeugung hatte er seine Botschaft zu Lady Holchester hinauf geschickt, auf die er jetzt die Antwort erwartete.

Der Diener erschien wieder auf der Treppe. Sir Patrick ging ihm entgegen.

»Lady Holchester will Sie auf einige Augenblicke sprechen.«

Die Thür eines Zimmers im obern Stock öffnete sich und Sir Patrick befand sich Geoffrey’s Mutter gegenüber. Er hatte kaum Zeit zu bemerken, daß sie noch Spuren einer seltenen Schönheit trug und daß sie ihn mit einer Anmuth und Höftichkeit empfing, welche unter den obwaltenden Umständen eine große Achtung für seine Stellung bekundete.

»Sie haben mir im Betreff meines zweiten Sohnes etwas mitzutheilen Sir Patrick: ich bin in großer Betrübniß. Wenn Sie mir schlimme Nachrichten zu bringen haben, so muß ich sehen, wie ich sie ertrage. Darf ich Sie bitten, mich nicht lange in Ungewißheit zu erhalten?«

»Meine Zudringlichkeit wird Ihnen vielleicht weniger peinlich werden, Lady Holchester«, erwiderte Sir Patrick, »wenn Sie mir gestatten wollen mit einer Frage zu beginnen. Haben Sie von irgend einem Hinderniß der beabsichtigten Heirath zwischen Mr. Geoffrey und Mrs. Glenarm gehört?«

Selbst diese entfernte Anspielung auf die Person Anne’s brachte sofort in Lady Holchester’s Wesen eine nichts Gutes verkündende Aenderung hervor.

»Ich habe von dem Hinderniß auf welches Sie anspielen, gehört«, sagte sie, »Mrs. Glenarm ist meine intime Freundin, sie hat mir mitgetheilt, daß eine Person mit Namen Silvester, eine unverschämte Abenteurerin . . .«

»Ich bitte um Verzeihung, Lady Holchester, Sie thun dem edelsten Weibe, das ich je gekannt habe, ein grausames Unrecht.«

»Es steht mir nicht zu, Sir Patrick, die Gründe Ihrer Bewunderung näher zu untersuchen; ihr Benehmen gegen meinen Sohn ist, —— ich wiederhole das Gesagte —— das Benehmen einer unverschämten Abenteurerin gewesen.«

Diese Worte überzeugten Sir Patrick, daß es ein ganz hoffnungsloses Beginnen sein würde, das Vorurtheil Lady Holchester’s gegen Anne zu bekämpfen. Er entschloß sich daher sofort die Thatsachen mitzutheilen.

»Ich bitte Sie dringend, nichts weiter zu sagen«, erwiderte er, »Sie reden von der Frau Ihres Sohnes, Lady Holchester!«

»Mein Sohn hat Miß Silvester geheirathet?«

»Ja.«

Sie wurde todtenbleich. Einen Augenblick schien es, als ob dieser Schlag sie vollkommen überwältigt habe, aber die Schwäche der Mutter behauptete nur einen Augenblick die Oberhand. Noch bevor Sir Patrick weiter reden konnte, hatte diese Schwäche der tugendhaften Entrüstung der großen Dame weichen müssen. Sie erhob sich, um der Zusammenkunft ein Ende zu machen. »Ich vermuthe«, sagte sie, daß der Zweck Ihres Besuchs erreicht ist.«

Sir Patrick seinerseits stand gleichfalls auf, entschlossen, die Pflicht, die ihn hergeführt hatte, ganz zu erfüllen. »Ich sehe mich zu meinem Bedauern genöthigt«, hob er wieder an, »Ihre Aufmerksamkeit noch für einige Augenblicke in Anspruch zu nehmen, Lady Holchester. Die Umstände, welche die Heirath Mr. Geoffrey Delamayn’s begleitet haben, sind von einer nicht gewöhnlichen Bedeutung. Ich bitte im Interesse seiner Familie um die Erlaubniß, Ihnen die Umstände kurz angeben zu dürfen.«

In wenigen klaren Worten erzählte er, was diesen Nachmittag in Portland Place vorgefallen war.

Lady Holchester hörte ihm mit der ruhigsten und kältesten Aufmerksamkeit zu. Soweit man nach äußeren Anzeichen urtheilen konnte, machte die Mittheilung durchaus keinen Eindruck auf sie.

»Sie erwarten doch nicht«, sagte sie, »daß ich mich der Interessen einer Person annehmen soll, welche meinen Sohn verhindert hat, die Dame seiner und meiner Wahl zu heirathen?«

»Mr. Geoffrey Delamayn, entgegnete Sir Patrick »hat unglücklicher Weise Grund, seiner Frau, —— wegen ihres unschuldigen Dazwischentretens bei Interessen die für ihn von großer Wichtigkeit sind, —— übel zu wollen. Ich bitte Sie, Lady Holchester wohl zu überlegen, ob es im Hinblick auf das künftige Benehmen Ihres Sohnes wünschenswerth sei, Zuzugeben, daß seine Frau sich in der zwiefach gefährlichen Stellung ihm gegenüber befinde, auch eine Ursache der Entfremdung zwischen seinem Vater und ihm selbst zu sein?«

Er hatte diese Frage mit der scrupulosesten Rücksicht gestellt, aber Lady Holchester verstand sehr wohl sowohl das, was er sich auszusprechen versagte, als das, was er wirklich gesagt hatte.

Bis jetzt hatte Lady Holchester gestanden, jetzt setzte sie sich nieder. Endlich schien Sir Patrick einen Eindruck auf sie hervorgebracht zu haben. —— »Bei dem kritischen Zustande von Lord Holchester’s Gesundheit«, erwiderte sie, »muß ich die Verantwortlichkeit ablehnen, ihm mitzutheilen was Sie mir soeben mitgetheilt haben. So lange ich irgend einen günstigen Erfolg davon hoffen konnte, bin ich unermüdlich zu Gunsten meines Sohnes thätig gewesen, jetzt aber ist die Zeit dieser Thätigkeit für mich vorüber. Lord Holchester hat diesen Morgen sein Testament abgeändert; ich bin noch nicht von dem unterrichtet, was er verfügt hat. Aber selbst wenn ich es wüßte . . .«

»Würden Sie«, schaltete Sir Patrick ein, »es natürlich ablehnen, Ihre Gründe einem Fremden mitzutheilen!«

»Gewiß! Gleichwohl finde ich mich, nach dem was Sie mir gesagt haben, nicht berechtigt, in dieser Angelegenheit allein zu entscheiden. Einer von Lord Holchester’s Executoren befindet sich augenblicklich hier im Hause. Es wird kein Bedenken haben, daß Sie ihn sprechen, wenn Sie es wünschen sollten. Ich autorisire Sie, ihm in meinem Namen zu sagen, daß ich es durchaus seiner Discretion überlasse, zu entscheiden, was geschehen solle.«

»Ich nehme Jhr Anerbieten dankbar an, Lady Holchester.«

Lady Holchester zog an der neben ihr befindlichen Klingel. »Bringen Sie Sir Patrick Lundie zu Mr. Marchwood!« sagte sie zu dem Diener.

Sir Patrick wurde stutzig, der Name war ihm als der eines Freundes bekannt »Mr. Marchwood aus Hoorbeck?« fragte er.

»Derselbe.« Mit dieser kurzen Antwort entließ Lady Holchester ihren Besuch.

Sir Patrick folgte dem Diener nach dem anderen Ende des Corridors und wurde hier in ein kleines Zimmer geführt, welches das Vorzimmer des Schlafgemachs bildete, in welchem Lord Holchester lag. Die Verbindungsthür war geschlossen; ein Herr saß schreibend an einem Tisch neben dem Fenster. Er stand auf und reichte mit dem Ausdruck der Ueberraschung dem Eintretenden die Hand, als der Diener Sir Patrick Lundie meldete. Der Aufstehende war Mr. Marchwood.

Nachdem die ersten Begrüßungen gewechselt waren, kam Sir Patrick ungeduldig wieder auf den Zweck seines Besuchs in Holchester House zurück. Von dem Augenblick an, wo er Anne’s Namen zum ersten Mal erwähnte, bemerkte er, daß Mr. Marchwood besonders aufmerksam auf das wurde, was er sagte.

»Kennen Sie die Dame zufällig?« fragte Sir Patrick.

»Ich kenne sie nur als die Ursache eines sehr merkwürdigen Vorganges, der diesen Morgen hier im Zimmer stattgefunden hat.« Er deutete auf Lord Holchester’s Schlafzimmer.

»Dürfen Sie mir diesen Vorgang mittheilen?«

»Kaum, selbst einem alten Freund gegenüber, wie Sie. Es wäre denn, daß es mir als eine Pflicht erscheinen sollte, die Umstände anzugeben. Bitte, fahren Sie in Ihren Mittheilungen fort. Sie waren im Begriff zu sagen, was Sie hierher geführt hat.«

Ohne ein weiteres»Wort der Einleitung theilte ihm Sir Patrick die Nachricht von Geoffrey’s Heirath mit Anne mit.

»Verheirathet?« rief Mr. Marchwood, »sind Sie dessen, was Sie sagen, gewiß?«

»Ich bin einer der Zeugen bei der Hochzeit gewesen.«

»Guter Gott! —— und Lord Holchesters Advocat ist fortgegangen!«

»Kann ich ihn ersetzen? Halten Sie sich nach dem von mir Ihnen Mitgetheilten nun vielleicht für berechtigt, mir zu sagen, was diesen Morgen im Nebenzimmer vorgefallen ist?«

»Ob ich mich für berechtigt halte? Sie haben mir gar keine Wahl gelassen; die Aerzte befürchten einstimmig einen tödtlichen Schlaganfall, Lord Holchester kann jeden Augenblick sterben, in der Abwesenheit des Advocaten muß ich die Sache über mich nehmen. Die Sache ist die: »Lord Holchester hat seinem Testamente im Betreff seines zweiten Sohnes Geoffrey Delamayn ein Codicill, angehängt, das er noch nicht unterzeichnet hat, ein Codicill, welches, wenn es zur Ausführung kommen sollte, ihn während seiner Lebenszeit sehr gut stellt.«

»Und was ist das Hinderniß der Ausführung desselben?«

»Die Dame, die Sie eben genannt haben!«

»Anne Silvester?««

»Anne Silvester! Jetzt, wie Sie sagen, Mrs. Geoffrey Delamayn —— Ich kann Ihnen die Sache nur sehr unvollständig erklären. Es knüpfen sich an sie oder an ein Mitglied ihrer Familie für Lord Holchester gewisse peinliche Erinnerungen. Wir können nur schließen, daß er im Beginn seiner Advocaten-Carriére etwas gethan hat, was sich zwar streng innerhalb der Grenzen seines Berufs hielt, was aber augenscheinlich zu traurigen Folgen geführt hat. Vor einigen Tagen hörte er unglücklicherweise von Mrs. Glenarm oder von Mr. Julius Delamayn von dem Erscheinen Miß Silvester’s in Swanhaven Lodge. Im ersten Augenblick entfuhr ihm keine Bemerkung über diesen Gegenstand, erst diesen Morgen, als das Codicill, welches das Vermächtniß für Geoffrey enthielt, unterzeichnet werden sollte, zeigte sich der Eindruck, den jene Mittheilung auf ihn gemacht hatte; zu unserm Erstaunen weigerte er sich das Codicill zu unterzeichnen.«

»Schaffen Sie mir Anne Silvester«, lautete die einzige Antwort, die wir von ihm erlangen konnten, und bringen Sie sie an mein Bett.«

»Sie sagen Alle, mein Sohn habe sich nichts gegen sie zu Schulden kommen lassen. Ich liege auf meinem Todtenbette; ich habe meine besonderen sehr dringenden Gründe, ich bin es dem Andenken der Todten schuldig, mich selbst von der Wahrheit zu überzeugen. Wenn Anne Silvester selbst Geoffrey von jeder Schuld freispricht, so will ich für Geoffrey sorgen, sonst nicht.«

»Wir gingen so weit, ihn daran zu erinnern, daß der sterben könne bevor man Miß Silvester würde haben auffinden können. Aber unser Dazwischentreten hatte nur eine Folge: er hieß den Advokaten dem Testamente ein zweites Codicill hinzufügen, welches er auf der Stelle unterzeichne. Dasselbe weist seine Executoren an, den Beziehungen nachzuforschen, welche zwischen Anne Silvester und seinem jüngeren Sohn bestanden haben. Wenn wir zu dem Schlusse gelangen müssen daß Geoffrey ihr schweres Unrecht gethan hat, sind wir angewiesen, ihr ein Vermächtniß auszusetzen vorausgesetzt, daß sie der Zeit unverheirathet ist.«

»Und ihre Heirath steht diesem Vermächtniß im Wege?« rief Sir Patrick aus.

»Ja, das unterzeichnete Codicill ist jetzt wirkungslos und das andere Codicill bleibt ununterzeichnet, bis der Advocat Miß Silvester herbeischaffen kann. Er hat das Haus verlassen um sich an Geoffrey in Fulham zu wenden, als das einzig uns zu Gebote stehende Mittel, um diese Dame herzubringen. Einige Stunden sind vergangen und er ist noch nicht zurückgekehrt.«

»Es wäre nutzlos, auf ihn zu warten«, erwiderte Sir Patrickz »während der Advocat auf dem Wege nach Fulham ist, war Lord Holchester’s Sohn auf dem Wege nach Portland Place. Dieser Umstand ist sogar von noch größerer Bedeutung als Sie vermuthen Sagen Sie mir, was ich unter weniger dringenden Umständen kein Recht zu fragen, haben würde —— wie ist, abgesehen von dem Unterzeichneten Codicill, Geoffreys Stellung in Gemäßheit des Testaments?«

»Sei« Name wird in dem Testament nicht einmal genannt.«

»Haben Sie das Testament?«

Mr. Marchwood schloß eine Schublade auf und nahm das Testament heraus.

Sir Patrick stand aus der Stelle auf. »Da dürfen wir keinen Augenblick auf den Advocaten warten«, wiederholte er heftig, »hier handelt es sich um Leben und Tod. Lady Holchester ist sehr aufgebracht über die Heirath ihres Sohnes, sie spricht und fühlt als Freundin von Mrs. Glenarm. Glauben Sie, daß Lord Holchester die Sache ebenso ansehen würde, wenn er von ihr wüßte?«

»Das hängt durchaus von den Umständen ab.«

»Wenn ich ihm nun mittheilte, wie ich es Ihnen im Vertrauen mitgetheilt habe, daß sein Sohn in der That schweres Unrecht gegen Miß Silvester begangen hat, und wenn ich ihm darauf sagte, daß sein Sohn die Sache dadurch wieder gut gemacht, daß er sie heirathete?«

»Nach der Art zu schließen, wie er sich in ihrer Angelegenheit ausdrückt, glaube ich, daß er das Codicill unterzeichnest witrde.«

»Dann lassen Sie mich ihn um Gotteswillen sprechen!«

»Ich muß erst mit dem Arzte reden.«

»Thun Sie es, bitte, auf der Stelle.«

Das Testament in der Hand näherte sich Mr. Marchwood der Thür des Schlafzimmers. Noch ehe er ganz an sie herangetreten war, wurde sie von innen geöffnet. Der Arzt erschien auf der Schwelle Als Mr. Marchwood ihn anreden wollte, hielt er die Hand abwehrend empor. »Gehen Sie nicht zu Lord Holchester«, sagte er, »es ist Alles»vorbei!«

»Todt?«

»Todt!«



Salzland

Vierundfünfzigstes Kapitel - Der Platz

Im Anfang dieses Jahrhunderts war ein gewisser Ruben Limbrick nach der Ansicht seiner Nachbarn auf dem Wege, sich durch Salzhandel ein hübsches kleines Vermögen zu erwerben.

Sein Haus lag in Staffordshire, auf einem Stück ihm gehörigen freien Landes, welches passender Weise den Namen Salzland trug. Ohne gerade ein Geizhals zu sein, lebte er doch in der bescheidensten Weise, sah sehr wenig Gesellschaft, legte sein Geld sehr gut an und blieb unverheirathet.

Um das Jahr Eintausend achthundert und vierzig zeigten sich bei ihm die ersten Spuren der chronischen Krankheit, welche schließlich seinem Leben ein Ende machte. Nachdem er sich mit sehr geringem Erfolg von den Aerzten seines Orts hatte behandeln lassen, traf er zufällig einen in den westlichen Vorstädten Londons wohnenden Arzt, der sein Uebel vollständig erkannte. Nachdem er eine Zeitlang öfter hin- und hergereist war, um diesen zu consultiren, beschloß er, sich ganz von den Geschäften zurückzuziehen und sich in bequemer Nähe seines Arztes niederzulassen.

Er kaufte ein Stück freien Landes in der Nähe von Fulham und ließ sich auf demselben nach seinem eigenen Plan ein kleines Haus bauen. Als, ein jedes unbefugte Eindringen in seinen Ruheaufenthalt und jede Möglichkeit einer Beobachtung seiner Lebensgewohnheiten ängstlich fürchtender Mann, ließ er sein ganzes Grundstück mit einer hohen Mauer umgeben, die ihn eine bedeutende Summe Geldes kostete und die von den Nachbarn mit Recht als ein widerwärtiger und häßlicher Anblick betrachtet wurde.

Als sein neuer Aufenthaltsort völlig eingerichtet war, nannte er denselben nach dem Platz in Staffordshire, auf dem er sein Vermögen erworben und die glücklichste Zeit seines Lebens zugebracht hatte, Salzland. Seine Verwandten, welche die Gefühle, die ihn bei dieser Bezeichnung leiteten, nicht verstanden, stellten ihm vor, daß sich ja in der Nähe seiner neuen Wohnung gar keine Salzläger befanden. Ruben Limbrick antwortete, »desto schlimmer für die Gegend«, und beharrte dabei, sein Grundstück Salzland zu nennen.

Das Haus war so klein, daß es in dem großen dasselbe umgebenden Garten ganz verloren aussah. war nur ein Stockwerk hoch; zur ebenen Erde befanden sich zu beiden Seiten des Vorplatzes je zwei Räume. An der rechten Seite befand sich der Hausthür zunächst eine Küche mit den dazu gehörigen, an das Haus angebauten Räumen. Das der Küche zunächst gelegene Zimmer sah nach dem Garten hinaus. Zu Ruben Limbrick’s Zeit hatte es das Studirzimmer geheißen und enthielt eine kleine Sammlung von Büchern und einen großen Vorrath von Fischereigeräthschaften.

An der linken Seite des Hauses befanden sich zu ebener Erde gleichfalls zwei Zimmer, ein Wohnzimmer und ein durch Flügelthüren mit demselben verbundenes Speisezimmer. Das erste Stockwerk enthielt fünf Schlafzimmer; an der einen Seite zwei in ihrer Größe dem darunter befindlichen Speise- und Wohnzimmer entsprechend aber mit einander nicht in Verbindung stehend, an der andern Seite drei: ein größeres nach vorn und zwei kleinere nach hinten gelegen. Alle diese Zimmer waren auf das Vollständigste meublirt, das Geld war dabei nicht gespart worden; es war Alles höchst solide gearbeitet und oben und unten von gleicher Häßlichkeit. Die Lage des Salzlandes war höchst einsam. Die Ländereien von Gemüsegärtnern trennten es von den nächstgelegenen Häusern. Die hohe Mauer, mit der das Haus umgeben war, mußte bei Jedem die Vorstellung einer Heilanstalt oder eines Gefängnisses erwecken.

Ruben Limbricks Verwandte fanden, wenn sie ihn von Zeit zu Zeit besuchten, den Aufenthalt höchst trübselig und waren froh, wenn sie wieder fortgehen konnten, was ihnen aber auch Ruben Limbrick durchaus nicht schwer machte; er war ein ungeselliger und wenig gastfreier Mann. Er legte auf die Theilnahme der Menschen an seinen Krankheitsanfällen sehr wenig Werth und verbat sich ihre Glückwünsche wenn es ihm wieder besser ging. »Wenn ich nur fischen kann«, pflegte er zu sagen; »Mein Hund ist meine beste Gesellschaft und ich fühle mich ganz glücklich, so lange ich frei von Schmerzen bin.« Auf seinem Todtenbett vertheilte er sein Vermögen ganz gerecht unter seine Verwandten.

Die einzige Bestimmung seines Testaments, die bei dem größten Theil seiner Verwandten eine ungünstige Ausnahme fand, war eine Klausel, durch welche einer seiner Schwestern, einer Wittwe, die sich durch eine unstandesgemäße Heirath ihre Familie entfremdet hatte, ein Vermächtniß ausgesetzt wurde. Die übrigen Mitglieder der Familie waren einstimmig der Ansicht, daß diese unglückliche Person keine besondere Berücksichtigung verdiene. Sie hieß Hester Dethridge Ihre Verwandten betrachteten Alles, was sie sich nach ihrer Ansicht hatte zu Schulden kommen lassen, in einem noch viel ungünstigeren Licht, als sie erfuhren, daß ihr testamentarisch die Nutznießung von Salzland auf Lebenszeit und eine Jahresrente von zweihundert Pfund Sterling vermacht sei.

Hester, mit der die Überlebenden Mitglieder der Familie keinen Verkehr hatten und die im strengsten Sinne des Worts ganz allein auf der Welt stand, einschloß sich, obgleich sie von ihrer Jahresrente behaglich hätte leben können, doch einen Theil ihres neuen Hauses zu vermiethen. Die wahre Erklärung dieses sonderbaren Verfahrens lag in jener, auf eine Frage von Anne, auf ihre Tafel geschriebene Antwort: »Ich habe keinen Freund in der Welt, ich darf nicht allein wohnen.«

In dieser verzweifelten Lage, in dieser melancholischen Stimmung beauftragte sie einen Hausmakler mit der Vermiethung einiger Zimmer ihres Hauses.

Die erste Person, welche der Makler zu ihr schickte, um die Zimmer zu besehen, war der Trainer Perry, und Hester’s erster Miether war Geoffrey Delamayn.

Die Raume, welche die Wirthin sich vorbehielt, waren: die Küche, das daran stoßende Zimmer, ehedem das »Studirzimmer« ihres Bruders, und die beiden kleinen im ersten Stock nach hinten gelegenen Schlafzimmer, das eine für sich selbst, das andere für die Magd, die sie hielt. Der ganze übrige Theil des Hauses war zu vermiethen. Das war mehr als der Trainer brauchte, aber Hester Dethridge weigerte sich sowohl im Betreff der Anzahl der zu vermiethenden Zimmer, als der Miethszeit, auf andere als auf ihre eigenen Bedingungen einzugehen. Perry blieb keine Wahl als sich Hester’s Bedingungen zu fügen, wenn er sich nicht die vorteilhafteste Lage dieses Gartens als einer für das Trainiren vorzüglich geeigneten Privatrennbahn entgehen lassen wollte.

Die beiden Miether disponirten nun also über drei Schlafzimmer. Geoffrey wählte für sich das über dem Wohnzimmer nach hinten gelegene; Perry nahm sich das an der andern Seite des Hauses liegende Zimmer, das an die beiden kleinen Schlafstuben Hester’s und ihrer Magd stieß. So blieb das neben Geoffrey’s befindliche vordere Schlafzimmer leer und wurde einstweilen das Fremdenzimmer genannt. Zur ebenen Erde nahmen der Athlet und sein Trainer ihre Mahlzeiten in dem Speisezimmer ein und ließen das Wohnzimmer als einen für sie unnöthigen Luxus, unbenutzt.

Als das Wettrennen vorüber war, hatte auch Perry nichts mehr im Hause zu thun. Sein bisheriges Schlafzimmer wurde ein zweites Fremdenzimmer; die Zeit, für welche die Zimmer hatten gemiethet werden müssen, war noch nicht abgelaufen. An dem Tage nach dem Wettrennen hatte Geoffrey sich zu entscheiden, ob er unter Bezahlung der ganzen stipulirten Miethe ausziehen oder bleiben wolle, allein in einer Wohnung mit zwei Fremdenzimmern und einem Wohnzimmer zum Empfang seiner Freunde, die ihn mit der Pfeife im Munde besuchten und die ihr Ideal einer gastlichen Aufnahme erfüllt sahen, wenn ihr Wirth ihnen im Garten ein Glas Bier vorsetzte. Er war, wie er selbst sagte, »verstimmt.« Ein träger Widerwille, irgend eine Veränderung mit sich vorzunehmen, beherrschte ihn. Er beschloß auf Salzland zu bleiben, bis seine Heirath mit Mrs. Glenarm, die er damals noch als sicher bevorstehend betrachtete, ihn nöthigen würde, mit seinen bisherigen Lebensgewohnheiten ein für alle Mal zu brechen. Am nächsten Tage hatte er sich von Fulham nach Portland Place begeben, um der dort stattfinden den Conferenz beizuwohnen und kehrte erst nach Fulham zurück, als er die ihm aufgezwungene Frau nach Hause brachte.

Das war die Stellung des Miethers und das waren die Einrichtungen im Innern des Hauses an dem denkwürdigen Abend, wo Anne Silvester das Haus als Geoffrey’s Frau betrat.



Fünfundfünzigstes Kapitel - Die Nacht

Beim Hinaustreten aus Lady Lundie’s Hause rief Geoffrey den ersten vorüberfahrenden Fiaker an. Er öffnete die Wagenthür und bedeutete Anne hineinzusteigen. Sie gehorchte ihm mechanisch. Er setzte sich auf die Rückseite des Wagens und wies den Kutscher an, nach Fulham zu fahren.

Der Wagen setzte sich in Bewegung, während Mann und Frau sich beiderseits schweigend verhielten. Anne lehnte erschöpft den Kopf zurück und schloß die Augen. Jhre Kraft war unter der übermenschlichen Anstrengung zusammengebrochen, mit der sie sich vom Anfange bis zum Ende der Untersuchung aufrecht erhalten hatte. Sie vermochte nicht mehr zu denken; sie fühlte nichts, wußte von nichts, fürchtete nichts. Halb ohnmächtig, halb schläfrig, hatte sie, noch ehe fünf Minuten ihrer Fahrt nach Fulham verflossen waren, jede Empfindung für ihre fürchterliche Lage verloren.

Geoffrey, der ihr, ganz in seine schlechten Gedanken vertieft, gegenüber saß, raffte sich plötzlich auf. Durch sein träges Gehirn war eine Idee gefahren; er steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus und hieß den Kutscher umkehren und nach einem Hotel in der Nähe der großen Nordbahn fahren.

Als er sich wieder niedergesetzt hatte, warf er Anne einen verstohlenen Blick zu. Noch immer saß sie mit geschlossenen Augen da, ohne sich zu rühren sie hatte allem Anschein nach von dem eben Geschehenen gar nichts bemerkt. Er beobachtete sie aufmerksam. Sollte sie wirklich krank sein? War die Zeit nicht fern, wo er sich von ihr befreit sehen würde? Während er sie fortwährend scharf beobachtete, brütete er über diese Frage. Allmälig aber schwand die nichtswürdige Hoffnung wieder dahin, und trat ein nichtswürdiger Verdacht an ihre Stelle. Wie, wenn dieser Anschein von Krankheit nur gemacht war? Wie, wenn sie nur darauf wartete, daß er sie einen Augenblick außer Acht lasse, um ihm bei dieser ersten Gelegenheit zu entfliehen?

Er steckte den Kopf wieder zum Wagenfenster hinaus und gab dem Kutscher wieder eine andere Ordre.

Der Wagen lenkte von dem graden Wege ab und hielt vor einem unter einem angenommenen Namen von dem Trainer Perry gehaltenen Wirthshaus in Holborn.

Geoffrey schrieb mit Bleistift eine Zeile auf seine Karte und schickte den Kutscher damit in’s Haus. Nach einigen Minuten erschien ein Bursche am Wagen und legte die Hand an den Hut; Geoffrey steckte den Kopf zum Wagenfenster hinaus und sprach leise mit ihm; dann stieg der Bursche zum Kutscher hinauf. Der Wagen kehrte wieder um und fuhr jetzt nach dem an der Nordbahn gelegenen HoteL Hier stieg Geoffrey aus und postirte den Burschen vor die Wagenthür, indem er auf Anne deutete, die noch immer mit geschlossenen Augen zurückgelehnt dasaß, dem Anscheine nach noch immer zu erschöpft, um ihren Kopf zu erheben, und zu schwach, um von dem, was um sie her vorging, Notiz zu nehmen.

»Wenn sie den Versuch machen sollte auszusteigen, so halte sie zurück und laß mich rufen.«

Nach Ertheilung dieser Ordre trat Geoffrey in’s Hotel und fragte nach Mr. Moy.

Mr. Moy war eben von Portland Place zurückgekehrt. Er stand auf und verneigte sich kalt, als Geoffrey in sein Zimmer geführt wurde.

»Was wünschen Sie von mir?« fragte er.

»Mir ist ein Gedanke durch den Kopf gefahren«, erwiderte Geoffrey, »Über den ich gern gleich mit Ihnen reden möchte.«

»Ich muß Sie bitten, sich an jemand Andern zu wenden, da ich mit Ihren Angelegenheiten ferner nichts mehr zu thun haben will.«

»Wie?« fragte Geoffrey. »Wollen Sie mich in der Patsche lassen?«

»Ich werde keinen Schritt mehr in irgend einer Ihrer Angelegenheiten thun«, erwiderte Mr. Moy mit festem Tone. »Ich kann in Zukunft nicht mehr Ihr Advoeat sein. Was die bisher für Sie geführte Angelegenheit betrifft, so werde ich die mir noch obliegenden formellen Pflichten Ihnen gegenüber gewissenhaft erfüllen. Mrs. Inchbare und Bishopriggs werden, wie verabredet, diesen Abend um sechs Uhr zu mir kommen, um vor ihrer Abreise das ihnen schuldige Geld in Empfang zu nehmen. Ich selbst werde mit dem Nachtzug nach Schottland zurückkehren Die Personen, auf deren Zeugniß Sir Patrick im Betreff der Angelegenheit des Heirathversprechens sich bezogen hat, befinden sich alle in Schottland. Ich werde die Aussagen derselben, sowohl bezüglich der Handschrift, als der Dauer des Aufenthalts in Schottland aufnehmen und Ihnen zuschicken. Damit wird meine geschäftliche Thätigkeit für Sie ein Ende erreicht haben; Ich muß es aber entschieden ablehnen, Ihnen bezüglich irgend eines ferneren Schrittes, den Sie zu ergreifen gemeint sein sollten, meinen Rath zu ertheilen.«

Geoffrey dachte einen Augenblick nach und that dann eine Frage. »Sie sagten, Bishopriggs und die Frau würden heute Abend um sechs Uhr herkommen, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Wo sind sie vorher zu finden?«

Mr. Moy schrieb die Adresse der beiden Zeugen auf ein Stück Papier und übergab dasselbe Geoffrey mit den Worten: »Da werden Sie sie finden.«

Geoffrey nahm die Adresse zu sich und ging fort. Der Advocat und der Client trennten sich, ohne daß einer von Beiden ein Wort sagte. Unten auf der Straße fand Geoffrey den Burschen auf seinem Posten Wache haltend.

»Ist irgend etwas passirt?«

»Die Dame hat sich nicht gerührt, Herr, seit Sie ausgestiegen sind.«

»Ist Perry im Wirthshaus?«

»Jetzt nicht, Herr.«

»Ich brauche einen Advocaten. Weißt Du, wer Perry’s Advocat ist?«

»Ja, Herr.«

»Und weißt Du seine Adresse?«

»Ja, Herr.«

»Setz’ Dich auf den Bock und bezeichne dem Kutscher, wohin er fahren soll.«

Der Wagen stzte sich wieder in Bewegung, fuhr durch Euston-Road nach einer Seitengasse und hielt hier vor einem Hause, das ein Messingschild an der Thür als die Wohnung eines Advocaten bezeichnete. Der Bursche stieg ab und kam an’s Wagenfenster. »Hier ist es, Herr.«

»Klopf’ an die Thür und sieh’ zu, ob er zu Hause ist.«

Er war zu Hause. Geoffrey trat hinein, nachdem er den Burschen zuvor wieder vor die Wagenthür postirt hatte. Der Bursche bemerkte, daß die Dame sich dieses mal bewegte. Sie schaudern, als ob es sie fröstele, öffnete ihre Augen einen Augenblick mit dem Ausdruck der Erschöpfung, blickte seufzend durch’s Fenster, und sank wieder in die Ecke des Wagens zurück.

Nach einer guten halben Stunde trat Geoffrey wieder aus dem Hause. Seine Conferenz mit Perry’s Advocat schien sein Gemüth von einer Sorge befreit zu haben, die auf demselben gelastet hatte. Er beorderte den Kutscher, wieder nach Fulham zu fahren, öffnete die Wagenthür, um einzusteigen schien sich aber dann plötzlich eines Andern zu besinnen und stieg, nachdem er den Burschen hatte herunterkommen lassen und ihm geheißen hatte, sich in den Wagen zu setzen, zum Kutscher auf den Bock.

Als der Wagen abfuhr, sah er sich nach Anne um. »Es ist immer einen Versuch werth«, dachte er bei sich. »So werden wir quitt und ich komme von ihr los.«

Endlich hielt der Wagen vor dem Salzland. Vielleicht, daß sich in Folge der Ruhe Anne’s Kräfte wieder gehoben hatten; vielleicht, daß der Anblick dieses Platzes endlich den Selbsterhaltungstrieb wieder in ihr erweckte; genug, sie stieg zu Geoffrey’s Ueberraschung ailein aus dem Wagen. Als er die hölzerne Eingangspforte mit einem eigenen Schlüssel öffnete, fuhr sie zurück und sah ihn zum ersten Mal an. Er wies auf die Eingangsthür hin und sagte: »Geh’ hinein!«

»Unter welchen Bedingungen?« fragte sie, ohne sich von der Stelle zu rühren. Geoffrey bezahlte den Kutscher und schickte den Burschen mit der Weisung in den Garten, dort fernere Ordres zu erwarten. Sobald er sich dann mit Anne allein sah, antwortete er ihr in einem lauten und brutalen Tone: »unter allen Bedingungen, die ich zu machen für gut finden werde.«

»Nichts«, erwiderte sie mit fester Stimme »wird mich vermögen, mit Dir als Deine Frau zu leben. »Du kannst mich umbringen aber dazu kannst Du mich nicht zwingen.«

Einen Schritt vortretend, öffnete er die Lippen, wie wenn er reden wollte, schien sich aber plötzlich wieder anders zu besinnen. Er wartete eine Weile, während welcher er sich offenbar etwas überlegte, und sagte dann mit auffallender Ruhe und Selbstbeherrschung und mit dem Ausdruck eines Menschen, der Worte wiederholt, die ihm in den Mund gelegt sind oder auf die er sich vorbereitet hat: »Ich habe Dir etwas in Gegenwart von Zeugen zu sagen. Ich verlange es nicht von Dir und wünsche auch nicht, daß Du im Hause mit mir allein bist.«

Die Veränderung in seinem Wesen und die Art wie er eben seine Worte auffallend vorsichtig gewählt hatte, erschreckte sie viel mehr, als die Rohheit, mit der er sich eben vorher ausdrücke.

Noch immer auf die Thür weisend, wartete er ab, was sie thun werde. Sie zitterte ein wenig, nahm sich dann wieder zusammen und trat ein. Der Bursche, der im Vordergarten gewartet hatte, folgte ihnen. Er öffnete die Thür des Wohnzimmers an der linken Seite des Vorplatzes. Sie trat in dasselbe ein. Zu dem gleich darauf erscheinenden Dienstmädchen sagte Geoffrey: »Rufen Sie Mrs. Dethridge und kommen Sie selbst wieder mit ihr her«; und trat dann gleichfalls in das Wohnzimmer in das ihm der Bursche folgen mußte und dessen Thür er weit offen stehen ließ.

Hester Dethridge kam aus der Küche, von dem Dienstmädchen gefolgt. Bei dem Anblick Anne’s schien die steinerne Ruhe ihres Gesichts einen Augenblick einem andern Ausdrucke Platz zu machen. Ein matter Glanz belebte ihre Augen. Sie nickte langsam mit dem Kopf. Ein Laut, der etwas wie Freude oder Erleichterung auszudrücken schien, entfuhr ihren Lippen.

Auf Anne zeigend, sagte Geoffrey indem er wieder mit auffallender Ueberlegung und Selbstbeherrschung und wieder mit dem Ausdruck eines Menschen, der Worte wiederholt, die ihm in den Mund gelegt sind, oder auf die er sich vorbereitet hat: »Diese Dame ist meine Frau. In Gegenwart von Euch Dreien als Zeugen erkläre ich ihr, daß ich ihr nicht verzeihe. Ich habe sie in Ermangelung eines andern zuverlässigen Platzes hierher gebracht, damit sie hier den Ausgang der Schritte abwarte, die ich zur Vertheidigung meiner Ehre und meines guten Namens unternommen habe. So lange sie hier ist, wird sie von mir getrennt in ihrem eigenen Zimmer wohnen. So oft ich es für nothwendig halten werde, mündlich mit ihr zu verkehren, werde ich es nur in Gegenwart einer dritten Person thun. Habt Ihr mich Alle verstanden?«

Hester Dethridge nickte mit dem Kopf, die andern Beiden antworteten mit »Ja« und wollten dann hinausgehen. Da stand Anne auf und das Dienstmädchen und der Bursche blieben auf ein von Geoffrey gegebenes Zeichen, um mit anzuhören, was sie zusagen habe. »Ich bin mir keiner Handlung bewußt«, sagte sie, zu Geoffrey gewandt, »die Dir das Recht gäbe, diesen Leuten zu erklären, daß Du mir nicht verzeihest. Diese Worte sind, von Dir gegen mich gebraucht, einer Beleidigung. Ebenso wenig weiß ich, was Du meinst, wenn Du von einer Vertheidigung Deines guten Namens sprichst. Alles, was ich von Deinen Worten verstehe, ist, daß wir in diesem Hause getrennt leben werden und daß ich mein eigenes Zimmer haben werde. Für diese Einrichtung bin ich Dir, gleichviel, welche Motive Dich dabei geleitet haben mögen dankbar. Weise eine von diesen beiden Frauen an, mir mein Zimmer zu zeigen.«

Geoffrey wandte sich an Hester Dethridge »Bringen Sie sie hinauf«, sagte er, »und lassen Sie sie unter den Zimmern wählen. Geben Sie ihr zu essen und zu trinken, was sie verlangt. Bringen Sie mir die Adresse des Hauses, wo sich ihr Gepäck befindet, mit herunter. Der Bursche hier soll mit der Eisenbahn in die Stadt fahren und es herausholen. Das ist Alles. Jetzt gehen Sie!«

Hester ging. Anne folgte ihr die Treppe hinauf. Auf dem Vorplatz des ersten Stocke; blieb Hester stehen. Wieder flackerte der matte Glanz in ihren Augen auf. Sie schrieb etwas auf ihre Tafel und hielt dieselbe dann Anne entgegen. »Ich wußte, daß Sie wieder kommen würden. Es ist zwischen ihm und Ihnen noch nicht vorbei.«

Anne erwiderte nichts. Hester fuhr mit einem schwachen Lächeln um die dünnen bleichen Lippen fort zu schreiben. »Ich verstehe mich auf schlechte Ehemänner. Ihrer ist einer der schlimmsten, die es je gegeben hat. Er wird Sie bös auf die Probe stellen.«

Anne versuchte es, ihr Einhalt zu thun. »Sehen Sie nicht, wie angegriffen ich bin?« sagte sie in sanftem Ton.

Hester ließ die Tafel wieder herabhängen, sah Anne fest und mit dem Ausdruck einer mitleidlosen Aufmerksamkeit in’s Gesicht, nickte mit dem Kopf, als wolle sie sagen: »Ich sehe es jetzt«, und ging ihr voran in eins der leeren Zimmer. Es war das nach vorn über dem Wohnzimmer liegende Schlafzimmer. Ein erster Blick auf dasselbe zeigte, daß es ebenso sauber gehalten, wie solide und geschmacklos möblirt war. Die häßlichen Tapeten an der Wand und der häßliche Teppich auf dem Fußboden waren beide von der besten Qualität.

Die große schwere Bettstelle von Mahagony mit ihren, von einem an der Decke befestigten Haken, herabhängenden Bettvorhängen und mit ihrem gleich hohen plump geschnitzten Kopf und Fußende, bot den sonderbaren Anblick eines französischen durch englische Ueberladung verunstalteten Musters. Das Auffallenste in dem Zimmer waren die außerordentlichen Vorrichtungen zur Sicherung der Thür. Außer dem gewöhnlichen Thürschloß waren an der inneren Seite derselben, oben und unten, noch zwei starke Riegel angebracht. Es war einer der exeentrischen Züge in dem Character Ruben Limbricks gewesen, daß er in beständiger Furcht vor nächtlichen Einbrüchen in sein Haus gelebt hatte.

Alle in’s Freie führenden Thüren und alle Fensterläden waren mit einer soliden Eisenbekleidung und mit nach einem neuen Princip construirten Allarmglocken versehen. Die Thüren aller Schlafzimmer hatten zwei Riegel an der innern Seite. Der ganze Complex dieser Vorsichtsmaßregeln gipselte in einem kleinen auf dem Dach des Hauses befindlichen Glockenthurm mit einer Glocke von so ausgiebigem Klang, daß sie auf der Polizeistation von Fulham gehört werden konnte. Zu Ruben Limbrick’s Zeiten hatte der Glockenstrang bis in sein Schlafzimmer gereicht. Jetzt hing derselbe auf dem äußern Vorplatz an der Wand herunter.

Als Anne sich im Zimmer umsah, blieben ihre Blicke auf der dasselbe vom Nebenzirnmer trennenden Scheidewand haften. Dieselbe hatte keine Verbindungsthür, nur ein Waschtisch und zwei Stüle standen daran.

»Wer schläft in dem Zimmer nebenan?« fragte Anne.

Hester Dethridge deutete auf das unter ihnen befindliche Wohnzimmer, in welchem sie Geoffrey verlassen hatten. Es war sein Schlafzimmer, Anne trat wieder auf den Vorplatz hinaus.

»Zeigen Sie mir das andere Zimmer«, sagte sie.

Auch dieses lag an der Vorderseite des Hauses. Es herrschte darin dieselbe Häßlichkeit der Tapeten und des Teppichs bei gleich guter Qualität. Auch hier stand eine schwere Bettstelle von Mahagony, die aber mit einem über dem Kopfende befestigten Baldachim der die Bettvorhänge trug, versehen war. Dieses Mal kam Hester Anne’s Frage zuvor und deutete, indem sie nach dem anstoßenden, nach hinten gelegenen Zimmer sah, auf sich selbst. Anne entschied sich sofort für dieses; es war das von Geoffrey’s Zimmer entfernteste.

Hester wartete, bis Anne die Adresse des Concertunternehmers, bei welchem sich ihr Gepäck befand, aufgeschrieben hatte, nahm dann Anne’s Weisung für ihr Abendessen entgegen, das sie hinaufschicken sollte, und verließ das Zimmer.

Sobald sie sich allein befand, schloß Anne die Thür und warf sich aufs Bett. Noch immer zu erschöpft, um zu denken, noch immer physisch unfähig, sich die Hilflosigkeit und Gefahr ihrer Lage deutlich zu vergegenwärtigen, öffnete sie ein an ihrem Hals hängendes Medaillon, küßte die an beiden Seiten desselben befindlichen Bilder ihrer Mutter und Blanche’s und versank dann in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Inzwischen wiederholte Geoffrey an der Eingangspforte dem Burschen seine letzten Ordres: »Wenn Du das Gepäck geholt hast, gehst Du zum Advocaten. Wenn er noch heute Abend herkommen kann, so zeigst Du ihm den Weg. Wenn er nicht kommen kann, wirst Du von ihm einen Brief für mich erhalten, den Du mir herbringst. Nimm Dich in Acht, daß Du meine Ordres genau ausführst, sonst geht’s Dir schlecht. Und nun pack Dich und versäume den Zug nicht.«

Der Bursche lief davon. Geoffrey sah ihm noch eine Weile nach und überdachte dabei, was bis jetzt geschehen war.

»Alles in Ordnung soweit«, sagte er zu sich; »ich habe im Wagen nicht bei ihr gesessen, ich habe ihr vor Zeugen erklärt, daß ich ihr nicht verzeihe und warum ich sie hier in’s Haus genommen habe, ich habe ihr ein besonderes Zimmer angewiesen und wenn ich sie sprechen muß, so spreche ich sie in Gegenwart von Hester Dethridge als Zeugin. Ich habe Alles gethan, was mir oblag, nun muß der Advocat noch das Seinige thun.«

Er schlenderte nach dem Hintergarten und zündete sich seine Pfeife an. Nach einer Weile, als die Nacht einzubrechen begann, sah er ein Licht in Hester’s Wohnzimmer zur ebenen Erde. Er trat an’s Fenster. Hester und die Magd waren beide bei der Arbeit.

»Nun«, sagte er, »wie steht es mit dem Frauenzimmer oben?« Hester’s Tafel und die Zunge der Magd berichteten ihm, was über Anne zu berichten war. Sie hatten ihr Thee und ein Omelette aufs Zimmer gebracht und hatten sie aus dem Schlaf wecken müssen. Sie hatte ein klein wenig von dem Omelette gegessen und sehr viel Thee getrunken. Dann waren sie wieder hinausgegangen, um das Geschirr herunter zu holen und hatten sie wieder im Bett, aber nicht schlafend, sondern nur matt und angegriffen gefunden; sie sagte kein Wort, sah ganz erschöpft aus, wir stellten ihr ein Licht hin und ließen sie allein.« So lautete der Bericht.

Nachdem er denselben angehört hatte, zündete er sich, ohne irgend eine Bemerkung zu machen, eine zweite Pfeife an und nahm seine Wanderung durch den Garten wieder auf. Die Zeit verging; es fing an, kühl zu werden. Der Wind strich hörbar über das offene Land, welches den Garten umgab; schwarze Wolken bedeckten die flimmernden Sterne und der ganze Himmel war in finstere Nacht gehüllt.

Geoffrey ging hinein. Im Speisezimmer brannte Licht; auf dem Tisch lag eine Abendzeitung. Er setzte sich und versuchte zu lesen; die Zeitung enthielt nichts, was ihn irgend interessirte. Die Zeit, wo er von dem Advocaten hören würde, rückte näher und näher. Er konnte nicht lesen, nicht still sitzen. Er ging wieder hinaus in den Vordergartem schlenderte nach der Eingangspforte, öffnete dieselbe, und sah gedankenlos den Weg hinunter und hinauf. Die über der Pforte befindliche Gaslaterne beleuchtete mit ihrem Schein nur ein einziges lebendes Wesen. Die Gestalt kam näher; es war der Postbote, der seine letzten Briefe ausbrachte Er kam mit eintritt Briefe in der Hand ans die Pforte zu.

»Wohnt hier Mr. Geoffrey Delamayn?«

»Jawohl!«

Geoffrey nahm dem Postboten den Brief ab und ging damit wieder in’s Speisezimmer. Als er bei dem Kerzenlicht die Adresse betrachtete, erkannte er Mrs. Glenarm’s Handschrift. »Ein Glückwunsch zu meiner Hochzeit!« murmelte er bitter vor sich hin und öffnete den Brief.

Das Glückwunschschreiben Mrs. Glenarm’s lautete wie folgt:

»Mein angebeteter Geoffrey!

Ich weiß Alles. Mein Geliebter! Mein Einziger! Du bist ein Opfer der nichtswürdigsten Spitzbübin, die je das Licht der Welt erblickt hat, und ich habe Dich verloren! Ich frage mich selbst, wie es möglich ist, daß ich noch lebe, nachdem ich das gehört habe, wie es möglich ist, daß ich mit glühendem Hirn und gebrochenem Herzen denken und schreiben kann. Aber, Du Engel, was mich aufrecht erhält, ist ein reines, schönes, unser Beider würdiges Ziel, das ich verfolge. Ich lebe, Geoffrey, ich lebe, um mich ganz dem Gedanken an Dich, mein Angebeteter hinzugeben. Du mein Held, Du meine erste und letzte Liebe! Ich werde keinen andern Mann heirathen. Ich werde, das gelobe ich feierlich, auf meinen Knieen, treu gegen Dich leben und sterben. Ich bin Deine Seelenbraut! Mein geliebter Geoffrey! Sie kann nicht zwischen uns treten, nein, sie kann Dich nimmermehr um die unerschütterliche Treue meines Herzens, um die unirdische Hingebung meines Selbst bringen. Ich bin Deine Seelenbraut! O, der unschuldigen Wollust, diese Worte zu schreiben! Antworte mir, Geliebter, und sage, daß Du ebenso empfindest. Gelobe, Du Jdol meines Herzens, wie ich gelobt habe, unerschütterliche Treue, unirdische Hingebung! Nie, nie werde ich das Weib eines Andern werden. Nie, nie werde ich der Person vergeben, die sich zwischen uns gedrängt hat. Ewig und einzig Dein, Dein mit einer fleckenlosen Leidenschaft, die auf dem Altare des Herzens brennt, Dein, Dein, Dein.

E. G.«

Dieser Erguß eines an und für sich einfach lächerlichen hysterischen Blödsinn’s war doch in seiner Wirkung auf Geoffrey von großer Bedeutung. Durch denselben gewann die Befriedigung seiner Rache gegen Anne zugleich ein sehr materielles Interesse für ihn. Da bot sich ihm in freier Hingebung ein jährliches Einkommen von zehntausend Pfund Sterling, und nichts hinderte ihn, die Hand nach dieser Einnahme auszustrecken, als das Weib, das ihn in seine Falle gelockt, das sich für Lebenszeit an seine Fersen gehängt hatte!

Er steckte den Brief in die Tasche. »Warte, bis Du von dem Advocaten gehört hast«, sagte er zu sich selbst. »Das wäre doch der einfachste Weg, aus der Sache herauszukommen, und ein völlig gesetzlicher Weg.« Er sah ungeduldig nach seiner Uhr. Als er sie eben wieder in die Tasche gesteckt hatte, erklang die Glocke an der Pforte. War es der Bursche, der das Gepäck brachte? Ja. Und er brachte auch den Bericht des Advocaten? Nein, sondern was noch besser war, den Advocaten selbst.

»Treten Sie näher!« rief Geoffrey dem Herrn, den er an der Thür traf, entgegen; der Advocat trat in’s Speisezimmer. Das Kerzenlicht beleuchtete einen corpulenten Mann mit aufgeworfenen Lippen und glänzenden Augen, mit einer gelben Hautfarbe, die einen Beisatz von Negerblut verrieth, dessen Ausdruck und ganze Haltung keinen Zweifel darüber ließen, das er sich mit den schmutzigsten Rechtsgeschäften zu befassen gewohnt war.

»Ich habe einen kleinen Besitz hier in der Nähe, und da dachte ich, ich wollte auf meinem Heimwege selbst bei Ihnen vorsprechen Mr. Delamayn.«

»Haben Sie die Zeugen gesprochen?«

»Ich habe sie Beide vernommen, Mr. Delamayn. Zuerst Mrs. Inchbare und Mr. Bishopriggs zusammen und dann Jeden von ihnen einzeln.«

»Nun?«

»Nun, Mr. Delanmyn, ich bedauere, Ihnen sagen zu müssen, daß das Ergebniß kein günstiges war.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Von keinem der beiden Zeugen ist eine Aussage, wie Sie sie brauchen, zu erlangen. Davon habe ich mich überzeugt.«

»Davon.haben Sie sich überzeugt? Sie haben verfluchten Unsinn gemacht! Sie verstehen den Fall nicht!«

Der Mulatten-Advocat lächelte. Die Grobheit seines Clienten schien ihn nur zu ergötzen. »So?« erwiderte er. »Ich verstehe den Fall nicht? Wie wäre es, wenn Sie mir sagtest, worin ich ihn mißverstanden habe? In Kürze liegt der Fall so: Am vierzehnten August dieses Jahres befand sich Ihre Frau, in einem Gasthof in Schottland. Ein Herr, Namens Arnold Brinkworth kam dort zu ihr. Er gab sich für ihren Mann aus und blieb bis zum nächsten Morgen bei ihr. Auf Grund dieser Thatsachen beabsichtigen Sie gegen Ihre Frau auf Scheidung zu klagen. Sie beschuldigen Mr. Arnold Brinkworth der Liebhaber Ihrer Frau gewesen zu sein und berufen sich dafür auf die Aussagen des Kellners und der Wirthin des Gasthofs. Sind meine Angaben soweit richtig, Mr. Delamayn?«

»Vollkommen richtig.« Der Plan, den Geoffrey als er auf dem Wege nach Fulham umgekehrt war, um Mr. Moy zu confultiren, ersonnen hatte, war nämlich kurz der, Anne mit einem einzigen feigen Streiche wieder von sich zu stoßen, und sich so wieder frei zu machen.

»Soviel über den Fall«, nahm der Advorat wieder auf. »Nun hören Sie, was ich nach Empfang Ihrer Instruktion gethan habe. Ich habe die Zeugen vernommen und habe eine nicht sehr angenehme Conferenz mit Mr. Moy gehabt. Das Ergebniß dieser beiden Schritte ist kurz Folgendes. Erste Entdeckung: Als Mr. Brinkworth sich für den Mann der Dame ausgab, handelte er nach Ihren Instructionen, —— ein Umstand, der auf das Entschiedenste gegen Sie spricht. Zweite Entdeckung: Keiner von beiden Zeugen hat in dem Verkehr der Dame und des Herrn während ihres gemeinsamen Aufenthaltes im Gasthofe die geringste Unschicklichkeit oder auch nur etwas einer harmlosen Vertraulichkeit Nahekommendes bemerkt. Es läßt sich im strengsten Sinne des Wortes nichts Anderes gegen sie aussagen, als daß sie in zwei aneinanderstoßenden Zimmern im Gasthofe zusammen waren. Wie wollen Sie auf eine schuldvolle Absicht klagen, wenn Sie keine Spur einer schuldvollen Handlung beweisen können? Sie können einen solchen Fall so wenig zum Gegenstand einer gerichtlichen Verhandlung machten, wie Sie über das Dach dieses Hauses wegspringen können.«

Er sah seinem Clienten scharf in’s Gesicht und machte sich auf einen groben Ausfall gefaßt, fand sich aber in dieser Erwartung angenehm getäuscht.

Seine Worte schienen auf diesen sonst so gedankenlosen und halsstarrigen Menschen einen sehr eigenthümlichen Eindruck hervorgebracht zu haben. Geoffrey stand ruhig auf und sagte, äußerlich vollkommen gefaßt: »Halten Sie also den Fall für hoffnunglos?«

»Wie die Dinge jetzt stehen, kann von einem Fall gar nicht die Rede sein, Mr. Delamayn.«

»Ich muß also die Hoffnung aufgeben, mich von ihr scheiden zu lassen?«

»Warten Sie einen Augenblick. Sind Ihre Frau und Mr. Brinkworth, seit sie in dem Gasthof zusammen waren, nicht wieder zusammengetroffen?«

»Nein.«

»Wie sich die Dinge in Zukunft gestalten mögen, kann ich natürlich nicht sagen. Auf Grund der Vergangenheit dürfen Sie nicht hoffen, von ihr geschieden zu werden.«

»Danke Ihnen. Guten Abend.«

»Guten Abend, Mr. Delamayn.«

Also für das Leben an sie gefesselt, durch ein Band gefesselt, welches das Gesetz zu lösen außer Stande war.«

Geoffrey brütete über diesen Gedanken, bis er sich ihn in seiner ganzen Bedeutung klar gemacht und völlig davon durchdrungen war. Dann zog er Mrs. Glenarm’s Brief wieder aus der Tasche und las denselben noch einmal aufmerksam von Anfang bis zu Ende durch. Nichts hatte ihre treue Anhänglichkeit an ihn erschüttern können. Nichts konnte sie auch jetzt noch bewegen, einen andern Mann zu heirathen. Da stand es von ihrer eigenen Hand geschrieben, wie sie auch ferner ganz nur für ihn leben und mit ihrem Vermögen darauf warten wolle, bis sie sein Weib werden könne. Und da war andererseits sein Vater, der, soviel er wußte, nur darauf wartete, Mrs. Glenarm als Schwiegertochter zu bewillkommnen, und dem Sohn, der ihm diese Schwiegertochter zuführen würde, ein eigenes Einkommen auszusetzen. Also die schönsten Aussichten, die ein Mann nur wünschen konnte, und nichts, was ihn an der Verwirklichung derselben hinderte, als das verwünschte Weib da oben. Er ging in den Garten in die dunkle Nacht hinaus. Der Hintergarten stand mit dem Vordergarten auf allen Seiten in ungehinderter Verbindung. Sein Weg führte ihn wieder und wieder bald am Hause vorüber, wo ein, von einem Fenster ausgehender Lichtschein seine Gestalt beleuchtete, bald in die dunkeln Parthien des Garten’s. Der Wind strich ihm erfrischend über das entblößte Haupt. Einige Minuten lang ging er so ohne einen Augenblick still zu stehen, wie im Kreise herum, endlich blieb er vor dem Hause stehen. Er sah hinauf nach dem trüben Licht, das von Anne’s Zimmer her schien.

»Wie?« Das ist die Frage.

»Wie?«

Er trat wieder in’s Haus und klingelte Die Magd, die darauf erschien, fuhr bei seinem Anblick zusammen. Seine frische Gesichtsfarbe war verschwunden, seine Augen starrten sie an, ohne daß er sie zu sehen schien. Der Schweiß stand ihm in dicken Tropfen auf der Stirn.

»Sind Sie nicht wohl, Herr?« fragte die Magd.

Er hieß sie mit einem Fluch den Mund halten, und ihm Branntwein bringen. Als sie wieder eintrat, stand er, ihr den Rücken zukehrend, am Fenster und blickte in die Nacht hinaus, ohne Notiz davon zu nehmen, daß sie die Flasche auf den Tisch setzte. Sie hörte ihn etwas vor sich hinmurmeln, als wenn er mit sich selber spräche. Dieselbe Schwierigkeit, die ihm draußen unter Anne’s Fenster innerlich beschäftigt hatte, beschäftigte ihn noch immer.

Wie? Das war das zu lösende Problem.

Er nahm seine Zuflucht zum Branntwein.



Sechsundfünfzigstes Kapitel - Der Morgen

Wann quält uns der Kummer über unwiderbringlich Verlorenes am schreckIichsten? Wann erblicken wir die unsichere Zukunft in den schwärzesten Farben? Wann erscheint uns das Leben am werthlosesten, und wann wünschen wir den Tod am sehnlichsten herbei? In den schrecklichen Morgenstunden, wo die Sonne in ihrer ganzen Pracht aufgeht, wo die Vögel den neugebornen Tag mit ihrem Gesang begrüßen.

Anne erwachte in dem fremden Bette und schaute in dem von der Morgensonne beleuchteten fremden Zimmer umher.

Der Regen, der während der Nacht gefallen war, hatte nachgelassen. Die Sonne stand wieder unbewölkt an dem klaren Herbsthimmel. Anne stand auf und öffnete das Fenster; die frische Morgenluft drang mit ihrem erquickenden Hauch in das Zimmer. Nah und fern lag über der Gegend dieselbe freundliche Ruhe. Anne schaute zum Fenster hinaus. Ihr Geist war wieder klar, ihr Gemüth hatte seine Fassung wieder gewonnen, sie konnte wieder denken, wieder fühlen, sie konnte der einzigen noch übrigen Frage, welche der unbarmherzige Morgen ihr jetzt aufdrängte: »Wie wird das alles werden?« scharf in’s Gesicht sehen.

Morgen.

Gab es noch eine Hoffnung für sie, eine Hoffnung, daß sie selbst etwas für sich würde thun können? Was kann eine verheirathete Frau für sich thun? Sie kann ihr Unglück, vorausgesetzt, daß dasselbe von einer gewissen Beschaffenheit ist an die Oeffentlichkeit bringen und kann sich, wenn sie das gethan hat, allein mit der Gesellschaft abfinden. Weiter vermag sie nichts.

Gab es eine Hoffnung für sie, daß Andere noch etwas würden für sie thun können? Blanche konnte ihr schreiben, konnte vielleicht sogar, wenn Anne’s Mann es erlaubte, sie besuchen, das war aber auch Alles. Sir Patrick hatte ihr beim Abschied die Hand gedrückt und ihr zugeflüstert, sie möge auf ihn vertrauen. Er war der beste, zuverlässigste Freund, aber was konnte er thun? Gab es doch Dinge, die ihr Mann nach dem Gesetze zu thun berechtigt war, bei deren bloßen Gedanken ihr das Blut in den Adern erstarrte. Konnte Sir Patrick sie dagegen schützen? Lächerlicher Gedanke! Das Gesetz, und die Gesellschaft würden vielmehr ihren Gatten in seinen ehelichen Rechten schützen. Gesetz und Gesellschaft hatten nur eine Antwort für sie, wenn sie Schutz von ihnen verlangte: »Du bist sein Weib.«

Keine Hoffnung auf Rettung weder durch sich selbst noch durch Andere, auf der weiten Welt keine Rettung, keine! Ihr blieb nichts übrig, als im Vertrauen auf die göttliche Grube, im Vertrauen auf eine bessere Welt das Ende abzuwarten.

Sie nahm aus ihrem Koffer ein kleines, durch häufigen Gebrauch sehr abgegriffenes Gebet- und Andachtsbuch, das einst ihrer Mutter gehört hatte. Sie setzte sich mit demselben an’s Fenster und las darin. Jetzt war die Aehnlichkeit ihrer Lage mit der ihrer Mutter noch frappanter geworden. Beide waren sie an Männer verheirathet, von welchen sie gehaßt wurden, an Männer, deren Interesse sie auf Geldheirathen mit anderen Frauen hinwies, an Männer, deren einziger Wunsch und einziger Zweck es war, sich von ihren Frauen loszumachen. Sonderbar! auf wie verschiedenen Wegen Mutter und Tochter beide demselben Schicksale entgegen geführt worden waren; nur die Frage, ob die Aehnlichkeit ihrer Schicksale sich auch bis auf den Ausgang erstrecken würde, war noch unentschieden. »Ob ich wohl«, fragte sie sich, an die letzten Augenblicke ihrer Mutter denkend, »in Blanche’s Armen sterben werde?«

Unter solchen Gedanken war ihr die Zeit vergangen, ohne daß sie des allmälig im Hause erwachten Lebens inne geworden wäre. Erst die vor ihrer Thür ertönende Stimme der Magd brachte sie wieder zu dem Bewußtsein der Gegenwart.

»Der Herr wünscht, daß Sie herunterkommen, Madame!«

Anne stand sofort auf und legte das kleine Andachtsbuch bei Seite.

»Ist das Alles, was Sie mir bestellen sollen?« fragte sie, indem sie die Thür öffnete.

»Ja, Madame.«

Sie folgte dem Mädchen hinunter, indem sie sich der sonderbaren Worte erinnerte, die Geoffrey am Abend zuvor in Gegenwart der Dienstboten an sie gerichtet hatte. Sollte sie jetzt erfahren, was mit diesen Worten eigentlich gemeint war? Dass mußte sich bald zeigen.

»Was immer für Prüfungen mir beschieden sein mögen«, dachte sie bei sich, »ich will sie tragen, wie weine Mutter sie getragen haben würde.«

Die Magd öffnete die Thür des Speisezimmers. Das Frühstück stand auf dem Tisch; Geoffrey stand am Fenster; Hester Dethridge hatte sich zum Aufwarten bereit an die Thür postirt.«

Als Anne eintrat, kam ihr Geoffrey mit einem freundlich lächelnden Ausdruck, wie sie ihn noch nie an ihm wahrgenommen hatte, entgegen und bot ihr die Hand. Sie hatte, als sie das Zimmer betrat, auf Alles gefaßt zu sein geglaubt. Auf einen solchen Empfang aber war sie nicht gefaßt, sprachlos stand sie da und sah ihn an. Auch Hester sah ihm, nachdem sie auf Anne beim Eintreten einen raschen Blick geworfen hatte, fest in’s Gesicht und wandte, solange Anne im Zimmer blieb, das Auge nicht wieder von ihm ab.

Nach einer Pause brach er wieder das Schweigen, mit Worten, deren Ton wie der einer ihm fremden Stimme klang, und mit einer unheimlichen Zurückhaltung, wie sie früher nie an ihm beobachtet hatte.

»Willst Du Deinem Mann nicht die Hand geben«, fragte er, »wenn Dein Mann Dich darum bittet?«

Mechanisch legte sie ihre Hand in die seinige, aber er fuhr zusammen und ließ die Hand auf der Stelle wieder fahren.

»Gott, wie kalt!« rief er aus.

Seine eigene Hand glühte und zitterte fortwährend. Er wies auf einen Stuhl am oberen Ende des Tisches hin.

»Willst Du Thee machen?« fragte er.

Mechanisch hatte sie ihm die Hand gereicht, mechanisch trat sie jetzt einen Schritt vor, stand aber dann wieder still.

»Möchtest Du lieber allein frühstücken?« fragte er.

»Wenn Du nichts dagegen hast«, antwortete sie mit schwacher Stimme, »würde ich es vorziehen.«

»Warte einen Augenblick, ich habe Dir noch etwas zu sagen, bevor Du gehst.«

Sie wartete. Er besann sich offenbar auf Etwas, das er vorbereitet hatte, bevor er sprach. »Ich habe«, fing er an, »die ganze Nacht Zeit gehabt, mit mir zu Rathe zu gehen, Und die Nacht hat nun einen neuen Menschen aus mir gemacht. Ich bitte Dich wegen dessen, was ich gestern Abend gesagt habe, um Verzeihung. Ich war gestern meiner selbst nicht mächtig und sprach Unsinn. Bitte vergiß das und vergieb es mir. Ich will ein Anderer werden und mein bisheriges Betragen wieder gut machen. Ich will versuchen ein guter Ehemann zu werden. In Gegenwart von Mrs. Dethridge bitte ich Dich, mir diesen Versuch möglich zu machen, ich will Deiner Neigung keine Gewalt anthun. Wir sind einmal verheirathet, wozu nützt es, das zu beklagen? Bleibe hier, wie Du es gestern wolltest, unter Deinen eigenen Bedingungen. Jetzt will ich Dich nicht länger zurückhalten, ich bitte Dich nur, Dir die Sache zu überlegen. Guten Morgen.«

Er sprach diese merkwürdigen Worte wie ein Schuljunge, der eine schwere Lection aufsagt, die Augen auf den Boden geheftet und mit den Fingern fortwährend verlegen einen Knopf an seiner Weste auf- und zuknöpfend. Anne ging wieder hinaus. Auf dem Vorplatz mußte sie stehen bleiben und sich gegen die Wand lehnen. Seine unnatürliche Höflichkeit war ihr fürchterlich gewesen, seine wohütberlegte Versicherung seiner Reue hatte sie mit Entsetzen erfüllt. Noch nie, selbst in den Momenten seiner wildesten Wuthausbrüche, wo er sich der niedrigsten Ausdrücke gegen sie bedient, hatte sie einen solchen Schauder vor ihm empfunden, wie eben jetzt. Hester Dethridge folgte ihr und schloß die Thür hinter sich. Sie sah Anne scharf in’s Gesicht und hielt ihr die Tafel entgegen, nachdem sie auf dieselbe die Worte geschrieben hatte: »Glauben Sie ihm?«

Anne stieß die Tafel von sich und eilte die Treppe hinauf. Sie schloß die Thür und sank in einen Stuhl. »Er bereitet etwas gegen mich vor«, sagte sie sich, »was mag es sein?«

Ein ihr ganz neues Gefühl physischer Furcht ließ sie davor zurückschrecken, diese Frage weiter zu verfolgen. Es befiel sie eine Angst, die sie fast ohnmächtig machte; sie trat an’s offene Fenster. In demselben Augenblick erscholl die Glocke an der Pforte. Argwöhnisch gegen Jedermann und gegen Jedes, wie sie in diesem Augenblicke war, schien es ihr nicht gerathen, sich blicken zu lassen. Sie trat etwas vom Fenster zurück und blickte durch die Vorhänge hinaus. Ein Livreediener, der einen Brief in der Hand hielt, trat durch die Pforte. In dem Augenblick, wo er unter Anne’s Fenster vorüberging, sagte er zu der Magd, die ihm geöffnet hatte: »Ich komme von Lady Holchester, ich muß Mr. Delamayn auf der Stelle sprechen.« Sie gingen in’s Haus.

Kurz darauf ging der Diener wieder fort. Nach einer kleinen Weile wurde an Anne’s Thür geklopft Sie zauderte. Das Klopfen wiederholte sich, und das stumme Gemurmel Hester Dethridge’s wurde von draußen vernehmbar. Anne öffnete die Thür, Hester trat mit dem Frühstück ein und deutete auf einen Brief, der auf dem Frühstücksbret lag. Der Brief war von Geoffrey’s Hand an Anne adressirt und enthielt die folgenden Worte:

»Mein. Vater ist gestern gestorben. Bestelle Dir schriftlich Deine Trauerkleider, der Bursche soll das Billet besorgen. Du brauchst nicht selbst nach London zu gehen, sondern kannst Dir Jemanden aus dem Laden her beordern.«

Anne ließ den Brief, ohne aufzublicken in ihren Schooß fallen. Im demselben Augenblick hatte Dethridge verstohlen ihre Tafel zwischen das Billet und Anne’s Augen geschoben, darauf standen die Worte: »Seine Mutter kommt heute. Sein Bruder ist telegraphisch von Schottland herbeigerufen. Gestern Abend war er betrunken, jetzt trinkt er wieder. Ich weiß, was das zu bedeuten hat. Geben Sie Acht, Madame, geben Sie Acht.«

Anne machte ihr ein Zeichen, das Zimmer zu verlassen. Hester ging hinaus und zog die Thür nach sich, ohne sie jedoch zu schließen. Wieder klingelte es an der Pforte. Wieder trat. Anne an’s Fenster. Diesmal war es nur der Bursche, der kam, seine Ordres für den Tag entgegen« zu nehmen. Kaum war er in den Garten getreten, als ihm der Postbote auf dem Fuße folgte; Eine Minute später vernahm sie Geoffrey’s Stimme auf dem Vorplatz und gleich darauf die schweren Tritte, mit denen er die Treppe hinaufstieg. Anne eilte an die Thür um die Riegel vorzuschieben, aber noch ehe sie die Thür hatte schließen können, stand Geoffrey vor ihr. »Hier ist ein Brief für Dich«, sagte er, indem er es ängstlich vermied, die Schwelle des Zimmers zu betreten. »Ich denke nicht daran, Deinen Neigungen Gewalt anzuthun, ich bitte Dich nur, mir zu sagen, von wem der Brief ist.«

Seine Haltung war dabei von derselben ergebenen Höflichkeit wie vorher, aber sein unaussgesprochenes Mißtrauen gegen sie verrieth sich in seinen Blicken. Sie warf einen Blick. auf die Adresse.

»Der Brief ist von Blanche«, antwortete sie.

Leise setzte er seinen Fuß zwischen Thür und Thürpfosten und wartete, bis sie Blanche’s Brief gelesen hatte.

»Darf ich den Brief sehen?« fragte er, und steckte dabei seine Hand durch die Thür.

Anne hatte ihre Widerstandskraft verloren. Sie reichte ihm das offene Schreiben. Der Brief war sehr kurz. Nach einigen herzlichen Worten beschränkte er sich geflissentlich darauf; den Zweck, zu welchem er geschrieben war, anzugeben. Blanche wünschte Anne am Nachmittage des heutigen Tages in Begleitung ihres Onkels zu besuchen; sie fragte vorher an, um sicher zu sein, Anne zu Hause zu finden. Das war Alles. Der Brief war ersichtlich unter Sir Patricks Aufsicht geschrieben.

Geoffrey gab ihn ihr zurück, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte.

»Nachdem mein Vater gestern gestorben ist«, sagte er, »kann meine Frau keine Besuche annehmen, bevor er begraben ist. Ich will Deinen Neigungen keine Gewalt anthun, ich sage nur, ich kann vor erfolgtem Begräbniß, außer Mitgliedern meiner Familie, keinen Besuchern den Zutritt zu uns gestatten. Sage Deiner Freundin das in einer Zeile, die der Bursche besorgen kann.«

Mit diesen Worten verließ er sie.

Eine Berufung auf die Schicklichkeit konnte in dem Munde Geoffrey Delamayn’s nur zweierlei bedeuten. Entweder war, was er gesagt hatte, ein roher Hohn gewesen, oder er hatte dabei einen Hintergedanken gehabt. Wollte er den Tod seines Vaters als Vorwand benutzen, seine Frau von allem Verkehr mit der Außenwelt abzuschneiden? Hatte er noch unausgesprochene Gründe, den Verkehr Anne’s mit ihren Freunden zu fürchten? Die Zeit verging und Hester Dethridge erschien wieder, um zu melden, daß der Bursche auf Anne’s Ordres im Betreff ihrer Trauertoilette und auf ihr Billet an Mr. Arnold Brinkworth warte. Anne schrieb die Ordres und das Billet. Als sie damit fertig war, drängte sich abermals die furchtbare Tafel zwischen ihr Schreibpapier und ihre Augen, mit den erbarmungslos warnenden Worten: »Er hat die Pforte abgeschlossen. Wenn geklingelt wird, sollen wir uns den Schlüssel von ihm holen. Er hat an eine Frau geschrieben die nach der Adresse Mrs. Glenarm heißt. Er hat wieder Branntwein getrunken. Grade wie mein Mann, nehmen Sie sich in Acht.«

So war also der einzige Ausgang aus den das Haus rings umgebenden Mauern verschlossen, war es ihren Freunden untersagt, sie zu besuchen, war sie gefangen in Einzelhaft und der Kerkermeister war ihr Mann. Noch waren nicht vierundzwanzig Stunden vergangen, seit sie das Haus betreten hatte, und schon war es dahin gekommen. Und was würde weiter geschehen?«

Mechanisch trat sie wieder an’s Fenster. Der Anblick der Außenwelt, das gelegentliche Vorüberfahren eines Wagens übte eine belebende Wirkung auf sie. In diesem Augenblick ging der Bursche durch den Vordergarten, im Begriff seine Besorgungen in London auszurichten. Geoffrey ging mit thut, um die Pforte zu öffnen und rief ihm, als er ihn hinausgelassen hatte, nach: »Vergiß die Bücher nicht.«

Die Bücher! Was für Bücher? Für wen? Die geringste Kleinigkeit erweckte jetzt Anne’s Verdacht. Noch Stunden lang verfolgte sie der Gedanke an diese Bücher. Geoffrey schloß die Pforte wieder ab und ging nach dem Haus zurück; unter Anne’s Fenster blieb er stehen und rief sie. Sie sah zum Fenster hinaus. »Wenn Du frische Luft und Bewegung wünschen solltest«, sagte er, »so steht der Hintergarten ganz zu Deiner Disposition.« Dann steckte er den Pfortenschlüssel in die Tasche und ging wieder in’s Haus.

Nach einigem Schwanken beschloß Anne von Geoffrey’s Erlaubniß Gebrauch zu machen. In ihrem Zustande banger Ungewißheit wurde ihr der Aufenthalt in ihren vier Mauern völlig unerträglich. Selbst wenn hinter dem anscheinend harmlosen Vorschlag, den Geoffrey ihr gemacht hatte, eine ihr gestellte Falle lauern sollte, so widerstrebte es ihr doch weniger, sich dieser Gefahr auszusetzen, als darüber brüten zu müssen. Sie setzte ihren Hut auf und ging in den Garten hinab. Es begegnete ihr durchaus nichts Bemerkenswerthes, Geoffrey ließ sich nicht blicken. Anne hielt sich auf- und abgehend, in dem Theile des Gartens, der von dem Fenster des Speisezimmers am weitesten ablag. Aus dem Garten zu entkommen war für eine Frau einfach unmöglich. Abgesehen von der Höhe der Mauer waren sie, ihrem ganzen Umfange nach, oben mit Glasscherben bedeckt. Eine kleine, wahrscheinlich für den Gärtner bestimmte Thür in der das äußerste Ende des Hintergartens abschließenden Mauer, war verriegelt und verschlossen. Kein Haus war in der Nähe. Ländereien von Gemüsegärtnern umgaben den Garten auf allen Seiten. Im neunzehnten Jahrhundert, und in der unmittelbaren Nähe einer großen Hauptstadt war Anne von jedem Verkehr mit der Außenwelt so vollständig abgesperrt, wie wenn sie todt gewesen wäre. Nach Verlauf einer halben Stunde wurde die im Garten herrschende Stille durch das Geräusch rollender Wagenräder auf der Landstraße und ein Klingeln an der Pforte unterbrochen. Anne hielt sich dicht an der Rückseite des Hauses, entschlossen sich die Chance, mit dem Besuchenden, es mochte sein wer es wollte, zu sprechen, nicht entgehen zu lassen.

Bald darauf vernahm sie durch das offene Fenster Stimmen im Speisezimmer, die Stimme Geoffrey’s und die einer Frau: Wer mochte das sein? Doch nicht Mrs. Glenarm? Nach einer Weile wurde die Stimme der Besuchenden plötzlich lauter: »Wo ist sie?« rief sie, »ich wünsche sie zu sehen.« Anne ging sofort an die Hinterthür des Hauses, und fand sich hier einer Dame gegenüber, die ihr völlig fremd war:

»Sind Sie die Frau meines Sohnes?« fragte die Dame.

»Ich bin seine Gefangene«, antwortete Anne.

Lady Holchester’s bleiches Gesicht wurde noch bleicher. Es war klar, daß Anne’s Antwort einen Verdacht bei ihr bestätigt hatte, der bereits durch die Unterhaltung smit ihrem Sohne erweckt worden war.

»Was wollen Sie damit sagen?« flüsterte sie.

In diesem Augenblick ließen sich Geoffrey’s schwere Fußtritte im Speisezimmer vernehmen.

Es war keine Zeit mehr zu einer Erklärung, Anne flüsterte nur noch die Worte:

»Lassen Sie meine Freunde wissen, was ich Ihnen gesagt habe.«

Geoffrey erschien an der Thür des Speisezimmers.

»Nennen Sie mir einen Ihrer Freunde«, erwiderte Lady Holchester.

»Sir Patrick Lundie.«

Geoffrey hörte diese Antwort und fragte: »Was ist mit Sir Patrick Lundie?«

»Ich wünsche Sir Patrick Lundie zu sprechen«, antwortete seine Mutter, »und Deine Frau kann mir sagen, wo er zu finden ist.«

Anne verstand sofort, daß Lady Holchester gesonnen sei, ihren Auftrag an Sir Patrick Lundie auszurichten. Sie nannte seine Londoner Adresse. Lady Holchester schickte sich an fortzugehen; ihr Sohn hielt sie zurück.

»Laß uns die Sache in’s Reine bringen, bevor Du gehst«, sagte er. »Meine Mutter«, fuhr er gegen Anne gewandt fort, »meint, es sei nicht viel Aussicht vorhanden, daß wir Beiden gut mit einander leben. Bitte, sag Du ihr selbst, wie es damit steht. Was habe ich Dir beim Frühstück gesagt? Habe ich nicht gesagt, ich wolle versuchen Dir ein guter Ehemann zu sein? Habe ich nicht in Mrs. Dethridges Gegenwart gesagt, ich wolle wieder gut machen, was ich gegen Dich gefehlt habe?«

Er wartete, bis Anne seine Fragen bejahend beantwortet hatte und wandte sich dann wieder an seine Mutter.

»Nun, was denkst Du jetzt?«

»Lady Holchester schien nicht geneigt diese Frage zu beantworten. »Noch diesen Abend«, sagte sie zu Anne, »sehen Sie mich wieder oder sollen von mir hören.«

Geoffrey versuchte es, seine unbeantwortet gebliebene Frage zu wiederholen. Als aber seine Mutter ihn scharf ansah, vermochte er ihren Blick nicht zu ertragen und senkte sofort die Augen. Mit ernster Miene grüßte sie Anne und zog ihren Schleier über das Gesicht. Schweigend begleitete ihr Sohn sie bis an die Ausgangspforte Anne kehrte, zum ersten Mal seit ihrem Erwachen an diesem Tage, etwas erleichtert auf ihr Zimmer zurück.

»Seine Mutter ist unruhig«, dachte sie bei sich, »es muß eine Veränderung eintreten. »Und diese Veränderung sollte noch an demselben Abend eintreten.



Siebenundfünfzigstes Kapitel - Der Vorschlag

Gegen Abend fuhr Lady Holchester’s Wagen wieder vor. Drei Personen saßen darin, Lady Holchester, ihr ältester Sohn«, jetzt Lord Holchester und Sir Patrick Lundie.

»Wollen Sie im Wagen warten, Sir Patrick«, fragte Julius, »oder wollen Sie mit hineingehen?«

»Ich will warten. Wenn Sie finden sollten, daß ich ihr irgend nützen kann, schicken Sie, bitte, sofort nach mir. Inzwischen vergessen Sie nicht, den von mir angegebenen Vorschlag zu machen. Das ist der einzige sichere Weg, die wahre Gesinnung Ihres Bruders in dieser Angelegenheit zu ergründen.«

Der Diener hatte geklingelt, ohne daß etwas darauf erfolgt wäre. Während er zum zweiten Male klingelte, richtete Lady Holchester eine Frage an Sir Patrick.

»Haben Sie mir,« fragte sie, »für den Fall, daß ich Gelegenheit haben sollte, die Frau meines Sohnes allein zu sprechen, irgend etwas an sie aufzutragen?«

Sir Patrick zog ein kleines Billet aus der Tasche.

»Würden Sie die Güte haben, gnädige Frau, ihr das zu geben?«

In dem Augenblick, wo Lady Holchester das Billet zu sich nahm, wurde die Pforte von der Magd geöffnet.

»Vergessen Sie nicht ——«, wiederholte Sir Patrick sehr nachdrücklich, »wenn ich ihr irgendwie nützlich sein kann. Denken Sie nicht an mein Verhältniß zu Mr. Delamayn, sondern schicken Sie ohne Weiteres zu mir.«

Julius und seine Mutter wurden in das Wohnzimmer geführt. Die Magd berichten, daß der Herr hinausgegangen sei, um sich niederzulegen, aber sogleich herunterkommen werde. Beide, Mutter und Sohn, waren zu aufgeregt, um zu reden. Julius ging unruhig im Zimmer auf und ab. Einige Bücher, die auf einem Tisch in der Ecke lagen, zogen seine Aufmerksamkeit auf sich, vier schmutzige, fettige Bände, aus deren einem ein Papierstreifen hervorguckte, auf welchem die Worte standen »Ergebenst von Perry.« Julius öffnete den Band. Es war das unter dem Namen »The Nengate Calender« erscheinende abscheuliche Magazin von englischen Criminalgeschichten. Julius zeigte es seiner Mutter.

»Eine Probe von Geoffreys literarischem Geschmack«, sagte er mit einem traurigen Lächeln.

Lady Holchester machte ihm ein Zeichen, das Buch wieder an seinen Platz zu legen.

»Du hast Geoffretys Frau schon einmal gesehen, sticht wahr?« fragte sie.

Dieses Mal lag in ihrem Ton, als sie von Anne sprach, keine Spur von Geringschätzung. Der Eindruck, den ihr Besuch bei Geoffrey diesen Morgen auf sie hervorgebracht hatte, ließ ihr Geoffrey’s Frau mit schweren Familiensorgen eng verknüpft erscheinen. Vielleicht daß sie Anne noch immer um Mrs. Glenarm’s willen nicht gern hatte, aber verachten konnte sie dieselben nicht mehr.

»Ich habe sie in Swanhaven gesehen«, erwiderte Julius. »Ich muß Sir Patrick darin Recht geben, daß sie den Eindruck einer der Theilnahme sehr würdigen Person macht.«

»Was hat Dir Sir Patrick diesen Nachmittag bezüglich Geoffrey’s gesagt, als ich das Zimmer verlassen hatte?«

»Dasselbe was er Dir bereits gesagt hatte. Er erklärte, daß er die Lage Beider hier für eine sehr beklagenswerthe halte, und sprach die Ueberzeugung aus, daß sehr dringende Gründe für uns vorhanden seien, uns sofort in’s Mittel zu legen.«

»Julius, Sir Patrick denkt noch etwas anderes.«

»Das hat er meines Wissens nicht ausgesprochen.«

»Wie kann er es uns gegenüber aussprechen?«

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür und Geoffrey trat ein. Julius reichte ihm die Hand, und beobachtete ihn dabei scharf. Seine Augen waren mit Blut unterlaufen, sein Gesicht hoch geröthet, seine Zunge schwer, seine ganze Erscheinung die eines Menschen, der zu viel getrunken hat.«

»Nun!« redete er seine Mutter an, »was führt Dich wieder her?«

»Julius hat. Dir einen»Vorschlag zu machen«, antwortete Lady Holchester. »Ich bin mit diesem Vorschlag einverstanden, und bin deshalb mit ihm hergekommen.«

Geoffrey wandte sich gegen Julius mit den Worten:

»Was kann ein reicher Mann wie Du, von einem armen Teufel wie ich es bin, wollen?«

»Ich möchte Dir Gerechtigkeit widerfahren lassen, Geoffrey, wenn Du es mir möglich machst, indem Du mir auf halbem Wege entgegen kommst. Hat unsere Mutter Dir von dem Testament unseres Vaters gesagt?«

»Ich weiß, daß für mich in dem Testament kein Heller ausgesetzt ist, und habe es nicht anders erwartet; fahre fort.«

»Du irrst Dich; das Testament setzt etwas für Dich ans. Ein Codicill zu dem Testament bedenkt Dich mit einer ansehnlichen Rente. Unglücklicherweise ist unser Vater gestorben ohne dieses Codicill zu unterzeichnen. Ich brauche wohl kaum zu sagen, daß ich das Codicill als für mich bindend betrachte. Ich bin bereit für Dich zu thun, was mein Vater für Dich thun wollte, und verlange dafür nur eine Concession von Dir.«

»Und die wäre?«

»Du lebst hier sehr unglücklich mit Deiner Frau, Geoffrey?«

»Wer sagt das? Ich leugne es.«

Julius legte seine Hand sanft auf den Arm seines Bruders und sagte: »Nimm eine so ernste Angelegenheit nicht leicht, Geoffrey. Deine Heirath ist in jedem Sinne des Worts ein Unglück, nicht nur für Dich, sondern auch für Deine Frau. Ihr könnt unmöglich zusammen leben; ich bin hergekommen, Dich aufzufordern, in eine Trennung zu willigen. Wenn Du das thust, so erhältst Du die Dir in dem ununterzeichneten Codicill ausgesetzte Rente. Was sagst Du dazu?«

Geoffrey machte seinen Arm von der Hand seines Bruders los und antwortete:

»Ich sage: Nein!«

Zum ersten Mal mischte sich Lady Holchester in die Unterhaltung mit den Worten:

»Das großmüthige Anerbieten Deines Bruders hätte eine bessere Antwort verdient.«

»Meine Antwort«, wiederholte Geoffrey, »ist, Nein!«

Seine Hände geballt auf den Knieen haltend und vollkommen unzugänglich für Alles, was seine Mutter und sein Bruder ihm sagen konnten, saß er zwischen Beiden da.

»In Deiner Lage«, sagte Julius, »ist eine Ablehnung meines Anerbietens reine Tollheit; ich nehme sie nicht an.«

»Das kannst Du halten, wie Du willst. Mein Entschluß steht fest. Ich will nicht, daß meine Frau mich verläßt; sie bleibt hier.«

Der brutale Ton, in welchem er diese Worte sprach, beleidigte Lady Holchester.

»Nimm Dich in Acht«, sagte sie, »Dein Benehmen zeugt nicht nur von dem größten Undank gegen Deinen Bruder, sondern drängt mir einen Verdacht auf; Du hast für Deine Handlungsweise Motive, die Du vor uns verbirgst.«

Geoffrey wandte sich gegen seine Mutter, mit einer plötzlichen Wildheit im Ausdruck, die Julius veranlaßte aufzuspringen. Im nächsten Augenblick senkte Geoffrey die Blicke wieder zu Boden. Der böse Geist, von dem er besessen war, schien wieder gebannt.

»Ich verberge ein Motiv vor Euch?« wiederholte er mit gesenkten Blicken und schwerer Zunge. »Ihr könnt mein Motiv, wenn Ihr Lust habt, in den Straßen laut ausrufen lassen. Ich liebe sie.«

Bei diesen Worten blickte er auf. Lady Holchester wandte ihr Gesicht ab, es schauderte sie vor ihrem eigenen Sohn. Das Einsehen, das ihr Geoffrey’s Worte einflößten, war so überwältigend, daß selbst das eingewurzelte Vorurtheil gegen Anne, welches Mrs. Glenarm ihr beigebracht hatte, völlig davor wich. In diesem Augenblick fühlte sie sich ganz von der Empfindung des Mitleids für Anne beherrscht.

»Das arme Geschöpf« rief Lady Holchester.

Geoffrey that als fühle er sich durch diese Worte verletzt. »Kein Mensch soll meine Frau bemitleiden. Mit diesen Worten eilte er auf den Vorplatz hinaus und rief laut: »Anne, komm’ herunter!«

Sofort vernahm man ihre sanfte Stimme und ihre leichten Fußtritte auf der Treppe. Als sie in’s Zimmer trat, ging ihr Julius entgegen, ergriff ihre Hand und hielt sie mit sanftem Drucke fest. »Wir haben hier einen kleinen Familiendisput«, sagte er, indem er es versuchte ihr Muth einzuflößen »und Geoffrey ereifert sich dabei, wie gewöhnlich!«

Geoffrey wandte sich trotzig gegen seine Mutter und sagte: »Sieh’ sie an! Sieht sie aus, als ob sie Hunger litte? Ist sie schlecht gekleidet? Trägt sie die Spuren von Schlägen?« Dann fuhr er gegen Anne gewandt fort: »Sie sind hergekommen uns eine Trennung vorzuschlagen, sie glauben Beide, ich hasse Dich. Ich hasse Dich nicht. Ich bin ein guter Christ. Ich verdanke es Dir, daß ich in dem Testament meines Vaters übergangen bin; ich vergebe Dir das! Ich verdanke es Dir, daß mir die Chance entgangen ist, eine Frau mit einem jährlichen Einkommen von zehntausend Pfund zu heirathen; auch das vergebe ich Dir! Ich bin nicht der Mann, der eine Sache halb thut. Ich habe Dir gesagt, ich wolle es versuchen Dir ein guter Ehemann zu sein, und was ich gegen Dich gefehlt habe, wieder gut zu machen. Nun, ich bin so gut wie mein Wort; und was geschieht? Man insultirt mich. Meine Mutter und mein Bruder kommen her und bieten mir Geld an, um mich zu bewegen, mich von Dir zu trennen. Hol’ der Henker das Geld. Ich will Niemandem verpflichtet sein, ich will mir selbst mein Brod verdienen. Pfui! über die Leute, die sich zwischen Mann und Weib eindrängen! Pfui! sage ich und nochmals Pfui!«

Anne, der diese Aeußerungen Geoffrey’s unerklärlich waren, sah ihre Schwiegermutter an und fragte:

»Haben Sie eine Trennung zwischen uns vorgeschlagen!«

»Allerdings; und zwar unter den vorteilhaftesten Bedingungen für meinen Sohn. Haben Sie irgend etwas dagegen einzuwenden?«

»O, Lady Holchester, bedarf es dieser Frage an mich? Was sagt er dazu?«

»Er lehnt es ab.«

»Lehnt es ab?«

»Jawohl", sagte Geoffrey, »und ich bleibe dabei. Ich beharre bei dem, was ich Dir diesen Morgen gesagt habe. Ich will es versuchen, Dir ein guter Ehemann zu sein, und was ich gegen Dich gefehlt habe, wieder gut zu machen.«

Er hielt einen Augenblick inne und fügte dann hinzu, was er als seinen letzten Grund angegeben hatte: »Ich liebe Dich.«

Während er diese Worte sprach, begegneten sich ihre Blicke Julius fühlte plötzlich, wie Anne’s Hand die seinige fest umschloß. Der verzweifelte Druck der zarten, kalten Finger, der flehende Ausdruck des Entsetzens, in den sich ihr sanftes, feines Gesicht ihm zuwandte, sprachen beredter als es Worte vermocht hätten: »Lassen Sie mich diesen Abend nicht einsam und freundlos hier.«

»Und wenn Ihr Beide hier bis zum jüngsten Tage bliebet«, sagte Geoffrey, »so würdet ihr doch nicht mehr aus mir herausbringen. Ich habe Euch mein letztes Wort gesagt.«

Mit diesen Worten setzte er sich mit verdrossener Miene in eine Ecke des Zimmers, und zeigte in seiner ganzen Haltung, wie sehnlich er den Moment erwarte, wo Mutter und Bruder ihn verlassen würden. Die Situation war höchst bedenklich. Jeder Versuch, diesen Abend noch weiter mit ihm über die Sache zu diskutiren, wäre ganz hoffnungslos gewesen. Eine Anrufung von Sir Patricks Vermittlung wäre für Geoffrey nur eine Veranlassung zu einem neuen leidenschaftlichen Ausbruch geworden. Andererseits erschien es als ein Gebot der einfachsten Humanität, die hilflose Frau, nach dem was vorgefallen war, nicht zu verlassen, ohne einen neuen Versuch gemacht zu haben, ihr beizustehen. Julius ergriff den einzig noch übrigen Ausweg aus dieser schwierigen Lage, den einzigen eines so ehrenwerthen und feinfühlenden Mannes würdigen Ausweg.

»Wir wollen die Sache heute Abend auf sich beruhen lassen, Geoffrey«, sagte er. »Aber ich bin, ungeachtet alles dessen, was Du gesagt hast, doch nicht weniger entschlossen, morgen auf den Gegenstand zurück zu kommen. Es würde mir viele Unbequemlichkeiten, eine zweite Fahrt aus der Stadt hierher und dann eine beschleunigte Rückfahrt, um meine Geschäfte nicht zu versäumen, ersparen, wenn ich heute Nacht hier bleiben könnte. Hast Du ein Bett für mich?«

Anne dankte ihm mit einem raschen Blick, der mehr sagte, als Worte es vermocht hätten.

»Ein Bett für Dich?« wiederholte Geoffrey, und stand im Begriff die Frage zu verneinen, als er sich noch eines Anderen besann. Seine Mutter und seine Frau beobachteten ihn scharf, und seine Frau wußte, daß das über ihnen befindliche Zimmer ein Fremdenzimmer war. »Jawohl«, fuhr er in einem anderen Tone und seine Mutter ansehend fort, »oben ist ein leeres Zimmer, das kannst Du bekommen, wenn Du willst. Du wirst finden, daß ich morgen noch ganz derselben Meinung bin, aber das ist Deine Sorge. Bleib hier, wenn es Dir Spaß macht; ich habe nichts dagegen, mir ist’s einerlei. Willst Du seine Lordschaft unter meinem Dach schlafen lassen«, fügte er gegen seine Mutter gewandt hinzu, »fürchtest Du nicht, daß ich dabei eine Absicht habe, die ich vor Dir verberge?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er gegen Anne gewandt fort: »,Sag’ der alten Stummen, daß sie das Bett macht. Sag’ ihr, wir hätten einen lebendigen Lord im Hause, sie solle uns was ausgesucht Feines zum Abendbrot schicken.«

Dabei brach er in ein gewaltiges, erzwungenes Lachen aus. In dem Augenblick; wo Anne hinausgehen wollte, erhob sich Lady Holchester und sagte:

»Ich werde nicht mehr hier sein, wenn Sie wieder herein kommen, lassen Sie mich Ihnen gute Nacht wünschen!« Dabei reichte sie Anne die Hand und gab ihr unbemerkt Sir Patricks Billet. Anne ging hinaus. Ohne ein Wort weiter mit Geoffrey zu reden, winkte Lady Holchester Julius, ihr seinen Arm zu geben. »Du hast edel gegen Deinen Bruder gehandelt«, sagte sie im Fortgehen zu ihm, »Julius, Du bist mein einziger Trost und meine einzige Hoffnung.« Geoffrey folgte ihnen, den Schlüssel in der Hand, bis zur Pforte.

»Sei nicht ängstlich«, flüsterte Julius seiner Mutter zu. »Ich will schon dafür sorgen, daß er heute Abend« nicht mehr trinkt, und werde Dir morgen bessere Nachrichten von ihm bringen. Du mußt Sir Patrick auf der Heimfahrt Alles erklären.« Er half seiner Mutter in den Wagen und kehrte mit Geoffrey in’s Haus zurück, nachdem dieser die Pforte wieder verschlossen« hatte. Schweigend gingen sie neben einander her.

Julius hatte es— seiner Mutter nicht eingestehen wollen, daß er sich in Wahrheit nichts weniger als ruhig fühlte. So sehr er von Natur dazu geneigt war, allen Dingen die beste Seite abzugewinnen, so wenig vermochte er doch, das, was Geoffrey an diesem Abend gesagt und gethan hatte, anders als mit besorgtem Gemüthe zu betrachten. Er war fest überzeugt, daß Geoffrey in seinem gegenwärtigen Verhältniß zu seiner Frau, zu einem uneingestandenen, verwerflichen Zweck eine wohl einstudirte Rolle spiele. Zum ersten Male erlebte er es, daß bei Geoffrey nicht das pekuniäre Interesse alle anderen Rücksichten überwog. Sie kehrten in’s Wohnzimmer zurück.

»Was willst Du trinken?« fragte Geoffrey.

»Nichts.«

»Was, Du willst nicht ein Glas Branntwein und Wasser mit mir trinken?«

»Nein, Du hast schon Branntwein und Wasser genug getrunken!«

Nachdem sich Geoffrey einen Augenblick mit zusammengezogenen Brauen in dem Spiegel betrachtet hatte; stimmte er plötzlich Julius bei.

»Ich sehe wirklich so aus«, sagte er; »das wollen wir bald wieder in Ordnung bringen.«

Er ging hinaus und erschien gleich darauf wieder, den Kopf mit einem nassen Handtuch umwickelt.

»Was willst Du anfangen, bis die Frauenzimmer Deine Schlafstube in Ordnung gebracht haben? Hier kann Jeder thun, wozu er Lust hat. Ich bin jetzt sehr darauf aus, an meiner Bildung zu arbeiten; ich bin ein ganz anderer Mensch geworden, seit ich verheirathet bin. Thu’ Du was Du magst —— ich werde lesen.«

Er trat an den Seitentisch, ergriff die Bände des Newgate-Kalender und reichte Julius einen davon; dieser gab ihm das Buch sofort mit den Worten zurück:

»Sind das« die Bücher, aus denen Du Deine Bildung schöpfst? Schlechte Handlungen in schlechtem Englisch erzählt, sind eine in jedem Sinne des Wortes schlechte Lectüre, Geoffrey.«

»Für mich gut genug. Was weiß ich von gutem Englisch?«

Mit diesem offenen Bekenntniß, welches die überwiegende Mehrzahl seiner Schul- und Universitätskameraden getrost hätten unterschreiben können, ohne dem gegenwärtigen Zustande der englischen Erziehung im Mindesten zu nahe zu treten, rückte Geoffrey seinen Stuhl an den Tisch und fing an, in einem der Bände seines Magazins von Criminalprocessen zu lesen. Auf dem Sopha lag eine Abendzeitung Julius nahm dieselbe zur Hand und setzte sich damit seinem Bruder gegenüber an den Tisch. Es fiel ihm auf, daß Geoffrey bei seiner Lectüre einen besonderen Zweck zu verfolgen schien. Anstatt von vorn anzufangen, durchblätterte er das« Buch und knickte einige Blätter ein, bevor er zu lesen begann. Wenn Julius, statt seinem Bruder gegenüber zu sitzen, ihm über die Schulter hätte blicken können, würde er gesehen haben, daß Geoffrey alle leichteren Criminalfälle unberücksichtigt ließ und sich für seine Lectüre nur die Fälle von schwerem Mord vermerkte.



Achtundfünfzigstes Kapitel - Die Erscheinung

Es war schon fast Mitternacht, als Anne die Stimme der Magd vernahm, die sie durch die Thür bat, sie einen Augenblick sprechen zu dürfen.

»Was giebt es?«

»Der Herr wünscht Sie zu sprechen, Madame.«

»Meinen Sie Mr. Delamayn’s Bruder?«

»Ja.«

»Wo ist Mr. Delamayn?«

»Draußen im Garten, Madame«

Anne ging hinunter und fand Julius allein im Wohnzimmer.

»Es thut mir leid«, sagte er, »Sie stören zu müssen. Aber ich fürchte, Geoffrey ist krank. Die Wirthin ist, wie ich höre, zu Bett gegangen, und ich weiß nicht wie ich einen Arzt bekommen soll. Wissen Sie hier in der Nähe einen Arzt?«

Anne war in der Gegend eben so fremd wie Julius. Sie schlug ihm vor die Magd zu fragen.

Diese wußte, daß in einer Entfernung von zehn Minuten ein Arzt wohne. Sie erklärte, sie könne seine Adresse genau bezeichnen, möchte aber zu dieser späten Nachtstunde in dieser einsamen Gegend nicht selbst hingehen.

»Ist er ernsthaft krank?« fragte Anne.

»Er ist in einem solchen Zustand nervöser Reizbarkeit«, erwiderte Julius, »daß er es nicht zwei Minuten lang an derselben Stelle aushalten kann. Schon als er hier las, bemerkte ich eine auffallende Ruhelosigkeit an ihm. Ich überredete ihn, zu Bett zu gehen. Aber auch im Bett litt es ihn nicht, er kam alsbald von Fieberhitze glühend und noch ruheloser als vorher, wieder herunter. All’ meines Abrathens ungeachtet, ist er in den Garten gegangen, um, wie er sagt, zu versuchen sich durch Laufen zu curiren. Kommen Sie und urtheilen Sie selbst.«

Er führte Anne in’s Speisezimmer, öffnete den Fensterladen und wies nach dem Garten hinaus.

Die Wolken hatten sich verzogen, die Nacht war klar und schön. Es war hell genug um deutlich sehen zu können, wie Geoffrey bis auf Hemd und Beinkleider entkleidet, fortwährend in dem Garten herum lief. Offenbar glaubte er bei dem Wettrennen in Fulham zu sein. Von Zeit zu Zeit rief er im Laufen »Hurrah für den Süden.«

Das Langsamwerden seines Laufs, sein immer schwerer werdender Athem deuteten auf eine Abnahme seiner Kräfte. Eine Erschöpfung derselben mußte ihn, wenn sie keine schlimmeren Folgen nach sich zog, doch bald nöthigen in’s Haus zurückzukehren. »Wer konnte einem solchen Zustand nervöser Aufgeregtheit gegenüber sagen, was daraus entstehen würde, wenn man nicht rasch ärztliche Hilfe herbeischaffte?

»Ich will selbst zu dem Arzt gehen«, sagte Julius, »wenn es Ihnen nichts ausmacht so lange allein zu bleiben.«

Anne fühlte die Unmöglichkeit, ihre persönlichen Besorgnisse gegen die dringende Notwendigkeit, Hilfe herbei zu schaffen, geltend zu machen.

Sie fanden den Schlüssel zur Pforte oben in Geoffrey’s Rocktasche. Anne begleitete Julius durch den Garten, um ihn hinaus zu lassen.

»Wie soll ich-Ihnen danken«, sagte sie. »Was hätte ich ohne Sie anfangen sollen!«

»Ich werde so rasch« wie möglich wiederkommen«, antwortete er, und ging fort.

Sie verschloß die Pforte wieder und ging in’s Haus zurück. An der Thür trat ihr die Magd entgegen und schlug ihr vor, Hefter Dethridge zu wecken.

»Wir können nicht wissen«, sagte die Magd, »was mit dem Herrn werden mag, während sein Bruder fort ist. Und wir sind zu Dreien nicht zu viel, wo wir doch nur Frauen im Hause sind.«

»Sie haben ganz Recht«, entgegnete Anne, »wecken Sie Ihre Herrin.«

Sie gingen wieder nach dem ersten Stock hinauf und sahen durch das Fenster auf dem Vorplatz in den Garten hinab.

Geoffrey lief noch immer unausgesetzt rund herum, aber sehr langsam, sein Schritt war fast nur noch der eines Gehenden.

Anne ging wieder auf ihr Zimmer und setzte sich wartend in die Nähe der geöffneten Thür, bereit, dieselbe sofort zu schließen und zu verriegeln, wenn irgend etwas sie beunruhigen sollte.

»Wie ich mich verändert habe«, dachte sie, »alles erschreckt mich jetzt.«

Dieser Schluß war sehr natürlich, aber doch nicht richtig. Nicht sie, sondern ihre Lage hatte sich verändert.

Bei der Untersuchung in Lady Lundie’s Hause war nur ihr moralischer Muth auf die Probe gestellt worden. Jene Verhandlungen hatten nur jene edle Selbstaufopferung von ihr gefordert, deren Frauen in so hohem Grade fähig sind. Jetzt aber wurde ihr physischer Muth auf die Probe gestellt, hier trat die Aufforderung an sie heran, sich einer im Dunkeln lauernden, drohenden, körperlichen Gefahr gewachsen zu zeigen. Hier unterlag die weibliche Natur, hier konnte ihr Muth keine Kraft aus dem Quell ihrer Liebe schöpfen, hier handelte es sich um thierische Triebe, was hier von ihr gefordert wurde, war eine« Festigkeit, die der animalische Instinct nur dem männlichen Organismus gewährt.

Im nächsten Augenblick öffnete sich Hester Dethridge’s Thür sie ging direct in Anne’s Zimmer. Die gelbe Thonfarbe ihres Gesichts hatte einen Anflug von Röthe, in die steinerne Ruhe mischten sich Spuren von bewegtem Ausdruck. Die Augen waren zwar starr wie immer, hatten aber doch einen unheimlich, trüben Glanz. Ihr sonst so sauber geordnetes graues Haar drängte sich unordentlich unter ihrer Haube hervor. Alle ihre Bewegungen waren rascher als gewöhnlich. Irgend etwas mußte bei diesem Weibe die sonst stagnirende Lebenskraft geweckt haben, es arbeitete in ihr und das zeigte sich in dem Ausdruck ihres Gesichts. Die Dienstboten in Windygates hatten schon vor Zeiten diese Erscheinung bei Hester gekannt, und wohl gewußt, daß dieselbe als eine Warnung zu betrachten sei, Hester sich selbst zu überlassen. Anne fragte sie, ob sie gehört habe, was vorgefallen sei. Sie nickte mit dem Kopf.

»Ich hoffe, Sie sind nicht böse, daß man sie geweckt hat?«

Sie schrieb aus ihre Tafel: »Es ist mir lieb, daß man mich geweckt hat; ich hatte böse Träume. Es ist besser für mich, daß ich wach bin, wenn der Schlaf mich wieder in mein vergangenes Leben zurückführt. Was fehlt Ihnen denn? Fürchten Sie sich?«

»Ja.«

Sie schrieb abermals etwas auf ihre Tafel und deutete dann mit der einen Hand nach dem Garten, während sie mit der anderen die Tafel in die Höhe hielt. »Fürchten Sie sich vor ihm?«

»Entsetzlich!«

Nun schrieb Hester zum dritten Mal und hielt Anne die Tafel mit einem unheimlichen Lächeln unter die Augen. »Ich habe das Alles durchgemacht. Ich kenne das. Für Sie fängt die Sache jetzt erst an. Er wird schon dafür sorgen, daß Sie graue Haare und Runzeln bekommen. Es wird die Zeit kommen, wo Sie wünschen werden, sie wären todt und begraben. Aber es wird Ihnen nicht so gut werden, man stirbt nicht davon; sehen Sie nur mich an.«

In dem Augenblicke, wo Anne die letzten Worte las, hörte sie die nach dem Garten führende Hausthür sich öffnen und wieder schließen. Sie ergriff Hesters Arm und horchte. Man hörte Geoffrey’s schwere Fußtritte vom Vorplatz aus sich der Treppe nähern. Er sprach mit sich selbst, offenbar noch immer in der Vorstellung befangen, daß er beim Wettrennen sei. »Fünf gegen vier auf Delamayn! Delamayn gewinnt! Hurrah, und nochmals Hurrah für den Süden! Ein verflucht langes Rennen! Es ist schon dunkel! Perry! Wo ist Perry?«

Von einer Seite nach der anderen schwankend, ging er über den Vorplatz und stieg die Treppe hinauf, deren Stufen unter seinen Fußtritten knarrten. Hester machte sich von Anne los, ging mit ihrem Licht in der Hand nach Geoffrey’s Schlafzimmer, riß die Thür desselben weit auf, trat dann an die Treppe und wartete hier starr und fest wie ein steinernes Bild auf ihn. Als er bei dem nächsten Schritt aufblickend, Hester’s, von dem Kerzenlicht hell beleuchtetes auf ihn niederschauendes Gesicht sah, blieb er wie angewurzelt auf der Stufe stehen. »Geist! Hexe! Teufel!« schrie er, »sieh mich nicht so an!« Fluchend drohte er ihr mit geballter Faust, stürzte dann die Treppe wieder hinunter und schloß sich, um vor ihrem Anblick sicher zu sein, im Zimmer ein. Das Entsetzen, das ihn schon einmal in dem Küchengarten in Windygates bei dem Anblick der stummen Köchin ergriffen hatte, war jetzt abermals über ihn gekommen. Er fürchtete sich, fürchtete sich geradezu vor Hester Dethridge! In diesem Augenblick erscholl die Glocke an der Gartenpforte; Julius kam mit dem Arzt.

Anne gab der Magd den Schlüssel, um die Klingelnden einzulassen. Hester aber schrieb, vollkommen ruhig, als ob nichts vorgefallen wäre, auf ihre Tafel: »Wenn Sie smich brauchen, ich bin in meiner Küche; ich gehe nicht wieder in meine Schlafstube, ich fürchte mich vor den bösen Träumen.« Dann ging sie hinunter, während Anne oben an der Treppe stehen blieb und nach dem Vorplatz hinuntersah. »Ihr Bruder ist im Wohnzimmer«, rief sie dem eben eintretenden Julius von oben zu. »Sie finden die Wirthin, wenn Sie ihrer bedürfen sollten, in der Küche.« Darauf ging sie wieder in ihr Zimmer, um dort abzuwarten, was weiter geschehen werde.

Nach einer Weile hörte sie, wie die Thür des Wohnzimmers geöffnet wurde und vernahm gleich darauf die Stimmen der Männer auf dem Vorplatz. Sie schienen Mühe zu haben, Geoffrey zu überreden, die Treppe hinauf zu gehen; er weigerte sich beharrlich, weil, wie er erklärte, Hester Dethridge oben an der Treppe auf ihn warte.

Nach einer Weile gelang es ihnen endlich, ihn zu überzeugen, daß die Treppe jetzt frei sei. Anne hörte sie die Treppe herauf kommen und die Thür seines Schlafzimmers schließen. Es dauerte lange bis die Thür wieder geöffnet wurde. Der Arzt ging fort und sagte auf dem Vorplatz zu Julius:

»Sehen Sie während der Nacht von Zeit zu Zeit nach ihm und geben Sie ihm eine zweite Dosis von der beruhigenden Mixtur, wenn er aufwacht. Seine Ruhelosigkeit und sein Fieber sind an und für sich nicht beunruhigend, sind aber die Symptome eines tiefer liegenden ernsten Leidens. Schicken Sie morgen zu dem Arzt, der ihn zuletzt behandelt hat; in diesem Falle ist die Bekanntschaft mit der Constitution des Patienten von besonderer Wichtigkeit.« Als Julius, der dem Arzt die Pforte wieder geöffnet hatte, zurückkam, traf er Anne unten auf dem Vorplatz. Sie wurde sofort von dem übermüdeten Ausdruck seines Auges, und der Erschöpfung, die sich in seiner ganzen Haltung aussprach, frappirt.

»Sie bedürfen der Ruhe«, sagte sie, »bitte gehen Sie zu Bett: Ich habe gehört, was der Arzt Ihnen gesagt hat: überlassen Sie es der Wirthin und mir, aufzubleiben.«

Julius gestand, daß er die ganze vorige Nacht von Schottland her durchgereist sei, weigerte sich aber doch jemand Anderem die Verantwortlichkeit zu überlassen bei seinem Bruder zu wachen.

»Sie sind nicht stark genug, um das für mich zu übernehmen«, sagte er freundlich. »Und gegen die Wirthin hat Geoffrey einen unbegreiflichen Widerwillen, der es sehr wünschenswerth erscheinen läßt, daß er sie in seinem gegenwärtigen Zustande nicht wieder zu Gesicht bekommt. Ich will auf mein Zimmer gehen, und mich aufs Bett legen; wenn Sie etwas hören, brauchen Sie nur an meine Thür zu klopfen und mich zu rufen.«

Eine Stunde verging, ohne daß die im Hause herrschende Ruhe durch irgend Etwas gestört worden wäre.

Anne ging an Geoffrey’s Thür und horchte. Er wälzte sich unruhig in seinem Bette hin und her und sprach mit sich selbst. Dann ging sie an die Thür des nächsten Zinuners, welche Julius angelehnt gelassen hatte. Die Müdigkeit hatte ihn überwältigt; sie hörte das ruhige Athmen eines in gesundem Schlafe liegenden Mannes. Anne trat, entschlossen ihn nicht zu stören, wieder zurück, schwankte aber, was sie jetzt beginnen solle.

Das Entsetzen, das sie bei dem Gedanken ergriff, Geoffrey’s Zimmer allein zu betreten, war unüberwindlich. Aber wer anders sollte es thun? Die Magd war zu Bett gegangen. Gegen den von Julius angeführten Grund, aus welchem er sich des Beistands Hester Dethridge’s nicht bedienen wolle, ließ sich nichts einwenden. Sie horchte wieder an Geoffrey’s Thür. Jetzt war von außen kein Laut mehr zu hören. Sollte es nicht richtig sein, hineinzugehen und sich zu vergewissern, daß er nur wieder eingeschlafen sei? Sie zauderte abermals, als Hester Dethridge aus der Küche hinauf kam. Als sie oben angekommen, Anne’s ansichtig wurde, sah sie ihr in’s Gesicht« und schrieb dann auf ihre Tafel: »Fürchten Sie sich hinein zu gehen? Ueberlassen Sie’s mir.«

Die jetzt in Geoffrey’s Zimmer herrschende Stille rechtfertigte den Schluß, daß er schlafe. Jetzt konnte es also nichts schaden, wenn Hester hineinging. Anne nahm daher Hester’s Anerbieten an.

»Wenn Sie etwas nicht in Ordnung finden.« sagte sie, »stören Sie seinen Bruder nicht, sondern kommen Sie erst zu mir.« Nach dieser Weisung zog sie sich zurück. Es war fast zwei Uhr Morgens. Wie Julius wurde sie von der Müdigkeit überwältigt; nachdem sie ein wenig gewartet und nichts gehört hatte, warf sie sich auf das Sopha in ihrem Zimmer. Sie sagte sich, daß wenn etwas vorfallen sollte, ein Klopfen an der Thür sie augenblicklich erwecken würde.

Inzwischen öffnete Hester Dethridge die Thür von Geoffrey’s Schlafzimmer und trat ein. Die Bewegungen und die Worte, die Anne gehört, hatte er im Schlafe gemacht und gesprochen. Der von dem Arzt verschriebene beruhigende Trank, der anfänglich nicht hatte anschlagen wollen, hatte endlich in erwünschter Weise auf sein Gehirns gewirkt. Geoffrey lag im tiefen und ruhigen Schlaf. Hester blieb in der Nähe der Thür stehen und sah ihn an. Sie wollte eben wieder hinaus gehen, als sie plötzlich stehen blieb und ihre Augen fest auf eine Ecke des Zimmers heftete. Dieselbe unheimliche Veränderung, die schon früher einmal in Geoffrey’s Gegenwart, als sie ihn damals im Küchengarten in Windygates getroffen hatte, mit ihr vorgegangen war, kam jetzt wieder über sie. Ihre festgeschlossenen Lippen öffneten sich; ihre Augen erweiterten sich langsam, verfolgten Zoll für Zoll etwas, von der Ecke des Zimmers über die leere Wand hin in der Richtung des Bettes, blieben an einer Stelle am Kopfende gerade über dem Kopf des schlafenden Geoffrey haften und starrten, in unheimlichem Glanz, als ob sie von Schauer über einen furchtbaren Anblick ergriffen wurden. Geoffrey seufzte leise im Schlaf. Dieser leise Ton löste den Zauber, der sie gebannt hielt. Langsam erhob sie ihre welken Hände und rang sie über ihrem Kopf, eilte dann auf den Vorplatz hinaus, stürzte in ihr Zimmer, und sank an ihrem Bett auf die Kniee.

Und hier begab sich im Dunkel der Nacht etwas Merkwürdiges.

Hier in nächtlicher Stille enthüllte sich ein schreckliches Geheimniß.

Während alle übrigen Bewohner des Hauses um sie her schliefen, warf Hester im Heiligthum ihres Zimmers die geheimnißvolle und schreckliche Maske ab, unter der sie sich in den Tagesstunden absichtlich von ihren Mitmenschen abschloß. Hester Dethridge sprach. In leisen, schweren, erstickten Lauten betete sie. Sie flehte die Barmherzigkeit Gottes an, sie von sich selbst, von dem Teufel, von dem sie besessen sei, zu befreien; sie betete, daß Blindheit sie befallen, daß der Tod sie treffen möge, damit sie nur nicht mehr das namenlos Furchtbare zu schauen brauche! Das Weib, das zu anderen Zeiten durch Nichts aus ihrer steinernen Ruhe zu bringen war, lag wie aufgelöst, schluchzend da; über ihre eiskalten Wangen rannen Thränen während die verzweifelten Worte ihres Gebets langsam, eines nach dem andern über ihre Lippen kamen.

Zuckungen der Angst und des Schauders durchfuhren ihren Körper. Endlich erhob sie sich wieder in dem dunkeln Zimmer. Licht! Licht! Licht! Das namenlos Furchtbare hatte hinter ihr in seinem Zimmer gestanden; das namenlos Furchtbare starrte ihr aus seiner geöffneten Thür entgegen. Sie fand die Zündholzdose und zündete das auf dem Tische stehende Licht, sowie die beiden anderen nur zum Zierrath auf dem Kaminsims stehenden Lichter an und sah sich in dem hell erleuchteten kleinen Zimmer um: »O«, sagte sie erleichtert, indem sie sich den kalten Angstschweiß von der Stirn wischte: »Es ist fort, es ist fort.« Darauf ergriff sie eines der Lichter, ging mit gesenktem Kopf über den Vorplatz, schloß Geoffrey’s Thür, der sie den Rücken zukehrte, mit rückwärts gewandter Hand, rasch und leise, und zog sich darauf wieder in ihr Zimmer zurück.

Nachdem sie die Thür geschlossen hatte, nahm sie ein Dintenfaß und eine Feder vom»Kaminsims, hängte dann nach einer kurzen Ueberlegung ein Taschentuch über das Schlüsselloch und legte einen alten Shawl der Länge nach unten vor die Thür, um so das Licht in ihrem Zimmer vor den Augen eines Jeden zu verbergen, der etwa im Hause wachen und an ihrer Thür vorübergehen möchte. Als sie das gethan hatte, öffnete sie ihr Oberkleid, ließ die Finger in eine an der inneren Seite ihrer Schnürbrust verborgenen Tasche gleiten und zog aus derselben einige zierlich gefaltete dünne Blätter Papier. Dann breitete sie die Blätter vor sich auf den Tisch aus; sie waren bis auf das letzte sämmtlich von ihrer eigenen Hand dicht beschrieben. Das erste Blatt trug die Ueberschrift:

»Mein Bekenntniß, das, wenn ich sterbe, in meinen Sarg gelegt und mit mir begraben werden soll.«

Die letzte Seite war fast ganz leer, nur oben auf derselben standen einige von dem Tage ihrer Entlassung in Windygates datirte Zeilen, welche so lauteten:

»Heute habe ich Es wieder gesehen, zum ersten Mal seit zwei Monaten. Es war im Küchengarten, da stand es hinter dem jungen Mr. Delamayn. »Leiste dem Teufel Widerstand und er wird von Dir fleuchen.« Ich habe ihm durch Beten, durch Nachdenken in stiller Zurückgezogenheit und durch Lesen von guten Büchern Widerstand geleistet. Ich habe meine Stelle verlassen, und damit den jungen Herren für immer aus dem Gesicht verloren. Hinter wem wird das nächste Mal stehen? Gott, habe Erbarmen mit mir! Christus, habe Erbarmen mit mir!«

Unter diese Zeilen schrieb sie nun, nachdem sie zuvor das Datum genau angegeben hatte, das Folgende:

»Heute Nacht habe ich wieder gesehen. Ich muß eines schrecklichen Umstandes gedenken. Es ist mir nun zwei Mal hinter derselben Person erschienen; das war früher noch nie der Fall gewesen. Das macht die Versuchung fürchterlicher als je. In Mr. Delamayn’s Schlafzimmer, zwischen dem Kopfende des Bettes und der Wand, habe ich Es hinter ihm heute Nacht wieder gesehen, den Kopf grade über seinem Gesicht und mit dem Finger auf seine Kehle deutend. Zum ersten Mal zweimal hinter demselben Mann. Wenn ich Es zum dritten Mal hinter ihm sehe, dann Herr sei mir gnädig! Christus sei mir gnädig! Ich darf nicht daran denken, er soll mein Haus schon morgen verlassen. Ich hätte gern den Handel schon damals rückgängig gemacht, als der Fremde das Logis für einen Freund gemiethet hatte und es sich nachher herausstellte, daß dieser Freund Mr. Delamayn sei; mir war die Sache schon damals unangenehm. Nach der Erscheinung von heute Nacht bin ich aber entschlossen, er soll fort. er kann sein Geld wiederbekommen, wenn er will, aber er soll fort. Die Versuchung und die Angst waren diesmal so fürchterlich, wie ich es nie empfunden habe; auch dieses Mal habe ich durch Gebet Widerstand geleistet, und jetzt will ich hinuntergehen um in stiller Einsamkeit darüber nachzudenken und mich durch gute Bcher zu stärken. Herr, habe Erbarmen mit mir armen Sünderin!«

Mit diesen Worten schloß sie ihre heutige Auszeichnung und steckte das Manuscript wieder in die geheime Tasche ihrer Schnürbrust. Darauf ging sie in das nach dem Garten hinausliegende kleine Zimmer hinunter, welches einst das Arbeitszimmer ihres Bruders gewesen war. Hier zündete sie eine Lampe an und nahm einige Bücher von einem an der Wand hängenden Gestell herab: die Bibel, eine Sammlung von methodistischen Predigten und ein Packet, welches»Memoiren methodistischer Glaubenshelden enthielt. Nachdem sie diese letzteren sorgfältig um sich her aufgestellt hatte, setzte sie sich mit der Bibel auf dem Schooß nieder, um die Nacht über zu wachen.



Sechster Band.

Neunundfünfzigstes Kapitel - Mondlicht auf dem Fußboden

Was war während der Nacht geschehen? Das war Anne’s erster Gedanke, als die Sonne am nächsten Morgen in ihr Zimmer schien und sie weckte. Sie erkundigte sich sofort bei der Magd, die aber nur über das berichten konnte, was sie selbst erlebt hatte. Es war aber nichts vorgefallen, was sie, nachdem sie zu Bett gegangen war, gestört hätte. Ihr Herr sei, wie sie glaube, noch in seinem Zimmer und Mrs. Dethridge sei in der Küche beschäftigt. Anne ging in die Küche hinunter.

Hester war, wie gewöhnlich um diese Zeit, damit beschäftigt, das Frühstück herzurichten. Die leisen Spuren von Erregung, welche Anne, als sie diese zuletzt gesehen, an ihr wahrgenommen hatte, waren verschwunden. Ihre starren Augen blickten wieder stumpf vor sich hin, ihre ganze Haltung war wieder von der gewöhnlichen, leblosen Unbeweglichkeit. Auf Anne’s Frage, ob während der Nacht irgend etwas vorgefallen sei, schüttelte sie langsam mit dem Kopf und machte mit der Hand langsam eine verneinende Bewegung.

Aus der Küche tretend, sah Anne Julius im Vordergarten und ging zu ihm.

»Ich glaube«, sagte er, »ich habe es Ihrer rücksichtsvollen Schonung zu verdanken, daß ich heute Nacht einige Stunden der Ruhe pflegen konnte.«

»Es war fünf Uhr heute Morgen, als ich erwachte. Ich hoffe, Sie haben keine Ursache gehabt, es zu bereuen, daß Sie mich haben schlafen lassen. Ich war in Geoffrey’s Zimmer und fand ihn unruhig; eine zweite Dosis der Medicin beruhigte ihn wieder, das Fieber hat ihn verlassen. Er sieht schwächer und blässer aus als gewöhnlich, im Uebrigen aber doch wieder wie er selbst. Ich komme aus Geoffrey’s Gesundheit gleich zurück, möchte aber zunächst über eine Veränderung mit Ihnen reden, welche vielleicht in Ihrem Leben hier eintreten wird.«

»Hat er sich mit der Trennung einverstanden erklärt?«

»Nein, er widersetzt sich derselben noch ebenso eigensinnig wie gestern; ich habe ihm die Sache aus allen denkbaren Gesichtspunkten plausibel zu machen gesucht. Er verweigert noch immer in ganz positiver Weise die Annahme einer Jahresrente, die ihn für seine Lebensdauer zu einem unabhängigen Manne machen würde.«

»Ist es die Jahresrente, Lord Holchester, die er erhalten haben würde, wenn ——?«

»Wenn er Mrs. Glenarm geheirathet hätte? Nein. Es ist mir, in Rücksicht auf meine Pflichten gegen meine Mutter, und gegen die Stellung, in die mich der Tod meines Vaters versetzt hat, unmöglich, ihm ein Vermögen wie das Mrs. Glenarm’s zu bieten. Gleichwohl ist es ein schönes Einkommen, welches er thöricht genug ist abzulehnen. Ich werde aber nicht müde werden es ihm aufzudrängen, er soll und muß es annehmen.«

Anne fühlte sich durch diese letzten Worte nicht zu neuen Hoffnungen berechtigt. Sie lenkte das Gespräch aus einen andern Gegenstand.

»Sie wollten mit mir noch über etwas reden«, sagte sie, »Sie sprachen von einer Veränderung.«

»Jawohl! Die Wirthin hier ist eine höchst sonderbare Person und thut höchst sonderbare Dinge. Sie hat Geoffrey geschrieben, er müsse die Wohnung hier räumen.«

»Geschrieben, er müsse die Wohnung räumen?« wiederholte Anne erstaunt.

»Ja. In einem ganz formellen Brief; sie überreichte mir denselben diesen Morgen, als ich eben aufgestanden war, offen. Es war mir unmöglich irgend eine nähere Erklärung von ihr zu erlangen. Alles, was aus der armen stummen Person heraus zu bringen war, waren die auf ihre Tafel geschriebenen Worte: »Er kann sein Geld wieder bekommen, wenn er will, aber er muß fort.« Zu meiner großen Ueberraschung weigert sich Geoffrey, trotz seines entschiedenen Widerwillens gegen die Frau, die Wohnung zu verlassen, bis seine Miethezeit abgelaufen sein wird. Vorläufig habe ich für heute Frieden zwischen ihnen hergestellt. Mrs. Dethridge hat sich sehr ungern dazu verstanden, ihm noch vier und zwanzig Stunden zuzugestehen, und so steht die Sache für den Augenblick.«

»Was kann sie nur für Gründe haben?« sagte Anne.

»Es ist vergebens, sie danach zu fragen, es ist offenbar nicht recht richtig mit ihr; soviel aber ist klar. Geoffrey kann Sie nicht lange mehr hier behalten. Die bevorstehende Veränderung wird es Ihnen möglich machen, diesen trübseligen Aufenthalt zu verlassen. Damit ist immer schon etwas gewonnen, und ich halte es für ganz möglich, daß eine andere Umgebung und neue Eindrücke einen guten Einfluß auf Geoffrey üben. Sein sonst ganz unerklärliches Benehmen ist vielleicht die Folge einer Störung seines Nervensystems der vielleicht durch ärztliche Hülfe abzuhelfen ist. Ich kann es weder mir selbst noch Ihnen verhehlen, daß mir Ihre Lage hier höchst beklagenswerth erscheint. Aber bevor wir an der Zukunft verzweifeln, lassen Sie uns doch wenigstens sehen, ob nicht die Gesundheit meines Bruders eine Erklärung für sein Benehmen bietet. Ich habe über das nachgedacht, was der Arzt mir gestern Nacht gesagt hat. Das erste, was wir zu thun haben, ist, uns den besten ärztlichen Rath für Geoffrey’s Fall, der irgend zu erlangen ist, zu verschaffen. Was denken Sie davon?«

»Ich darf nicht sagen was ich denke, Lord Holchester. Ich will es versuchen, meine Lage mit Ihren und nicht mit meinen Augen anzusehen. Der beste ärztliche Rath, den Sie erlangen können, ist der des Herrn Speedwell. Er war es, der zuerst die Entdeckung machte, daß die Gesundheit Ihres Bruders erschüttert sei.«

»Das ist also gerade der Mann, den wir brauchen, ich werde ihn veranlassen, heute oder spätestens morgen her zu kommen. Kann ich sonst irgend etwas für Sie thun? Ich werde Sir Patrick sehens sobald ich zur Stadt komme. Haben Sie mir irgend etwas an ihn aufzutragen?«

Anne zauderte. Julius, der sie scharf beobachtete, bemerkte, daß sie bei der Erwähnung von Sir Patrick’s Namen erröthete.

»Wollen Sie«, erwiderte sie, »die Güte haben, ihm zu sagen, daß ich ihm für den Brief, welchen Lady Holchester gestern Abend die Freundlichkeit hatte, mir von ihm zu bringen, herzlich danke, und wollen Sie ihn dringend von mir bitten, sich nicht um Meinetwillen dem auszusetzen, was« —— sie zauderte wieder und sagte die folgenden Worte mit zu Boden gesenkten Blicken —— »was geschehen möchte, wenn er herkäme und darauf bestände, mich zu sehen.«

»Schlägt er Ihnen vor, das zu thun?«

Sie zauderte abermals. Das leichte nervöse Zucken ihres einen Mundwinkels machte sich mehr als gewöhnlich bemerklich.

»Er schreibt mir«, antwortete sie leise, »daß ihn eine entsetzliche Angst für mich verfolge und daß er entschlossen sei, mich zu sehen.«

»Er ist, glaube ich, der Mann, seine Entschlüsse auszuführen«, erwiderte Julius. »Als ich Sir Patrick gestern sah, sprach er von Ihnen in Ausdrücken der Bewunderung.«

Er hielt inne. Die hellen Thränen rannen Anne über die Wangen. Eine ihrer Hände spielte krampfhaft mit etwas unter ihrem Kleide Verborgenem, vielleicht Sir Patricks Brief.

»Ich bin ihm unendlich dankbar«, sagte sie mit leiser zitternder Stimme, »aber es ist besser wenn er nicht herkommt.«

»Möchten Sie ihm nicht schreiben?«

»Es wäre mir lieber, wenn Sie die Güte haben wollten, ihm meinen Auftrag mündlich auszurichten.«

Julius begriff, daß er bei diesem Gegenstande nicht länger verweilen dürfe. Sir Patricks Brief hatte ersichtlich einen Eindruck auf Anne hervorgebracht, den sich ihre feine Natur nicht eingestehen wollte. Beide traten wieder in’s Haus. An der Thür trafen sie, zu ihrer Ueberraschung, Hester Dethridge im Begriff, zu dieser ungewohnten Morgenstunde auszugehen.

»Wollen Sie jetzt schon nach dem Markt?« fragte Anne.

Hester schüttelte den Kopf.

»Wann kommen Sie wieder?«

Hester schrieb auf ihre Tafel: »Nicht vor Abend.«

Ohne ein Wort weiter zur Erklärung ihres Ausgehens hinzuzufügen, zog sie ihren Schleier über das Gesicht und ging durch den Garten nach der Pforte. Den Schlüssel hatte Julius, nachdem er den Arzt hinausgelassen hatte, in’s Speisezimmer gelegt. Jetzt hatte Hester denselben in der Hand, öffnete die Pforte damit und ließ den SchlüsseL nachdem sie die Thür hinter sich geschlossen hatte, im Schlüsselloch stecken. In dem Augenblicke, wo die Pforte Zuschlag, erschien Geoffrey auf dem Vorplatz.

»Wo ist der Schlüssel?« fragte er, »wer ist da fortgegangen?«

Sein Bruder beantwortete seine Frage. Geoffrey ließ seine Blicke argwöhnisch zwischen Julius und Anne hin und her schweifen. »Was hat sie um diese Tageszeit auszugehen?« fragte er. »Hat sie das Haus verlassen, um mich zu meiden?«

Julius erklärte das für das Wahrscheinlichste. Geoffrey ging verdrossen nach der Pforte, schloß sie, zog den Schlüssel ab, steckte denselben in die Tasche und kehrte wieder zu Julius und Anne zurück.

»Ich muß gut auf die Pforte Acht geben«, sagte er. »Es wimmelt hier in der Gegend von Bettlern und Herumtreibern. Wenn Du auszugehen wünschest«, fügte er zu Anne gewandt in einem sehr absichtlich klingenden Tone hinzu, »so stehe ich Dir, wie es einen guten Ehemann zukommt, ganz zu Diensten.«

Nach einem eilig eingenommenen Frühstück machte sich Julius auf. »Ich nehme Deine Ablehnung meines Anerbietens nicht an«, sagte er vor dem Fortgehen in Anne’s Gegenwart zu Geoffrey. »Ich werde wieder herkommen!«

Geoffrey beharrte eigensinnig auf seiner Ablehnung und erwiderte: »Du kannst gern alle Tage herkommen, ich bleibe doch dabei« Darauf ging Julius.

Anne zog sich wieder auf ihr einsames Zimmer zurück.

Geoffrey ging in’s Wohnzimmer, legte die Bande des Newgate-Kalender auf den Tisch vor sich hin und nahm die Lectüre, die er am Abend zuvor fortzusetzen unfähig gewesen war, wieder auf. Stundenlang arbeitete er sich beharrlich durch eine Reihe von Mordfällen durch. Er hatte über die Hälfte dieses abscheulichen Magazin’s von Criminalprocessen durchgelesen, bevor seine Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit zu concentriren nachließ. Da zündete er seine Pfeife an und ging in den Garten, um weiter über das Gelesene nachzudenken. Wie sehr die Verbrechen, von denen er gelesen hatte auch in andere Beziehungen von einander abweichen mochten, in einem schrecklichen Punkt, an den er nicht gedacht hatte, glichen sie sich alle.

Früher oder später, immer hatte der Körper des Gemordeten durch Spuren von Gift und Gewaltthätigkeit sein stummes Zeugniß gegen das an ihm begangene Verbrechen abgelegt. Geoffrey ging langsam auf und ab, immer noch über das Problem brütend, das sich ihm zuerst aufgedrängt hatte, als er damals im Vordergarten stillstehend nach Anne’s Fenster aufgeblickt hatte.

»Wie?« das war die Frage gewesen, die ihn von dem Augenblicke an beschäftigt hatte, wo der Advocat durch seinen Ausspruch seine Hoffnung auf eine Scheidung vereitelt hatte. Und diese Frage blieb auch jetzt noch zu lösen. Weder in seinem eigenen Kopfe, noch in dem Buche, das er zu Rathe gezogen hatte, fand sich eine Antwort auf diese Frage. Alles lag günstig für ihn, wenn er nur gewußt hätte »wie?« Dank seiner Weigerung das ihm von Julius angebotene Geld anzunehmem war das verhaßte Weib da oben ganz in seiner Hand! Dank seinem Entschluß, selbst nach dem beleidigenden Räumungsbefehl seiner Wirthin in dem Hause zu bleiben, war sein Aufenthalt ein nach allen Seiten hin gegen jede Beobachtung von außen völlig abgeschlossener Platz! Alles hatte er für den einen Zweck vorbereitet, Alles dafür geopfert und doch war die Möglichkeit, diesen Zweck zu erreichen, noch immer in dasselbe undurchdringliche Dunkel für ihn gehüllt! Was waren seine Aussichten, wenn er auf seinen Zweck verzichtete? Er mußte das Anerbieten, das ihm Julius gemacht hatte, annehmen, mit anderen Worten der Befriedigung seiner Rache an Anne und der glänzenden Zukunft, welche ihm Mrs. Glenarm’ treue Ergebenheit noch immer verhieß, für immer entsagen.

Nimmermehr wollte Er seine Zuflucht noch einmal zu den Büchern nehmen. Er hatte sie ja noch nicht ganz durchgelesen. Der leiseste Wink, den ihm die noch nicht gelesenen Blätter vielleicht zu geben vermochten, konnte ja seinem trägen Hirn einen Anstoß geben, die rechte Fährte weiter zu verfolgen. Vielleicht, daß er darin noch einen Weg fand, sich ihrer zu entledigen, ohne daß irgend ein lebendes Wesen in oder außer dem Hause Verdacht schöpfen könnte.

Aber, fragen wir uns, war es denkbar, daß ein Mann in Geoffrey’s Lebensstellung in so brutaler Weise so erbarmungslos handeln konnte? Mußte sich nicht bei dem Gedanken an das, was er jetzt vorhatte, sein Gewissen regen? Halten wir einen Augenblick inne und werfen eine Blick auf seine Vergangenheit.

Hatte sich sein Gewissen auch nur im Mindesten geregt, als er in dem Garten in Windygates auf den an Arnold betrübten Verrath sann? Die Empfänglichkeit für Gewissensregungen war ihm fern. Seine jetzige Denkart war nur die natürliche Consequenz seiner ursprünglichen Sinnesweise. Der ganze Unterschied bestand darin, daß er sich jetzt durch eine viel ernstere Versuchung gedrängt fand, ein viel ernsteres Verbrechen zu begehen. Woher sollte er die Widerstand-Kraft nehmen? Konnte ihm, wie Sir Patrick es einmal ausgedrückt hatte, seine Geschicklichkeit im Rudern, seine Schnelligkeit im Rennen, seine bewunderungswürdige Fähigkeit und Ausdauer in anderen körperlichen Uebungen dazu helfen, einen rein moralischen Sieg über seine Selbstsucht und seine Grausamkeit zu erringen?

Nein!

Die von der materiellen Richtung seiner ganzen Umgebung beförderte sittliche und geistige Vernachlässigung seiner selbst, gab ihn den schlechtesten Instincten seiner Natur, den niedrigsten und gefährlichsten Trieben des natürlichen Menschen widerstandslos preis. Wenn diese Geistes- und Gemüthsverfassung bei der Mehrzahl seiner Genossen keine ungewöhnlich verderblichen Folgen herbeigeführt hatte, so lag das daran, daß keine ungewöhnliche Versuchung an sie herangetreten war. Mit ihm aber stand es anders, an ihn war eine ungewöhnliche Versuchung herangetreten. Und wie fand dieselbe ihn vorbereitet, ihr zu widerstehen?

Sie fand ihn, wozu ihn seine Erziehung und seine ausschließliche Beschäftigung mit körperlichen Uebungen gemacht hatte, als einen gegen jede kleine oder große Versuchung völlig ungewaffneten Menschen.

Geoffrey kehrte in’s Haus zurück. Auf dem Vorplatz fragte ihn die Magd, um welche Zeit er zu Mittag zu essen wünsche Anstatt ihr zu antworten, fragte er ärgerlich nach Mrs. Dethridge; die Magd erwiderte, daß Mrs. Dethridge noch nicht wieder nach Hause gekommen sei. Es war bereits spät am Nachmittage, und sie war schon früh Morgens ausgegangen. Das war noch nie vorgekommen. Ein vager Argwohn nach dem andern, einer immer ungeheuerlicher als der andere, fing an sich in Geoffrey gegen Hester Dethridge zu regen. Er wußte von Julius, daß er während der Nacht phantasirt habe. Hatte er in seinen Phantasien etwas verrathen? Hatte Hester es gehört und war das etwa der eigentliche Grund ihrer langen Abwesenheit und ihrer Räumungsordre? Er beschloß, ohne Hester merken zu lassen, daß er Verdacht gegen sie hege, sich darüber Gewißheit zu verschaffen sobald sie nach Hause zurückgekehrt sein würde.

Es wurde Abend; es war nach neun Uhr, als sich wieder ein Klingeln an der Pfortenglocke vernehmen ließ. Die Magd kam zu Geoffrey, ihn um den Schlüssel zu bitten. Geoffrey stand auf, um selbst nach der Pforte zu gehen, besann sich aber, noch ehe er das Zimmer verlassen hatte, wieder anders. Wenn es Hester war, die draußen auf Einlaß wartete, so konnte es ihren Verdacht rege machen, wenn er ihr selbst die Pforte öffnete, während doch die Magd da war, um es zu thun. Er gab der Magd den Schlüssel und hielt sich so, daß Hester beim Eintritt in’s Haus seiner nicht ansichtig werden konnte.

»Todtmatt!« dachte die Magd, als sie ihre Herrin bei dem Schein der Lampe an der Pforte erblickte.

»Todtmatt!« murmelte Geoffrey vor sich hin, als er Hester auf ihrem Gange über den Vorplatz nach ihrem Zimmer durch die angelehnte Thiir des Wohnzimmers argwöhnisch beobachtete.

»Todtmatt!« dachte auch Anne, als sie Hester auf dem oberen Vorplatz traf, und einen von Blanche adressirten Brief, den der Postbote der Herrin des Hauses an der Pforte übergeben hatte, aus ihren Händen entgegennahm.

Hester zog sich in ihr Schlafzimmer zurück.

Geoffrey schloß die Thür des Wohnzimmers, in welchem die Kerzen angezündet waren, und ging in das völlig dunkle Speisezimmer. Er ließ die Thür angelehnt, um Hester, wenn sie zu ihrem Abendessen in die Küche hinuntergehen werde, abzufassen.

Matt und müde schloß Hester ihre Thür, zündete ihre Lichter an und stellte Feder und Tinte auf den Tisch. Dann mußte sie sich einige Minuten lang niedersetzen, um ihre Kräfte zu sammeln und wieder zu Athem zu kommen. Erst nach einer Weile fühlte sie sich im Stande, Hut und Shawl abzulegen. Sie zog aus der geheimen Tasche ihrer Schnürbrust das »Mein Bekenntniß« überschriebene Manuskript, schlug wieder die letzte Seite auf und schrieb unter die am vorigen Abend gemachte Auszeichnung Folgendes:

»Heute Morgen habe ich ihm angezeigt, daß er das Haus räumen müsse und habe ihm angeboten, ihm, wenn er es haben wolle, sein Geld wiederzugeben. Er weigert sich zu gehen. Morgen muß er gehen, oder ich stecke ihm das Haus über dem Kopf an. Den ganzen Tag über bin ich außer dem Hause gewesen, um ihm aus dem Wege zu gehen. Ich finde keinen Schlaf und keine Ruhe. Ich trage mein Kreuz demüthig, so lange mir meine Kraft nicht versagt.«

Als sie diese Worte geschrieben hatte, entsank die Feder ihrer Hand. Ihr Kopf fiel auf die Brust herab.

Plötzlich aber raffte sie sich wieder auf. Sie fürchtete den Schlaf wie einen Feind, denn der Schlaf brachte ihr Träume. Sie öffnete die Fensterladen und sah in die Nacht hinaus. Friedlich leuchtete der Mond über dem Garten. Der klare Nachthimmel war schön anzusehen und wirkte besänftigend auf ihre Seele. Wie! Ging der Mond schon wieder unter? Zogen Wolken an ihm vorüber und verdunkelten ihn? Nein! Sie war schon wieder beinahe eingeschlafen.

Abermals raffte sie sich auf. Unbewölkt stand der Mond noch immer am Himmel und beleuchtete den Garten so hell wie vorher. Aber jetzt vermochte sie den Schlaf, der sie überwältigte, nicht länger zu bekämpfen.

Sie schloß die Fensterladen wieder, ging nach ihrem Bett und legte ihr »Bekenntniß« an seinen gewöhnlichen Platz während der Nacht, unter ihr Kopfkissen. Sie blickte im Zimmer umher und schauderte. Jeder Winkel desselben war mit den fürchterlichen Erinnerungen der vorigen Nacht angefüllt. Sie mußte fürchten, daß, wenn sie von quälenden Träumen erwachte, die Erscheinung an ihrem Bette vor ihr stehen würde. Gab es denn kein Mittel dagegen? Keinen heiligen Schutz, unter dem sie sich ruhig dem Schlafe überlassen könnte? Plötzlich fuhr es ihr durch den Kopf. Es gab ein solches Mittel: Das gute Buch, die Bibel. Wenn sie mit der Bibel unter dem Kopfkissen schlief, so durfte sie auf einen ruhigen Schlaf hoffen. war nicht der Mühe Werth, das Kleid und die Schnürbrust, die sie bereits ausgezogen hatte, wieder anzuziehen Sie konnte sich ja mit ihrem Shawl hinreichend bedecken. Auch das Licht brauchte sie nicht mitzunehmen. Unten würden die Fensterladen noch nicht geschlossen sein, und wenn sie es wären, so konnte sie die Bibel an ihrem Platz auf dem Büchergestell, im Dunkeln finden Sie zog das »Bekenntniß« wieder unter dem Kopfkissen hervor. Auch nicht für einen Augenblick konnte sie sich entschließen, dasselbe in einem Zimmer zu lassen, das sie selbst verließ. Das zusammengefaltete Manuscript in der Hand verbergend, ging sie langsam wieder die Treppe hinunter. Ihre Kniee wankten Sie mußte sich mit der freien Hand am Treppengeländer festhalten.

Geoffrey beobachtete sie vom Speisezimmer aus, als sie die Treppe hinunterkam. Er wartete, was sie thun würde, bevor er sich ihr zeigte und mit ihr spräche. Anstatt nach der Küche zu gehen, trat sie gleich von der Treppe in das kleine Wohnzimmer. Das war wieder verdächtig! Was konnte sie zu dieser späten Stunde ohne Licht in diesem Zimmer wollen? Sie trat an das Büchergestell, in ihrer dunklen Gestalt in dem Mondlicht, das in das kleine Zimmer schien, für Geoffrey vollkommen sichtbar. Sie strauchelte und fuhr sich mit der Hand nach dem Kopf, allem Anschein nach hatte sie ein durch gänzliche Erschöpfung bewirkter Schwindel befallen. Darauf erholte sie sich wieder und nahm ein Buch aus dem Gestell; mit demselben in der Hand lehnte sie sich dann aber gegen die Wand, wahrscheinlich weil sie zu ermattet war, um ohne eine kleine Rast die Treppe wieder hinaufzusteigen. Dicht neben ihr stand ihr Lehnstuhl; wenn sie sich einen Augenblick auf denselben niederließ, konnte sie sich doch besser ausruhen, als wenn sie sich stehend an die Wand lehnte. Mit schweren Gliedern setzte sie sich auf den Lehnstuhl und legte das Buch auf ihren Schooß. Die Hand des einen Armes, den sie über die Lehne hängen ließ, war geschlossen, augenscheinlich weil sie etwas hielt. Sie ließ den Kopf auf die Brust sinken, raffte sich wieder einen Augenblick auf und lehnte sich dann sanft an das an der Rücklehne befestigte Kissen. War sie eingeschlafen? Fest eingeschlafen. Nach wenigen Augenblicken wurden die Muskeln der über die Lehne hängenden geschlossenen Hand schlaff und es glitt, vom Mondschein beleuchtet, etwas Weißes auf den Boden.

Geoffrey zog seine schweren Schuhe aus und ging auf seinen Strümpfen leise in das Zimmer, er hob das am Boden liegende weiße Ding auf und fand, das es eine Lage von mehreren dünnen, zierlich zusammengefalteten und eng beschriebenen Bogen Papier war. Etwas Geschriebenes, daß sie, so lange sie wachend war, in der Hand versteckt gehalten hatte.

Warum versteckt?

Hatte er in der vorigen Nacht in seinen Fieberphantasien etwas ihn Compromittirendes verrathen? Und hatte sie das etwa niedergeschrieben um es gegen ihn zu benutzen?

Für Geoffrey’s schuldbewußtes Gemüth konnte selbst ein so ungeheuerlicher Gedanke etwas Wahrscheinliches haben. Geräuschlos, wie er gekommen war, verließ er das Zimmer wieder und ging nach dem erleuchteten großen Wohnzimmer, entschlossen, das Manuscript, das er in der Hand hielt, näher zu untersuchen.

Nachdem er die gefalteten Blätter zuvor sorgfältig auf dem Tisch geglättet hatte, nahm er die erste Seite zur Hand und las was folgt.



Sechzigstes Kapitel - Das Manuscript

»Mein Bekenntniß, das, wenn ich sterbe, in meinen Sarg gelegt und mit mir begraben werden soll.«

1.

»Folgendes ist die Geschichte dessen, was ich als verheirathete Frau begangen habe. Es ist die Wahrheit, die ich nur vor meinem Schöpfer bekenne, und von der außer mir kein Sterblicher etwas weiß.«

»Am jüngsten Tage werden wir alle in unseren Leibern, wie wir gelebt haben, auferstehen. Wenn ich vor den Richterstuhl berufen werde, werde ich diese Blätter in der Hand halten und sagen:

»O gerechter, barmherziger Richter, Du weißt, was ich gelitten habe, auf Dich vertraue ich.«

2.

»Ich bin die Aelteste einer großen Anzahl von Geschwistern, von frommen Eltern geboren. Wir gehören zu der Gemeinde der ältesten Methodisten. Meine Schwestern verheiratheten sich alle vor mir. Einige Jahre lang war ich allein zu Hause. In der letzten Zeit wurde meine Mutter kränklich und ich führte den Hausstand für sie. Unser geistlicher Hirt, der gute Mr. Bapchild, pflegte Sonntags zwischen den beiden Tagesgottesdiensten bei uns zu Mittag zu essen. Er lobte meine Haushaltung und besonders mein Kochen. Das erregte die Eifersucht meiner Mutter, die es nicht gerne sah, daß ich ihr gewissermaßen vorgezogen wurde. Dadurch fing ich an, mich zu Hause unglücklich zu fühlen. In dem Grade, wie sich der Gesundheitszustand meiner Mutter verschlimmerte, wurde auch ihre Laune schlechter. Mein Vater war viel vom Hause weg auf Geschäftsreisen; ich hatte für Alles aufzukommen. Um diese Zeit fing ich an zu denken, es würde gut für mich sein, wenn ich mich, wie es meine Schwestern vor mir gethan hatten, verheirathen und den guten Mr. Bapchild in meinem eigenen Hause zu Tische haben könnte. In dieser Stimmung machte ich die Bekanntschaft eines jungen Mannes, der den Gottesdienst in unserer Kapelle regelmäßig besuchte. Er hieß Jael Dethridge. Er hatte eine schöne Stimme und pflegte, wenn er Hymnen sang, aus demselben Buch mit mir zu singen. Von Gewerbe war er ein Tapezierer. Wir unterhielten uns, wenn wir Sonntags mit einander aus der Kirche gingen, oft über ernste Gegenstände. Er war reichlich zehn Jahre jünger als ich, und da er nur ein Arbeiter war, so stand er gesellschaftlich unter mir. Meine Mutter kam dem Verhältniß, das sich zwischen uns entsponnen hatte, auf die Spur. Sie sprach davon mit meinem Vater, sobald er von einer Reise zurückgekehrt war, dann auch mit meinen verheiratheten Schwestern und mit meinen Brüdern. Sie vereinigten sich Alle dahin, daß meinem Verhältnisse zu Jael Dethridge, ehe es noch intimer würde, Einhalt gethan werden müsse. Das war eine schwere Zeit für mich. Mr. Bapchild sprach sein lebhaftes Bedauern über diese Wendung der Dinge aus. Er brachte meinen Fall in einer Predigt vor, ohne mich zu nennen, ich wußte aber sehr wohl, wer gemeint sei. Vielleicht hätte ich nachgegeben, wenn sie nicht Erkundigungen bei den Feinden meines jungen Freundes über ihn eingezogen und hinter seinem Rücken gegen mich schlecht von ihm gesprochen hätten. Das war, nachdem wir aus demselben Hymnenbuch gesungen hatten, zusammen spazieren gegangen waren und unsere Gedanken über religiöse Gegenstände mit einander ausgetauscht hatten, zu viel für mich. Ich war alt genug, um für mich selbst zu urtheilen und ich heirathete Jael Dethridge.«

3.

»Alle meine Verwandten zogen sich von mir zurück. Kein einziger von ihnen war bei meiner Hochzeit zugegen, und sie erklärten, insbesondere mein Bruder Ruben, dem sie alle folgten, daß sie von nun an nichts mehr mit mir zu thun haben wollten. Mr. Bapchild war sehr ergriffen, er vergoß Thränen und sagte, er wolle für mich beten.«

»Ich wurde in London von einem fremden Prediger getraut und wir ließen uns in der Hauptstadt mit guten Aussichten nieder. Ich hatte ein kleines eigenes Vermögen, meinen Antheil an einer Summe, die meine Tante Hester, nach der ich genannt bin, uns Mädchen hinterlassen hatte. Es betrug dreihundert Pfund. Beinahe hundert Pfund davon gab ich für Mobilien aus, die ich kaufte, um ein kleines Haus, das wir gemiethet hatten, damit auszustatten. Das Uebrige gab ich meinem Manne, um es in einer Bank zu deponiren, bis er es zu seiner eigenen geschäftlichen Etablirung brauchen werde.«

»Ungefähr drei Monate lang kamen wir, bis auf einen Punkt gut mit einander aus. Mein Mann that nie den geringsten Schritt dazu, sich geschäftlich selbständig zu machen. Ein paar Mal wurde er verdrießlich, wenn ich sagte, es sei doch schade, das in der Bank deponirte Geld, das wir später nöthig haben würden, jetzt auszugeben, anstatt ein Geschäft anzufangen und mehr zu verdienen. Der gute Mr. Bapchild, um diese Zeit gerade in London war, blieb den Sonntag über dort und kam zwischen den Gottesdiensten zum Mittagessen zu uns. Er hatte sich bemüht, meine Verwandten mit mir auszusöhnen, es war ihm aber nicht gelungen.«

»Auf meine Bitte sprach er mit meinem Manne über die Notwendigkeit, sich anzustrengen. Das nahm mein Mann übel; zum ersten Mal sah ich ihn ernsthaft aufgebracht. Der gute Mr. Bapchild sagte nichts weiter. Der Vorfall schien ihn zu beunruhigen und er verließ uns zeitig.«

»Bald darauf ging mein Mann aus. Ich hielt den Thee für ihn bereit, er kam aber nicht zurück; dann hielt ich das Abendessen für ihn bereit, aber auch dazu erschien er nicht. Es war nach Winternacht, als er in einem Zustand wieder nach Hause kam, der mich sehr erschreckte. Sein Blick und seine Sprache waren wie fremd, er schien mich nicht zu kennen, redete irre und fiel wie ein lebloser Klumpen auf unser Bett. Ich lief davon und holte den Arzt.«

»Der Doctor zog ihn an’s Licht, betrachtete ihn, roch seinen Athem, warf ihn wieder auf? Bett, drehte sich um und sah mich groß an. »Nun, wie steht es, Herr Doctor?« fragte ich. »Sie wollen mich doch nicht glauben machen, daß Sie das nicht wissen?« antwortete er. »Ich weiß es in der That nicht«, erwiderte ich. »Was für eine sonderbare Person sind Sie denn«, entgegnete er, »daß Sie nicht wissen, wenn einer betrunken ist!« Mit diesen Worten ging er fort und ließ mich, am ganzen Leibe zitternd, am Bette stehen. So kam ich zum ersten Mal dahinter, daß ich die Frau eines Trunkenboldes sei.«

4.

»Ich habe bisher noch nichts von der Familie meines Mannes gesagt.«

»Vor unserer Hochzeit hatte er mir erzählt, daß er eine Waise sei, einen Onkel und eine Tante in Canada und einen einzigen Bruder in Schottland habe. Noch vor unserer Hochzeit gab er mir einen Brief seines Bruders, in welchem derselbe mir sein Bedauern darüber ausdrückte, daß er nicht im Stande sei, nach England zu kommen und meiner Hochzeit beizuwohnen, mir gratulirte und so weiter. Der gute Mr. Bapchild, dem ich in meiner Betrübnis; vertraulich das Vorgefallene mittheilte, antwortete mir, ich möge noch eine Weile warten und sehen, ob mein Mann sich wieder betrinke.«

»Ich brauchte nicht lange zu warten. Schon am nächsten und am nächstfolgenden Tage war er wieder betrunken. Als ich das Mr. Bapchild mittheilte, schrieb er mir, ich möge ihm den Brief des Bruders meines Mannes schicken. Er erinnerte mich an die schon vor meiner Heirath über meinen Mann circulirenden Gerüchte, an die ich damals nicht hatte glauben wollen, und erklärte, es möge doch wohl gut sein, jetzt noch nähere Erkundigungen einzuziehen.«

»Das Ergebniß dieser Erkundigungen war Folgendes: Der Bruder war gerade um diese Zeit auf sein eigenes Verlangen unter die specielle Obhut eines Arztes gestellt, um sich des Trinkens zu entwöhnen. Die Neigung zu starken Getränken, hatte der Arzt geschrieben, scheine in der Familie erblich zu sein. Sie wären bisweilen monatelang mäßig und tränken nichts als Thee. Dann aber käme es auf einmal über sie und sie müßten sich, wie rechte, elende Trunkenbolde tagelang betrinken.«

»An einen solchen Mann war ich also gerathen und hatte um seinetwillen meine ganze Familie erzürnt und mir entfremdet. Das war gewiß eine traurige Aussicht für eine erst seit wenigen Monaten verheirathete Frau.«

»Nach Verlauf eines Jahres war das in der Bank deponirte Geld verbraucht und mein Mann außer Arbeit. So oft er nüchtern war, fand er leicht Beschäftigung da er ein ausgezeichneter Arbeiter war, so bald er aber dann seine Trunkanfälle bekam, verlor er regelmäßig wieder seine Beschäftigung. Es schmerzte mich, unser nettes kleines Haus verlassen und meine hübschen Möbel aufgeben zu müssen und ich schlug ihm vor, ich wolle mich tageweise als Köchin verdingen und so für unser Auskommen sorgen, bis er wieder Arbeit gefunden haben würde. Er war eben nüchtern und reuig und nahm meinen Vorschlag an. Noch mehr, er gelobte völlige Enthaltsamkeit und versprach ein neues Leben anzufangen. Die Dinge schienen sich mir wieder freundlich zu gestalten. Wir hatten für Niemand als für uns Beide zu sorgen, denn ich hatte kein Kind und keine Aussicht, eins zu bekommen. Ungleich den meisten Frauen betrachtete ich das nicht wie ein Unglück, sondern wie eine Gnade. In meiner Lage würde es, wie ich mich bald genug überzeugen mußte, mein hartes Loos nur noch härter gemacht haben, wenn ich Mutter geworden wäre.«

»Die Art der Beschäftigung, die ich suchte, war nicht sofort zu finden. Der gute Mr. Bapchild stellte mir ein Zeugniß aus und unser Hauswirth, ein braver Mann, der leider zur katholischen Kirche gehörte, sprach für mich mit dem Oeconomen eines Clubs, aber es brauchte doch Zeit, die Leute zu überzeugen, daß ich wirklich die perfecte Köchin sei, für die ich mich ausgab.«

»Es vergingen fast vierzehn Tage, bis ich eine Stelle, wie ich sie suchte, fand. Guter Dinge ging ich nach Hause, meinem Manne von meinem Engagement zu berichten, als ich einen Auctionator mit seinen Leuten im Hause fand, der im Begriff war, die Möbel, die ich für mein Geld angeschafft hatte, fortbringen zu lassen, um sie zu verauctioniren Ich fragte sie, wie sie sich unterstehen könnten, ohne meine Erlaubniß meine Sachen anzurühren. Sie antworteten mir ganz höflich, sie handelten nach einer Weisung meines Mannes und fuhren fort, die Sachen vor meinen Augen wegzutragen und auf den vor der Thür stehenden Wagen zu laden.«

»Ich lief die Treppe hinauf und fand meinen Mann oben auf dem Vorplatz. Er war wieder betrunken. Ich brauche nicht zu sagen, was zwischen uns vorging, ich will nur bemerken, daß es das erste Mal war, wo er seine Faust gegen mich erhob und mich schlug.«

5.

»Ich hatte meinen eigenen Kopf und war entschlossen, diesen Zustand nicht länger zu dulden. Ich lief nach dem nahe bei uns gelegenen Polizeigericht.«

»Mit meinem Gelde war nicht nur das Mobiliar gekauft, sondern auch der Haushalt bestritten worden; mit meinem Gelde waren die Steuern bezahlt, die die Königin und das Parlament verlangen. Ich lief jetzt zum Richter und wollte doch einmal sehen, was die Königin und das Parlament für die von mir bezahlten Steuern für mich thun würden.

»Ist Ihr Mobiliar Ihnen verschrieben?« fragte mich der Richter, als ich ihm erzählt hatte, was vorgefallen war.«

»Ich verstand ihn nicht. Er wandte sich an Jemanden, der neben ihm auf der Richterbank saß und sagte: »Das ist ein böser Fall. Die armen Leute in diesen Ständen wissen nicht einmal, was eine Eheverschreibung ist. Und wenn sie es wüßten, so könnten doch die wenigsten die Kosten für einen Advocaten bezahlen.«

»Darauf wandte er sich wieder zu mir und sagte: »Ihr Fall ist ein sehr gewöhnlicher. Bei dem gegenwärtigen Zustand der Gesetze kann ich nichts für Sie thun.«

Das konnte ich nicht glauben. Was ging es mich an, ob mein Fall gewöhnlich war oder nicht, ich legte ihm denselben noch einmal vor. »Ich habe die Möbel mit meinem eigenen Gelde gekauft, Herr Richter«, sagte ich, »sie gehören mir, ich habe sie redlich erworben, wie ich durch eine quittirte Rechnung beweisen kann. Und jetzt nehmen mir die Leute die Möbel mit Gewalt weg, um sie gegen meinen Willen zu verkaufen. Sagen Sie nicht, daß das gesetzlich ist, wir leben ja in einem christlichen Lande. Das kann nicht sein!«

»Mein liebes Kind«, antwortete er mir, »Sie sind eine verheirathete Frau und dass Gesetz gestattet keiner verheiratheten Frau, irgend etwas ihr eigen zu nennen, wenn sie nicht vor der Heirath unter Zuziehung eines Advocaten ein desfallsiges Abkommen mit ihrem Manne getroffen hat. Sie haben kein solches Abkommen getreffen und daher hat Ihr Mann das Recht, wenn er will, Ihre Mobilien zu verkaufen. Es thut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«

Ich wollte mich noch immer nicht zufrieden geben. »Bitte, sagen Sie mir doch, Herr Richter«, sagte ich wieder, klügere Leute, als ich bin, haben mir erzählt, daß wir Alle unsere Steuern bezahlen, um die Königin und das Parlament zu erhalten, und daß die Königin und das Parlament uns zum Dank dafür Gesetze geben. Ich habe meine Steuern bezahlt. Warum giebt es denn, wenn ich fragen darf, kein Gesetz, mich zu schützen?«

»Darauf kann ich Ihnen nicht antworten«, erwiderte er, »ich muß das Gesetz nehmen, wie ich es finde, und das müssen Sie auch. Sie haben ja da eine angeschwollene Backe! Hat Ihr Mann Sie geschlagen? Wenn das der Fall ist, lassen Sie ihn hercitiren, dafür kann ich ihn bestrafen.«

»Womit können Sie ihn bestrafen, Herr Richter?« fragte ich.

»Ich kann ihn zu einer Geldstrafe verurtheilen oder ihn in? Gefängniß schicken.«

»Die Geldstrafe«, bemerkte ich, »kann er dem von Gelde bezahlen, das er für meine Mobilien bekommt. Und wenn er in’s Gefängniß geschickt wird, was soll dann so lange aus mir werden, nachdem er mein Geld ausgegeben und mir meine Sachen weggenommen hat? Und wenn er wieder herauskommt, was soll dann aus mir werden mit einem Mann, den ich in Strafe gebracht habe, und der das weiß und wieder zu mir nach Hause kommt? Es ist schlimm genug so, Herr Richter«, sagte ich. »Ich habe schon Schlimmeres erleiden müssen, als was Sie da in meinem Gesicht sehen. Guten Morgen.«

6.

»Als ich wieder nach Hause kam, waren meine Möbel fort und auch mein Mann war fortgegangen. In dem leeren Hause war kein Mensch außer dem Hauswirth. Er sprach sehr freundlich mit mir. Nachdem er mich verlassen hatte, verschloß ich meinen Koffer, fuhr nach Dunkelwerden in einer Droschke fort und suchte mir ein Logis, wo ich übernachten könnte. Wenn es je ein verlassenes, unglückliches Wesen gegeben hatte, so war ich es in dieser Nacht. Es gab nur eine Aussicht für mich, mein Brod zu verdienen, ich mußte die mir in einem Club angebotene Stelle als Unterköchin eines Koches annehmen. Und meine einzige Hoffnung war, daß ich meinen Mann nie wieder zu sehen bekommen würde.«

Ich trat meine Stelle an, kam darin fort und verdiente meinen ersten Vierteljahrlohn. Aber es taugt nichts für eine Frau, so dazustehen, wie ich dastand; ich war einsam und ohne Freunde, und man hatte mir meine Sachen, die mein Stolz gewesen waren, weggenommen und verkauft, und ich hatte nichts, worauf ich in der Zukunft hoffen konnte. Ich ging regelmäßig zur Kirche; aber ich glaube, mein Herz fing um diese Zeit an, hart zu werden und mein Gemüth fing an, unter der Last seines geheimen Kummers zu erliegen. Mir stand wieder eine Veränderung meiner Lage bevor.«

»Zwei oder drei Tage, nachdem ich, wie eben erwähnt, meinen Vierteljahrslohn erhalten hatte, fand mein Mann mich wieder auf. Das für die Möbel gelöste Geld hatte er bereits Alles wieder ausgegeben. Er machte mir eine Scene im Club und ich konnte ihn nur dadurch beruhigen, daß ich ihm alles Geld gab, was ich irgend entbehren konnte. Der Auftritt wurde dem Comité des Clubs gemeldet. »Die Herren erklärten mir, sie würden, wenn sich ein solcher Vorfall wiederholen sollte, genöthigt sein, mich zu entlassen.«

»Nach Verlauf von vierzehn Tagen wiederholte sich der Auftritt. Es wäre unnütz, hier länger dabei zu verweilen. Die Herren erklärten mir alle, es thue ihnen sehr leid um mich, aber ich verlor meine Stelle. Mein Mann kehrte mit mir in meine Wohnung zurück. Am nächsten Morgen betraf ich ihn dabei, wie er meine Börse mit den wenigen darin befindlichen Schillingen aus meinem Koffer nahm, den er erbrochen hatte. Darüber geriethen wir in Streit und er schlug mich wieder, diesmal so, daß ich zu Boden fiel.«

»Ich ging zum zweiten Mal nach dem Polizeigericht und erzählte meine Geschichte dieses Mal einem andern Richter. Mein einziges Gesuch ging dahin, daß man mich von meinem Mann befreie »Ich möchte Niemandem zur Last fallen«, sagte ich, »und nichts Unrechtes thun. Ich will mich nicht einmal darüber beklagen, daß ich sehr arg mißhandelt worden bin. Alles, um was ich bitte, ist, daß man mir die Möglichkeit gewährt, mein Brod redlich zu verdienen. Kann ich auf den Schutz des Gesetzes»dabei rechnen?«

»Die Antwort lautete im Wesentlichen dahin, daß das Gesetz mich vielleicht schützen würde, wenn ich Geld genug hätte, um bei einem höheren Gerichtshof eine Trennung nachzusuchen. Nachdem das Gesetz also meinem Manne gestattet hatte, mich ohne Weiteres meines einzigen Eigenthums, nämlich meiner Möbel, zu herauben, kehrte es sich jetzt, wo ich mich in meinem Elende um Hülfe an dasselbe wandte, gegen mich und hielt mir seine Hand entgegen, um Geld von mir zu bekommen.«

»Ich besaß gerade noch drei Shilling sechs Pence, mit der Aussicht, daß wenn ich mehr verdienen sollte, mein Mann wieder mit Erlaubniß des Gesetzes kommen und es mir wegnehmen würde. Es gab nur eine Hoffnung für mich, nämlich Zeit zu gewinnen, ihm wieder zu entkommen.«

»Einen Monat schaffte ich ihn mir dadurch vom Halse, daß ich ihn verklagte, mich zu Boden geschlagen zu haben. Der Richter, der ein junger Mann und neu in seinem Beruf war, schickte ihn in’s Gefängniß, anstatt ihn in eine Geldstrafe zu verurtheilen. Dadurch gewann ich Zeit, mir Zeugnisse, eines vom Club und eines von dem guten Mr. Bapchild, zu verschaffen. Mit Hilfe dieser Zeugnisse erlangte ich eine Stelle in einem Privathause, dieses Mal auf dem Lande.«

»Hier glaubte ich mich jetzt in den Hafen der Ruhe eingelaufen. Ich war bei braven, freundlichen Leuten, die an meiner traurigen Lage Antheil nahmen und mich sehr nachsichtig behandelten. In all’ meinem Unglück habe ich, wie ich bekennen muß, doch immer Eines gefunden, was tröstlich ist. Nach all’ meinen Erfahrungen sind die Menschen im Ganzen sehr bereit, Mitleid mit dem Elend Anderer zu empfinden, und sehen meistens sehr gut ein, was die Gesetze des Landes, zu deren Aufrechterhaltung sie beitragen, Herbes Grausames und Ungerechtes enthalten. Aber man fordere sie nur einmal auf, nicht mehr ruhig dazusitzen und darüber zu raisonniren sondern sich dagegen zu erheben, —— und was wird man erleben? daß sie so hülflos wie eine Heerde Schafe sind.

7.

»Mehr als sechs Monate verflossen und ich konnte mir wieder etwas Geld ersparen, als eines Abends, als wir eben zu Bett gehen wollten, laut an der Hausthür geklingelt wurde. Der Diener öffnete die Thüre und ich hörte die Stimme meines Mannes auf dem Vorplatz.«

»Mit Hilfe eines ihm bekannten Polizeibeamten hatte er meine Spur aufgefunden und war gekommen, seine Rechte geltend zu machen. Ich bot ihm all’ das bischen Geld, was ich mir erspart hatte, wenn ser mich nur in Ruhe lassen wolle. Mein guter Herr sprach mit ihm, aber Alles vergebens, er war verstockt und wild.«

»Wenn ich nicht von ihm, sondern er von mir weggelaufen wäre, so hätte, so viel ich verstanden habe, vielleicht etwas zu meinem Schutz geschehen können; aber er wollte, so lange ich noch einen Pfennig verdienen konnte, nicht von seiner Frau lassen. Da ich mit ihm verheirathet war, so hatte ich kein Recht, ihn zu verlassen; ich war verpflichtet, meinem Mann zu folgen, es gab keine Rettung für mich. Ich sagte meiner Herrschaft Lebewohl und habe ihre Güte gegen mich bis auf den heutigen Tag nie vergessen. Mein Mann nahm mich mit sich zurück nach London. So lange mein Geld verhielt, trank er fortwährend; als das Geld ausgegeben war, fing er wieder an, mich zu schlagen.«

»Was konnte ich dagegen thun? Nichts, als versuchen, ihm wieder zu entkommen. Ich hätte ihn in’s Gefängniß setzen lassen können, aber was hätte ich davon gehabt? Nach wenigen Wochen würde er wieder frei gewesen sei und nüchtern und reuig Besserung versprochen haben, um dann, wenn ihn die Leidenschaft wieder ergriffen hätte, in dieselbe wüthende Wildheit auszubrechen, die ihn nun schon so oft besessen hatte. Mein Herz wurde bei dieser Hoffnungslosigkeit meiner Lage immer härter und finstere Gedanken beschlichen mich, besonders des Nachts. Um diese Zeit war es, wo ich mir zu sagen anfing: Es giebt keine andere Befreiung aus diesem Elend als durch den Tod, seinen Tod oder deinen Tod.«

»Ein paar Mal ging ich Abends auf die Brücken hinunter und sah in den Fluß hinab. Nein. Ich war nicht dazu gemacht, mein Elend auf diese Weise zu beendigen. Dazu muß das Blut fieberhaft aufgeregt, muß der Kopf glühend heiß sein, —— wenigstens denke ich es mir so, —— dazu muß man sich wie von einem bösen Geiste getrieben fühlen, sich selbst aus der Welt zu schaffen.«

»Das war aber nie die Wirkung, die mein Kummer auf mich übte. Ich wurde immer kalt dabei, aber nicht heiß. Das war gewiß sehr schlinnn für mich, aber wie man einmal ist, so ist man. Kann der Neger seine Haut, oder der Leopard sein Fell verändern?«

»Noch einmal gelang es mir, meinem Mann zu entkommen und es kommt hier nicht darauf an, wie und wo, eine gute Stelle zu finden. Meine Geschichte nimmt immer und immer wieder denselben Verlauf. Ich will daher so rasch wie möglich damit zu Ende zu kommen suchen. Nur Eines war dieses Mal anders.«

»Meine Stelle war nicht in einem Privathause, und ich hatte Erlaubniß, in meinen freien Stunden jungen Frauen das Kochen zu lehren. Dank diesem Umstand und der längeren Zeit, die dieses Mal verging, ehe mein Mann mich wieder auffand, fühlte ich mich so behaglich, wie es in meiner Lage nur möglich war. Abends, wenn meine Arbeit gethan war, ging ich zum Schlafen in eine eigene Wohnung, die ich mir gemiethet hatte. Es war nur ein Schlafzimmer, das ich mir selbst meublirte, theils aus Oeconomie, da die Miethe für unmeublirte Wohnungen nicht halb so hoch ist, wie für meublirte, theils aus Reinlichkeit. In all’ meinem Elend habe ich immer darauf gehalten, mich mit saubern, netten und soliden Möbeln zu umgeben.

»Nun, ich brauche nicht zu sagen, wie es auch dieses Mal wieder kam. Er fand mich wieder auf, dieses Mal in Folge einer zufälligen Begegnung mit mir auf der Straße. Er war zerlumpt und halb verhungert. Aber das schadete ihm ja nichts, er brauchte nur die Hand in meine Tasche zu stecken und herauszunehmen, was er brauchte. Es giebt in England kaum eine Grenze für das, was einem schlechten Ehemanne zu thun erlaubt ist, so lange er nicht von seiner Frau lassen will.«

In diesem Falle war er klug genug, einzusehen, daß es sein eigener Schaden sein würde, wenn er mich zwänge, meine Stelle zu verlassen. Eine Zeitlang ging es so fort. Unter der Angabe, daß ich jetzt mehr zu thun habe als früher, erbat ich mir, offen gestanden, nur um meinen Mann nicht mehr sehen zu müssen, die Erlaubniß, in dem Hause, wo ich meine Stelle hatte, zu schlafen, und erhielt dieselbe; aber das sollte nicht lange dauern. Nach einer Weile bekam er wieder seine gewöhnlichen Trunkanfälle, kam in’s Haus und machte mir einen Auftritt. Wie noch jedes Mal, so ging es auch jetzt; anständige Leute konnten sich so etwas nicht gefallen lassen. Wie jedes Mal erklärte auch jetzt meine Herrschaft, es thue ihr leid, mich entlassen zu müssen, und ich verlor auch dieses Mal wieder meine Stelle.«

»Andere Frauen würden dabei verrückt geworden sein. Ich glaube, um ein Haar wäre auch ich verrückt geworden.«

Als ich ihn in der nächsten Nacht anblickte, wie er betrunken, schlafend dalag, mußte ich an Jael und Sissera denken, wie es im Buch der Richter im vierten Capitel Vers einundzwanzig heißt: »Da nahm Jael, das Weib Heber’s, einen Nagel von der Hütte und einen Hammer in ihre Hand und ging leise zu ihm hinein, und schlug ihm den Nagel durch seinen Schlaf, daß er zur Erde sank. Er aber entschlummerte, ward ohnmächtig und starb.« Jael that das, um ihr Volk von Sissera zu befreien.«

»Ich glaube, wenn ich in jener Nacht einen Nagel und einen Hammer zur Hand gehabt hätte, ich hätte es gemacht wie Jael, nur mit dem Unterschiede, daß ich es zu meiner eigenen Befreiung gethan hätte. Mit dem Anbruch des Morgens verließen mich für diesesmal solche Gedanken. Ich ging, mir bei einem Advocaten Raths zu erholen. Die meisten Menschen würden es an meiner Stelle wohl schon satt gehabt haben, es mit dem Recht zu versuchen, aber ich gehörte zu den Menschen, die den Becher bis auf die Hefe leeren.«

»Was ich dem Advokaten sagte, war in der Kürze Folgendes: »Ich möchte Ihren Rath im Betreff eines Verrückten haben. Verrückt sind, wie ich es verstehe, Menschen die die Herrschaft über sich verloren haben. Das führt sie bisweilen dazu, Andere zu täuschen bisweilen aber auch, Handlungen zu begehen, durch die sie Andere oder sich beschädigen. Mein Mann hat alle Herrschaft über seine Leidenschaft für geistige Getränke verloren. Er muß vor geistigen Getränken gehütet werden, wie andere Verrückte davor gehütet werden müssen, sich selbst oder Andern nach dem Leben zu trachten. Es ist bei ihm so gut wie Wahnsinn, über den er nichts vermag, wie es bei diesen ein Wahnsinn ist, über den sie nichts vermögen. Es giebt im ganzen Lande viele Irrenanstalten, die dem Publikum unter gewissen Bedingungen zu Gebote stehen. Wird das Gesetz, wenn ich diese Bedingungen erfülle, mich von dem Elend befreien, an einen Verrücktem dessen Verrücktheit in Trunksucht besteht, verheirathet zu sein?« »Nein«, erwiderte der Advocat »Das englische Gesetz betrachtet einen unheilbaren Trunkenbold nicht als ein zur Einschließung geeignetes Individuum; das englische Gesetz überläßt es den Männern und Frauen solcher Trunkenbolde mit ihrem Elend so gut fertig zu werden, wie sie können«. Ich bezahlte den Herrn für seinen Rath und ging meine Wege. Das war meine letzte Hoffnung gewesen, und auch die war mir jetzt vereitelt.«

8.

»Der Gedanke, der mich schon einmal beschlichen hatte, überkam mich jetzt wieder, um mich von nun an nie wieder ganz zu verlassen. Es gab keine Befreiung als durch den Tod, seinen oder meinen Tod. Dieser Gedanke verfolgte mich Nacht und Tag, in der Kirche, überall. Ich las die Geschichte von Jael und Sissera so oft, daß die Bibel sich, wenn ich sie anfaßte, von selbst an der Stelle öffnete. Die Gesetze meines eigenen Landes, die mir als einer rechtschaffenen Frau hätten beistehen müssen, ließen mich hilflos. Auch hatte ich keine Freunde, denen ich mein Herz hätte erschließen können. Ich war ganz auf mich selbst angewiesen, und ich war an diesen Menschen gekettet. Bedenkt, daß ich ein menschliches Wesen bin und sagt, ob meine Lage nicht eine schwere Prüfung für mich war.«

»Ich schrieb wieder an den guten Mr. Bapchild, ohne mich auf Einzelheiten einzulassen, nur daß ich von Versuchungen heimgesucht sei, und bat ihn, zu mir zu kommen und mir zu helfen. Er war durch Krankheit an’s Bett gefesselt und konnte mir nur schriftlich guten Rath geben. Damit Einem aber guter Rath etwas nütze, muß man noch einen Rest von Hoffnung auf ein Glück haben, auf das man als Lohn seiner Anstrengung hoffen darf. Selbst die Religion muß eine Belohnung in Aussicht stellen und zu uns armen Menschen sagen: »Seid tugendhaft und Ihr werdet in den Himmel kommen.« Für mich aber gab es keine Hoffnung auf Glück mehr. Ich empfand eine Art von stumpfer Dankbarkeit gegen den guten Mr. Bapchild, aber das war auch Alles.«

»Es hatte eine Zeit gegeben, wo ein Wort meines guten Pastors mich wieder auf den rechten Weg würde zurückgeführt haben. Ich fing an, einen Schauder vor mir selbst zu empfinden. Es stand fest bei mir, daß wenn ich bis zu der nächsten Mißhandlung, die mir von meinem Manne widerfahren würde, nicht andern Sinnes geworden sein würde, ich aller Wahrscheinlichkeit nach mich mit eigener Hand von ihm befreien würde. Die Furcht vor einem solchen Ausgang brachte mich dazu, mich zum ersten Mal vor meinen Verwandten zu demüthigen. Ich schrieb ihnen, bat sie um Verzeihung, bekannte, daß sie in ihrer Ansicht über meinen Mann Recht gehabt hätten und bat sie, sich soweit wieder mit mir auszusöhnen, daß sie mir gestatteten, sie von Zeit zu Zeit zu besuchen. Ich dachte, es könnte mein Herz milder stimmen, wenn ich die alten Plätze wiedersehen, die alte Sprache wieder sprechen, die alten wohlbekannten Gesichter wiedersehen könnte. Ich schäme mich fast, es zu gestehen, aber ich hätte gern Alles darum gegeben, einmal wieder in die Küche meiner Mutter gehen und noch einmal das Sonntags-Mittagessen für die Familie kochen zu dürfen. Aber das sollte nicht sein. Kurz ehe mein Brief ankam, war meine Mutter gestorben und ihren Tod hatten sie mir allein Schuld gegeben. Sie war zwar jahrelang kränklich gewesen, und die Aerzte hatten ihren Zustand von Anfang an für hoffnungslos erklärt, aber doch gaben sie es mir allein Schuld. Eine meine Schwestern erklärte mir das schriftlich in so wenigen Worten, wie es nur irgend gesagt werden konnte. Mein Vater antwortete gar nicht auf meinen Brief.



Einundsechzigstes Kapitel - Das Manuscript (Fortzetzung aus vorigem Kapitel)

9.

»Richter und Advocaten, Verwandte und Freunde, Erduldung schlechter Behandlung, Geduld, Hoffnung und rechtschaffene Arbeit, ——— mit Allem hatte ich es versucht, und es war Alles vergebens gewesen. Ich mochte blicken, wohin ich wollte, auf allen Seiten war mir jede Hoffnung abgeschnitten. Um diese Zeit hatte mein Mann etwas Beschäftigung gefunden. Eines Abends kam er wieder aufgeregt nach Hause, und ich warnte ihn: »Bringe mich nicht auf’s Aeußerste, Jael, um Deiner selbst willen«, das war Alles, was ich sagte. Es war einer seiner nüchternen Tage, und zum ersten Mal schien ein Wort von mir Eindruck auf ihn zu machen. Etwa eine Minute lang sah er mich scharf an. Dann setzte er sich in eine Ecke und schwieg. Das war an einem Dienstag abends. Am Sonnabend bekam er seinen Lohn und nun fing das Trinken wieder an. Am nächstfolgenden Freitag kam ich zufällig spät nach Hause, weil ich an dem Tage gerade viel zu thun gehabt hatte, denn ich hatte für einen Gastwirth, der mich kannte, ein großes« Mittagessen zu kochen gehabt. Ich fand meinen Mann nicht zu Hause und das Schlafzimmer von den Möbeln geräumt, die ich in dasselbe hatte setzen lassen. Zum zweiten Mal hatte er mir mein Eigenthum geraubt und es verkauft, um daß Geld zu vertrinken.«

»Ich sagte kein Wort. Ich sah mich in dem leeren Zimmer um. Was in jenem Augenblick in mir vorging, war mir selbst damals nicht klar, und ich kann es auch noch jetzt nicht beschreiben. Alles, dessen ich mich erinnere, ist, daß ich nach einer Weile wieder fortging. Ich kannte die Orte, wo mein Mann sich außer dem Hause aufzuhalten pflegte, und ich beschloß, wie vom Teufel besessen, ihn aufzusuchen. Als ich über den Vorplatz ging, kam die Hauswirthin heraus und versuchte es, mich zurückzuhalten. Sie war eine größere und stärkere Frau als ich, aber ich stieß sie von mir wie ein Kind. Wenn ich mir die Sache jetzt überlege, so glaube ich, daß sie sich bei meinem Anblick unfähig fühlte, ihre Kraft zu gebrauchen. Sie entsetzte sich vor mir. Ich fand meinen Mann. Ich sagte, nun ich sagte, was eine Frau, die vor Wuth außer sich ist, in solchen Fällen sagt. Ich brauche nicht zu erzählen, wie die Sache endete. Er schlug mich zu Boden.«

»Hier ist eine dunkle Stelle in meinem Gedächtniß. Das Nächste, dessen ich mich erinnern kann, ist, wie ich nach Verlauf einiger Tage wieder zur Besinnung kam. Er hatte mir drei Zähne ausgeschlagen, aber das war noch nicht das Schlimmste. Im Fallen war mein Kopf auf etwas aufgestoßen und etwas in meinem Körper, —— ich glaube, sie nannten es Nerven ——, war so verletzt, daß meine Sprache darunter gelitten hatte. Ich war nicht ganz stumm geworden, aber das Sprechen wurde mir schwer. Ein langes Wort auszusprechen war jetzt für mich eine so große Schwierigkeit, als wenn ich wieder ein Kind geworden wäre. Man brachte mich in’s Hospital.«

»Als die Aerzte von meinem Fall hörten, versammelten sie sich um mich. Sie schienen sich für mich zu interessiren, grade wie andere Leute sich für ein Geschichtenbuch interessiren. Das Resultat ihrer Berathungen war, daß ich vielleicht stumm werden, vielleicht aber auch meine Sprache wieder gewinnen würde, die Chancen seien ungefähr gleich. Nur zweierlei erklärten sie für nothwendig, ich müsse gute kräftige Nahrung zu mir nehmen und mich vor Gemüthsbewegung bewahren.«

»Was die Nahrung anbetraf, so hing diese davon ab, ob ich Geld haben würde, mir dieselbe zu verschaffen; meine Gemüthsverfassung aber war der Art, daß ich entschlossen war, meinen Mann, wenn er wieder zu mir kommen würde umzubringen.«

»Furchtbar, ich weiß es wohl, es ist furchtbar. Kein anderer Mensch an meiner Stelle würde zu einem so nichtswürdigen Entschluß gelangt sein. Alle andern Frauen in der Welt würden aus einer Prüfung, wie es die meinige war, besser hervorgegangen sein.«

10.

»Ich habe schon gesagt, daß außer meinem Manne und meinen Verwandten die Menschen fast immer gut gegen mich waren. Der Besitzer des Hauses, das wir nach unserer Heirath zuerst bewohnt hatten, hörte von meinem traurigen Fall. Er ließ mich in eines seiner leeren Häuser einziehen und gab mir noch außer der Wohnung wöchentlich eine Kleinigkeit für Hütung des Hauses. In den oberen Zimmern standen noch einige Möbel, die der letzte Miether zurückgelassen hatte, um sie womöglich an den nächsten Miether zu verkaufen. Zwei unter dem Dach befindliche nebeneinander liegende Domestikenzimmer waren mit allem Nöthigen ausgestattet. So hatte ich doch ein Obdach, eine Auswahl von Betten und Geld genug, um mir Essen und Trinken dafür zu verschaffen. Das war Alles ganz gut, aber Alles zu spät. O, wenn das Haus reden könnte, was würde das von mir zu erzählen wissen!«

»Die Aerzte hatten mir empfohlen, mich im Sprechen zu üben. Da ich ganz allein war, und Niemanden hatte, mit dem ich sprechen konnte, außer wenn der Hauswirth einmal vorsprach, oder wenn das Mädchen mir aus dem anstoßenden Hause zurief: »Schön Wetter heute, nicht wahr?« oder »Sie sind wohl recht einsam?« oder dergleichen, so kaufte ich mir die Zeitung und las mir selbst laut vor, um so meine Sprache zu üben.«

»Eines Tages las ich in der Zeitung einen kleinen Artikel über die Frauen von Trunkenbolden. Es war ein Bericht über die Aussagen eines Londoner Leichenschauers, der oft die Leichen von todten Männern aus den niedern Ständen besichtigt, und vielfach Verdacht gegen die Frauen derselben geschöpft hatte. Die Untersuchungen der Leichen, hatte er erklärt, ergaben nichts und Zeugen seien nicht vorhanden, aber doch halte er es in einigen Fällen für sehr möglich, daß die Frau, um ihrer unerträglichen Lage ein Ende zu machen, ein nasses Handtuch genommen es dem in tiefem Schlaf liegenden, betrunkenen Mann auf Mund und Nase gehalten und ihn so erstickt habe, ohne daß ein Mensch etwas davon bemerkt habe.«

»Ich legte die Zeitung aus der Hand und fing an, nachzudenken. Ich war um diese Zeit in einer Prophetischen Stimmung. Ich sagte zu mir: »Das habe ich nicht umsonst zu lesen bekommen, das bedeutet, daß mein Mann noch wieder zu mir kommen wird.«

»Es war gerade nach Tische, um zwei Uhr. Denselben Abend hörte ich, in dem Augenblick, wo ich mein Licht ausgelöscht und mich in’s Bett gelegt hatte, ein Klopfen an der Hausthür. Noch ehe ich mein Licht wieder angezündet hatte, sagte ich mir: »Da ist er.« Nothdürftig gekleidet ging ich mit dem Licht die Treppe hinunter. Ich rief durch die Thür hinaus: »Wer ist da?« und die Stimme meines Mannes antwortete: »Laß mich hinein!«

»Am ganzen Leibe zitternd, als ob mich der Schlag gerührt habe, mußte ich mich auf einen auf dem Vorplatz stehenden Stuhle niederlassen. Es war nicht Furcht vor ihm, sondern meine prophetische Stimmung, die so auf mich wirkte. Ich wußte, daß die Zeit gekommen sei, wo ich endlich dazu getrieben würde. Ich mochte es versuchen wie ich wollte, mich des Gedankens zu entschlagen, mein Geist sagte, ich würde es jetzt thun. Zitternd saß ich eine Weile so auf dem Stuhl auf dem Vorplatz, ich an der einen Seite der Thür, er an der andern. Er klopfte wieder und wieder. Ich wußte, daß mein Versuch vergeblich sein würde, und doch beschloß ich den Versuch zu machen. Ich wollte ihn nicht einzulassen, bis man mich dazu zwingen würde; ich beschloß, ihn die Nachbarn alamiren zu lassen und abzuwarten, ob diese sich in’s Mittel legen würden. Ich ging hinauf und wartete oben an dem über der Thür befindlichen offenen Treppenfenster. Ein Constabler kam herbei und die Nachbarn sammelten sich vor der Thür. Sie drangen Alle auf seine Verhaftung. Schon hatte ihn der Constabler ergriffen, aber er brauchte nur oben nach dem Fenster auf mich hinzuweisen und zu erklären, daß ich seine Frau sei. Die Nachbarn gingen wieder in ihre Häuser, der Constabler ließ ihn los. Jetzt war ich es, die Unrecht hatte, und nicht er. Ich war verpflichtet, meinen Mann einzulassen, so ging ich wieder hinunter und öffnete ihm. Die Nacht verging ruhig. Ich hatte ihn in das neben meinem Zimmer befindliche Schlafzimmer gelassen und meine Thür verschlossen. Er hatte sich den ganzen Tag ohne einen Penny in der Tasche ans der Straße herumgetrieben und war todmüde. Ein Bett, auf dem er sich ausruhen konnte, war Alles, was er für diese Nacht verlangte.«

»Am nächsten Morgen versuchte ich es wieder, umzukehren aus dem Wege, den ich zu wandeln verdammt war, obgleich ich voraus wußte, daß es umsonst sein würde. Ich bot ihm drei Viertheile meines armseligen Wochenlohnes, die ihm regelmäßig auf dem Comptoir des Hauswirths ausgezahlt werden sollten, wenn er nur mich und das Haus meiden wolle. Er lachte mir in’s Gesicht. Da er mein Mann war, konnte er Alles, was ich verdiente, zu sich nehmen wenn er wollte, und hatte Anspruch auf freies Quartier im Hause, so lange ich engagirt war in demselben einzuhüten. Der Hauswirth hatte kein Recht, Mann und Weib zu trennen. Ich sagte nichts weiter. Im Lauf des Tages erschien der Hauswirth. Er erklärte, wenn wir ruhig zusammen leben könnten, so habe er weder Recht noch den Wunsch, sich in unsere Angelegenheiten mischen, wenn es aber Auftritte zwischen uns gäbe, so würde er genöthigt sein, eine andere Frau zum Einhüten zu engagiren. Ich konnte nirgends anderswo hingehen und wußte keine andere Beschäftigung zu finden. Wenn ich trotzdem ausgegangen wäre, so würde mein Mann mir gefolgt sein. Und alle anständigen Leute würden ihm auf die Schulter geklopft und gesagt haben: »Recht so, lieber Mann, recht so!« So war er also nach seinem eigenen Willen und mit Zustimmung aller andern Leute in demselben Hause mit mir. Ich sagte nichts, weder zu ihm, noch zu dem Hauswirth. Mich konnte jetzt nichts mehr aufregen Ich wußte, was kommen mußte und wartete ruhig das Ende ab.«

»Es mußte, eine Veränderung mit mir vorgegangen sein, von der ich selbst nichts wußte, die aber für Andere sichtbar zu sein schien und die meinen Mann zuerst überraschte und dann erschreckte. Am nächsten Abend hörte ich ihn die Thür in seinem Zimmer leise verschließen; mir war das gleichgültig. Ich wußte, daß wenn die Zeit kommen würde, zehntausend Schlösser das nicht würden verhindern können, was kommen mußte.«

»Der nächste Tag, an dem ich meinen Wochenlohn bekam, brachte mich dem Ende um einen Schritt näher. Das Geld konnte er wieder vertrinken. Dieses Mal fing er vorsichtig an, mit andern Worten, er trank anfänglich wenig. Der Hauswirth ein braver Mann, der gern den Frieden zwischen uns aufrecht erhalten wollte, hatte meinem Mann allerhand Reparaturen im Hause zu machen gegeben.«

»Ich thue das«, sagte er zu ihm, »aus Mitleid mit Ihrer armen Frau. Ich möchte Ihnen um ihretwillen helfen. Versuchen Sie es, sich meiner Hilfe würdig zu erweisen.«

»Er erwiderte wie gewöhnlich»er wolle ein neues Leben anfangen. Es war zu spät, die Zeit war vorüber. Er war verdammt und ich war verdammt. Es war mir gleichgültig, was er jetzt sagte, war mir gleichgültig, daß er abends vor dem Schlafengehen seine Thür verschloß.«

»Der nächste Tag war ein Sonntag; es ereignete sich nichts, ich ging aus reiner Gewohnheit zur Kirche, aber es that mir nicht gut. Allmälig trank er etwas mehr, aber noch immer vorsichtig und verhältnismäßig wenig zur Zeit. Ich wußte aus Erfahrung, daß das der Anfang eines langen und schweren Anfalls sei.«

»Am Montag sollte mit den verschiedenen Reparaturen im Hause der Anfang gemacht werden. Er war noch gerade nüchtern genug, um seine Arbeit zu thun und schon betrunken genug, sich ein boshaftes Vergnügen daraus zu machen, seine Frau zu quälen. Er ging aus, sich die Sachen zu holen, die er zur Arbeit brauchte, kam wieder und rief mich. Ein geschickter Arbeiter, wie er, sagte er, brauche einen Tagelöhner, ihm zu helfen. Es gäbe bei der Arbeit Dinge zu thun, die unter der Würde eines so geschickten Arbeiters, wie er, seien. Er wolle dazu nicht erst einen Mann oder einen Jungen nehmen, die er bezahlen müsse, er könne sich das ja umsonst verschaffen und mich zum Tagelöhner nehmen.

»Halb betrunken und halb nüchtern fuhr er fort solche Reden zu führen, während er seine Sachen ganz gehörig, wie er sie brauchte, um sich her zurecht legte. Als er damit fertig war, richtete er sich auf und wies mich an, was ich zu thun habe. Ich that, was er mich thun hieß, so gut ich konnte. Was er auch sagen und thun mochte, ich wußte, daß er geradewegs seinem Tode durch meine Hand entgegen gehe.«

»Die Ratten und Mäuse hatten schon lange ungehindert in den Zimmern gehaust und das ganze Haus bedurfte der Reparatur. Mein Mann hatte mit dem Fußboden in der Küche anfangen müssen, aber es stand geschrieben, daß er mit den leeren Wohnzimmern zur ebenen Erde beginnen sollte. Diese Zimmer waren durch eine aus Latten und Gips bestehende, sogenannte Scheerwand getrennt. Die Ratten hatten die Scheerwand beschädigt. An einer Stelle hatten sie dieselbe durchnagt und die Tapete verdorben, an einer andern Stelle waren sie nicht so weit gekommen. Die Ordre des Hauswirths ging dahin, die Tapete zu schonen, weil er noch Stücke davon habe. Mein Mann fing an einer Stelle an, wo die Tapete noch unversehrt war. Nach seiner Weisung mischte ich etwas, was ich nicht näher beschreiben werde.«

»Unter Anwendung dieser Mischung löste er die Tapete, ohne sie im Mindesten zu beschädigen, in einem langen Streifen von der Wand ab. Darunter lagen die Latten und der Gips, welche die Ratten an einigen Stellen ganz weggenagt hatten. Obgleich mein Mann seinem Gewerbe nach eigentlich nur Tapezierer war, so verstand er sich doch auch auf’s Gipsen. Ich sah zu, wie er die verrotteten Latten herausschnitt und den Gips wegräumte, machte wieder nach seiner Weisung, den neuen Gips für ihn zurecht, reichte ihm die neuen Latten und sah, wie er sie einsetzte. Auch darüber, wie er das machte, will ich kein Wort sagen. Ich habe einen schrecklichen Grund, davon hier zu schweigen. Bei Allem, was mein Mann mich an diesem Tage thun ließ, zeigte er mir in seiner Verblendung die beste Art, ihn umzubringen, so daß kein lebendes Wesen, weder Polizei noch andere Menschen, Verdacht gegen mich würden schöpfen können. Gerade vor Dunkelwerden wurden wir mit der Arbeit an der Wand fertig. Wir gingen, ich meinen Thee und er seinen Branntwein zu trinken. Während er noch der Flasche tüchtig zusprach, ging ich, unsere Schlafzimmer für die Nacht in Ordnung zu bringen. Die Stellung seines Bettes, auf die ich früher nie besondere Acht gegeben hatte, drängte sich mir, so zu sagen, jetzt auf. Das Kopfende der Bettstelle stand an der Wand, die sein Zimmer von dem meinigen trennte.«

»Nachdem ich mir das Bett angesehen hatte, betrachtete ich mir auch die Wand näher und suchte, indem ich mit den Knöcheln darauf klopfte, heraus zu bringen, woraus sie bestehe. Der Klang belehrte mich, daß auch hier unter der Tapete nichts sein könne als Latten und Gips. Unten, wo die Wand von derselben Beschaffenheit war, waren wir an gewissen Stellen, die der Reparatur am bedürftigsten waren, so weit in die Latten und den Gips vorgedrungen, daß wir uns hatten in Acht nehmen müssen, die Tapete an der anderen Seite der Wand nicht zu verletzen. Ich erinnerte mich genau der Worte, mit denen mein Mann mich, als wir bei dieser Arbeit beschäftigt gewesen waren, gewarnt hatte: Nimm Dich in Acht, daß Du mit Deinen Händen nicht in die andere Stube hinein kommst. Die Augen fest auf den Schlüssel geheftet, den er an seiner Seite in’s Schlüsselloch gesteckt hatte, um sich Nachts einzuschließen, wiederholte ich mir jene Worte fortwährend, bis mir ihr wahrer Sinn plötzlich wie ein Blitz aufging. Ich sah das Bett an, dann die Wand, dann meine eigenen Hände und mich durchschauerte, wie an einem kalten Wintertage. Stunden müssen an jenem Abende vergangen sein, während ich oben war. Ich verlor völlig das Bewußtsein der Zeit. Als mein Mann mit seiner Branntweinflasche fertig war und hinauf kam, fand er mich oben in seinem Zimmer.«

11.

»Was nun folgte, lasse ich unerwähnt, und gehe absichtlich zu dem über, was»am nächsten Morgen geschah. Keine sterblichen Augen außer meinen eigenen, werden diese Zeilen je zu sehen bekommen. Und doch giebt es Dinge, die eine Frau auch für sich selbst nicht nieder schreiben kann. Ich will nur so viel sagen. Gerade in dem Augenblick, wo ich mir zum ersten Mal über die Art klar geworden war, wie ich meinem Mann das Leben nehmen könne, mußte ich von ihm noch das Schlimmste erdulden, was einer Frau von einem verhaßten Mann widerfahren kann. Um Mittag ging er aus, um die Runde durch die Kneipen zu machen, ich war um diese Zeit noch fester als vorher entschlossen, mich ein für allemal von ihm zu befreien, wenn er abends wieder nach Hause kommen würde. Die Sachen, die wir am vorigen Tage bei den Reparaturen gebraucht hatten, waren unten im Wohnzimmer geblieben. Ich war ganz allein im Hause, und konnte mir die Unterweisung, die ich von ihm erhalten hatte, zu Nutze machen. Ich erwies mich als eine geschickte Schülerin. Noch ehe die Laternen auf der Straße angezündet waren, hatte ich in meinem und seinem Zimmer alles darauf vorbereitet, nachts, wenn er sich eingeschlossen haben würde, Hand an ihn zu legen. Ich kann mich nicht erinnern, daß mich während all’ jener Stunden etwas von Furcht oder Zweifel angewandelt hätte. Ich verzehrte mein bischen Abendbrod mit nicht mehr und nicht weniger Appetit als gewöhnlich. Die einzige Veränderung in meinem Wesen, deren ich mich erinnern kann, war die, daß ich ein eigenthümliches Verlangen empfand, Jemanden bei mir zu haben, der mir hätte Gesellschaft leisten können. Da ich keine Freunde hatte. die ich zu mir bitten konnte, ging ich hinunter, stellte mich vor die Hausthür und sah mir die Vorübergehenden an. Ein herumschlüpfender Hund kam zu mir heran. Im Allgemeinen mag ich weder Hunde noch Thiere überhaupt leiden; aber diesen Hund lockte ich hinein und gab ihm zu essen. Er war vermuthlich dazu abgerichtet, sich auf die Hinterbeine zu setzen und so um Futter zu bitten, wenigstens drückte er bei mir sein Verlangen nach mehr so aus. Ich lachte, —— es scheint mir jetzt kaum glaublich, wenn ich daran zurückdenke, aber es ist doch wahr, ich lachte, bis mir die Thränen über die Backen liefen, über das kleine Thier, wie es da aus seinen Hinterbeinen saß, mit gespitzten Ohren, den Kopf auf die eine Seite geneigt und ihm der Mund nach den Nahrungsmitteln wässerte. Ich möchte wohl wissen, ob ich damals recht bei Sinnen war; ich glaube es beinahe nicht. Nachdem der Hund die Ueberreste meines Abendbrots ganz verzehrt hatte, fing er an zu winseln, um wieder auf die Straße hinausgelassen zu werden. Als ich die Hausthür öffnete, um das Thier hinaus zu lassen, sah ich meinen Mann gerade über die Straße auf das Haus zukommen. »Bleibe fort«, rief ich ihm zu, »nur diese Nacht bleibe fort« Er war zu betrunken, um meine Worte zu hören, ging an mir vorüber und stolperte die Treppe hinauf. Ich folgte ihm und horchte auf der Treppe, und hörte, wie er seine Thür öffnete, wieder zuschlug und verschloß. Ich wartete ein wenig und ging dann ein Paar Stufen weiter hinauf. Jetzt hörte ich, wie er auf’s Bett fiel. Eine Minute später war er fest eingeschlafen und schnarchte laut. So war Alles gekommen, wie es kommen mußte. Nach Verlauf von zwei Minuten hätte ich ihn, ohne das Mindeste zu thun, was geeignet gewesen wäre, einen Verdacht gegen mich rege zu machen, ersticken können. Ich ging auf mein Zimmer und nahm das Tuch, das ich bereit gelegt hatte, zur Hand. Im Begriff, es zu thun, überkam mich plötzlich etwas, ich kann nicht deutlich sagen, was es eigentlich war, das Entsetzen packte mich und trieb mich fort zum Hause hinaus. Ich setzte meinen Hut auf, verschloß die Hausthür von Außen und nahm den Schlüssel zu mir.«

»Es war noch nicht zehn Uhr. Wenn irgend etwas in meinem verwirrten Kopf klar war, so war es der Wunsch, fortzulaufen und dieses Haus und meinen Mann nie wieder«zu sehen. Ich ging nach rechts hin bis an’s Ende der Straße und kehrte wieder um; ich machte einen zweiten Versuch, Straße auf, Straße ab, aber zuletzt trieb es mich doch wieder nach dem Hause zurück. Ich sollte nicht fort, das Haus hielt mich an sich gefesselt, wie ein Hundehaus den an dasselbe geketteten Hund. Und wenn es mein Leben gekostet hätte, ich hätte nicht fort gekonnt.«

»In dem Augenblick, wo ich wieder in’s Haus treten wollte, ging gerade eine Gesellschaft von lustigen jungen Männern und Frauen an mir vorüber. Sie hatten es sehr eilig.«

»Beeilt Euch,« sagte einer der Männer, »das Theater ist hier ganz in der Nähe, und wir können gerade noch die Posse sehen.«

»Ich kehrte wieder um und folgte ihnen. Ich war sehr fromm erzogen worden und noch nie in meinem Leben in einem Theater gewesen. Der Gedanke fuhr mir durch den Kopf, daß es mich vielleicht, so zu sagen, aus mir selbst herausreißen könnte, wenn ich etwas zu sehen bekäme, was mir ganz neu wäre, und was mich auf andere Gedanken bringen könnte. Die jungen Leute gingen in’s Parterre und ich folgte ihnen dahin. Das Ding, was sie Posse nannten, hatte eben angefangen. Männer und Frauen kamen auf die Bühne liefen hin und her, sprachen und gingen wieder weg. Es dauerte nicht lange und alle Leute im Parterre um mich her lachten aus vollem Halse und klatschten in die Hände. Der Lärm, den sie machten, ärgerte mich. Ich weiß nicht, wie ich den Zustand, indem ich mich befand, schildern soll.«

»Meine Augen und meine Ohren versagten mir ihren Dienst zu sehen und zu hören, was die anderen Leute sahen und hörten. Es muß wohl etwas in meinem Gemüth gewesen sein, was sich zwischen mich und das auf der Scene Vorgehende drängte. Das Stück schien ganz lustig, aber dahinter steckte doch Gefahr und Tod. Die Schauspieler schwatzten und lachten, um die Leute zu betrügen und ihre Mordgedanken zu verbergen.«

»Und das merkte Keiner außer mir, und meine Zunge war gefesselt, als ich versuchen wollte es den Andern zu sagen.«

»Ich stand auf und lief hinaus. Kaum war ich auf der Straße, als mich meine Füße unwillkürlich nach dem Hause zurückbrachten. Ich rief eine Fiacre an, und hieß den Kutscher, mich soweit, wie er es für einen Schilling könne, in der entgegengesetzten Richtung zu fahren.«

»Er setzte mich, ich weiß selbst nicht wo, ab. An der anderen Seite der Straße sah ich über einer offenen Thür eine illuminirte Inschrift. Auf meine Frage antwortete der Kutscher, es sei ein Tanzlokal. Tanzen war für mich etwas eben so Neues wie Theater. Ich hatte gerade noch einen Schilling bei mir, und gab ihn für das Entree aus, um zu sehen, was mir das Tanzen für einen Eindruck machen würde. Die Lichter eines Kronleuchters machten den Saal so hell als wenn er in Flammen gestanden hätte. Die Musik machte einen fürchterlichen Lärm. Das Herumwirbeln von Männern und Weibern, die einander in den Armen lagen, war ein Anblick zum Tollwerden. Ich weiß nicht, was hier in mir vorging. Das Licht das sich vom Kronleuchter her über den Saal ergoß, erschien mir plötzlich blutroth. Der Mann, der vor den Musikanten stand, und einen Stock in der Luft hin und her schwenkte, sah für mich aus wie der Satan, wie er auf einem Bilde in unserer Familienbibel zu Hause zu sehen war.«

»Die Männer und Weiber, die fort und fort im Saal herumwirbelten, hatten todtenbleiche Gesichter und waren in Leichentücher gehüllt. Ich stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Da ergriff mich Jemand am Arm und führte mich zur Thür hinaus. Die Dunkelheit der Straße that mir wohl, sie war mir behaglich und erquickend wie wenn sich eine kalte Hand aus eine heiße Stirn legt.«

»Ich ging im Dunkeln durch die Straßen ohne zu wissen wohin, in dem tröstlichen Glauben, daß ich meinen Weg verloren habe und daß ich mich bei Tagesanbruch meilenweit vom Hause entfernt finden würde.«

»Nach einer Weile fühlte ich mich zu erschöpft, um weiter zu gehen, und setzte mich auf eine Haustreppe nieder, um mich aufzurichten. Ich schlummerte ein wenig und erwachte wieder. Als ich aufstand, um wieder weiter zu gehen, sah ich zufällig die Hausthür an. Sie trug dieselbe Hausnummer wie unser Haus. Ich sah genauer darauf und siehe da, ich hatte mich auf meiner eigenen Haustreppe ausgeruht. Alle meine Bedenken und alle meine inneren Kämpfe waren wie mit einem Schlage beseitigt, als ich diese Entdeckung machte. Ich konnte mich nicht länger darüber täuschen, was dieses beständige Zurückkehren nach dem Hause zu bedeuten habe; was ich auch zu thun versuchte, es sollte sein.«

»Ich öffnete die Hausthür, ging hinauf und hörte ihn laut schnarchen, gerade wie er geschnarcht hatte, als ich fortgegangen war. Mich auf mein Bett, setzend, nahm ich meinen Hut ab und fühlte mich völlig ruhig, weil ich wußte, es müsse geschehen. Ich feuchtete das Handtuch an, legte es in Bereitschaft und ging im Zimmer auf und ab.«

»Der Tag brach eben an. Die Sperlinge in den Bäumen auf dem naheliegenden Square fingen an zu zwitschern. Ich zog das Rouleau auf. Die Morgendämmerung schien zu mir zu sprechen: »Thue es jetzt, bevor das Tageslicht Dein Thun so hell bescheint.«

»Auch aus dem tiefen Schweigen, das rings um mich her herrschte, sprach eine freundliche Stimme zu mir: »Thue es jetzt und vertraue mir Dein Geheimniß an.« Ich wartete, bis die ersten Schläge der Kirchenuhr erklangen. Mit dem ersten Schlage legte ich ihm, ohne das Schloß an seiner Thür zu berühren, ohne einen Fuß in sein Zimmer zu setzen das Handtuch aufs Gesicht. Und ehe die Glocke den letzten Schlag gethan, hatte er aufgehört zu athmen. Als die Glocke schwieg und es wieder todtenstill geworden war, lag auch er todtenstill auf seinem Bette.«

»Der Rest meiner Geschichte ist für mich durch vier Tage bezeichnet; Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Sonnabend; denn nachher wird es in meinem Gedächtniß trübe, und die folgenden Jahre, mit denen ein neues Leben für mich beginnt, erscheinen mir in einem ganz anderen Lichte. Hier will ich zuerst niederschreiben, was noch von meinem alten Leben zu sagen ist. Was empfand ich in der fürchterlichen Stille des Morgens, als ich es gethan hatte? Ich weiß es selbst nicht mehr, oder ich kann es nicht sagen. Ich kann nur sagen, was sich an jenen vier Tagen begab.«

Mittwoch. »Gegen Mittag schlug ich Lärm im Hause. Lange vorher hatte ich Alles in die beste Ordnung gebracht. Ich brauchte nur nach Hilfe zu rufen und den Leuten zu überlassen, zu thun, was sie für gut fänden.«

»Zuerst kamen die Nachbarn und dann die Polizei. Vergebens klopften sie an seine Thür. Dann erbrachen sie die Thür und fanden ihn todt in seinem Bette. Nicht der leiseste Verdacht gegen mich wurde bei irgend Jemandem rege. Ich brauchte die menschliche Gerechtigkeit nicht zu fürchten; was mich aber mit unaussprechlicher Furcht erfüllte, das war die rächende Vorsehung. In der folgenden Nacht schlief ich wenig und hatte einen Traum, in welchem ich die That noch einmal beging. Eine Zeitlang dachte ich daran, mich selbst anzugeben, und würde es gethan haben, wenn ich nicht einer respectablen Familie angehört hätte. Generationen hindurch hatte sich der gute Name unserer Familie unbefleckt erhalten. Es wäre für meinen Vater der Tod, und für meine ganze Familie eine Schmach gewesen, wenn ich meine That bekannt und dafür am Galgen gebüßt hätte. Ich betete zu Gott um seine Führung und hatte gegen Morgen eine Offenbarung. Mir wurde in einer Vision geheißen, die Bibel zu öffnen, und aus dieselbe zu geloben, von diesem Tage an mich mit meiner Schuld von meinen unschuldigen Mitmenschen abzusondern, fortan still für mich unter ihnen einher zu gehen und meine Sprache nur zum Gebet in meinem einsamen Zimmer, wo Niemand mich würde hören können, zu gebrauchen. Ich gelobte es.«

»Kein menschliches Ohr hat mich seit diesem Tage reden gehört; und kein menschliches Ohr soll mich auch ferner reden hören.«

Donnerstag. »Die Leute wollten wie gewöhnlich mit mir reden, aber sie fanden mich stumm. Der Stoß, den ich früher am Kopf erlitten und der nachtheilige Einfluß, den dieser Unfall auf meine Sprache gehabt hatte, machten die jetzt bei mir eingetretene Stummheit wahrscheinlicher, als es bei einer anderen Person der Fall gewesen sein würde. Man brachte mich wieder in’s Hospital. Hier waren die Aerzte in ihren Ansichten getheilt. Einige meinten, die Erschütterung des neuesten Vorfalls, zusammen mit der früheren Erschütterung, könnte wohl das Uebel verursacht haben. Andere dagegen sagten: »Sie hat nach dem damaligen Unfall ihre Sprache wieder bekommen, sie hat seitdem keine neue Verletzung erfahren; die Frau stellt sich nur aus besonderen Gründen stumm. Ich ließ sie ruhig hin und her disputiren so viel sie wollten. Alles was die Menschen sagten, war mir jetzt vollkommen gleichgültig. Ich hatte mich von meinen Mitmenschen abgesondert; ich hatte mein einsames, stummes Leben begonnen. Während dieser ganzen Zeit verließ mich der Gedanke an eine mir drohende Strafe keinen Augenblick. Von der menschlichen Gerechtigkeit hatte ich nichts zu fürchten. Was ich erwartete, war das Gericht einer rächenden Vorsehung.«

Freitag. »An diesem Tage fand die Leichenschau statt. Er war seit Jahren als ein unverbesserlicher Trunkenbold bekannt gewesen, man hatte ihn endlich in seinem von Innen verschlossenen Zimmer und bei geschlossenen Fenstern todt gefunden. Ein Kamin war in dieser Bodenstube nicht vorhanden, nichts in dem Zimmer war vom Platze gerückt oder in Unordnung gebracht, kein Mensch konnte in das Zimmer eingedrungen sein. Der Bericht des Arztes ging dahin, daß er an einem Lungenschlag gestorben sei, und das Verdict der Jury lautete dem entsprechend.«

Sonnabend. »Dieser Tag muß vor allen hier als denkwürdig eingezeichnet werden, weil an ihm das Gericht über mich erging war drei Uhr Nachmittags, im hellsten Sonnenschein, unter einem wolkenlosen Himmel, inmitten von Hunderten unschuldiger Geschöpfe, als ich, Hester Dethridge, zum ersten Mal die Erscheinung, die mich bis zu meinem Tode verfolgen sollte, sah. Ich hatte eine schreckliche Nacht verbracht. Mir war ähnlich zu Muthe, wie an dem Abende, wo ich in’s Theater gegangen war. Ich ging aus und wollte versuchen, was Luft und Sonnenschein und das frische Grün des Rasens und der Bäume über mich vermöchten. Der nächste Ort, wo ich dies Alles finden konnte, war Regent’s Pakt. Nach einem der ruhigen Wege in der Mitte des Parks gehend, der für Wagen und Pferde verschlossen ist und wo alle Leute sich sonnen und Kinder gefahrlos spielen können, setzte ich mich ans eine Bank, um auszuruhen. Unter den Kindern um mich her war ein schöner, kleiner Knabe, der mit einem nagelneuen Spielzeug, Pferde und Wagen spielte. Während ich ihn beobachtete, wie er geschäftig die Grashalme abpflückte und auf seinen Wagen lud, empfand ich zum ersten Male, was ich seitdem zu wiederholten Malen empfunden habe, einen Schauer, der mich langsam kalt überlief, eine Furcht vor etwas dicht neben mir Verstecktem, das aus seinem Versteck hervortreten und sich zeigen werde, wenn ich meinen Blick dahin richtete. Dicht neben mir stand ein großer Baum. Ich sah nach dem Baum und erwartete, daß das dahinter Versteckte hervortreten werde; und siehe da, die Erscheinung kam, dunkel und schattenhaft im hellen Sonnenschein. Zuerst unterschied ich nur die ungewissen Umrisse einer Frauengestalt. Nach einer kleinen Weile fing es an deutlicher zu werden, erhellte sich von Innen nach Außen, wurde heller und heller, bis ich mein eigenes Ich klar vor mir sah, wie wenn ich vor einem Spiegel stände, meine Doppelgängerin, die mich mit meinen eigenen Augen ansah. Ich sah, wie die Gestalt über das Gras hinwandelte, sah, wie sie hinter dem schönen Knaben stehen blieb, sah, wie sie stand und horchte, wie ich gestanden und auf die Schläge der Glocke gehorcht hatte. Dann schien sie den entscheidenden Schlag zu vernehmen, deutete mit meiner eigenen Hand auf den vor ihr stehenden Knaben hinunter, und rief mir mit meiner eigenen Stimme zu: »Tödte ihn.« Die Zeit verging. Ich weiß nicht ob es eine Minute oder eine Stunde dauerte. Himmel und Erde waren für mich nicht mehr vorhanden. Ich sah nichts als meine Doppelgängerin mit der ausgestreckten Hand; ich fühlte nichts, als das Verlangen das Kind zu tödten. Dann plötzlich tauchte das Bewußtsein von Himmel und Erde wieder in mir auf; jetzt sah ich, daß die Leute, um mich her mich anstarrten, als ob ich nicht recht bei Sinnen sei. Mit großer Anstrengung stand ich auf und gewann es, mit noch größerer Anstrengung über mich, von dem Knaben weg zu sehen; ich riß mich gewaltsam von dem Anblick der Erscheinung los und eilte wieder auf die Straße. Ich kann die überwältigende Macht der Versuchung nur auf diese Art beschreiben; die Anstrengung, die es mich kostete, davon abzustehen, das Kind umzubringen, war so furchtbar, als ob mir das Leben genommen werden sollte. Und so, wie diese Versuchung das erste Mal gewirkt hatte, hat sie seitdem immer aus mich gewirkt.

Es giebt kein Mittel dagegen, als diese furchtbar marternde Anstrengung, und kein anderes Mittel, die Qualen die ich noch nachher erdulde, zu lindern, als durch einsames Gebet. Das Bewußtsein einer kommenden Strafe hatte mich verfolgt und die Strafe war gekommen. Ich hatte das Urtheil der rächenden Vorsehung erwartet, und das Urtheil war gesprochen. Mit König David konnte ich jetzt sagen: »Ich bin elend und ohnmächtig, daß ich so verstoßen bin; ich leide Dein Schrecken daß ich schier verzage.« ——

Bei dieser Stelle des Manuskripts sah Geoffrey zum ersten Mal wieder von demselben auf. Ein Ton außerhalb des Zimmers hatte ihn aufgeschreckt. Kam der Ton vom Vorplatz her? Er horchte. Jetzt war wieder Alles still. Er blickte wieder auf das »Bekenntniß« und ließ die letzten Blätter durch die Finger gleiten, um zu sehen wie viel noch davon bis zum Schluß übrig sei. Nachdem die Schreiberin die Umstände mitgetheilt, unter denen sie wieder in Dienst getreten war, setzte sie die Erzählung ihrer Lebensgeschichte nicht weiter fort. Die wenigen noch übrigen Seiten waren mit dem Fragment eines Tagebuches ausgefüllt. Die kurzen Aufzeichnungen desselben bezogen sich alle auf die verschiedenen Gelegenheiten, bei welchem Hester Dethridge wieder und wieder die schreckliche Erscheinung von sich selbst gesehen und wieder und wieder der wahnwitzigen Mordlust widerstanden hatte, welche das grausige Geschöpf ihres eigenen wirren Gehirns in ihr erzeugte. Die Anstrengung, welche dieser Widerstand sie kostete, war der Schlüssel zu ihrem zeitweiligen, hartnäckigen Bestehen auf dem Verlangen, Stunden und Tage von der Erfüllung ihrer Dienstpflichten entbunden zu werden; diese Anstrengung erklärte es auch, daß sie es beim Antritt eines neuen Dienstes jedes Mal zur ausdrücklichen Bedingung gemacht hatte, ein eigenes Schlafzimmer für sich zu haben. Nachdem Geoffrey die mit diesen Aufzeichnungen angefüllten Seiten gezählt hatte, nahm er die Lectüre des Manuscripts an der Stelle, wo er sie unterbrochen hatte, wieder auf. Eben hatte er die erste Zeile gelesen, als das Geräusch auf dem Vorplatz, das einen Augenblick aufgehört hatte, ihn wieder störte. Dieses Mal war es ihm sofort klar, was der Ton zu bedeuten habe. Er hörte deutlich Hester’s eilige Fußtritte, er hörte sie einen furchtbaren Schrei ausstoßen. Sie war aus ihrem Schlaf auf dem Lehnstuhl im kleinen Wohnzimmer wieder erwacht und hatte ihr »Bekenntniß« vermißt. Geoffrey steckte das Manuscript in seine Brusttasche Dieses Mal sollte ihm seine Lectüre ihre Dienste leisten. Er brauchte nicht weiter zu lesen, brauchte auch den Newgate Kalender nicht mehr. Als er aufstand, spielte um seine hängenden Lippen ein furchtbares Lächeln. So lange das Bekenntniß des Weibes in seiner Tasche steckte, war das Weib selbst in seiner Gewalt. »Wenn sie es von mir wieder haben will«, sagte er zu sich, »muß sie erst meine Bedingungen erfüllen.« Mit diesem Entschluß öffnete er die Thür und stand Hester Dethridge gegenüber auf dem Vorplatz.



Zweiundsechzigstes Kapitel - Die Anzeichen des nahenden Endes

Als die Magd am nächsten Morgen das Frühstück auf Anne’s Zimmer brachte, schloß sie mit einer geheimnißvollen Miene die Thür hinter sich und meldete, es gingen sonderbare Dinge im Hause vor.

»Haben Sie gestern Abend nichts von unten her gehört, Madame?« fragte sie.

»Es kam mir vor«, erwiderte Anne, »als ob ich Stimmen draußen vor meiner Thür flüstert: hörte. Ist etwas vorgefallen?«

Der sehr confuse Bericht des Mädchens lief im Wesentlichen auf Folgendes hinaus.

Zu ihrem Schrecken war ihre Herrin plötzlich auf dem Vorplatz erschienen und hatte wild um sich geblickt, als ob sie den Verstand verloren hätte. Gleich darauf habe der Herr die Thür des Wohnzimmers aufgerissen, habe Mrs. Dethridge am Arm ergriffen, sie in’s Zimmer hineingezogen und die Thür wieder geschlossen.

Nachdem die Beiden länger als eine halbe Stunde zusammen eingeschlossen gewesen seien, sei Mrs. Dethridge todtenbleich wieder herausgekommen, und sei zitternd, wie Jemand, der sich entsetzlich ängstige, die Treppe hinauf gegangen. Etwas später, berichtete das Mädchen weiter, als sie schon im Bett gelegen, aber noch nicht geschlafen, habe sie einen Lichtschimmer, unter ihrer Thür, in dem kleinen hölzernen Gang gesehen, welcher sich zwischen Anne’s und Hester’s Schlafzimmer befand, und von dem aus sie in ihr neben Hester’s gelegenes kleines Schlafzimmer gelangte. Sie sei ausgestanden und habe durch’s Schlüsselloch gesehen, wie der Herr und Mrs. Dethridge zusammen die Wände des kleinen Ganges untersucht hätten. Der Herr habe die Hand auf die Wand an der Seite von Anne’s Schlafzimmer gelegt und habe Mrs. Dethridge dabei angesehen diese habe ihn wieder angesehen und mit dem Kopf geschüttelt. Dann habe er einen Augenblick nachgedacht, und dann wieder geflüstert: »Aber in dem anderen Zimmer wird’s gehen?« Da habe Mrs. Dethridge mit dem Kopf genickt, und darauf seien sie fortgegangen. So lautete der Bericht über die Vorgänge des gestrigen Abends und der Nacht. In der Frühe seien dann noch andere sonderbare Dinge geschehen. Der Herr sei mit einem großen, versiegelten mit vielen Postmarken versehenen Packet ausgegangen, habe dasselbe also wohl selbst zur Post getragen, anstatt es wie gewöhnlich durch sie, die Magd, besorgen zu lassen. Als er wieder nach Hause gekommen, sei Mrs. Dethridge ausgegangen.

Kurz nachher habe ein Arbeiter ein Bündel Latten und etwas Mörtel und Gyps gebracht, und seien diese Sachen vorsichtig in eine Ecke der Aufwaschküche gestellt worden.

Endlich und das sei das Merkwürdigste von Allem, habe sie Erlaubniß erhalten, an dem heutigen Tage nach Hause zu gehen und ihre Verwandten auf dem Lande zu besuchen; während Mrs. Dethridge ihr, als sie engagirt wurde erklärt habe, daß sie vor Weihnachten nicht darauf rechnen dürfe, einen freien Tag zu bekommen. Das waren die sonderbaren Vorfälle, die sich seit gestern Abend im Hause begeben hatten. Wie waren diese Dinge zu erklären?

Das war nicht leicht.

Einige der Vorfälle deuteten augenscheinlich darauf hin, daß Reparaturen oder Veränderungen im Hause vorgenommen werden sollten. Aber was Geoffrey, dem die Wohnung bereits gekündigt war, damit zu thun hatte, und was Hester Dethridge in so leidenschaftliche Aufregung versetzt haben könnte, —— das blieb völlig räthselhaft.

Anne entließ das Mädchen mit einigen freundlichen Worten und einem kleinen Geschenke. Unter anderen Umständen würden die unbegreiflichen Vorgänge im Hause sie vielleicht ernstlich beunruhigt haben; aber jetzt war ihr Gemüth von dringenderen Sorgen in Anspruch genommen.

Blanche’s zweiter Brief, den sie am gestrigen Abend durch Hester erhalten hatte, theilte ihr mit, daß Sir Patrick auf seinem Entschluß beharre, und, möge daraus entstehen was da wolle, noch heute in Begleitung seiner Nichte hinauskommen werde. Anne nahm den Brief wieder zur Hand und durchlas ihn zum zweiten Male. Die Stellen, die sich auf Sir Patrick bezogen, lauteten so:

»Du kannst Dir keinen Begriff davon machen, mein lieber Engel wie lebhaft sich mein Onkel für Dich interessirt. Obgleich er sich nicht, wie ich mir, vorzuwerfen hat, die unglückliche Ursache des von Dir gebrachten Opfers zu sein, macht ihn doch Deine Lage ganz so elend wie mich. Wir sprechen von nichts Anderem als von Dir. Gestern Abend noch sagte er, er glaube nicht, daß es auf der Welt Deines Gleichen gäbe. Und das sagt ein Mann, der so furchtbar scharfe Augen für die Fehler der Frauen im Allgemeinen und eine so furchtbar scharfe Zunge bei der Beurtheilung derselben hat. Ich habe zwar Verschwiegenheit gelobt, ich muß Dir aber im Vertrauen noch etwas erzählen. Lord Holchester’s Mittheilung, daß sein Bruder sich weigert, in eine Trennung von Dir zu willigem brachte meinen Onkel ganz außer sich. Wenn sich nicht in wenigen Tagen Deine Lage wesentlich bessert, so ist Sir Patrick entschlossen, einen, gleichviel ob gesetzlichen oder ungesetzlichen Weg ausfindig zu machen, Dich aus Deiner schrecklichen Lage zu befreien, und Arnold wird ihm mit meiner vollen Zustimmung dabei behilflich sein. Aus Allem, was wir erfahren, müssen wir schließen, daß Du Dich in einer förmlichen Gefangenschaft befindest. Sir Patrick hat sich schon einen Observationsposten in Deiner Nähe gesichert; gestern Abend ist er mit Arnold und einem Schlosser um die ganze Euer Grundstück umgebende Mauer herumgegangen und hat die hintere Gartenthür untersucht. Du wirst das Nähere darüber bald von Sir Patrick selbst hören. Bitte, laß ihn nicht merken, daß Du schon etwas davon weißt, wenn Du ihn siehst. Er hat mich nicht zu seinem Vertrauten gemacht, aber Arnold Alles mitgetheilt, und das kommt natürlich ganz auf dasselbe hinaus. Der Bestie zum Trotz, die Dich hinter Schloß und Riegel hält, wirst Du uns, ich meine meinen Onkel und mich, morgen sehen. Arnold kommt nicht mit, weil er selbst fürchtet, daß er seine Entrüstung nicht würde zurückhalten können. Muth, liebste Freundin! Es giebt zwei Personen auf der Welt, denen Du unaussprechlich werth bist und die entschlossen sind, Dich nicht zu Grunde gehen zu lassen. Die eine dieser Personen bin ich, und, um’s Himmel willen, behalte auch das für Dich, die andere ist Sir Patrick.«

In die Lectüre des Briefes und in den Conflict der Empfindungen, die derselbe rege machte, vertieft, erröthend, wenn ihre Gedanken auf sich selbst gelenkt wurden und wieder erbleichend, wenn sie des bevorstehenden Besuches gedenken mußte, wurde Anne zum Bewußtsein der Gegenwart erst durch das Wiedererscheinen der Magd zurückgerufen die ihr eine Botschaft zu bringen hatte. Mr. Speedwell war längere Zeit im Hause gewesen und wünschte nun, Anne unten zu sprechen.

Anne fand den Arzt allein im Wohnzimmer. Er entschuldigte sich, daß er sie zu so früher Stunde störe. »Es war mir unmöglich«, sagte er, »gestern herzukommen, und ich konnte Lord Holchester’s Wunsch nur mit Sicherheit entsprechen, wenn ich mich entschloß, vor der Stunde, wo ich Patienten in meinem Hause empfange, herzukommen Ich habe Mr. Delamayn gesehen und bitte um die Erlaubniß, Ihnen ein Wort in Betreff seiner Gesundheit zu sagen.«

Anne blickte zum Fenster hinaus und sah Geoffrey, der seine Pfeife nicht wie gewöhnlich im Hintergarten, sondern im Vordergarten rauchte, wo er die Pforte im Auge behalten konnte.

»Ist er krank?« fragte sie.

»Bedenklich krank«, antwortete Mr. Speedwell, »sonst würde ich Sie nicht mit dieser Unterhaltung incommodirt haben. Es ist meine Berufspflicht, Sie, als seine Frau darauf aufmerksam zu machen, daß er sich in Gefahr befindet. Er kann jeden Augenblick vom Schlage gerührt werden. Die einzige und wie ich mich zu erklären verpflichtet fühle, sehr schwache Möglichkeit einer Rettung für ihn liegt darin, daß man ihn ohne Zeitverlust dahin bringt, seine jetzige Lebensweise zu ändern.«

»In einer Beziehung«, bemerkte Anne, »wird er sofort genöthigt sein, seine Lebensweise zu ändern. Die Wirthin hat ihm angezeigt, daß er das Haus verlassen müsse.«

Mr. Speedwell schien überrascht. »Die Wirthin«, erwiderte er, »scheint ihre Ansicht wieder geändert zu haben. Ich kann Sie nur versichern, daß Mr. Delamayn, als ich ihm eine Luftveränderung anrieth, mir bestimmt erklärte, er sei aus besonderen Gründen entschlossen, hierzubleiben.«

Das war also wieder ein neuer Beitrag zu der Reihe unerklärlicher, häuslicher Ereignisse. Hester Dethridge, sonst die hartnäckigste Person auf der Welt, hatte ihre Meinung geändert.

»Davon abgesehen«, fuhr der Arzt fort, »halte ich mich für verpflichtet, zwei Vorsichtsmaßregeln zu empfehlen. Mr. Delamayn leidet ersichtlich, obgleich er es nicht zugeben will, an Verängstigungen. Die Hoffnung auf Erhaltung seines Lebens kann sich nur verwirklichen, wenn diese Beängstigungen beseitigt werden. Steht es in Ihrer Macht, ihn davon zu befreien?«

»Es steht nicht einmal in meiner Macht, Ihnen über diese Beängstigungen nähere Auskunft zu geben, Mr. Speedwell.«

Der Arzt verneigte sich und fuhr fort: »Die zweite Vorsichtsmaßregel, die ich Ihnen anzuempfehlen habe, ist, geistige Getränke von ihm fern zu halten. Er giebt zu, vorgestern Abend einen Exceß im Trinken begangen zu haben. Bei seinem Gesundheitszustand bedeutet Trinken soviel wie unvermeidlicher Tod. Wenn er wieder nach der Branntweinflasche greift, —— verzeihen Sie, daß ich die Sache beim rechten Namen nenne, der Fall ist zu ernst, um ihn leicht zu nehmen —— wenn er wieder nach der Branntweinflasche greift, so stehe ich nicht fünf Minuten für sein Leben ein. Sind Sie im, Stande, geistige Getränke von ihm fern zu halten?«

Anne antwortete traurig und bestimmt: »Ich habe keinen Einfluß auf ihn. Der Fuß, auf dem wir hier leben ——«

Mr. Speedwell unterbrach sie. absichtlich mit den Worten: »Ich verstehe. Ich werde auf dem Heimwege bei seinem Bruder vorsprechen.« Er sah Anne einen Augenblick an und nahm dann wieder auf: »Sie selbst sind auch nichts weniger als wohl, kann ich etwas für Sie thun?«

»So lange ich mein jetziges Leben führen muß, Mr. Speedwell, kann selbst Ihre Kunst mir nicht helfen.«

Der Arzt verabschiedete sich. Anne eilte die Treppe hinauf, ehe Geoffrey wieder in’s Haus treten konnte. Ihre feine Natur sträubte sich dagegen, dem Manne, der ihr Leben verwüstet hatte, mit seinen tückisch, rachsüchtigen Blicken in einem Augenblick zu begegnen, wo das Todesurtheil über ihn gesprochen worden war.

Die Morgenstunden vergingen, ohne daß er einen Versuch gemacht hätte, mit ihr zu verkehren, und was noch auffallender war, auch Hester ließ sich nicht blicken. Die Magd kam hinauf, um Anne Adieu zu sagen, ehe sie aufs Land ging. Kurz darauf drangen eigenthümliche Töne von der entgegengesetzten Seite des Vorplatzes an Anne’s Ohr. Sie hörte Hammerschläge und dann ein Geräusch, wie wenn ein schweres Möbel von der Stelle gerückt würde. Offenbar hatte man mit den geheimnißvollen Reparaturen in dem Fremdenzimmer den Anfang gemacht. Anne trat an’s Fenster. Die Stunde nahte sich, wo sie erwarten konnte, daß Sir Patrick und Blanche den Versuch machen würden, sie zu sehen.

Zum drittenmal nahm sie Blanches Brief zur Hand.

Dieses mal gab ihr derselbe eine neue Erwägung an die Hand. Bedeuteten die Maßregeln, welche Sir Patrick im Geheimen ergriffen hatte vielleicht eben sowohl Besorgniß als Theilnahme für Anne? War er vielleicht der Meinung, daß sie sich in einer Lage befinde, in welcher das Gesetz ohnmächtig sei, sie zu schützen?

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Das schien ihr jetzt durchaus möglich. Angenommen, es wäre ihr möglich gewesen, einen Richter zu consultiren und ihm, wenn sie es in Worten vermöchte, die unbestimmte Furcht vor Gefahren auszusprechen, die sie beherrschte, —— welche Beweise hätte sie beibringen können, um einen Fremden zu überzeugen?

Alles, was sie zum Beweise hätte vorbringen können, sprach zu Gunsten ihres Mannes. Zeugen konnten die versöhnlichen Worte bestätigen, die er in ihrer Gegenwart zu ihr gesagt hatte. Die Aussagen seiner Mutter und seines Bruders würden ergeben, daß er es vorgezogen habe, seine pecuniären Interessen zum Opfer zu bringen, statt sich von ihr zu trennen. Sie war nicht im Stande, das Geringste beizubringen, was der Dazwischenkunft eines Dritten zwischen Mann und Weib zur Entschuldigung hätte dienen können. War Sir Patrick vielleicht davon durchdrungen und deutete das, was Blanche über seine und Arnold’s Schritte berichtete, vielleicht darauf hin, daß sie, an jeder Rechtshilfe verzweifelnd, sich selbst zu helfen im Begriff ständen?

Je mehr sie über die Sache nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr das.

Sie war noch mit diesen Gedanken beschäftigt, als die Pfortenglocke ertönte. Plötzlich verstummte das Geräusch im Fremdenzimmer. Anne sah zum Fenster hinaus. Ueber die Mauer hinweg sah sie auf ein Wagendach.

Sir Patrick und Blanche waren gekommen. Nach einer Weile erschien Hester Dethridge im Garten und trat an das Gitter in der Pforte. Anne vernahm Sir Patricks klare und entschlossene Stimme und konnte durch das geöffnete Fenster jedes Wort, was er sprach, verstehen.

»Seien Sie so gut, Mr. Delamayn meine Karte zu geben. Sagen Sie ihm, daß ich ihm eine Botschaft von Holchester House zu überbringen habe, und daß ich mich derselben nur gegen ihn selbst entledigen könne.«

Hester Dethridge ging wieder in’s Haus. Wieder dauerte es eine Weile, dieses mal etwas länger. Endlich erschien Geoffrey selbst im Vordergarten, mit dem Schlüssel zur Pforte in der Hand. Anne’s Herz klopfte stärker, als sie ihn die Pforte aufschließen sah und sie fragte sich, was nun noch folgen werde. Zu ihrem unaussprechlichen Erstaunen ließ Geoffrey Sir Patrick, ohne einen Augenblick zu zaudern, ein, und was noch auffälliger war, forderte auch Blanche auf, den Wagen zu verlassen und einzutreten.

»Lassen wir Vergangenes vergangen sein«, hörte Anne ihn zu Sir Patrick sagen, »ich möchte jetzt nur das Rechte thun. Wenn es recht ist, daß Besuchende so bald nach dem Tode meines Vaters hierher kommen, so kommen Sie, und seien Sie willkommen. Mir schien es, als Sie uns früher zu besuchen wünschten, nicht recht, aber ich verstehe nicht viel von solchen Dingen und überlasse Ihnen die Entscheidung.«

»Jemandem, der Ihnen Botschaften von Ihrer Mutter und Ihrem Bruder bringt«, entgegnete Sir Patrick mit feierlichem Ernst, »sind Sie unter allen Umständen zu empfangen verpflichtet.«

»Und«, fügte Blanche hinzu, »ein solcher Bote sollte Ihnen nur um so willkommener sein, wenn er in Begleitung der ältesten und liebsten Freundin Ihrer Frau erscheint.«

Geoffrey sah Sir Patrick und Blanche mit dem Ausdruck stumpfer Ergebung an. »Ich verstehe nicht viel von solchen Dingen«, wiederholte er. »Wie gesagt, ich überlasse es Ihnen.«

In diesem Augenblick standen sie unter Anne’s Fenster. Sie zeigte sich. Sir Patrick zog den Hut vor ihr ab. Blanche warf ihr mit einem Freudenschrei eine Kußhand zu und wollte in’s Haus gehen, aber Geoffrey hielt sie zurück und rief seiner Frau zu, hinunter zu kommen.

»Nein, nein!« sagte Blanche. »Lassen Sie mich zu ihr auf ihr Zimmer gehen.«

Sie machte einen zweiten Versuch, in’s Haus zu gelangen, aber zum zweiten Mal hielt Geoffrey sie zurück. »Bemühen Sie sich nicht«, sagte er, »sie kommt herunter.«

Anne erschien im Vordergarten und trat zu ihnen. Blanche flog in ihre Arme und küßte sie mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit. Sir Patrick ergriff schweigend ihre Hand. Zum ersten Mal, so lange Aune ihn kannte, wußte der entschlossene, klare, selbstgewisse alte Herr einen Augenblick lang nicht, was er sagen und thun sollte. Seine Augen, die mit dem Ausdruck stummer Theilnahme auf ihr ruhten, sprachen deutlich: »In Gegenwart Ihres Mannes getraue ich mir nicht, mit Ihnen zu reden!«

Geoffrey brach das Schweigen mit den Worten: »Wollen Sie nicht in’s Wohnzimmer gehen?« Dabei sah er seine Frau und Blanche scharf an. Geoffrey’s Stimme schien Sir Patrick seine gewöhnliche Energie wieder zu geben. Er erhob sein Haupt und war wieder der Alte.

»Warum«, sagte er, »sollen wir bei diesem schönen Wetter in’s Haus gehen? Was meinen Sie zu einem Gang durch den Garten?«

Blanche drückte Anne’s Hand bedeutungsvoll. Sir Patrick hatte den Vorschlag offenbar mit einem besonderen Zweck im Auge gemacht. Sie gingen um das Haus herum in den großen Hintergarten; die beiden Damen Arm in Arm voran, Sir Patrick und Geoffrey hinter ihnen. Allmälig fing Blanche an ihre Schritte zu beschleunigen, indem sie Anne zuflüsterte: »Ich habe meine Instructionen, laß uns so rasch gehen, daß er uns nicht hören kann.«

Aber das war leichter gesagt als gethan. Geoffrey hielt sich dicht hinter ihnen.

»Nehmen Sie ein wenig Rücksicht auf meine Lahmheit, Mr. Delamayn«, sagte Sir Patrick »Nicht ganz so rasch wenn ich bitten darf.«

Die Sache war gut angelegt, aber Geoffrey’s Schlauheit witterte, daß hier etwas nicht ganz geheuer sei. Anstatt mit Sir Patrick zurück zu bleiben, rief er seiner Frau zu:

»Nimm ein wenig Rücksicht aus Sir Patricks Lahmheit; nicht ganz so rasch.«

Sir Patrick parirte diesen Hieb mit einer für ihn characteristischen Geschicklichkeit. Als Anne, der Aufforderung ihres Mannes entsprechend, jetzt wieder langsamer ging, blieb Sir Patrick absichtlich mitten auf dem Wege stehen und sagte zu Geoffrey:

»Erlauben Sie mir, daß ich jetzt meinen mir in Holchester House ertheilten Auftrag an Sie ausrichte.«

Die beiden Damen gingen inzwischen langsam weiter. Geoffrey mußte sich entscheiden, ob er ihnen folgen und Sir Patrick stehen lassen, oder bei Sir Patrick bleiben, und die Frauen allein lassen wolle. Wohlüberlegter Weise entschied er sich für das Erstere, aber Sir Patrick rief ihn zurück.

»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich mit Ihnen zu sprechen habe«, sagte er in scharfem Ton.

So zum Aeußersten getrieben, bekannte Geoffrey offen seinen Entschluß, Blanche eine Gelegenheit zu geben, vertraulich mit Anne zu reden. Er rief Anne zu, sie möge still stehen.

»Ich habe keine Geheimnisse vor meiner Frau«, sagte er, »und ich erwarte von meiner Frau, daß sie keine Geheimnisse vor mir habe. Richten Sie gefälligst Ihren Auftrag in ihrer Gegenwart aus.

Sir Patricks Augen funkelten vor Entrüstung. Er beherrschte sich jedoch, sah, indem er Geoffrey anredete, seine Nichte einen Augenblick bedeutungsvoll an, und sagte dann:

»Wie es Ihnen gefällig ist. Ihr Bruder ersucht mich, Ihnen mitzutheilen daß die Pflichten seiner neuen Stellung seine Zeit völlig in Anspruch nehmen und ihn in den nächsten Tagen verhindern werden, nach Fulham zu kommen, wie er es sich vorgenommen hatte. Als Lady Holchester hörte, daß ich Sie wahrscheinlich sehen würde, beauftragte sie mich ferner, Ihnen in ihrem Namen zu sagen, sie sei nicht wohl genug um das Haus zu verlassen, und bitte Sie, sich morgen, und zwar, wie Lady Holchester speciell wünscht, in Begleitung Ihrer Frau in Holchester House einzustellen.«

Indem er diese beiden Aufträge ausrichtete, erhob Sir Patrick seine Stimme allmälig lauter und lauter. Während er sprach, sagte Blanche, welcher der Blick ihres Onkels geheißen hatte, ihren Instructionen zu folgen, mit gedämpfter Stimme zu Anne:

»So lange er Dich hier hat, wird er nicht in die Trennung willigen. Er will bessere Bedingungen erzwingen. Wenn Du von hier fort kannst, so muß er sich fügen. Stelle von heute an in der ersten Nacht, in welcher es Dir möglich sein wird hinunter zu kommen, ein Licht vor Dein Fenster. Wenn Du dann unten bist, eile an die hintere Gartenpforte Sir Patrick und Arnold werden dann für das Uebrige sorgen.«

Sie flüsterte Anne diese Worte zu, während sie ihren Sonnenschirm hin und herschwang, und eine Miene machte, als ob sie die gewöhnlichsten Dinge der Welt bespräche, alles das mit einer Geschicklichkeit, die den Frauen selten fehlt, wenn es sich für sie darum handelt, bei einer Täuschung behilflich zu sein, bei welcher sie selbst interessirt sind. Wie geschickt sie es auch gemacht hatte, so war Geoffrey’s tiefgewurzeltes Mißtrauen doch dadurch wieder rege geworden. Blanche war schon bei ihren letzten Worten angelangt, bevor Geoffrey durch die Aufträge Sir Patricks in Anspruch genommen im Stande war, dem, was sie sagte, seine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Ein Mann von rascherer Fassungskraft würde vielleicht mehr gehört haben, aber Geoffrey hatte nur die erste Hälfte des letzten Satztheils gehört.

»Was«, fragte er, »sagen Sie da von Sir Patrick und Arnold?«

»Nichts, was Sie interessiren könnte«, antwortete Blanche rasch; »soll ich es wiederholen? Ich habe Anne erzählt, daß meine Stiefmutter Lady Lundie, nach jener Conferenz in Portland Platze, Sir Patrick und Arnold ersucht hat, sich von jetzt an, ihr gegenüber als völlig Fremde zu betrachten. Das ist das Ganze.

»So«, sagte Geoffrey, sie scharf in’s Auge fassend, »weiter nichts?«

»Fragen Sie meinen Onkel«, entgegnete Blanche »wenn Sie nicht glauben, daß ich genau berichtet habe. Sie hat uns in ihrer pomphaftesten Manier und genau mit den von mir wiederholten Worten entlassen. Nicht wahr Sir Patrick?«

»Die Sache war vollkommen wahr. Blanche’s Geistesgegenwart hatte ihr über die Verlegenheit des Moments dadurch hinweg geholfen, daß sie ihr an die Hand gegeben hatte, etwas auf Sir Patrick und Arnold Bezügliches mitzutheilen, was sich wirklich so verhielt. Von dieser Seite her also zum Schweigen gebracht, sah sich Geoffrey in demselben Augenblick von der anderen Seite gedrängt, eine Antwort auf die Botschaft seiner Mutter zu geben.

»Ich muß Lady Holchester eine Antwort von Ihnen bringen«, sagte Sir Patrick »was soll ich sagen?«

Geoffrey sah ihm, ohne ein Wort zu erwidern, scharf in’s Auge.

Sir Patrick wiederholte seinen Auftrag mit sehr hervorgehobener Betonung dessen, was sich darin auf Anne bezog. Diese Emphase machte Geoffrey ungeduldig.

»Sie und meine Mutter platzte er heraus, »haben diesen Auftrag mit einander abgekartet, um mich auf die Probe zu stellen. Hol’ der Teufel alles heimlich abgekartete Spiel«

»Ich warte auf Ihre Antwort«, wiederholte Sir Patrick, ohne die geringste Notiz von dem zu nehmen, was Geoffrey eben gesagt hatte.

Geoffrey warf Anne einen raschen Blick zu, nahm sich dann plötzlich wieder zusammen und sagte:

»Grüßen Sie meine Mutter bestens und sagen Sie ihr, ich würde morgen zu ihr kommen und mit dem größten Vergnügen, merken Sie wohl, mit dem größten Vergnügen meine Frau mitbringen« Er hielt inne, um die Wirkung dieser Antwort zu beobachten. Sir Patrick wartete ganz ruhig, ob Geoffrey noch etwas Weiteres zu sagen habe. »Es thut mir leid, daß ich mich vorhin zu einer heftigen Aeußerung habe hinreißen lassen. Aber man geht schlecht mit mir um; man mißtraut mir ohne jede Veranlassung. Ich fordere Sie auf, Zeugniß dafür abzulegen«, fügte er hinzu, indem er die Stimme wieder erhob und seine Augen unruhig zwischen Sir Patrick und Anne hin und her schweifen ließ, »daß ich meine Frau behandle, wie es einer Dame zukommt. Ihre Freundin besucht sie, und sie kann ihre Freundin ungehindert empfangen. Meine Mutter wünscht sie zu sehen und ich erkläre mich bereit, sie zu meiner Mutter zu bringen. Worin bin ich also zu tadeln? Warum antworten Sie mir nicht, worin bin ich zu tadeln?«

»Wenn das eigene Gewissen eines Menschen ihn freispricht«, erwiderte Sir Patrick, »so kommt sehr wenig darauf an, was andere von ihm denken. Der Zweck meines Besuchs ist erreicht!«

Als er sich bei diesen Worten unwandte, um sich von Anne zu verabschieden, vermochte er den Ausdruck der Besorgniß, die ihn für sie erfüllte, nicht zurückzuhalten; er wurde blaß und seine Hand zitterte, als er die ihrige ergriff und zärtlich drückte. »Ich werde Sie also morgen in Holchester House sehen«, sagte er, indem er Blanche seinen Arm zum Fortgehen reichte. Er empfahl sich Geoffrey ohne ihn wieder anzusehen und ohne seine dargebotene Hand sehen zu wollen, und ging mit Blanche fort.



Dreiundsechzigstes Kapitel - Vorbereitungen

Anne wartete auf dem unteren Vorplatz, während Geoffrey die Pforte wieder verschloß. Es sollte nach der Antwort, die er auf die Botschaft seiner Mutter gegeben hatte, nicht scheinen, als wolle sie ihm ans dem Wege gehen. Er kam langsam bis in die Mitte des Vorgartens zurück, blickte nach dem Vorplatz, auf dem sie stand, ging dann an der Thür vorüber, bog um die Ecke des Hauses und verschwand im Hintergarten. Was dieses Verschwinden zu bedeuten hatte, konnte nicht zweifelhaft sein; es war Geoffrey, der Anne aus dem Wege ging. Hatte er Sir Patrick die Unwahrheit gesagt? Würde er am nächsten Tage sich unter irgend einem Vorwande weigern, sie mit nach Holchester House zu nehmen?

Sie ging wieder hinauf. In demselben Augenblicke öffnete Hester Dethridge die Thür ihres Schlafzimmers, um dasselbe zu verlassen. Als sie Anne gewahr wurde, schloß sie ihre Thür wieder, blieb in ihrem Zimmer und ließ sich nicht blicken. Auch die Bedeutung dieses Rückzugs konnte nicht zweifelhaft sein. Auch Hester Dethridge hatte ihre Gründe, Anne aus dem Wege zu gehen.

Aber was hatte dieses aus dem Wegegehen zu bedeuten? Welchen gemeinsamen Zweck konnten Hester und Geoffrey haben? Es war unmöglich, das zu ergründen. Annes Gedanken wandten sich wieder der Mittheilung zu, welche Blanche ihr im Vertrauen gemacht hatte.

Anne hätte kein Weib sein müssen, um gegen eine Ergebenheit, wie sie sich in Sir Patricks Benehmen kund gab, unempfindlich zu bleiben. Schrecklich, wie ihre Lage in ihrer immer steigenden Unsicherheit, in ihrer ewigen Ungewißheit war, wich doch das Bewußtsein derselben für den Augenblick den Gefühlen des Stolzes und der Dankbarkeit, welche bei dem Gedanken an die für sie gebrachten Opfer und an die, nur um ihretwillen noch zu bestehenden Gefahren, ihr Herz erwärmten. Es erschien ihr als eine zwiefache Pflicht gegen Sir Patrick und gegen sich selbst, die Zeit der Ungewißheit möglichst abzukürzen. Warum sollte sie in ihrer Lage abwarten, was der nächste Tag bringen möchte?

Sie beschloß schon diese Nacht, wenn sich die Gelegenheit darbieten sollte, das verabredete Zeichen vor ihr Fenster zu stellen.

Gegen Abend vernahm sie abermals das Geräusch, welches auf die Vornahme gewisser Reparaturen im Hause schließen ließ. Diesmal waren die Töne schwächer und kamen, wie es schien, nicht wie das erste Mal aus dem Fremdenzimmer, sondern aus dem anstoßenden Zimmer Geoffrey’s.

Das Mittagsessen war heute später als gewöhnlich fertig. Hester Dethridge brachte Anne das Essen erst in der Dämmerung auf ihr Zimmer. Anne redete sie an und erhielt zur Antwort nur ein stummes Zeichen. Entschlossen, Hester’s Gesicht deutlich zusehen, that sie ihr eine Frage, die eine schriftliche Antwort auf der Tafel erforderte, hieß sie warten und trat an den Kaminaufsatz, um eine Kerze anzuzünden. Als sie sich aber mit der angezündeten Kerze wieder umdrehte, war Hester bereits fortgegangen.

Es wurde völlig dunkel. Anne klingelte, um das Eßgeschirr fortnehmen zu lassen. Unbekannte Fußtritte, die sich darauf ihrer Thür näherten, fielen ihr auf. Sie rief hinaus: »Wer ist das« Die Stimme des»Burschen, den Geoffrey zu seinen Besorgungen benutzte, antwortete ihr.

»Was»wollen Sie hier?« fragte sie durch die Thür.

»Mr. Delamayn schickt mich herauf, Madame, er möchte Sie gern gleich sprechen.«

Anne ging hinunter und fand Geoffrey im Speisezimmer. Der Zweck, um dessentwillen er sie zu sprechen gewünscht hatte, war anscheinend geringfügig genug. Er wollte wissen, wie sie am nächsten Tage nach Holchester House zu fahren wünsche, mit der Eisenbahn oder in einem Wagen. »Wenn Du vorziehst zu fahren«, sagte er, »der Bursche ist hier, um meine Ordres entgegen zu nehmen und kann auf dem Heimwege einen Miethwagen bestellen.«

»Die Eisenbahn ist mir ganz recht«, erwiderte Anne.

Anstatt sich an dieser Antwort zu genügen und den Gegenstand fallen zu lassen, bat er sie, sich die Sache noch einmal zu überlegen. Es lag etwas unheimlich Abwesendes in dem Ausdruck seines Blickes, als er sie bat, nicht an Ersparnis zu denken, wo es sich um ihre Bequemlichkeit handle. Es schien, als ob ihm besonders daran gelegen sei, sie zu verhindern, das Zimmer wieder zu verlassen. »Setz’ Dich einen Augenblick«, sagte er, »und überlege Dir die Sache noch einmal, ehe Du Dich entschließest.« Nachdem er sie gezwungen hatte, sich zu sehen, steckte er seinen Kopf zur Thür hinaus und hieß den draußen wartenden Burschen hinaufgehen und zusehen, ob er etwa seine Pfeife in seinem Schlafzimmer habe liegen lassen. »Ich, möchte, daß Du auf bequeme Weise hingelangtest, wie es einer Dame zukommt«, wiederholte er mit demselben, jetzt noch auffallenderen unheimlichen Blick. Noch bevor Anne antworten konnte, vernahmen sie von oben her die ängstlich kreischende Stimme des Burschen, der »Feuer!« schrie.

Geoffrey eilte hinauf und Anne folgte ihm. Oben an der Treppe trafen sie den Burschen, der auf die geöffnete Thür von Anne’s Zimmer wies. Sie war vollkommen gewiß, daß sie ihre angezündete Kerze, als sie zu Geoffrey hinunter gegangen war, in einer ganz ungefährlichen Entfernung vom Bettvorhang hatte stehen lassen und doch standen jetzt die Bettvorhänge in hellen Flammen.

Oben auf dem Vorplatz befand sich ein Hahn der Wasserleitung. Die zum Schlafzimmer gehörigen Krüge und Kannen, die sich am Tage gewöhnlich auf und unter dem Waschtisch befanden, standen diesen Abend unter dem Wasserhahn; neben ihnen ein leerer Eimer. Geoffrey befahl dem Burschen, ihn diese Gefäße mit Wasser gefüllt hereinzubringen, riß die brennenden Vorhänge herunter und warf sie zum Theil auf’s Bett, zum Theil auf das danebenstehende Sopha. Dann goß er abwechselnd eine Kanne und den Eimer, wie sie ihm der Bursche gefüllt brachte, auf das brennende Zeug aus und durchnäßte Bett und Sopha. In wenigen Augenblicken war das Feuer gelöscht. Das Hans war gerettet. Aber die Möbel des Schlafzimmers waren ruinirt, und dieses selbst natürlich, wenn nicht auf längere Zeit, mindestens für diese Nacht unbewohnbar.

Geoffrey wandte sich, indem er den Eimer auf die Erde setzte, zu Anne und deutete auf das an der anderen Seite des Vorplatzes liegende Fremdenzimmer.

»Du wirst durch diesen Vorfall nicht sehr incommodirt werden«, sagte er. »Du brauchst nur nach dem Fremdenzimmer hinüberzuziehen.«

Mit Hilfe des Burschen brachte er Anne’s Kisten und die unbeschädigt gebliebene Commode nach dem gegenüberliegenden Zimmer. Dann warnte er sie, in Zukunft vorsichtig mit Licht umzugehen und ging, ohne ihre Antwort abzuwarten, wieder hinunter. Der Bursche folgte ihm und wurde für diesen Abend entlassen.«

Selbst in der Verwirrung, welche bei dem Löschen des Feuers geherrscht hatte, war das höchst auffallende Benehmen Hester Dethridge’s Anne nicht entgangen.

Als der Junge Lärm geschlagen hatte, war sie aus ihrem Schlafzimmer getreten, hatte die brennenden Vorhänge angesehen und hatte sich dann mit dem Ausdruck stumpfer Ergebung in eine Ecke gestellt, um den Ausgang abzuwarten. Da hatte sie, allem Anscheine nach, vollkommen gleichgültig gegen die Möglichkeit der Zerstörung ihres eigenen Hauses gestanden. Als das Feuer gelöscht war, wartete sie noch immer unbeweglich in ihrer Ecke, während die Commode und die Kisten nach dem andern Zinnner hinüber geschafft wurden, verschloß dann, ohne den verräucherten Plafond und die verbrannten Möbel auch nur eines Blickes zu würdigen, das Zimmer, steckte den Schlüssel in ihre Tasche und ging wieder auf ihr Zimmer.

Anne hatte bis jetzt die Ansicht der meisten Menschen, die mit Hester Dethridge in Berührung kamen, daß dieselbe an Geistesstörung leide, nicht getheilt. Nach dem jedoch, was sie eben mit angesehen hatte, konnte sie sich der Ueberzeugung, daß jene Ansicht die richtige sei, nicht länger verschließen. Sie hatte daran gedacht, einige Fragen im Betreff der Entstehung des Feuers an Hester, sobald sie mit ihr allein sein würde, zu richten. Bei näherer Ueberlegung aber beschloß sie jetzt, wenigstens diesen Abend nicht mehr mit ihr darüber zu reden. Anne ging über den Vorplatz und trat in das Fremdenzimmer, dasselbe Zimmer, das sie bei ihrer Ankunft im Hause zu bewohnen abgelehnt hatte und in welchem sie jetzt zu schlafen genöthigt war.

Sofort bei ihrem Eintritt in das Zimmer frappirte sie eine mit der Aufstellung der Möbel im Zimmer vorgenommene Veränderung. Das Bett war von der Stelle gerückt. Das Kopfende, welches, als sie zum letzten Mal in dem Zimmer gewesen, an der Seitenwand gestanden hatte, war jetzt an die Scheidewand geschoben, welche das Zimmer von Geoffrey’s Schlafzimmer trennte. Diese neue Anordnung war ersichtlich zu irgend einem bestimmten Zwecke getroffen worden. Der Haken an der Decke, an welchem die Bettvorhänge hier, wo das Bett keinen eigentlichen Baldachin hatte, befestigt waren, war, der veränderten Stellung des Bettes entsprechend, an einer andern Stelle der Decke angebracht worden. Die Stühle und der Waschtisch die früher an der Scheidewand gestanden hatten, waren jetzt an die leer gewordene Stelle der Seitenwand geschoben worden. Im Uebrigen war keine weitere Veränderung im Zimmer bemerklich. In Anne’s Lage mußte sie jedes nicht sofort für sie verständliche Vorkommniß mit Mißtrauen erfüllen. Hatte die veränderte Stellung des Bettes einen bestimmten Grund? Und stand dieser Grund in irgend welchem Zusammenhang mit ihrer Person?

Kaum hatte sie sich diese Frage vorgelegt, als sich ihr auch schon ein beunruhigender Argwohn aufdrängte. War es vielleicht auch ein geheimer Grund, aus welchem man sie veranlaßte, in dem Fremdenzimmer zu schlafen?

Hatte die Frage, welche die Magd zuvor Geoffrey an Hester richten gehört hatte, etwas damit zu thun? War es denkbar, daß das Feuer, welches so unerklärlicher Weise die Vorhänge in ihrem Zimmer ergriffen hatte, absichtlich angezündet war, um sie zum Verlassen des Zimmers zu zwingen? Ein Schauder ergriff sie, als sich ihr diese drei Fragen Schlag auf Schlag aufdrängten und erschöpft sank sie auf den nächsten Stuhl.

Nach einer Weile hatte sie sich hinreichend wieder gefaßt, um es als nothwendig zu erkennen, sich von der Begründung ihres Verdachts zu überzeugen. Es war ja doch möglich, daß ihre aufgeregte Phantasie sie mit rein eingebildeten Besorgnißen erfüllt hatte. So wenig sie es begreifen konnte, so war es doch möglich, daß ein triftiger Grund für die veränderte Stellung des Bettes vorhanden war.

Sie ging über den Vorplatz und klopfte an Hester Dethridge’s Thür.

»Ich muß Sie spreche,n« rief sie hinein.

Hester kam heraus. Anne deutete auf das Fremdenzimmer ging Hester voran wieder in dasselbe hinein und fragte sie hier:

»Warum haben Sie das Bett von jener Wand an diese rücken lassen?«

Mit demselben Ausdruck stumpfer Ergebenheit, mit welchem sie das Feuer mit angesehen hatte, schrieb Hester die Antwort aus ihre Tafel. Sonst hatte sie immer die Gewohnheit gehabt, den Personen, denen sie ihre Tafel zum Lesen hinhielt, grade in’s Gesicht zu sehen, jetzt zum erstenmal reichte sie Anne ihre Tafel mit zu Boden gesenkten Blicken.

Die von ihr niedergeschriebenen Worte enthielten keine directe Antwort auf Anne’s Frage.

Sie lauteten: »Ich hatte schon seit längerer Zeit die Absicht, das Bett von der Stelle rücken zu lassen.«

»Ich frage Sie, warum Sie es haben von der Stelle rücken lassen?«

Darauf schrieb Hester auf ihre Tafel die vier Worte: »Die Wand ist feucht.«

Anne blickte nach der Wand. Auf der Tapete war keine Spur von Feuchtigkeit sichtbar. Sie fühlte mit der Hand darüber hin, vermochte aber auch so nicht die mindeste Feuchtigkeit zu entdecken und sagte zu Hester:

»Das ist nicht Ihr wahrer Grund.«

Hester stand unbeweglich da.

»Die Wand ist nicht feucht.«

Hester deutete beharrlich, den Blick noch immer zu Boden gesenkt, mit ihrem Griffel auf die vier Worte, ließ Anne einen Augenblick Zeit, dieselben noch einmal zu lesen und verließ dann das Zimmer. Es wäre vergeblich gewesen, sie zurückzurufen. Anne’s erster Gedanke, als sie sich wieder allein befand, war, ihre Thür so fest wie möglich zu verschließen. Sie verschloß sie nicht nur, sondern schob auch die beiden an der inneren Thür befestigten Riegel oben und unten vor. Das Schloß und die Riegelhaken erwiesen sich beim Versuch als fest. Wo immer also auch der Verrath ihr auflauern mochte, hier an dem Thürverschluß war er nicht zu suchen. Sie untersuchte das ganze Zimmer, den Kamin, das Fenster und seine Laden, das Innere der Garderobe, sie blickte sogar unter das Bett. Aber nirgends war das Geringste zu entdecken, was auch der furchtsamsten Person zu einer Besorgniß oder zu einem Argwohn hätte Veranlassung geben können. So sehr auch der Schein gegen ihre Besorgnisse sprach, Anne konnte sich doch nicht von ihrer Grundlosigkeit überzeugen. Das Vorgefühl eines ihr im Geheimen auflauernden und immer mehr herannahenden Verraths hatte so feste Wurzeln in ihrem Gemüthe gefaßt, daß sie sich desselben nicht mehr zu erwehren vermochte. Sie setzte sich nieder und vergegenwärtigte sich noch einmal die Vorkommnisse des heutigen Tages, um zu sehen, ob sie nicht in ihnen vielleicht den gesuchten Schlüssel zu dem Räthsel finden könnte. Aber der Versuch war vergeblich; kein entscheidender Moment, nichts Faßbares wollte sich ihr darbieten. Weit entfernt, daß ihre Besorgnisse dadurch geschwunden wären, fand sie sich durch eine neue Erwägung noch in denselben bestärkt, sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß der von Blanche angegebene Grund für den Entschluß Sir Patrick’s, ihr zu helfen, nicht sein wahres Motiv sei. Sollte er wirklich glauben, daß Geoffrey bei seinem Benehmen von keinem schlimmeren Zweck als dem der Erreichung möglichst vorteilhafter pecuniärer Bedingungen geleitet werde? Und sollte Sir Partrick bei seinem Plane, sie aus dem Bereiche ihres Mannes zu bringen, wirklich keine andere Absicht verfolgen als die, Geoffreys Zustimmung zu ihrer Trennung unter den von Julius proponirten Bedingungen zu erzwingen? Sollte das wirklich sein einziger Zweck sein? Oder war er nach seiner Kenntniß von Anne’s Lage im Geheimen überzeugt, daß sie sich in Hester Dethridgeks Hause in persönlicher Gefahr befinde? Und hatte er diese Ueberzeugung aus Furcht, sie zu beunruhigen absichtlich vor ihr geheim gehalten? Sie sah sich in der Stille des Abends in dem sonderbaren Zimmer um, und fand, daß die letztere Auffassung die wahrscheinliche sei. Das Geräusch der Thüren und Fenster, die eben unten geschlossen wurden, drang zu ihr. Was sollte sie thun? Es war ihr unmöglich, Sir Patrick und Arnold das verabredete Zeichen zu geben. Das Fenster, an welches sie der Abrede gemäß das Licht stellen sollte, war das Fenster des Zimmers, in welchem das Feuer ausgebrochen war, und welches Hester für diese Nacht verschlossen hatte. Ebenso hoffnungslos war es, auf das Vorübergehen des patrouillirenden Polizeiofficianten zu rechnen, um nach Hilfe zu rufen. Selbst wenn sie es über sich vermocht haben würde, dieses offene Bekenntniß ihres Mißtrauens unter dem Dache ihres Gatten abzulegen, und selbst wenn Hilfe nahe gewesen wäre, welchen triftigen Grund für ihr Benehmen hätte sie angehen können? Es lag absolut nichts vor, was irgend Jemandem auch nur den Schatten einer Berechtigung hätte verleihen können, sie unter den Schutz des Gesetzes zu stellen. Das Letzte, was ihr unvertilgbares Mißtrauen gegen die veränderte Stellung des Bettes an die Hand gab, war der Versuch, dasselbe vom Platze zu rücken, aber auch mit dem Aufgebot der äußersten Anstrengung vermochte sie das schwere Möbel nicht um eine Linie von der Stelle zu schieben. Ihr blieb nichts übrig, als sich im Vertrauen auf die verschlossene und verriegelte Thür, und in der Gewißheit, daß Sir Patrick und Arnold ihrerseits in der Nähe des Hauses Wache halten würden, die Nacht hindurch wach zu erhalten. Sie nahm ihre Arbeit und ihre Bücher zur Hand und setzte sich wieder auf ihren Stuhl, nachdem sie denselben in die Mitte des Zimmers nahe an den Tisch gerückt hatte. Die letzten Geräusche, die noch Leben und Bewegung um sie her verkündeten, verklangen. Die tiefe Stille der Nacht lagerte sich um sie.



Vierundsechzigstes Kapitel - Das Mittel

Der neue Tag brach an, die Sonne ging auf, im Hause fing es an, lebendig zu werden. Weder innerhalb noch außerhalb des Fremdenzimmers war irgend etwas Bemerkenswerthes vorgefallen Um die Zeit, wo verabredeter maßen der Besuch in Holchester House gemacht werden sollte, waren Geoffrey und Hester Dethridge allein in dem Schlafzimmer, in welchem Anne die Nacht zugebracht hatte.

»Sie ist schon zum Ausgehen angekleidet und wartet auf mich im Vordergarten«, sagte Geoffrey. »Sie wollten mich hier allein sprechen. Was wünschen Sie?«

Hester wies auf das Bett hin.

»Wollen Sie es von der Wand abgerückt haben?«

Hester nickte mit dem Kopf. Sie rückten zusammen das Bett einige Fuß von der Scheidewand ab. Nach einer kurzen Weile sagte Geossrey wieder: »Es muß heute Nacht geschehen. Ihre Freunde können sich in’s Mittel legen, die Magd kann wieder kommen. Es muß heute geschehen.«

Hester verneigte sich langsam.

»Wie lange verlangen Sie im Hause allein gelassen zu werden?«

Sie hielt drei Finger in die Höhe.

»Meinen Sie damit drei Stunden?«

Sie nickte mit dem Kopfe.

»Werden Sie in dieser Zeit damit fertig werden?«

Sie nickte abermals. Sie sah ihm nie, wenn er mit ihr sprach, in die Augen. In ihrer Art, ihm zuzuhören, in jeder kleinsten Bewegung, die sie zu machen gezwungen war, drückte sich immer dieselbe stumpfe Ergebenheit gegen ihn aus, derselbe stumme Schauder vor seiner Person. Er hatte das schon lange unangenehm empfunden, aber bisher schweigend ertragen. In dem Augenblick, wo er das Zimmer verlassen wollte, wurde er über den Zwang, den er sich bis dahin angethan hatte, ungeduldig. Zum ersten Mal gab er seiner Empfindung Ausdruck. »Zum Teufel, warum können Sie mir nicht in’s Gesicht sehen?«

Sie nahm von feiner Frage nicht die mindeste Notiz. Zornig wiederholte er dieselbe. Nun erst schrieb sie etwas auf ihre Tafel und hielt ihm noch immer, ohne ihn anzusehen, dieselbe entgegen.

»Ich weiß ja, daß Sie sprechen können«, sagte er. »Sie wissen ja, daß ich dahinter gekommen bin. Wozu denn also die alberne Posse mit mir spielen?«

Unverwandt hielt sie ihm die Tafel entgegen. Er warf den Blick darauf und las: »Ich bin stumm für Sie und blind für Sie, lassen Sie mich.«

»Sie lassen!« wiederholte er. »Es ist ein bischen spät, so zimperlich zu thun nach dem, was Sie begangen haben. Wollen Sie Ihr Bekenntuiß wieder haben oder nicht?«

Bei dem Wort »Bekenntniß« erhob sie zum ersten Mal ihren Kopf. Ein leichtes Roth überflog ihre fahlen Wangen, ein krampfhafter Ausdruck des Schmerzes zuckte einen Augenblick durch ihr todtenähnliches Gesicht. Das einzige Interesse welches diese Frau jetzt noch an das Leben knüpfte, war der Wunsch, das Manuscript, das man ihr weggenommen hatte, wieder zu erhalten. Das war das Einzige, für das ihr stumpf gewordener Verstand noch eine schwache Empfänglichkeit bewahrt hatte.

»Vergessen Sie nicht, was Sie bei unserem Handel zu thun übernommen haben, und ich werde auch meine Verpflichtungen erfüllen«, fuhr Geoffrey fort. »Sie wissen ja, wie die Sache steht. Ich habe Ihr Bekenntniß gelesen und finde, daß etwas darin fehlt. Sie sagen darin nicht, wie Sie es gethan haben. Ich weiß, Sie haben ihn erstickt, aber ich weiß nicht wie, und ich muß es wissen. Sie sind stumm und können es mir nicht sagen. Sie müssen also an der Wand hier dasselbe vornehmen, was Sie damals an der Wand in Ihrem Hause gethan haben. Sie riskiren nichts dabei; keine Seele kann Sie sehen, Sie sind ganz allein im Hause. Wenn ich wiederkomme, lassen Sie mich diese Wand genau so finden, wie jene andere Wand damals in dem Augenblick bei Anbruch des Tages war, wissen Sie, als Sie, das Handtuch in der Hand, auf den ersten Schlag der Kirchenglocke warteten. Lassen Sie mich die Wand so finden und Sie sollen Ihr »Bekenntniß« morgen zurückhaben.«

Als er zum zweiten Mal des Bekenntnisses gedachte, regte sich die fast erloschene Energie in dem Weibe noch einmal. Rasch griff sie nach der Tafel an ihrer Seite, schrieb mit eiligen Zügen etwas auf dieselbe und hielt sie ihm mit beiden Händen unter die Augen. Er las die Worte: »Ich will nicht warten, ich muß es noch heute Abend haben.«

»Denken Sie, ich trage Ihr Bekenntniß mit mir herum?« sagte Geoffrey. »Ich habe es nicht einmal im Hause.«

Sie schwankte nach rückwärts und sah zum ersten Male auf.

»Beunruhigen Sie sich nicht«, fuhr er fort, »es ist versiegelt mit meinem Petschaft und liegt sicher im Gewahrsam meines Banquiers. Ich habe es selbst auf die Post gebracht. Vor Kleinigkeiten schrecken Sie nicht zurück, Mrs. Dethridge. Wenn ich es im Hause irgendwo verschlossen hätte, so würden Sie vielleicht das Schloß erbrochen haben, sobald ich den Rücken gekehrt hätte, und wenn ich es gar bei mir trüge, so hätte ich vielleicht in einem kurzen Augenblick bei Anbruch des Tages das Handtuch über’s Gesicht bekommen. Der Banquier wird Ihnen, sobald Sie eine von mir unterzeichnete Ordre dazu vorweisen, Ihr Bekenntniß genau so wiedergeben, wie er es von mir bekommen hat. Thun Sie, was ich Ihnen gesagt habe und Sie sollen die Ordre noch heute Abend haben.«

Sie athmete tief auf. Geoffrey wandte sich der Thür zu und sagte: »Ich bin diesen Abend um sechs Uhr wieder hier. Wird es bis dahin fertig sein?«

Sie nickte mit dem Kopfe.

Nachdem sie so auf seine erste Bedingung eingegangen war, trat er mit der zweiten hervor. »Nach meiner Rückkunft«, nahm er wieder auf, »werde ich, wenn sich eine Gelegenheit dazu darbietet, auf mein Zimmer gehen, zuvor aber im Speisezimmer klingen. Sobald Sie klingeln hören, müssen Sie hinaufgehen, um mir dann oben zu zeigen, wie Sie die Sache damals in dem leeren Hause gemacht haben.«

Sie nickte abermals mit dem Kopfe.

In demselben Augenblick wurde die Hausthür unten geöffnet und wieder geschlossen Geoffrey ging nun sofort hinunter. Es war möglich, daß Anne etwas vergessen hatte, und sie mußte um jeden Preis verhindert werden, jetzt wieder auf ihr Zimmer zu gehen. Er traf sie auf dem Vorplatz. »Bist Du’s überdrüssig, im Garten zu warten?« fragte er kurz.

Sie wies nach dem Speisezimmer hin und sagte: »Der Postbote hat mir eben durch das Pfortengitter hindurch einen Brief für Dich gegeben, ich habe ihn im Speisezimmer auf den Tisch gelegt.«

Geoffrey trat ein. Die Adresse des Briefes war von Mrs. Glenarm’s Hand. Er steckte den Brief ungelesen in die Tasche, kehrte zu Anne zurück und sagte: »Wir müssen rasch gehen, sonst versäumen wir den Zug.« So machten sie sich nach Holchester House auf den Weg.



Fünfundsechzigstes Kapitel - Das Ende

Wenige Minuten vor sechs Uhr abends langten Geoffrey und Anne in Lord Holchester’s Wagen wieder vor dem Hause an. Geoffrey verhinderte den Diener zu klingelnz er hatte beim Verlassen des Hauses den Schlüssel der Pforte mit sich genommen. Nachdem er Anne eingelassen und die Pforte wieder geschlossen hatte, ging er ihr voraus nach dem Küchenfenster und rief Hester Dethridge.

»Bringen Sie etwas kaltes Wasser in’s Wohnzimmer«, sagte er, »und füllen Sie die Blumenvase auf dem Kaminaufsatz. Je eher Du die Blumen in’s Wasser stellst«, fügte er zu seiner Frau gewandt hinzu, »desto länger werden sie dauern«. Er deutete dabei auf ein Bouquet, welches Anne in der Hand hielt, und welches Julius in dem Treibhaus in Holchester House für sie gepflückt hatte. Dann überließ er es ihr, die Blumen in der Vase zu arrangiren und ging hinauf. Nachdem er einen Augenblick gewartet hatte, folgte ihm Hester Dethridge.

»Fertig?« fragte er flüsternd.

Hester nickte mit dem Kopfe. Geoffrey zog seine Stiefeln aus und ging Hester voran in das Fremdenzimmer. Geräuschlos rückten sie das Bett wieder an seine Stelle an der Scheidewand und verließen darauf das Zimmer wieder. Als Anne einige Minuten später das Zimmer betrat, war für sie, seit sie dasselbe um Mittag verlassen hatte, nicht das Mindeste in demselben verändert.

Sie legte Hut und Ueberwurf ab und setzte sich nieder, um auszuruhen.

Alle Vorgänge seit dem vorigen Abend waren nur dazu geeignet gewesen, ihre Besorgnisse zur zerstreuen. Sie konnte sich unmöglich der Ueberzeugung verschließen, daß sie sich ohne den geringsten Grund durch den Schein hatte täuschen und sich von einem eingebildeten Verdacht unnöthigerweise hatte beunruhigen lassen. In dem sichern Glauben, daß sie in Gefahr sei, hatte sie die ganze Nacht durchwacht, und es war nichts vorgefallen.

In der festen Annahme, daß Geoffrey entschlossen sei, sein Versprechen nicht zu erfüllen, hatte sie abgewartet, unter welchem Vorwande er sie im Hause zurückhalten würde. Zur verabredeten Zeit des Besuchs hatte sie ihn durchaus bereit gefunden, sein Versprechen zu erfüllen. In Holchester House hatte er auch nicht den leisesten Versuch gemacht, sie in der Freiheit ihrer Bewegungen und ihrer Sprache zu beschränken. Entschlossen, Sir Patrick mitzutheilen, daß sie ihr Zimmer habe wechseln müssen, hatte sie ihm in Geoffrey’s Gegenwart den Feuerlärm und was sich in Folge dessen zugetragen hatte, mit allen Einzelheiten geschildert, ohne auch nur ein einziges Mal von Geoffrey unterbrochen worden zu sein. Sie hatte sich vertraulich mit Blanche unterhalten und war auch daran nicht gehindert worden.

Bei einem Gang durch das Treibhaus hatte sie, ohne daß Geoffrey sich gerührt hätte, mit Sir Patrick zurückbleiben können, um ihm ein Wort des Dankes zu sagen und ihn zu fragen, ob er das Benehmen Geoffrey’s wirklich so auffasse, wie Blanche es ihr gesagt hatte.

Sie hatten sich wohl zehn Minuten allein mit einander unterhalten. Sir Patrick hatte sie versichert, daß Blanche seine Auffassung ganz wiedergegeben habe. Er hatte es als seine Ueberzeugung ausgesprochen, daß ein rücksichtslos rasches Handeln in ihrem Falle am Platz sei und daß sie gut thun würde, unter seinem Beistand ihrerseits den ersten Schritt zur Trennung zu thun. »So lange er Sie unter demselben Dach bei sich festhalten kann«, hatte Sir Patrick gesagt, »so lange wird er auf unser ängstliches Verlangen speculiren, Sie aus Ihrer jetzigen unglücklichen Lage zu befreien, und so lange wird er seinem Bruder gegenüber die Rolle des reuigen Gatten fortspielen und bessere Bedingungen zu erwirken suchen. Setzen Sie das Licht vor’s Fenster, und unternehmen Sie die Sache diese Nacht. Wenn Sie nur erst einmal bis an die Gartenpforte gelangt sind, so unternehme ich es, Sie für ihn unerreichbar zu machen, bis er sich durch seine Unterschrift verpflichtet hat, in die Trennung zu willigen.«

Mit diesen Worten hatte er Anne zu einem raschen Handeln gedrängt, und sie hatte ihm versprochen, sich von seinem Rathe leiten zu lassen.

Als sie dann wieder in den Salon zurückgekehrt war, hatte Geoffrey keinerlei Bemerkung über ihr Ausbleiben gemacht; auch bei ihrer Rückfahrt, die sie mit ihm allein in dem Wagen seines Bruders machte, hatte er sie nichts gefragt. Was mußte sie nach den ihr zur Beurtheilung vorliegenden Thatsachen aus allen Diesem schließen? Konnte sie Sir Patrick in’s Herz schauen und darin lesen, daß er ihr absichtlich seine wahre Ueberzeugung verberge, aus Furcht, ihre Energie zu lähmen, wenn er ihr die Besorgniß, die er für sie empfand, wirklich eingestände? Nein, sie konnte Nichts thun, als dem falschen Schein, der sie in der Gestalt der Wahrheit umgab, trauen. Sie konnte sich nur in gutem Glauben Sir Patricks angebliche Auffassung der Sachlage aneignen und unter Zuhülfenahme ihrer eigenen Beobachtungen diese Auffassung für richtig halten.

Gegen Abend fing Anne an, die Erschöpfung zu fühlen, welche die natürliche Folge einer schlaflosen Nacht ist. Sie klingelte und verlangte Thee. Hester Dethridge erschien, statt aber das gewöhnliche Zeichen zu machen, stand sie eine Weile nachdenklich da und schrieb dann die folgenden Worte auf ihre Tafel: »Ich muß jetzt, so lange das Mädchen fort ist, alle Arbeit allein thun, wenn Sie Ihren Thee unten im Wohnzimmer nehmen wollten, würden Sie mir eine Treppe sparen.

Anne war sofort bereit, dieser Bitte zu willfahren.

»Sind Sie krank Z« fragte sie, indem sie trotz der Dämmerung eine sonderbare Veränderung in Hester’s Wesen bemerkte.

Ohne aufzusehen, schüttelte Hester den Kopf.

»Ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet?«

Hester schüttelte abermals den Kopf.

»Habe ich Sie beleidigt?«

Hester trat plötzlich einen Schritt vor, sah Anne in’s Gesicht, ließ dann wie ein Schmerzenslaut klingendes, dumpfes Stöhnen vernehmen und eilte zum Zimmer hinaus.

Anne glaubte annehmen zu müssen, daß sie unabsichtlich etwas gesagt oder gethan habe, wodurch sich Hester verletzt fühle und beschloß, bei erster passender Gelegenheit auf diesen Gegenstand zurückzukommen. Einstweilen ging sie hinunter. Durch die weitgeöffnete Thür des Speisezimmers sah sie Geoffrey am Tische, aus welchem vor ihm die verhängnißvolle Branntweinflasche stand, sitzen und einen Brief schreiben. Nach dem, was Mr. Speedwell ihr gesagt hatte, hielt sie es für ihre Pflicht, Geoffrey zu warnen, und erfüllte diese Pflicht, ohne einen Augenblick zu zaudern.

»Verzeih’, wenn ich Dich unterbreche«, sagte sie. »Du hast wohl vergessen, was Dir Mr. Speedwell gesagt hat.«

Dabei deutete sie auf die Branntweinflasche. Geoffrey warf einen Blick auf die Flasche, sah dann wieder auf seinen Brief und schüttelte ungeduldig den Kopf. Sie versuchte es zum zweiten Mal, ihm Vorstellungen zu machen, aber mit nicht besserem Erfolge. Er sagte nur mit leiserer Stimme als gewöhnlich: »Schon gut!« und fuhr fort, sich mit seinem Brief zu beschäftigen. Anne, der es völlig nutzlos erschien, sich zum dritten Mal abweisen zu lassen, ging in’s Wohnzimmer.

Der Brief, den Geoffrey schrieb, war an Mrs. Glenarm gerichtet und eine Antwort auf ihre Mittheilung, daß sie im Begriff sei, London zu verlassen. Er war grade mit seinen beiden Schlußsätzen fertig gewesen, als Anne ihn angeredet hatte. Dieselben lauteten wie folgt: »Vielleicht werde ich Dir binnen Kurzem eine Nachricht zu bringen haben, die Du nicht erwartest. Bleib bis morgen, wo Du bist, und warte, bis Du von mir hörst.«

Nachdem er den Brief gesiegelt hatte, leerte er sein vor ihm stehendes Glas mit Branntwein und Wasser und blieb dann, durch die offene Thür blickend und wie auf Etwas wartend, sitzen.

Als Hester mit dem Theebret über den Vorplatz in’s Wohnzimmer ging, gab er das zwischen ihnen verabredete Zeichen. Er klingelte Hester kam wieder aus dem Wohnzimmer und schloß die Thür desselben hinter sich.

»Trinkt sie jetzt ihren Thee und sind wir sicher vor ihr?« fragte er, indem er seine schweren Stiefel auszog und in die für ihn bereitstehenden Pantoffeln schlüpfte.

Hester nickte mit dem Kopf.

Er deutete nach oben. »Gehen Sie voran«, flüsterte er. »Machen Sie keine Geschichten und kein Geräusch!«

Sie gings hinauf und er folgte ihr langsamen Schritts. Obgleich er nun ein Glas Branntwein und Wasser getrunken hatte, war doch sein Gang bereits unsicher geworden. Die eine Hand gegen die Mauer, die andere auf das Treppengeländer gestützt, ging er die Treppe hinauf.

Oben angelangt, stand er einen Augenblick still, folgte dann Hester in sein Schlafzimmer und verschloß leise die Thür.

»Nun?« sagte er.

Regungslos stand sie in der Mitte des Zimmers, nicht wie ein lebendes Wesen, sondern wie eine Maschine, die der Hand harrt, die sie in Bewegung setzen soll.

Da er sie vergebens angeredet hatte, berührte er sie mit einem eigenthümlichen Widerwillen und deutete auf die Scheidewand. Die Berührung erweckte sie aus ihrer Erstarrung. Langsamen Schritts und mit stieren Augen, wie wenn sie nachtwandle, trat sie an die mit einer Tapete bekleidete Scheidewand heran, kniete an der Fußleiste nieder und zog zwei kleine scharfe Nägel, mit denen die Tapete an dieser Fußleiste befestigt war, heraus; hierauf einen langen Tapetenstreifen, der von der darunter befindlichen Gypswand abgelöst war, in die Höhe hebend, stieg sie auf einen Stuhl, und befestigte ihn oben mit den beiden Nägeln.

Bei dem letzten Schein der Abenddämmerung betrachtete Geoffrey mit stieren Blicken die Wand.

Sein Auge fiel auf einen leeren Raum. In einer Höhe von etwa drei Fuß vom Boden waren die Latten so weg gesägt und der Gyps so entfernt, daß ein Loch entstand, das hoch und weit genug war, um dem hindurchgesteckten Arm eines Mannes die freieste Bewegung nach allen Richtungen hin zu gestatten. Nur die an der anderen Seite des Loches befindliche Tapete hinderte noch Augen und Hände, von dieser Seite aus in das nächste Zimmer zu dringen.

Hester stieg wieder von dem Stuhl herab und deutete durch Zeichen an, daß sie ein Licht brauche.

Geoffrey nahm ein Zündholz aus einer kleinen Dose. Dieselbe sonderbare Unsicherheit, die sich vorher schon an seinem Gang bemerklich gemacht hatte, schien sich jetzt auch seiner Hände bemächtigt zu haben.

Er strich das Zündholz so heftig gegen das Sandpapier, daß es zerbrach. Er versuchte es mit einem zweiten, strich aber dieses Mal zu leise, um eine Flamme zu entzünden. Hester nahm ihm die Dose aus der Hand, zündete selbst das Licht an und deutete aus die Fußleiste. In der Nähe des Theiles der Wand, von welchem der Tapetenstreifen abgelöst war, waren zwei kleine Haken in den Fußboden befestigt. Zwei Stücke feinen starken Bindfadens waren um die Haken gewickelt.

Die losen unteren Enden des Bindfadens, die ziemlich weit herabhingen, waren wieder zierlich zusammengewickelt auf die Fußleiste gelegt. Die oberen Enden waren straff durch zwei kleine Löcher hindurchgezogen, die etwa einen Fuß hoch vom Boden in die Wand gebohrt waren.

Nachdem sie zuvor die Bindfaden von den Haken abgewickelt hatte, stand Hester auf und hielt das Licht so, daß das Loch in der Wand davon beleuchtet wurde. Hier lagen noch zwei Stücke feinen Bindfadens lose auf der unebenen Oberfläche, welche das Loch nach unten hin begrenzte. An diesen Bindfaden zog Hester den auch im Nebenzimmer von der Wand gelösten Tapetenstreifen in die Höhe, indem die unteren Bindfäden, welche bis dahin den Streifen an dem unversehrt gebliebenen Theil der Wand festgehalten hatten, in ihren Löchern nachgaben und die Tapete unbehindert in die Höhe gehen ließen. Während die Tapete so höher und höher gezogen wurde, bemerkte Geoffrey, daß auf die Rückseite derselben in gewissen Zwischenräumen dünne Streifen Watte geklebt waren, um so ein kratzendes Geräusch beim Aufziehen der Tapete zu vermeiden.

Langsam ging der Tapetenstreifen in die Höhe, bis derselbe durch die Höhlung gezogen und seitwärts festgesteckt werden konnte, wie es vorher mit dem diesseitigen Streifen geschehen war.

Hester trat bei Seite, um Geoffrey Platz zu machen, damit er bequem durch die Höhlung blicken könne. Da lag Anne’s Zimmer vor ihm. Leise nahm er die leichten Vorhänge, die über dem Bett hingen auseinander. Da lag das Kissen, auf welchem ihr Haupt in wenig Stunden ruhen sollte, für seine Hände erreichbar.

Die fürchterliche Geschicklichkeit, mit der diese Vorrichtung hergestellt war, machte, daß es ihm eiskalt überlief. Seine Nerven waren der Sache nicht gewachsen. Von schuldbewußter Angst ergriffen, fuhr er zurück und blickte im Zimmer umher. Auf dem Nachttisch neben seinem Bett lag ein Branntweinfläschchen. Er griff danach, leerte es auf einen Zug und fühlte sich wieder so kräftig wir zuvor.

Er winkte Hester zu ihm zu treten.

»Ehe wir weiter vorgehen«, sagte er. »muß ich noch Eins wissen. Wie bringen wir das Alles wieder in Ordnung? Wie, wenn dieses Zimmer untersucht würde? Diese Bindfaden würden gegen mich aussagen.«

Hester öffnete einen Schrank, holte einen verkorkten Krug aus demselben hervor und nahm den Pfropfen ab. In dem Krug befand sich eine dicke klebrige Flüssigkeit, die wie Leim aussah. Theils durch Zeichen, theils mit Hilfe ihrer Tafel, zeigte Hester Geoffrey, wie die Flüssigkeit auf die Rückseite des Tapetenstreifens im nächsten Zimmer gebracht, wie die Tapete durch Anziehen der Bindfaden auf den unteren unversehrten Theil der Wand festgeklebt und wie die Bindfaden, nachdem sie ihre Dienste geleistet, sicher entfernt werden könnten. Sie zeigte ihm, wie endlich dasselbe Verfahren in Geoffrey’s Zimmer beobachtet werden könne, nachdem zuvor die Höhlung mit den in der Aufwaschküche bereitliegenden Materialien wieder ausgefüllt sein würde oder auch zur Noth, falls es an Zeit fehlen sollte, ohne Wiederauffüllung derselben. In beiden Fällen würde die wieder an die Wand befestigte Tapete Alles verbergen und die Wand würde nichts verrathen.

Geoffrey war befriedigt. Jetzt deutete er auf die im Zimmer hängenden Handtücher.

»Nehmen Sie einmal eines davon«, sagte er, »und zeigen Sie mir mit Ihren eigenen Händen, wie Sie es gemacht haben.«

Während er diese Worte sprach, erklang Anne’s Stimme von unten, die nach Mrs. Dethridge rief.

Das war schlimm! Man mußte auf Alles gefaßt sein. Im nächsten Augenblick konnte Anne möglicherweise auf ihr Zimmer gehen und Alles entdecken. Geoffrey deutete auf die Wand und sagte. »Bringen Sie das wieder in Ordnung, auf der Stelle!«

Das war bald geschehen. Alles, was zu thun nöthig war, die beiden Tapetenstreifen wieder herabfallen zu lassen, den Streifen in Anne’s Zimmer durch Anziehen der untern Bindfaden wieder zu befestigen und dann die Nägel, mit welchen der abgelöste Streifen in Geoffrey’s Zimmer seitwärts befestigt war, wieder an ihre Stelle zu bringen. In einer Minute sah die Wand wieder aus, als ob nichts mit derselben vorgenommen wäre.

Hester und Geoffrey schlichen sich hinaus und blickten über das Treppengeländer auf den Vorplatz hinunter.

Nachdem sie zum zweiten Mal vergebens gerufen hatte, trat Anne auf den Vorplatz hinaus ging nach der Küche, kam mit dem Kessel in der Hand zurück, ging wieder in’s Wohnzimmer und schloß die Thür hinter sich.

Hester wartete in stumpfer Ruhe auf Geoffrey’s weitere Ordres. Aber er hatte keine weitere Ordres zugeben. Die scheußliche Vorstellung des von Hester begangenen Verbrechens, die Geoffrey verlangt hatte, war durchaus nicht mehr nothwendig; die Mittel zur Vollführung des Verbrechens lagen alle bereit und die Art ihrer Benutzung ergab sich von selbst. Es fehlte nichts mehr zur Ausführung als die Gelegenheit und der Entschluß, sich ihrer zu bedienen. Geoffrey gab Hester ein Zeichen, hinunter zu gehen, und sagte: »Gehen Sie wieder in die Küche, bevor sie nochmals herauskommt. Ich werde mich im Garten aufhalten. Sobald sie auf ihr Zimmer geht, um sich zu Bett zu legen, zeigen Sie sich an der Hinterthür und ich weiß Bescheid.«

Hester setzte ihren Fuß auf die erste Stufe, stand dann wieder still, wandte sich um, ließ ihre Blicke langsam längs der beiden Wände des Vorplatzes von einem Ende bis zum andern schaudernd hingleiten, schüttelte den Kopf und ging dann langsam die Treppe hinunter.

»Wonach haben Sie gesehen?« flüsterte er ihr zu.

Aber sie antwortete nicht, wandte sich auch nicht nach ihm um, sondern ging, ohne sich weiter aufzuhalten, hinunter und in die Küche. Er wartete einige Augenblicke und folgte ihr dann. Auf seinem Wege nach dem Garten trat er in’s Speisezimmer. Der Mond war aufgegangen und die Fensterläden noch nicht geschlossen. Es war ihm daher leicht, den Branntwein und die Wasserflasche auf dem Tisch zu finden. Er mischte sich ein Glas Branntwein und Wasser und leerte es aus einen Zug. »Mir ist sonderbar zu Muthe«, murmelte er vor sich hin, fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht und sagte: »Wie höllisch heiß es heute Abend ist!« Dann ging er nach der Thür, die offen stand und im Mondschein deutlich erkennbar war; gleichwohl verfehlte er sie und machte zwei Mal zu beiden Seiten der Thür den vergeblichen Versuch, durch die Wand zu gehen. Erst das dritte Mal gelang es ihm, hinauszukommen und den Garten zu erreichen. Ein sonderbares Gefühl bemächtigte sich seiner, während er im Garten unausgesetzt in die Runde ging. Er hatte nicht so viel getrunken, daß er davon hätte berauscht sein Können. Sein Geist war, wenn schon stumpf und matt, doch so frei wie immer, aber seine körperlichen Empfindungen waren die eines Betrunkenen.

Der Abend verging, die Thurmuhr schlug zehn. Anne trat wieder aus dem Wohnzimmer ihren Bettleuchter in der Hand. »Löschen Sie die Lichter aus«, rief sie Hester durch die Küchenthür zu, »ich gehe hinauf.«

Mit diesen Worten ging sie auf ihr Zimmer. Die durch die Schlaflosigkeit der vorigen Nacht hervorgebrachte Müdigkeit lastete mit unendlicher Schwere auf ihr. Sie verschloß ihre Thür unterließ es aber dieses mal, die Riegel vorzuschieben. Die Furcht vor einer unbekannten Gefahr beherrschte sie nicht mehr; während dagegen das Vorschieben der Riegel das geräuschlose Verlassen des Zimmers während der Nacht erschwert haben würde. Sie entkleidete sich, strich sich das Haar von den Schläfen zurück und ging erschöpft und nachdenklich im Zimmer auf und ab. Geoffrey war in seinen Lebensgewohnheiten sehr unregelmäßig, Hester ging selten früh zu Bett. Wenigstens zwei, vielleicht drei Stunden mußte Anne noch vergehen lassen, bevor sie gefahrlos das mit Sir Patrick verabredete Zeichen an’s Fenster stellen konnte, ihre Kräfte versagten ihr.

Wenn sie noch zwei bis drei Stunden der Ruhe entbehrte, deren sie so sehr bedurfte, so mußte sie befürchten, daß ihr in dem Augenblick, wo es gelten würde, der Gefahr in’s Angesicht zu sehen und den Versuch zu machen, zu entkommen, aus reiner Erschöpfung der Muth fehlen würde. Schon jetzt konnte sie sich des Schlafes kaum mehr erwehren, und doch war er ihr unentbehrlich. Daß sie den rechten Augenblick verschlafen würde, brauchte sie nicht zu fürchten Anne konnte sich, wie die meisten fein organisirten Menschen, fest darauf verlassen, daß sie, wenn sie mit dem Bewußtsein einschlief, zu einer bestimmten Zeit wieder erwachen zu müssen, instinctiv um jene Zeit aufwachen würde.

Sie stellte ihr brennendes Licht an eine ungefährliche Stelle und legte sich aufs Bett. In wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.

Die Uhr schlug ein Viertel vor elf. Hester Dethridge erschien an der zum Garten führenden Hinterthür des Hauses. Geoffrey kam über den Rasen her auf sie zu. Das Licht der auf dem Vorplatz brennenden Lampe fiel auf sein Gesicht. Sie fuhr bei seinem Anblick zurück.

»Was ist Ihnen?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf und deutete durch die geöffnete Thür des Speisezimmers auf die Branntweinflasche hin.

»Ich bin so nüchtern wie Sie, Sie Närrin!« sagte er. »Ich weiß nicht, was ich habe, aber das ist es nicht.«

Hester sah ihn wieder an. Er hatte Recht, wie unsicher auch sein Gang war, seine Sprache und seine Augen waren nicht die eines Betrunkenen.

»Ist sie zu Bett gegangen?«

Hester nickte.

Geoffrey ging, hin und her schwankend, die Treppe hinauf. Oben blieb er stehen und winkte Hester, ihm zu folgen. Darauf ging er in sein Zimmer und schloß, nachdem sie auf ein von ihm gegebenes Zeichen mit ihm hineingegangen war, die Thür. Hier blickte er auf die Scheidewand, ohne an dieselbe heranzutreten. Hester stand wartend hinter ihm.

Schläft sie?« fragte er.

Hester trat dicht an die Wand heran, horchte und nickte mit dem Kopf.

Er setzte sich nieder und sagte: »Mir ist sonderbar zu Ruthe, geben Sie mir ein Glas Wasser.« Er trank ein paar Schluck und goß sich den Rest über den Kopf. Hester ging nach der Thür, um das Zimmer zu verlassen aber er hielt sie zurück. »Ich kann die Bindfaden nicht abwickeln und die Tapete nicht aufziehen. Thun Sie das!« Aber sie weigerte sich dessen entschieden und öffnete entschlossen die Thür, um hinauszugehen.

»Wollen Sie Ihr Bekenntniß wiederhaben?« fragte er. Auf der Stelle schloß sie wieder die Thür mit einer stumpfergebenen Miene und ging aus die Scheidewand zu. Sie nahm die losen Tapetenstreifen auf beiden Seiten der Wand in die Höhe, deutete durch die Höhlung auf Anne’s Zimmer und trat dann wieder an das andere Ende des Zimmers zurück.

Er stand auf und ging unsicheren Schritts von seinem Stuhl an das Fußende seines Bettes, hielt sich hier an dem Bettpfosten fest und wartete ein wenig. Während dieser Zeit wurde er sich einer Veränderung in den eigenthümlichen Empfindungen die ihn beherrschten bewußt. Es war ihm, als ob ein kalter Luftzug die rechte Seite seines Kopfes anwehe. Sein Schritt wurde wieder sicher, er konnte die Entfernungen wieder berechnen, konnte seine Hände durch die Höhlung stecken, um die leichten Vorhänge, die von dem an der Decke befindlichen Haken auf das Kopfende von Anne’s Bett herabhingen, auseinanderziehen. Er konnte bei dem Schein des am andern Ende von Annes Zimmer brennenden Lichtes die Züge seines schlafenden Weibes erkennen. Der Ausdruck der Erschöpfung war von demselben verschwunden. Der tiefe Schlaf, der sie umfangen hielt, schien die reinsten und lieblichsten Züge, die ihr Antlitz in vergangenen Tagen getragen hatte, wie auf dasselbe gezaubert zu haben.

Bei dein trüben Schein des Lichtes sah sie in der friedlichen Ruhe, die sich über sie ergossen hatte, wieder jung und schön aus. Ihr Kopf ruhte gerade auf dem Kissen. Ihr Gesicht war in Folge dessen so nach aufwärts gewandt, daß sie ganz dem Manne preisgegeben war, der jetzt ihr schlafendes Antlitz mit dem erbarmungslosen Entschluß betrachtete, ihr das Leben zu nehmen.

Nach einer Weile trat er wieder zurück. »Sie sieht heute Abend mehr wie ein Kind, als wie eine Frau aus«, murmelte er vor sich hin. Dann warf er Hester Dethridge einen Blick zu. Das Licht, das sie mit hinaufgebracht hatte, brannte dicht neben ihr.

»Blasen Sie es aus!« flüsterte er.

Sie rührte sich nicht. Er wiederholte seine Weisung, aber sie schien taub für seine Worte zu sein. Ihre starren Blicke waren auf eine Ecke des Zimmers geheftet.

Er wandte sich abermals nach der Höhlung in der Wand um und blickte wieder auf das friedliche, auf dem Kopfkissen ruhende Gesicht. Geflissentlich hielt er sich die Schuld der Rache vor, die er an sie abzutragen habe.

»Wenn Du nicht wärst«, flüsterte er vor sich hin, »hätte ich das Wettrennen gewonnen; wenn Du nicht wärst, hätte ich mich mit meinem Vater ausgesöhnt; wenn Du nicht wärst, könnte ich Mrs. Glenarm heirathen.« Mit dem gesteigerten Gefühl seines Rachebedürfnisses trat er wieder von der Wand zurück, blickte im Zimmer nach allen Seiten umher, ergriff ein Handtuch, ging einen Augenblick mit sich zu Rathe und warf es wieder hin.

Ein neuer Gedanke fuhr ihm durch den Kopf. Mit einem Schritt stand er an seinem Bett, ergriff eines der Kopfkissen und blickte plötzlich wieder nach Hester hin. »Dieses Mal«, sagte er, »haben wir es nicht mit einer betrunkenen Bestie, sondern mit einem Weibe zu thun, das ihr Leben bis auf’s Aeußerste vertheidigen wird. Das Kissen ist sicherer als das Handtuch.«

Hester erwiderte weder seinen Blick noch seine Anrede. Wieder ging er auf die Höhlung in der Wand zu, blieb aber in der Mitte des Weges zwischen seinem Bett und der Höhlung stehen und blickte rückwärts über seine Schulter.

Jetzt endlich rührte sich Hester. Obgleich sich keine dritte Person im Zimmer befand, waren ihre Bewegungen und ihre Blicke doch durchaus so, als ob sie von der Ecke an, einer Person längs der Wand hin folge. Ihre Lippen waren wie von Entsetzen gelähmt, weit geöffnet, ihre unheimlich glänzenden Augen stierten nach der leeren Wand. Schritt für Schritt schlich sie sich, anscheinend noch immer einem Phantome folgend, näher und näher an Geoffrey heran. Er fragte sich, was das zu bedeuten haben könne? War das Weib von dem Entsetzen über die That, die er zu thun im Begriff stand, überwältigt? Mußte er fürchten, daß sie laut aufschreien und sein Weib wecken würde?

Er eilte rasch an die Höhlung in der Wand, um den Augenblick zu benutzen, so lange er noch sein war. Er ergriff das Kissen, bückte sich, um es durch die Oeffnung in der Wand hindurchzuschieben und hielt es über Anne’s schlafendes Gesicht. Aber in demselben Augenblick fühlte er, wie sich Hester Dethridge’s Hand von hinten her auf ihn legte. Bei der Berührung durchzuckte es ihn vom Kopf bis Fuß eiskalt. Erschreckt fuhr er zurück und sah ihr in’s Gesicht. Ihre Augen stierten fortwährend über seine Schultern weg, wie nach etwas hinter ihm Befindlichen, gerade wie sie damals in dem Garten von Windygates gestiert hatten.

Noch ehe er den Mund zum Reden öffnen konnte, fühlte er ihren Blick in seinen Augen. Zum dritten Mal hatte sie die Erscheinung hinter Ihm gesehen. Der Mordwahnsinn hatte sich ihrer wieder bemächtigt. Wie sein wildes Thier flog sie ihm an die Kehle, das schwache alte Weib griff den Athleten an!

Er warf das Kissen hin und erhob seinen gewaltigen rechten Arm, um sie wie ein lästiges Insect abzuschütteln. Aber in dem Moment, wo er seinen Arm erhob verzerrte sich plötzlich sein Gesicht in gräßlicher Weise, wie wenn eine unsichtbare Gewalt die Augenbrauen, das Augenlid und den Mund an der rechten Seite gewaltsam herabzöge. Der erhobene Arm sank hilflos nieder, die ganze rechte Seite des Körpers schien zusammenzubrechen und er sank zu Boden wie ein von einer Kugel zu Tode getroffener Mensch. Hester Dethridge stürzte sich auf den am Boden liegenden Körper, drückte die Kniee fest auf seine breite Brust und packte ihn mit den ausgespreizten Fingern beider Hände an der Gurgel. —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— ——

Das Geräusch des zu Boden fallenden Körpers erweckte Anne auf der Stelle. Sie fuhr auf, blickte umher und sah das Loch in der Wand über dem Kopfende ihres Bettes, und durch dasselbe den Schimmer des im nächsten Zimmer brennenden Lichtes. Vom Entsetzen ergriffen, einen Augenblick zweifelhaft, ob sie wache oder träume, fuhr sie wieder zurück und horchte scharf beobachtend. Sie sah nichts als das matt brennende Licht im andern Zimmer; sie hörte nichts als ein heiseres Keuchen, wie wenn Jemand nach Lust schnappe. Eine Weile war es ganz still; dann aber wurde der Kopf Hester Dethridge’s, die sich mit dem Ausdruck des Wahnsinns langsam erhob und Anne mit irren Blicken anstierte, durch die Höhlung sichtbar.

Anne stürzte an das Fenster, riß es auf und rief nach Hilfe.

Sir Patricks Stimme antwortete ihr von der an der Vorderseite des Gartens vorüberführenden Landstraße her.

»Warten Sie auf mich, um Gottes Willen!" rief sie.

Sie eilte zum Zimmer hinaus, die Treppe hinab. Im nächsten Augenblick war sie im Vordergarten. Während sie nach der Pforte lief, hörte sie die Stimme eines Fremden von Außen her. Sir Patrick rief ihr ermuthigende Worte zu. »Wir haben einen Polizeiofficianten bei uns«, sagte er, »der nächtliche Patrouille hier hat und einen Schlüssel zum Garten bei sich führt.«

Bei diesen Worten wurde die Pforte von Außen geöffnet und vor derselben standen Sir Patrick, Arnold und der Polizeiofficiant.

Anne schwankte ihnen entgegen, als sie in die Pforte eintraten, sie hatte gerade noch Kraft genug um zu sagen: »Oben!« Dann sank sie in Ohnmacht. Sir Patrick fing sie mit seinen Armen auf, legte sie auf die im Garten stehende Bank und blieb bei ihr, während Arnold und der Polizeiofficiant in das Haus eilten.

»Wohin sollen wir zuerst gehen?« fragte Arnold.

»In das Zimmer, von dem aus die Dame uns gerufen hat«, erwiderte der Polizeiofficiant.

Sie gingen die Treppe hinauf nach Anne’s Zimmer. Beide bemerkten auf der Stelle die Höhlung in der Wand. Sie saghen durch dieselbe hindurch. Da lag Geoffrey Delaman’s Leiche am Boden, während Hester Dethridge neben seinem Kopfe kniete und betete.



Nachspiel.

I - Ein Morgenbesuch

Die Zeitungen hatten die Rückkehr Lord und Lady Holchester’s nach London, nach einer mehr als sechs monatlichen Abwesenheit auf dem Continent, gemeldet.

Es war die Höhe der Saison. Den ganzen Tag über öffnete sich die Thür von Holchester House während der sanctionirten Stunden, um Besuche zu empfangen. Die überwiegende Mehrzahl der Besuchenden begnügte sich damit, ihre Karten abzugeben. Nur einige privilegirte Personen stiegen aus und traten in’s Haus.

Unter diesen letzteren, die sich zu einer früheren Zeit, als sonst üblich ist, einstellten, befand sich eine distinguirte Person, die entschlossen zu sein schien, den Herrn oder die Frau vom Hause zu sprechen und sich nicht abweisen zu lassen. Während diese Person mit dem Kellermeister parlamentirte, ging Lord Holchester zufällig gerade durch die Halle. Die fragliche Person stürzte sofort mit dem Ausruf: »Lieber Lord Holchester!« auf ihn los. Julius wandte sich um und sah vor sich —— Lady Lundie. Er war gefangen und fand sich mit bester Grazie in sein Schicksal. Während er Lady Lundie die Thür des nächsten Zimmers öffnete, warf er einen verstohlenen Blick auf seine Uhr und fragte sich innerlich: »Wie soll »ich sie nur los werden, bevor die Andern kommen?«

Lady Lundie in ihrer eleganten, von Seide und Spitzen strotzenden Toilette, etablirte sich auf dem Sopha und entwickelte den höchsten Grad der mit lhrer majestätischen Würde verträglichen Liebenswürdigkeit. Sie that die theilnehmensten Fragen im Betreff Lady Holchester’s, im Betreff der verwitweten Lady Holchester und im Betreff Julius selbst. Wo sie gewesen seien, was sie gesehen hätten, ob die Zeit und die Ortsveränderung ihnen dazu verholfen habe, sich von den Eindrücken jenes schrecklichen Ereignisses zu erholen, welches Lady Lundie nicht näher zu bezeichnen wagte.

Julius antwortete resignirt und ein wenig abwesend. Mit dem unbehaglichen Gedanken an den unerbittlichen Verlauf der Zeit und an gewisse Eventualitäten, welche dieser Verlaufs wahrscheinlich mit sich bringen würde, that er seinerseits höfliche Fragen, die Erlebnisse Lady Lundie’s betreffend. Sie erwiderte, sie habe sehr wenig über sich selbst zu sagen, sie sei nur auf einige Wochen nach London gekommen, und führe ein ganz zurückgezogenes Leben. »Die Erfüllung meines bescheidenen Kreises von Pflichten wird in Windygates nur bisweilen, wenn ich mich geistig allzu sehr angestrengt habe, durch den Besuch einiger ernstgesinnter Freunde unterbrochen, deren Ansichten mit den meinigen harmoniren. In dieser Weise bringe ich mein Leben, —— ich hoffe, sagen zu dürfen ——, nicht ganz nutzlos hin. Ich erfahre nichts Neues; ich sehe Nichts —— nur gestern blieb mir ein höchst trauriger Anblick nicht erspart.« Nach diesen Worten hielt sie inne. Julius begriff, daß sie über den erwähnten Anblick von ihm befragt zu werden erwarte und befragte sie also.

Lady Lundie zauderte und gab endlich zu verstehen, daß jener Anblick zu dem traurigen Ereignis dessen sie bereits gedacht habe, in Beziehung stehe. Endlich sprach sie sich deutlicher dahin aus, daß sie es für ihre Pflicht gehalten habe, ihren Aufenthalt in London nicht vorübergehen zu lassen, ohne sich in der Irrenanstalt, in welche Hester Dethridge für die Dauer ihres Lebens gebracht worden sei, nach derselben zu erkundige. Dann theilte sie noch bestimmter mit, daß sie sich nicht auf die Einziehung dieser Erkundigungen beschränkt, sondern die unglückliche Frau selbst gesehen, mit ihr gesprochen und gefunden habe, daß sie keine Ahnung von ihrer schrecklichen Lage habe, daß sie ihr Gedächtniß völlig verloren und sich in ihre jetzige Lebensweise, die sie nach der Ansicht des Directors der Anstalt noch einige Jahre werde fortführen können, ergeben habe. Nach der Mittheilung dieser Thatsachen stand Lady Lundie eben im Begriff, einige der Gelegenheit angepaßte Bemerkungen zu machen, in welchen sie excellirte, als sich die Thür öffnete und Lady Holchester, die ihren Gatten suchte, eintrat.



II.

Der Eintritt Lady Holchester’s veranlaßte einen neuen Ausbruch zärtlichen Ergußes von Seiten Lady Lundie’s, den die erstere höflich, aber nicht herzlich aufnahm. Julius’ Frau schien, wie er selbst, mit einer unbehaglichen Empfindung die Zeit vorrücken zu sehen. Gleich ihm, fragte sie sich innerlich, wie lang Lady Lundie wohl noch bleiben werde. Lady Lundie machte durchaus keine Anstalten, ihren Platz auf dem Sopha zu verlassen. Offenbar war sie mit der Absicht nach Holchester House gekommen, eine Erklärung abzugeben, hatte sich aber noch nicht ausgesprochen. Jetzt aber schien sie sich auf einem Umwege ihrem Ziele nähern zu wollen. Sie begann mit einer neuen, zärtlich theilnehmenden Frage. Sie bat um Erlaubniß, noch einmal auf die Reise Lord und Lady Holchester’s zurückkommen zu dürfen. Sie seien ja in Rom gewesen, ob sie die ihr mitgetheilte entsetzliche Nachricht von dem Uebertritt Mrs. Glenarm’s aus eigener Anschauung bestätigen könnten. Lady Holchester erwiderte, daß sie die Nachricht lediglich bestätigen könne. Mrs. Glenarm habe der Welt entsagt und habe im Schooße der römischen Kirche eine Zuflucht gesucht. Lady Holchester berichtete weiter, daß sie sie selbst in einem Kloster zu Rom gesehen habe. Sie sei jetzt noch Novize, sei aber entschlossen, nach Beendigung ihres Noviziats, den Schleier zu nehmen. Lady Lundie erhob als gute Protestantin die Hände mit Entsetzen, erklärte, der Gegenstand sei zu peinlich, um länger dabei zu verweilen; und gelangte unter dem Vorwande, von etwas Anderem reden zu wollen, endlich zu dem Punkt, der den eigentlichens Gegenstand ihres Besuchs bildete. Sie fragte, ob Lady Holchester im Laufe ihrer Reise auf dem Continent vielleicht mit Mrs. Arnold Brinkworth zusammengekommen sei oder von ihr gehört habe.

»Sie wissen«, erklärte Lady Lundie, »daß ich jeden Verkehr mit meinen Verwandten abgebrochen habe. Ihr Benehmen zur Zeit unserer Familien-Calamität, die Sympathie, die sie für eine Person empfanden, die ich genauer zu bezeichnen mich selbst jetzt noch nicht entschließen kann, haben uns einander entfremdet. Die Sache schmerzt mich tief, Lady Holchester, aber ich hege keinen Groll im Herzen. Und ich werde immer ein mütterliches Interesse an Blanche’s Wohlfahrt nehmen. Wie ich gehört habe, war sie mit ihrem Gatten zu derselben Zeit, wie Sie und Lord Holchester auf Reisen. Haben Sie sie irgendwo getroffen?«

Julius und seine Frau sahen einander an. Lord Holchester schwieg, Lady Holchester erwiderte: »Wir haben Mr. und Mrs. Brinkworth in Florenz und später in Neapel getroffen, Lady Lundie. Sie sind vor einer Woche nach England zurückgekehrt, und zwar in Rücksicht auf ein bevorstehendes freudiges Ereigniß, das hoffentlich die Mitglieder Ihrer Familie um eines vermehren wird. Sie sind augenblicklich in London, und wir erwarten sie eben jetzt zum Frühstück.«

Nach dieser unumwundenen Mittheilung sah Lady Holchester Lady Lundie an und dachte bei sich, wenn sie das nicht zum Aufbruch treibt, so wird sie nichts in der Welt dazu vermögen; Aber es war vergebens gewesen. Lady Lundie behauptete das Feld. Da sie in den letzten sechs Monaten absolut nichts von ihren Verwandten gehört hatte, so brannte sie vor Verlangen, mehr über dieselben zu erfahren. Den Namen eines andern Verwandten hatte sie bis jetzt noch nicht aus gesprochen. Jetzt endlich that sie sich Gewalt an und nannte auch diesen Namen. »Und Sir Patrick?« fragte Lady Lundie im Ton einer sanften Melancholie, der ihre Vergebung ihr widerfahrener Beleidigungen ausdrücken sollte. »Ich weiß nur, was das Gerücht erzählt. Haben Sie auch Str Patrick in Florenz und Neapel getroffen?«

Julius und seine Frau sahen sich wieder an. Die Uhr in der Halle schlug grade. Julius fuhr zusammen. Lady Holchester’s Geduld fing an ihr auszugehen. Es entstand eine unangenehme Pause. Einer mußte etwas sagen. Endlich entschloß sich Lady Holchester wieder zu antworten.

»Sir Patrick hat seine Nichte und ihren Gatten auf ihrer Reise begleitet, Lady Lundie, und ist mit ihnen zurückgekehrt.«

»Befindet er sich wohl?« fragte Lady Lundie.

»Er ist jünger als je«, entgegnete Lady Holchester.

Lady Lundie lächelte ironisch. Lady Holchester der dieses Lächeln nicht entging, fand, daß diese Frau keine Rücksicht verdiene und bemerkte zum Schrecken ihres Gatten, daß sie eine Nachricht im Betreff Sir Patrick’s mitzutheilen habe, die seine Schwägerin wahrscheinlich überraschen werde. Lady Lundie horchte begierig auf.

»Die Sache ist kein Geheimniß«, fuhr Lady Holchester fort, »obgleich sie bis jetzt nur einigen intimen Freunden bekannt ist. Sir Patrick hat sich zu einem wichtigen Schritt entschlossen.

Lady Lundie’s reizendes Lächeln schwand plötzlich von ihren Lippen.

»Sir Patrick«, nahm Lady Holchester ein wenig malitiös wieder auf, »ist nicht nur ein sehr geschickter und sehr angenehmer Mann, sondern ist auch, wie Sie wissen, in seinem ganzen Wesen jünger als seine Jahre und besitzt noch viele von den Eigenschaften, die ihre Anziehungskraft auf die Frauen selten verfehlen.«

Lady Lundie sprang entsetzt auf. »Sie wollen mir doch nicht sagen, Lady Holchester, daß Sir Patrick sich verheirathet hat?«

»Allerdings.«

Lady Lundie sank wieder auf das Sopha zurück, hilflos, wirklich und wahrhaftig hilflos unter dem doppelten Schlag, der sie getroffen hatte. Die Verheirathung Sir Patricks verdrängte sie nicht nur aus ihrer Stellung als das weibliche Oberhaupt der Familie, sondern bewirkte auch, daß sie, die noch nicht Vierzigjährige, für den Rest ihrer Tage gesellschaftlich zur »alten Lady Lundie« wurde.

»In seinem Alter!« rief sie aus, sobald sie die Sprache wiedergefunden hatte.

»Erlauben Sie mir, Sie daran zu erinnern«, entgegnete Lady Holchester, »daß viele Männer sich erst in Sir Patricks Alter verheirathen. In seinem Fall muß man noch überdies gerechterweise anerkennen, daß das Motiv seiner Handlungsweise jeden Schein einer Lächerlichkeit oder Verkehrtheit ausschließt. Seine Heirath ist eine gute Handlung, im höchsten Sinne des Wortes. Sie macht ihm ebenso viel Ehre, wie der Dame, die er zu seiner Lebensgefährtin gewählt hat.«

»Natürlich ein junges Mädchen!« bemerkte Lady Lundie.

»Nein. Eine Frau, die schwere Prüfungen zu bestehen gehabt und ihr hartes Loos mit edler Ergebung getragen hat. Eine Frau, die das ruhigere und glücklichere Leben, das sich ihr jetzt eröffnet, verdient hat.«

»Darf ich fragen, wer diese Dame ist?«

Noch bevor Lady Holchester diese Frage beantworten konnte, kündigte ein Klopfen an der Hausthür die Ankunft Besuchender an. Zum dritten Mal sahen sich Julius und seine Frau an. Diesesmal legte sich Julius in’s Mittel.

»Meine Frau hat Ihnen bereits gesagt, Lady Lundie, daß wir Mr. und Mrs. Brinkworth zum Frühstück erwarten. Sir Patrick und die neue Lady Lundie werden dieselben begleiten. Wenn ich mich in der Annahme täuschen sollte, daß es Ihnen vielleicht nicht ganz angenehm sein würde, mit denselben zusammenzutreffen, so bitte ich recht sehr um Verzeihung. Wenn ich richtig vermuthe, so darf ich es wohl Lady Holchester überlassen, unsere Freunde zu empfangen und mir die Ehre geben, Sie in ein anderes Zimmer zu führen.«

Mit diesen Worten bot er, indem er auf die Thür eines anstoßenden Zimmers zuging, Lady Lundie seinen Arm. Lady Lundie aber blieb regungslos auf ihrem Platz stehen und war entschlossen, die Frau zu sehen, von der sie verdrängt wurde.

Im nächsten Augenblick wurde die nach der Halle führende Thür weit geöffnet, und der Diener meldete:

»Sir Patrick und Lady Lundie Mr. und Mrs. Arnold Brinkworth.«

Lady Lundie sah die Frau an, die ihre Stelle als Haupt der Familie eingenommen hatte und erblickte —- Anne Silvester!

Ende.

Nachwort.

Die hier dem Leser dargebotene Erzählung unterscheidet sich in einem Punkte von denen, welche früher dieselbe Feder veröffentlicht hat. Diesmal ist die Faction auf Thatsachen gegründet und hat den Zweck, die möglichste Hülfe beizutragen zur Beschleunigung der Reform von Mißständen, die man nur zu lange ungestört geduldet hat.

Ueber den gegenwärtigen scandalösen Zustand der Ehegesetze des vereinigten Königreichs ist alle Welt einverstanden. Der Bericht der zur Prüfung des Einflusses jener Gesetze niedergesetzten Königlichen Commission hat mir die feste Grundlage für mein Buch gegeben. Specielle Bezugnahme auf so hohe Autorität wie sie nöthig sein dürften, um den Leser zu überzeugen, daß ich ihn keineswegs in der Irre herumführe, sind im Anhang zusammengestellt, und ich habe nur noch hinzuzufügen, daß gerade jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, das Parlament selbst damit beschäftigt ist die entsetzlichen Mißbräuche zu beseitigen, welche hier in der Geschichte von »Hester Dethridge« erzählt sind. Es ist jetzt wenigstens die Aussicht vorhanden, daß man ein Gesetz schaffe, welches einer verheiratheten Frau in England ein Recht auf den Besitz und den Nießbrauch ihres eigenen Vermögens gewähre. Außerdem hat die Gesetzgebung, so viel ich weiß, nichts gethan, um die Fäulniß in den Ehegesetzen Großbritanniens und Irlands wegzuräumen. Die Königlichen Bevollmächtigten haben die Vermittlung des Staates in nicht mißzuverstehender Weise angerufen allerdings ohne das Parlament zu einer Erwiderung zu vermögen.

Was die andere in diesen Blättern zur Sprache gekommene sociale Frage betrifft, die Frage nach dem Einfluß der jetzt unter den Engländern herrschenden Sucht, durch Muskelkräftigung auf ihre Gesundheit und Moralität hinzuwirken so verhehle ich mir nicht, damit ein sehr delicates Gebiet betreten zu haben, und mancher dürfte sich heftig abgestoßen fühlen von dem, was ich in dieser Hinsicht gesagt habe.

Obwohl ich in diesem Punkte mich nicht auf eine Königliche Commission berufen kann, so versichere ich doch, daß es sich um einfache und nachweisbare Thatsachen handelt. Was die physischen Resultate der in den letzten Jahren unter den Engländern eingerissenen Sucht der Muskelpflege anbetrifft, so sind in diesem Buche aber die allgemeinen Ansichten unserer Aerzte, vor Allem des Mr. Skey, niedergelegt. Und wenn man die ärztlichen Gutachten nur als auf Theorie beruhend ansehen sollte, so werden dieselben durch die Erfahrungen der Väter in allen Theilen Englands betreffs ihrer Söhne nur zu sehr praktisch bestätigt. Diese letzte neueste Form unserer »nationalen Ezientricität« hat bereits manches Opfer gekostet, und zwar Opfer für Zeitlebens.

Bezüglich der moralischen Ergebnisse habe ich vielleicht recht, vielleicht auch nicht, wenn ich einen Zusammenhang zu erkennen glaube, zwischen der jetzigen zügellosen Entwickelung der physischen Ausbildung in England und der jetzt herrschenden Verbreitung von Gemeinheit und Brutalität unter gewissen Classen der englischen Bevölkerung. Aber kann man diese Gemeinheit und Brutalität hinwegleugnen? und haben sie nicht in den letzten Jahren furchtbare Dimensionen angenommen? Wir sind so schamlos vertraut mit Gewaltthätigkeit und Ehrenkränkung geworden, daß wir sie fast als einen unentbehrlichen Bestandtheil unseres socialen Systems ansehen und unsere Wilden als einen wesentlichen Theil unserer Bevölkerung classificiren, für die wir neuerdings den Namen »Roughs« erfunden haben. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist schon durch hunderte von Schriftstellern auf die schmutzigen Roughs im Barchentkittel gelenkt worden. Wenn wir uns innerhalb dieser Gränzen beschränkt hätten, so würden wir die Leser alle auf unserer Seite haben. Aber wir sind so kühn die Aufmerksamkeit auf den gewaschenen Rough im feinen Tuchrock zu lenken, und er soll sich Lesern gegenüber vertheidigen, welche diese Spielart entweder gar nicht kennen oder es vorziehen sie zu ignoren, obwohl sie dieselbe kennen.

Der Rough mit sauberer Haut und im feinen Rock ist leicht in allen Abstufungen der englischen Gesellschaft zu finden, in den mittlen wie in den höheren Classen. Ich will nur wenig Beispiele anführen. Der Rough als Arzt gefiel sich vor Kurzem noch, wenn er von einem öffentlichen Vergnügen heimkam, Hauseigenthum zu zerstören, Straßenlaternen auszulöschen und die anständigen Bewohner einer Vorstadt Londons zu erschrecken. Der Rough als Soldat beging auch bis vor nicht langer Zeit (in einigen Regimentern) Scheußlichkeiten, welche die reitende Leibwache aufforderte ihre Autorität zu gebrauchen. Der Rough als Kaufmann beschimpfte, drängte weg und vertrieb erst kürzlich noch von der Fondsbörse einen bedeutenden fremden Banquier, der von einem der ältesten und achtungswerthesten Mitgliede mitgebracht worden war, den Ort kennen zu lernen. Der Universitäts-Rough trommelte bei der Commemoration 1869 in Oxford den Vicekanzler, die Decane und die fremden Gäste aus, und stürzte sich selbst in die Christchurch- Bibliothek und verbrannte Büsten und Werke der Sculptur. Es ist Factum, daß solche Dinge geschehen sind. Es ist Factum, daß man die bei diesen Schändlichkeiten betheiligten Personen als die Beschützer, ja selbst als die Helden des athletischen Sports hingestellt hat. Ist hier nicht Grund genug zu einem Charakter wie »Geoffrey Delamayn?« Ist nur ein Erzeugniß meiner Phantasie die Scene im Versammlungslocal der Athleten im »Hahnenkampf« in Putney? Müssen wir nicht im Interesse der Civilisation unsern Protest erheben gegen das Wiederaufleben einer Barbarei unter uns, die sich als Mannestugend ausgiebt und Dumme genug findet, welche diesen Anspruch gelten lassen?

Wenn ich, ehe ich dieses Nachwort schließe, noch für einen Augenblick den Kunststandpunkt ins Auge fasse, so wird der Leser, wie ich hoffe, finden, daß der Zweck der Erzählung immer ein integrirender Theil der Erzählung selbst ist. Die hauptsächlichste Bedingung des Erfolgs beruht darin, daß Thatsache und Erfindung niemals von einander getrennt sein dürfen. Ich habe mit aller Kraft nach diesem Ziele gestrebt, ich hoffe nicht vergeblich gestrebt zu haben.

Juni 1870. W. C.



Anhang.

Anmerkung. A.

Ich habe nicht die Absicht, die letzten Seiten dieses Buches mit nutzlosen Zeitungsnachrichten zu überladen, die Jedermann zugänglich sind. Aber der Scandal bei der Oxforder »Commenmoration« 1869 und die Plünderung der Christchurch-Bibliothek sind so merkwürdig in ihren Beziehungen von Ursache und Wirkung, daß man mir einen kurzen Bericht über beide Vorgänge hier erlauben wird, da sie eine Episode in der socialen Geschichte Englands unserer Tage bilden. Zur Instruction der Leser bemerke ich, daß die »Commemoration« in Oxford eine jährlich stattfindende Versammlung der Spitzen der Universität, der Studenten und von Gästen ist und den Gegenstand der Festlichkeit in der Ertheilung von akademischen Ehrengraden und im Anhören der Vorlesung von Preisarbeiten in Prosa und Versen besteht. Noch ist zu bemerken, daß schon seit vielen Jahren solche scandalöse Auftritte in den Studentengalerien gewöhnlich und geduldet waren. Die Zerstörung der Kunstwerke in der Christchurch-Bibliothek unparteiisch betrachtet, wird sich als die nothwendige Folge des scblechten bei der Verwaltung der Universität befolgten Systems ergeben, das glücklicherweise in der civilisirten Welt seines Gleichen nicht hat.

Sitten und Gebränche junger englischer Herren.
Erster Bericht.

(Kurzer Bericht über die Vorgänge bei der Oxforder »Commemoration« 1869. (Times, Donnerstag 10. Juni 1869)

». . . . Der Sturm begann mit Geheul, als man sah, daß einige Fremde, die eben in den Raum getreten waren, die Hüte aufbehalten hatten; aber dieses»Geheul wurde bald überboten durch den wüthenden Angriff auf einen unglücklichen Baccalaureus, der unachtsamer Weise ein etwas auffälliges Halstuch trug. Da schrie man: »grüne Binde«, und so ging es drei Viertel Stunden fort. Man bat den Baccalaureus sich zu entfernen; die in der Nähe Stehenden wollten ihn hinausdrängeln; man verlangte, daß er seine Binde wechseln oder ganz weglegen sollte. Eine Stunde lang schien alles Bitten umsonst; aber Drängen half; unter einer wahren Fluth von Beifallrufen verließ der Arme das Haus, und die akademische Jugend konnte ihre Thätigkeit auf andere Dinge richten.

». . . . Der Vicekanzler eröffnete bei friedlicher Ruhe die feierliche Handlung, aber die Vorlesung der Crew’schen Rede durch den öffentlichen Redner war das Zeichen für erneuerten Ausbruch. des Lärms Der Redner wurde dnrch ein wahres Lauffeuer von Fragen und Bemerkungen unterbrochen, die mehr witzig als anständig waren, und nur wenige Worte der Rede konnten von den Zuhörern verstanden werden. Als der Redner sich endlich setzte, erhob sich der Vicekanzler und erklärte, nachdem er mit großer Mühe Ruhe erzielt hatte, daß, wenn man die Handlung abermals unterbräche, er die Encänien sofort schließen würde. Hierauf begann die Bekanntmachung der Preise (akademische Grade wurden nicht vertheilt), aber man konnte nicht viel verstehen; nur beim Newdigater-Preis war ziemliche Ruhe und weniger Unterbrechung als sonst. Als diese Vorlefung beendigt war, wurde unglücklicherweise die Aufmerksamkeit von einem Hute in Anspruch genommen, den ein Herr in der Area, wenn auch nicht auf dem Kopfe, so doch im Arme hatte.

Der Untergraduirte (so nennt man die Oxforder Studenten) leidet an einer eigenthümlichen Krankheit, die wir aus Mangel an einem bessern Namen »Pileoalbo phobia« (Weißehutschau) nennen wollen. Kaum sahen die Studenten den Hut mit der verbrecherischen Farbe, so schäumen sie auf vor Wuth, sie quieken und kreischen und wissen nicht mehr was sie thun. Der Vicekanzler hatte die feierliche Warnung gegeben, diese Warnung konnte von einer Abschaffung der Commemoration für künftige Zeiten verstanden werden —— eine schreckliche Folge, welche die Anwesenden in ihrem ganzen Umfange zu schätzen wissen möchten. Aber alles war vergeblich. So lange die wüthende Schaar der Untergraduirten den weißen Hut sah, konnte sie nichts als rasen und toben, und der Vicekanzler, außer Stande, Aufmerksamkeit zu erlangen, stand auf von seinem Sitze und verließ mit den Doctoren das Haus.«

Zweiter Bericht.

Unterhaltungen der Studenten in ihren Mußstunden. Brennmaterial zu einem Universitätsfreudenfeuer aus einer Universitätsbibliothek. Bemerkungen zu den Vorgängen in Christchurch in Oxford. (Times. 18. Mai 1870,

». . .. Der brutalste und unvernünftigste Akt des Scandalismus unserer Zeit ist von Mitgliedern der Christchurch-Universität begangen worden, von jungen Männern, die den höheren Classen Englands angehören, die in der rafinirtesten Civilisation ausgewachsen sind und den ausgewähltesten Unterricht genießen, den das Land nur gewähren kann. In der Dinstagnacht der vorigen Woche drangen die Untergraduirten in die Christchurch-Bibliothek und schleppten mehrere Büsten, darunter eine Marmorstatue der Venus von hohem Werthe hinaus. Im Laufe der Nacht errichtete man einen Scheiterhaufen von Holzbündeln und Matten, warf die Sculpturen darauf, zündete Feuer an, und die Kunstwerke wurden total zerstört. Bis jetzt ist noch kein officieller Bericht über Verbrecher und ihre Schandthat erschienen, aber in den Kreisen der Untergraduirten ziemlich verbreitet. Es sollen zwei Abtheilungen dabei betheiligt gewesen sein. Die einen nahmen sie aus der Bibliothek und stellten sie zum Spaß in Peckwater (einem der hauptsächlichsten viereckigen Räume) auf; die andern fanden sie in Peckwater nahmen sie herab, machten das Freudenfeuer und zerstörten sie.

». . .. Ganz von selbst drängt sich hierbei der Gedanke auf, daß es Fehler in der Disciplin sein müssen, welche dem Uebermuth der Untergraduirten solche verbrecherische Unthaten begehen lassen. Wenn man nicht annehmen darf, daß jemand ganz auf einmal so schlecht wird, so kann die Gesellschaft eine solche Schaar von Verbrechern nur dann hervorbringen, wenn bereits in früheren Jahren dergleichen wenn auch vielleicht in weniger gefährlicher und ernster Weise, geduldet worden sind. Wenn dies so ist, so müssen wir es als die Pflicht der Vorgesetzten ansehen, es den Untergraduirten einzuschärfen, daß künftig bei Excessen solcher Art weit ernster verfahren werden soll. Diese Vorkommnisse sind nichts weiter als einfältige Tradition, die von einem Jahr in das andere mit hinübergeschleppt werden. Männer können kein Vergnügen an solchen sogenannten Witzen finden, und finden auch keines daran. Es ist eben Mode, und die Mode macht man mit. In der Armee war es vor nicht langen Jahren noch schlimmer; ein unbeliebter neuer Ankömmling war zum Beispiel an Person und Eigenthum den unglaublichsten Verfolgungen ausgesetzt, bis endlich in einem besondern Falle der öffentliche Unwille die berittene Leibwache veranlaßte, einzugreifen und mit dem muthwilligen Zerstören von Möbeln u. s. w. war es auf einmal vorbei. Dasselbe energische Auftreten würde von der Universität die gleiche wohlthätige Wirkung haben.«

Wir wollen übrigens hoffen, daß die bei der erzählten Schandthat betheiligt gewesenen Individuen die höchste Strafe erhalten haben, welche die Universitätsbehörde zu ertheilen die Macht hat. Was diese Behörden, nach solcher unangenehmen Erfahrung thun werden, um die Disciplin an der Universität zu verbessern und die Segnungen der Civilisation unter ihren Untergraduirten zu verbreiten, bleibt abzuwarten.

Anmerkung. B.

Quellen über den Stand der Ehegesetze in Irland und Schottland.

Manche Leser sind geneigt Thatsachen in Zweifel zu ziehen, die sie in einer erdichteten Erzählung finden. Diese verweise ich auf dasjenige Buch, welches mir zuerst den Gedanken für Veröffentlichung gegenwärtiger Novelle gab. Dieses Buch ist der »Bericht der Königlichen Commission über die Ehegesetze.« Veröffentlicht in der Buchdruckerei der Königin. Für Ihrer Majestät Stationery Officce (London 1868.) Was Sir Patrick in seiner Stellung von den schottischen Ehen sagt ist dieser hohen Autorität entnommen. Was der Advocat (im Prolog) in seiner Stellung von der irischen Ehre sagt, stammt aus der nämlichen Quelle. Als Hilfsmittel, auf die sie sich verlassen können will ich meinen Lesern eine ausführliche Liste aus dem Bericht der Ehecommission angeben, damit sie meine Angaben prüfen können.

Irische Ehen (im Prolog) — S. Bericht S. XII. XIII. XXIV. Ungesetzmäßige Ehen in Schottland. —— Gesetzentwurf von Lord Deas. Bericht S. XVI. —— Ehen von Kindern im zarten Alter. Prüfung Mr. Muirhead’s von Lord Chelmsford (Quästion 689 ——) Gegenseitige Einwilligung aus Schlußfolgerung entnommen. Prüfung Mr. Muirhead’s durch den Lord Justice Clerk (Quästion 654). —— Ehe ohne gegenseitige Einwilligung Bemerkungen von Lord Deas. Bericht S. XIX. —— Widerspruch in den Ansichten der Autoritäten. Bericht S. XIX —— XX. —— Gesetzliche Verfügungen im Pferde- und Hundehandel Keine gesetzliche Verfügungen betreffs der Ehe zwischen Männern und Frauen. Mr. Seeton’s Bemerkungen. Bericht S. XXX. —— Beschluß der Commission. Trotz der ihnen entgegengehaltenen Gründe zu Gunsten der Nichtintervention in die ungesetzlichen Ehen in Schottland, gibt die Commission ihre Meinung dahin, daß solche Ehen nicht fortdauern dürfen. (Bericht S. XXXIV.)

Unter den Gründen zur Erlaubniß der Fortdauer des gegenwärtigen traurigen Zustandes stützt man sich namentlich auf folgende: In Schottland darf England nicht interveniren (!); (unregelmäßige Ehen kosten nichts (!! ); sie werden immer weniger an Zahl, und man darf hoffen, daß sie im Laufe der Zeit von selbst aufhören (!!!); sie sind in manchen Fällen eine moralische Falle um einen liederlichen Mann zufangen (!!!!). Das ist der Gesichtspunkt, von dem aus die Institution der Ehe von einigen der frömmsten und gelehrtesten Gönner Schottlands betrachtet wird. Eine gesetzliche Verfügung, welche erlaubt, daß der Mann seine Frau verkaufen dürfe, namentlich wenn er mit ihr zu thun gehabt hat, oder eine Frau ihren Mann wenn sie wirklich nicht länger mit ihm auskommen kann, scheint alles zu sein, was noch fehlt, um die nordbritische Würdigung des Ehestandes praktisch zu vervollständigen. Es ist nur gut, daß von denen, welche mündlich oder schriftlich vor der Commission ihr Zeugniß ablegten die volle Hälfte die ungesetzlichen Ehen in Schottland vom Standpunkte des Christenthums und der Civilisation betrachtet und vollständig mit dem schon victirten Beschluß der Behörde übereinstimmt, daß solche Ehen abgeschafft werden müssen.


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