Mann und Weib



Fünfunddreißigstes Kapitel - Die Saat der Zukunft; zweite Aussaat

Und was sagten die meisten Gäste über die Schwäne? Sie sagten: »o, wie viele Schwäne!« und das war Alles was»Leute sagen konnten, die von der Naturgeschichte der Wasservögel nichts wußten.

Und was sagten die Gäste von dem See? Einige sagten: »wie feierlich«, Andere, »Wie romantisch«, wieder Andere aber sagten gar nichts, aber dachten: »Ein trübseliger Anblick.« In diesem Falle traf die Meinung des Haufens wieder einmal das Richtige. Der See lag inmitten eines Tannenwaldes verborgen. Bis auf die Mitte, wo die Sonne das Wasser erreichen konnte, lag der See schwarz unter dem dunkeln Schatten der Bäume da. Die einzige Lichtung in der Tannenpflanzung befand sich an dem untern Ende des See’s; das einzige erkennbare Zeichen seiner Bewegung und seines Lebens war das geisterhafte Hingleiten der Schwäne über die todtenstille Oberfläche des Wassers. »Es war feierlich«, wie einige Ciäste sagten, »es war romantisch«, wie andere sagten, »es war trübselig«, wie andere dachten und nicht sagten.

Die längste Beschreibung würde nichts mehr zu sagen vermögen; enthalten wir uns deshalb jeder weiteren Schilderung. Nachdem die allgemeine Neugierde sich an dem Anblick der Schwäne und des See’s genug gethan hatte, wandten sich die Gäste wieder der Lichtung am untern Ende des See’s zu und bemerkten daselbst einen offenbar künstlichen Gegenstand, der sich in Gestalt eines großen, rothen, zwischen zwei der höchsten Bäume aufgehängten Vorhanges in die Scene eingedrängt hatte und die darüber hinausliegende Aussicht den Blicken entzog. Sie verlangten eine Erklärung des Vorhanges und erhielten von Julius Delamayn zur Antwort, daß das Geheimniß unmittelbar nach dem Eintreffen seiner Frau mit den im Hause zurückgebliebenen Gästen, enthüllt werden solle.

Nach dem Erscheinen von Mrs. Delamayn mit den Nachzüglern stellte sich die ganze Gesellschaft dicht am Ufer des See’s, dem Vorhange gerade gegenüber auf. Julius Delamayn winkte, indem er auf die seidenen Schnüre, die an beiden Enden des Vorhanges herabhingen, zeigte, zwei in der Gesellschaft befindliche kleine Mädchen, die Nichten seiner Frau, zu sich heran. Er bedeutete sie, an den Schnüren zu ziehen und aufzupassen, was es dann geben werde. Die kleinen Kinder zogen mit dem Eifer, den Kinder immer an den Tag legen, wenn es sich um etwas Geheimnißvolles handelt. Der Vorhang ging in der Mitte auseinander und ein lauter Ausruf allgemeinen Erstaunens und Entzückens begrüßte das sich den Blicken darbietende Schauspiel.

Am Ende einer Tannen-Allee breitete ein kühler, grüner Rasenplatz seinen Grasteppich inmitten der umgebenden Anpflanzungen aus. Jenseits des Rasens erhob sich der Boden und hier ließ auf dem ersten Abhang eine liebliche, kleine Fontaine, zwischen grauen alten Granitblöcken ihr Geplätscher vernehmen. Längs der rechten Seite des Rasens stand eine Reihe von Tischen, die mit weißen Servietten und mit Erfrischungen für die Gäste bedeckt waren; an der andern Seite war ein Musikcorps aufgestellt, das in dem Moment, wo der Vorhang auseinander gezogen wurde, seine Weisen zu spielen begann. Wenn das Auge sich von der Tannen-Allee zurückwandte fiel es wieder auf den See, auf dessen Wasser das Sonnenlicht spielte und das Gefieder der dahingleitenden Schwäne in seinem glänzenden Weiß sanft beleuchtete. Das war die reizende Ueberraschung, welche Julius Delamayn seinen Freunden bereitet hatte.

Nur in Momenten wie dieser oder wenn er mit seiner Frau im bescheidenen kleinen Musikzimmer Sonaten spielte, fühlte sich der älteste Sohn Lord Holchester’s äußerst glücklich. Er seufzte im Geheimen über die Pflichten, welche seine Stellung als Landedelmann ihm auferlegte, und er litt schwer unter einem der höchsten Privilegien seines Ranges und seiner Stellung, als unter einem socialen Märtyrerthum der grausamsten Art.

»Jetzt wollen wir zu Tisch gehen nud dann tanzen, das ist das Programm des heutigen Tages. Er ging zu Tisch voran mit den beiden ihm zunächst stehenden Damen, ohne sich im Mindesten darum zu kümmern, ob sie zu den vornehmsten der anwesenden Damen gehörten oder nicht. Zu Lady Lundie’s Erstaunen setzte er sich auch auf den dem Eingange zunächst belegenen Platze, ohne anscheinend irgend welchen Werth darauf zu legen, welchen Platz er bei seinem eigenen Feste einnehme.

Die Gäste folgten seinem Beispiel und setzten sich ebenfalls, ohne nach Vorsitz und Rang zu fragen, wohin es ihnen gefiel. Mrs. Delamayn die immer ein besonderes Interesse für Bräute empfand, nahm Blanche’s Arm. Lady Lundie setzte sich entschlossen an die andere Seite ihrer Wirthin, so daß die drei Damen dicht bei einander saßen.

Mrs. Delamayn that ihr Bestes, um Blanche zum Reden zu ermuntern und Blanche that ihr Möglichstes, die Ermunterung Mrs. Delamayn’s nicht vergeblich erscheinen zu lassen, aber doch gelang der Versuch von beiden Seiten nur kümmerlich, so daß Mrs. Delamayn sich des Gedankens nicht erwehren konnte, daß auf Blanche’s Gemüth etwas Unangenehmes laste, und den Versuch verzweifelnd aufgab, indem sie sich zu Lady Lundie wandte.

Mrs. Delamayn’s Vermuthung war nur zu begründet. Blanche’s Ausbruch schlechter Laune gegen ihre Freundin auf der Terrasse und Blanche’s gegenwärtiger Mangel an Munterkeit und guter Laune waren auf dieselbe Ursache zurückzuführen. Sie verbarg es vor ihrem Onkel und vor Arnold, aber sie war noch so besorgt und unglücklich über Anne wie je und noch immer entschlossen, Sir Patrick mochte sagen und thun was er wollte, die erste Gelegenheit, die Nachforschungen nach ihrer verlorenen Freundin zu erneuern, zu ergreifen.

Inzwischen nahm das Essen und Trinken seinen heitern Fortgang, das Musikcorps spielte seine lustigsten Melodien, und die Diener sorgten dafür, daß die Gläser immer gefüllt waren; an allen Tischen herrschte die ungezwungenste Heiterkeit. Die einzige Unterhaltung, bei welcher die Redenden nicht vollkommen mit einander harmonirten, war die neben Blanche, welche ihre Stiefmutter und Mrs. Delamayn führte.

Unter den Vorzügen Lady Lundie’s nahm die Fähigkeit, unangenehme Entdeckungen zu machen, nicht den letzten Platz ein. Bei der Collation auf dem Rasen verfehlte sie nicht zu bemerken, was alle Uebrigen mit Stillschweigen übergingen, nämlich die Abwesenheit des Schwagers der Wirthin von dem Feste, und noch merkwürdiger, das Verschwinden einer Dame, die für den Augenblick zu den aus längere Zeit weilenden Gästen des Hauses gehörte, mit einem Wort das Verschwinden Mrs. Glenarm’s.

»Irre ich mich«, bemerkte Lady Lundie, indem sie mit ihrer Lorgnette um den Tisch herumsah, »oder fehlt nicht ein Mitglied unserer Gesellschaft? Ich sehe Mr. Geoffrey Delamayn nicht.«

»Geoffrey versprach nachzukommen, aber er ist, wie Sie vielleicht bemerkt haben werden, nicht sehr gewissenhaft in der Erfüllung von Verpflichtungen dieser Art, er opfert Alles seiner Vorbereitung, wir sehen ihn jetzt nur selten.« Nach dieser Antwort versuchte es Mrs. Delamayn, den Gegenstand der Unterhaltung zu verlassen; Lady Lundie aber nahm zum zweiten Mal ihre Lorgnette und sah wieder um den Tisch herum. »Verzeihen Sie«, bemerkte Lady Lundie, aber ist es möglich, daß ich noch einen andern Gast vermiße? Ich sehe Mrs. Glenarm nicht! Sie muß aber doch hier sein. Mrs. Glenarm läßt sich doch nicht für ein Wettlaufen vorbereiten? Sehen Sie sie, ich sehe sie nicht, ich vermißte sie schon als wir auf die Terrasse hinauskamen und habe sie seitdem nicht wiedergesehen, ist das nicht sehr sonderbar liebe Mrs. Delamayn?«

»Unsere Gäste in Swanhaven Lodge haben volle Freiheit zu thun, was ihnen gefällt, Lady Lundie.« Mit diesen Worten hatte Mrs Delamayn, wie sie sich schmeichelte, der Unterhaltung über diesen Gegenstand ein Ende gemacht, aber Lady Lundie’s grenzenlose Neugierde ließ sich selbst durch die deutlichsten Winke nicht irre machen. Höchst wahrscheinlich von der ansteckenden Wirkung der Heiterkeit um sie her fortgerissen, entwickelte Lady Lundie eine ungewöhnliche Lebhaftigkeit.

Man sollte es nicht für möglich halten, aber es ist nichts desto weniger wahr, daß die majestätische Frau in diesem Augenblick lächelte.

»Darf man eine naheliegende Vermuthung aussprechen?« fragte Lady Lundie in einem scherzenden Ton, der von ihrer sonst so pomphaften Grandezza wunderlich genug alsstach. »Da haben wir auf der einen Seite Mr. Geoffrey Delamayn einen jungen, unverheiratheten Mann und auf der andern Seite haben wir Mrs. Glenarm, eine junge Wittwe. Der junge unverheirathete Mann ist von vornehmer Familie, die junge Wittwe ist reich und beide zu gleicher Zeit geheimnißvoll abwesend von derselben heitern Gesellschaft. O, Mrs. Delamayn, sollte ich mich irren, wenn ich annehme, daß auch Sie binnen Kurzem eine Hochzeit haben werden?«

Mrs. Delamayn’s Gesicht nahm einen etwas) verdrießlichen Ausdruck an. Sie war von ganzem Herzen auf die kleine Verschwörung eingegangen, die man angezettelt hatte, aus Geoffrey und Mrs. Glenarm ein Paar zu machen, aber sie hatte keine Lust, es einzugestehen, daß das rasche Entgegenkommen der Dame, trotz aller Versuche, diese Thatsache zu verbergen es offenbar gemacht hatte, daß die Verschwörung in zehn Tagen zu ihrem Ziele gelangt sei. »Ich bin nicht im Vertrauen der Dame und des Herrn, von dem Sie reden«, antwortete sie trocken.

Ein schwerer Körper ist schwer in Bewegung zu setzen, aber auch schwer wieder zur Ruhe zu bringen, wenn er einmal in Bewegung gebracht ist.

Die etwas schwerfällige Scherzhaftigkeit Lady Lundie’s gehorchte demselben Gesetz, sie beharrte bei ihrer ausgelassenen Heiterkeit. »O, was für eine diplomatische Antwort,« rief sie aus, »ich glaube aber doch, ich kann sie mir deuten. Mein Vögelchen hat mir gesagt, daß ich eine Mrs. Geoffrey Delamayn in London sehen werde und mich würde es wenigstens nicht überraschen, wenn ich in den Fall kommen sollte, Mrs. Glenarm zu gratuliren!«

»Wenn Sie darauf bestehen, sich von Ihrer Einbildungskraft fortreißen zu lassen, Lady Lundie, kann ich Sie nicht daran hindern, ich kann nur um die Erlaubniß bitten, meine Phantasie im Zaume halten zu dürfen.«

Dieses Mal begriff selbst Lady Lundie, daß es klüger sein würde, nichts weiter zu sagen. Sie lächelte und nickte verständnißinnig, höchst zufrieden mit dem von ihr an den Tag gelegten, außerordentlichen Scharfsinn. Wenn man sie in diesem Augenblicke gefragt hätte, wer die geistreichste Frau in England sei, so würde sie innerlich, unbedenklich die Antwort gegeben haben: »Lady Lundie von Windygates.«

Von dem Augenblicke an, wo die Unterhaltung neben ihr sich mit Geoffrey und Mrs. Glenarm zu beschäftigen angefangen hatte und während der kurzen Zeit, wo dieselbe sich um diesen Gegenstand drehte, wurde Blanche eines starken Geruchs nach geistigen Getränken inne, der sich, wie es ihr vorkam, von oben und hinter ihr, in ihrer Nähe verbreitete. Als sie fand, daß der Geruch stärker und stärker wurde, drehte sie sich um, sich zu überzeugen, ob etwa eine Fabrikation von Grog unerklärlicher Weise hinter ihrem Stuhl vorgenommen werde. In dem Augenblick, wo sie sich umdrehte, fielen ihre Augen auf ein Paar zitternder, gichtischer, alter Hände, die ihr eine reichlich mit Trüffeln versehene Geflügelpastete anboten.

»O, meine liebe junge Dame«, flüsterte ihr eine Stimme im Tone der Ueberredung in’s Ohr, »Sie sterben ja in einem Lande des Ueberflusses Hungers. Lassen Sie sich von mir rathen und nehmen Sie von dem besten Gericht, von dieser Geflügelpastete.«

Blanche sah auf; da stand er, der Mann mit dem schlauen Auge, dem väterlichen Wesen und der ungeheuren Nase, Bishopriggs, als wäre er in Spiritus aufbewahrt und —— wartete bei dem Festmahle in Swanhaven Lodge auf. Blanche hatte ihn in jener denkwürdigen Gewitternacht, wo sie Anne im Gasthofe überrascht hatte, nur einen Augenblick gesehen, aber Augenblicke die in Bishopriggs Gesellschaft verbracht waren, prägten sich dem Gedächtniß tiefer ein, als in der Gesellschaft unbedeutender Menschen zugebrachte Stunden. Blanche erkannte ihn auf der Stelle wieder, erinnerte sich sofort, daß Sir Patrick bestimmt erklärt hatte, daß er im Besitz von Anne’s verlorenen Briefe sei, und zog alsbald den Schluß, daß sich ihr mit der Entdeckung Bishopriggs eine Chanee biete, Anne’s Spur zu verfolgen. Ihr erster Gedanke war, ihre Bekanntschaft mit ihm sofort wieder anzuknüpfem aber die auf sie gerichteten Blicke ihrer Nachbarn mahnten sie zu warten. Sie nahm ein wenig von der Pastete und sah Bishopriggs scharf in’s Auge.

Der discrete Mann ließ sich seinerseits durchaus nichts merken, verneigte sich respectvoll und ging mit seiner Schüssel weiter um den Tisch herum.

»Ich möchte wohl wissen ob er den Brief bei sich hat!«

Er hatte nicht nur den Brief bei sich, sondern mehr als das, er war gerade in diesem Augenblick damit beschäftigt, ein Mittel ausfindig zu machen, den Brief vorteilhaft zu verwerthen. Die häuslichen Einrichtungen in Swanhaven Lodge waren nicht der Art, daß eine große Dienerschaft vorhanden gewesen wäre. So oft Mr. Delamayn in den Fall kam, eine große Gesellschaft zu geben, war er in Betreff der Bedienung auf Aushülfe theils von Seiten seiner Freunde, theils aus dem Hauptgasthof in Kirtandrew angewiesen. Bishopriggs, der augenblicklich in Ermangelung einer besseren Stelle als ein überzähliger Kellner in dem dortigen Gasthofe diente, war einer von den Kellnern, die der Gasthof zur Aushülfe bei dem Gartenfeste hergeliehen hatte. Der Name des Herrn bei dem er an diesem Tage aufwarten sollte, hatte ihn sofort frappirt. Er hatte Erkundigungen eingezogen und hatte sich dann behufs weiterer Nachforschungen wieder mit dem Brief beschäftigt, den er von dem Boden des Gastzimmers in Craig-Fernie aufgenommen hatte. Der von Anne verlorene Briefbogen enthielt, wie sich der Leser erinnern wird, zwei Briefe, einen von ihr selbst und einen von Geoffrey unterschriebenen, und beide enthüllten Beziehungen zwischen den Schreibenden, die nicht für das Auge eines Fremden bestimmt waren. Bishopriggs hielt demnach für möglich, daß sich ihm, wenn er Augen und Ohren in Swanhaven Lodge offen hielt, eine Aussicht darbieten möchte, ein Geschäft mit der gestohlenen Correspondenz zu machen, und steckte den Brief, als er Kirkandrew verließ, in die Tasche.

Er hatte Blanche sofort als eine Freundin der Dame im Gasthof zu Craig-Fernie erkannt und sich gesagt, daß man sie vielleicht in dieser Eigenschaft würde verwerthen können, überdies hatte er jedes Wort der Unterhaltung mit angehört, welche Lady Lundie und Mrs. Delamayn in Betreff Geoffrey’s und Mrs. Glenarm geführt hatten. Es hatte noch gute Weile, bis die Gäste sich zurückziehen und die Kellner entlassen werden würden. Bishopriggs hielt sich daher zu der Hoffnung berechtigt, daß er noch Grund haben werde, sich zu dem glücklichen Zufall, der ihn mit den Festlichkeiten in Swanhaven Lodge in Verbindung gebracht hatte, zu gratuliren.

Es war noch früh am Nachmittage, als die heitere Stimmung an einigen Stellen des Eßtisches nachzulassen begann. Die jüngeren Mitglieder der Gesellschaft, namentlich die Damen, wurden beim Erscheinen des Desserts unruhig. Einer nach dem andern warf sehr verlangende Blicke auf den elastischen Rasen der vor ihnen liegenden Waldwiese. Einer nach dem andern schlug gedankenlos mit den Fingern den Takt zu dem Walzer welchen die Musiker gerade spielten. Als Mrs. Delamayn diese Symptome der Ungeduld gewahr wurde, erhob sie sich vom Tisch, und ihr Mann entsandte eine Botschaft an das Musikcorps. Zehn Minuten später war die erste Quadrille auf dem Rasen im Gange, die Zuschauer waren malerisch gruppirt und die Diener und Kellner, deren man nicht mehr bedurfte, hatten sich zurückgezogen um nun auch ihrerseits den Freuden der Tafel obzuliegen. Die letzte Person, die sich noch am verlassenen Tische zu thun machte, war der ehrwürdige Bishopriggs. Er allein von allen Aufwärtern hatte es möglich gemacht, den Anschein des Aufwartens, mit der heimlichen Befriedigung seines persönlichen Bedürfnisses nach Erfrischungen zu verbinden. Anstatt mit den übrigen Kellnern der Mahlzeit der Diener zuzueilen, ging er um die Tische herum, anscheinend mit dem Wegräumen der Krumen, in der That aber mit dem Leeren der Weingläser beschäftigt. Ganz hingenommen von diesem Geschäft, bemerkte er nicht eher etwas von den herannahenden Schritten einer Dame, als bis er durch die hinter ihm ertönende Stimme derselben aufgeschreckt wurde. Er kehrte sich, so rasch es ihm möglich war, um und sah Miß Lundie vor sich.

»Ich möchte ein Glas frisches Wasser haben«, sagte Blanche, »wollen Sie so gut sein, mir eines von der Quelle zu holen?« und dabei deutete sie auf die am anderen Ende der Lichtung hervorsprudelnde Quelle.

Auf Bishopriggs Gesicht malte sich ein ungeheucheltes Entsetzen »Um Gotteswillen Fräulein« rief er aus, »Sie wollen doch Ihren Magen nicht mit kaltem Wasser beschweren, wenn Wein in Fülle vorhanden ist?«

Blanche warf ihm einen bedeutungssvollen Blick zu.

Langsame Fassungskraft gehörte nicht zu Bishopriggs Schwächen; er ergriff sofort ein Glas, zwinkerte mit seinem einen, sehenden Auge und ging Blanche voran nach der Quelle. Es hatte nichts Auffallendes, daß eine Dame ein Glas Quellwasser verlangte oder daß ein Diener es für sie schöpfte; Niemand nahm daher Anstoß daran und bei dem Spiel des Musikcorps konnte auch Niemand von dem, was an der Quelle gesprochen wurde, etwas hören.

»Erinnern Sie sich meiner von der Gewitternacht im Gasthofe zu Craig-Fernie her?« fragte Blanche.

Bishopriggs hatte gute Gründe, sich nicht zu rasch mit Blanche einzulassen. »Ich sage nicht, daß ich mich Ihrer nicht erinnern kann, Fräulein; welcher Mann möchte einer so hübschem jungen Dame, wie Sie es sind, eine solche Antwort geben.«

Um seinem Gedächtniß zu Hülfe zu kommen, zog Blanche ihre Börse aus der Tasche.

Bishopriggs vertiefte sich in den Anblick der Landschaft und des Wassers, das er als Getränk so gründlich verachtete. »Da läufst Du hin«, sagte er, das Flüßchen anredend, das aus der Quelle entsprang, »deiner eignen Vernichtung in dem See da entgegen eilend; in deinem jetzigen Zustande ist, soviel ich weiß, wenig Gutes an Dir. Du sollst ein Bild des menschlichen Lebens sein, sagen sie, das ist aber nicht wahr. Du bist gar nichts, bis du durch Feuer erwärmt, durch Zucker versüßt und durch Whisky gekräftigt bist und dann bist du Toddy und in dieser Gestalt hat das menschliche Leben allerdings einige Beziehungen zu dir.«

»Seit ich den Gasthof verlassen habe«, fuhr Blanche fort, »habe ich mehr von Ihnen gehört, als Sie vielleicht vermuthen; und bei diesen Worten öffnete sie ihre Börse.

Bishopiggs war ganz Ohr.

»Sie waren sehr freundlich gegen eine Dame in Craig-Fernie«, fuhr sie ernst fort, »ich weiß, daß Sie Ihre Stelle im Gasthofe eingebüßt haben, weil Sie sich zu ausschließlich dieser Dame widmeten, und diese Dame ist meine theuerste Freundin, Mr. Bishopriggs; ich möchte Ihnen dafür danken und Sie bitten, dies von mir anzunehmen.« Das ganze Herz des Mädchens lag in ihrer Stimme und ihren Augen, während sie ihre Börse in die gichtische und gierige Hand des alten Bishoprigg’s leerte.

Ein junges Mädchen mit einer wohlgefüllten Börse ist eine in der ganzen Welt nicht oft vorkommende Erscheinung. In der Regel haben sie, sie mögen übrigens noch so reich seist, all ihr Geld ausgegeben oder doch ihre Börse auf dem Toilettentisch liegen lassen. Blanche’s Börse enthielt einen Sovereign und sechs oder sieben Schillinge in Silber. Als Taschengeld für eine reiche Erbin war dies nicht eben viel, aber als ein Trinkgeld für Bishopriggs war es splendid. Der alte Spitzbube steckte das Geld mit der einen Hand in die Tasche und wischte sich die Thränen der Rührung, die er nicht vergossen hatte, mit der anderen aus den Augen. »Werft Euer Brod in’s Wasser und Ihr werdet es nach vielen Tagen wieder finden!« rief Bishopriggs, das eine Auge fromm gen Himmel gerichtet. »Ja, ja! sagte ich nicht, als ich zuerst jene arme Dame sah, ich fühle wie ein Vater für sie? Es ist wahrhaft merkwürdig, zu sehen, wie die guten Handlungen eines Menschen, ihm schon in dieser Erdenwelt vergolten werden. Wenn ich jemals die Stimme natürlicher Zuneigung in meiner Brust habe reden hören«, fuhr Bishopriggs fort, indem er sein Auge lauernd auf Blanche gerichtet hielt, »so hat sie sich mit Posaunenton in mir vernehmen lassen, als jenes reizende Wesen mich zuerst anredete. Hat sie selbst Ihnen von den geringfügigen Diensten erzählt, die ich ihr zu der Zeit leistete, wo ich in der Sklaverei des Hotels stand?"

»Ja, sie hat es mir selbst erzählt.«

»Dürfte ich es wagen, zu fragen, wo sie sich gegenwärtig aufhält?«

»Das weiß ich nicht, Mr. Bishopriggs, und gerade das macht mich unglücklicher als ich sagen kann. Sie ist fort, und ich weiß nicht wohin!«

»O, o, das ist schlimm und das Ding von einem Ehemann der da einen Tag auf ihrer Schleppe herumtrat und am nächsten Morgen mit Sonnenaufgang sich davon machte, sind sie beide zusammen fortgegangen?«

»Ich weiß nichts von ihm«, erwiderte Blanche, »ich habe ihn nicht gesehen, aber Sie haben ihn gesehen, erzählen Sie mir doch, wie er aussah.«

»Er war ein armseliger schwacher Patron, verstand sich nicht auf ein gutes Glas Sherry, freigebig mit Geld war er, das ist Alles, was man von ihm sagen kann!«

Als Blanche sah, daß es unmöglich sei, von dem Alten irgend eine deutliche Schilderung des Mannes, der mit Anne im Gasthofe gewesen war, zu erhalten, rückte sie dem Hauptgegenstande ihrer Besprechung mit Bishopriggs näher. In ihrer ängstlichen Besorgniß, keinc Zeit zu verlieren, brachte sie ohne Weiteres das Gespräch auf das delicate und kitzliche Thema des verlorenen Briefes. »Ich habe Ihnen noch etwas Anderes zu sagen«, fing sie wieder an, »Meine Freundin hat etwas verloren, während sie im Gasthofe war.«

Die Wolken des Zweifels schwanden von Bishopriggs Gemüth. Die Freundin der Dame wußte also von dem verlornen Brief und noch besser, die Freundin der Dame sah aus, als wolle sie den Brief gern haben.

»Ja, ja!« sagte er, mit allem erforderlichen Anschein von Sorglosigkeit. Das ist wahrscheinlich genug, von der Wirthin abwärts geht es ja im Hotel, seit ich fort bin, alles darüber und drunter. Was hat sie denn verloren?«

»Einen Brief.«

Bishopriggs Auge nahm wieder den Ausdruck lauernder Beobachtung an. Es war für ihn, von seinem Standpunkte aus, eine sehr ernste Frage, ob sich an das Verschwinden des Briefes ein Verdacht des Diebstahls knüpfte.

»Wenn Sie »verloren« sagen, meinen Sie damit gestohlen?«

Blanche war scharfsinnig genug, sofort zu begreifen, daß es nothwendig sei, ihn über diesen Punkt zu beruhigen. »O nein!« antwortete sie, »nicht gestohlen, nur verloren; haben Sie etwas davon gehört?«

»Wie so sollte ich davon gehört haben?« Er sah Blanche scharf an und entdeckte ein augenblickliches Zaudern in ihren Blicken. »Bitte, sagen Sie mir das, liebes Fräulein,« fuhr er fort, indem er vorsichtig der entscheidenden Frage näher trat. »Wenn Sie nach Nachrichten über den verlorenen Brief Ihrer Freundin forschen was bestimmt Sie, sich deshalb an mich zu wenden?«

Diese Worte waren entscheidend. Es ist kaum zu viel gesagt, daß Blanche’s Zukunft von ihrer Antwort auf diese Frage abhing. Wenn sie so viel Geld bei sich gehabt hätte und wenn sie gerade heraus gesagt hätte: »Sie haben den Brief, Mr Bishopriggs, ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß kein Mensch Sie weiter darnach fragen soll und ich biete Ihnen zehn Pfund für den Brief«, so würde der Handel aller Wahrscheinlichkeit nach abgeschlossen und in diesem Fall der ganze Lauf der künftigen Ereignisse verändert worden sein. Aber Blanche hatte kein Geld mehr bei sich und in dem Kreise der Gäste von Swanhaven Lodge war Niemand, an den sie sich, ohne sich arger Mißdeutungen auszusetzen, mit der Bitte hätte wenden können, ihr aus der Stelle zehn Pfund im Geheimen zu leihen. Unter dem Drang der gebieterischen Nothwendigkeit gab Blanche alle Hoffnung auf, gegenwärtig an Bishopriggs pecuniäres Interesse zu appelliren, der einzige Weg, ihren Zweck zu erreichen, den sie vor sich sah, war, sich mit dem Einfluß von Sir Patrick’s Namen zu waffnen. Ein Mann an ihrer Stelle würde es für reine Tollheit gehalten haben, so etwas zu wagen, aber Blanche, die sich schon eine unüberlegte Handlung vorzuwerfen hatte, stürzte sich wie ein echtes Weib kopfüber in eine andere Unvorsichtigkeit. Derselbe unüberlegte Eifer, ihren Zweck zu erreichen, der sie dazu gedrängt hatte, Geoffrey, bevor er Windygates verließ, zu befragen, trieb sie fest, ebenso unüberlegt die Verhandlung mit Bishopriggs, den geschickten und erfahrenen Händen Sir Patricks zu entwinden. Die sehnsüchtige schwesterliche Liebe in ihr dürstete nach einer Spur von Anne, ihr Herz flüsterte ihr zu: »wage es!« und —— Blanche wagte es. »Sir Patrick hat mich veranlaßt, zu Ihnen zu gehen«, sagte sie.

Die eben geöffnete Hand Bishopriggs, die bereit war den Brief herauszugeben und die Belohnung dafür zu empfangen, schloß sich auf der Stelle wieder, als Blanche diese Worte aussprach.

»Sir Patrick?« wiederholte er, »o, o, also Sir Patrick haben Sie von der Sache erzählt, so? Das ist ein Herr, der das Gras wachsen hört. Was hat denn Sir Patrick gesagt?«

Blanche bemerkte die Veränderung in Bishopriggs Ton und nahm sich nun, als es zu spät war, auf das Aeußerste zusammen, ihm in vorsichtigen Ausdrücken zu antworten. Sir Patrick«, sagte sie, meinte, Sie könnten den Brief vielleicht gefunden und sich der Sache nicht eher wieder erinnert haben, als bis Sie den Gasthof verlassen hätten.«

Bishopriggs ließ die persönlichen Erfahrungen, die er seiner Zeit an seinem alten Herrn gemacht hatte, im Geiste die Revue passiren und gelangte dabei zu dem vollkommen richtigen Schluß, daß Sir Patricks Ansicht über seine Beziehungen zu dem verschwundenen Briefe, keineswegs so unschuldiger Natur sei, wie Blanche ihm glauben machen wollte. »Der schlaue, alte Fuchs«, dachte er bei sich, »kennt mich besser.«

»Nun?« fragte Blanche ungeduldig, »hatte Sir Patrick Recht?«

»Recht?« erwiderte Bishopriggs rasch, »er ist so weit von der Wahrheit entfernt, wie Sie von Amerika!«

»Sie wissen nichts von dem Briefe?«

»Von dem Brief?« erwiderte er, »was Sie mir darüber sagen ist das Erste, was ich höre?«

Blanche sank der Muth. Hatte sie selbst ihren Zweck vereitelt und zum zweiten Male Sir Patrick den Boden unter den Füßen weggezogen, das war doch nicht möglich! Hier war doch gewiß noch Aussicht vorhanden, daß der Mann vermocht werden konnte, ihrem Onkel das Vertrauen zu schenken, das er zu vorsichtig war einer Fremden zu gewähren. Das einzig Richtige, was ihr nach ihrer Ueberzeugung jetzt noch zu thun übrig blieb, war, den Weg für die Geltendmachung von Sir Patricks überlegenen Einfluß und Sir Patricks überlegene Geschicklichkeit zu bahnen. Mit diesem Zweck im Auge nahm sie die Unterhaltung wieder auf.

»Es thut mir leid, daß Sir Patrick sich in seiner Annahme geirrt hat«, fing sie wieder an. »Meine Freundin wünschte, als ich sie zuletzt sprach, sehnlichst wieder in den Besitz des Briefes zu gelangen, und ich hoffte, von Ihnen etwas darüber hören zu können. Ganz abgesehen davon wünscht Sir Patricks, Sie zu sprechen, und ich benutze diese Gelegenheit, es Ihnen zu sagen. Er hat in dem Gasthof von Craig-Fernie einen Brief für Sie zurückgelassen.«

»Der Brief wird lange genug zu warten haben, wenn er wartet bis ich wieder nach dem Hotel gehe«, erwiderte Bishopriggs.

»In diesem Fall,« entgegnete Blanche rasch, »thäten Sie besser, mir eine Adresse anzugeben, unter welcher Sir Patrick Ihnen schreiben kann. Sie wollen doch nicht, daß ich ihm sage, daß ich Sie hier gesehen habe und daß Sie sich weigerten, mit ihm in Verbindung zu treten.«

»Wie können Sie das auch nur denken, mein Fräulein!« rief Bishopriggs eifrig. »Wenn es etwas giebt, woran ich es um keinen Preis fehlen lassen möchte, so ist es die ehrfurchtsvolle Bereitwilligkeit, Sir Patrick in Allem zu dienen. Ich nehme mir die Freiheit, mein Fräulein, Sie mit dieser kleinen Karte zu belästigen. Es ist traurig genug für mich, in meinem Alter noch nirgends wieder fest etablirt zu sein, aber hier kann Sir Patrick, wenn er meiner bedarf, jederzeit von mir hören.« Dabei reichte er Blanche eine kleine schmutzige Karte, auf der der Name und die Adresse eines Fleischers in Edinburgh stand. »Samuel Bishopriggs«, fuhr er in geschmeidigem Tone fort, »Adresse David Dow, Fleischer Cowgate, Edinburgh. Das ist jetzt mein Patmos, mein Fräulein.«

Blanche fühlte sich, als sie die Karte aus Bishoprigg’s Händen entgegennahm, unaussprechlich erleichtert. Wenn sie sich zum zweiten Mal erlaubt hatte, Sir Patrick’s Stelle zu übernehmen und es ihr wieder nicht gelungen war, ihre Unvorsichtigkeit durch das Resultat zu rechtfertigen, so hatte sie doch dieses Mal die Sache wenigstens dadurch wieder gut gemacht, daß sie ein Mittel aufgefunden hatte, Bishopriggs mit ihrem Onkel in Verbindung zu setzen.

»Sie werden von Sir Patrick hören«, sagte sie, nickte ihm freundlich zu und ging wieder zu den Gästen zurück.

Ich werde von Sir Patrick hören? So, werde ich?« wiederholte Bishopriggs, als er allein war. »Sir Patrick muß nicht weniger als ein Wunder verrichten, wenn er Samuel Bishopriggs in Cowgate in Edinburgh findet.« Er lächelte selbst vergnügt über seine Schlauheit und zog sich an eine einsame Stelle in der Tannenanpflanzung zurück, wo er den gestohlenen Brief einer genauen Prüfung unterziehen konnte, ohne fürchten zu müssen, von irgend einem lebenden Wesen beobachtet zu werden.

Noch einmal hatte die Wahrheit vor dem Hochzeitstage an’s Licht zu dringen gestrebt und noch einmal hatte Blanche unschuldigerweise der Dunkelheit geholfen, die Wahrheit dem Lichte vorzuenthalten.


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