Mann und Weib



Fünfundsechzigstes Kapitel - Das Ende

Wenige Minuten vor sechs Uhr abends langten Geoffrey und Anne in Lord Holchester’s Wagen wieder vor dem Hause an. Geoffrey verhinderte den Diener zu klingelnz er hatte beim Verlassen des Hauses den Schlüssel der Pforte mit sich genommen. Nachdem er Anne eingelassen und die Pforte wieder geschlossen hatte, ging er ihr voraus nach dem Küchenfenster und rief Hester Dethridge.

»Bringen Sie etwas kaltes Wasser in’s Wohnzimmer«, sagte er, »und füllen Sie die Blumenvase auf dem Kaminaufsatz. Je eher Du die Blumen in’s Wasser stellst«, fügte er zu seiner Frau gewandt hinzu, »desto länger werden sie dauern«. Er deutete dabei auf ein Bouquet, welches Anne in der Hand hielt, und welches Julius in dem Treibhaus in Holchester House für sie gepflückt hatte. Dann überließ er es ihr, die Blumen in der Vase zu arrangiren und ging hinauf. Nachdem er einen Augenblick gewartet hatte, folgte ihm Hester Dethridge.

»Fertig?« fragte er flüsternd.

Hester nickte mit dem Kopfe. Geoffrey zog seine Stiefeln aus und ging Hester voran in das Fremdenzimmer. Geräuschlos rückten sie das Bett wieder an seine Stelle an der Scheidewand und verließen darauf das Zimmer wieder. Als Anne einige Minuten später das Zimmer betrat, war für sie, seit sie dasselbe um Mittag verlassen hatte, nicht das Mindeste in demselben verändert.

Sie legte Hut und Ueberwurf ab und setzte sich nieder, um auszuruhen.

Alle Vorgänge seit dem vorigen Abend waren nur dazu geeignet gewesen, ihre Besorgnisse zur zerstreuen. Sie konnte sich unmöglich der Ueberzeugung verschließen, daß sie sich ohne den geringsten Grund durch den Schein hatte täuschen und sich von einem eingebildeten Verdacht unnöthigerweise hatte beunruhigen lassen. In dem sichern Glauben, daß sie in Gefahr sei, hatte sie die ganze Nacht durchwacht, und es war nichts vorgefallen.

In der festen Annahme, daß Geoffrey entschlossen sei, sein Versprechen nicht zu erfüllen, hatte sie abgewartet, unter welchem Vorwande er sie im Hause zurückhalten würde. Zur verabredeten Zeit des Besuchs hatte sie ihn durchaus bereit gefunden, sein Versprechen zu erfüllen. In Holchester House hatte er auch nicht den leisesten Versuch gemacht, sie in der Freiheit ihrer Bewegungen und ihrer Sprache zu beschränken. Entschlossen, Sir Patrick mitzutheilen, daß sie ihr Zimmer habe wechseln müssen, hatte sie ihm in Geoffrey’s Gegenwart den Feuerlärm und was sich in Folge dessen zugetragen hatte, mit allen Einzelheiten geschildert, ohne auch nur ein einziges Mal von Geoffrey unterbrochen worden zu sein. Sie hatte sich vertraulich mit Blanche unterhalten und war auch daran nicht gehindert worden.

Bei einem Gang durch das Treibhaus hatte sie, ohne daß Geoffrey sich gerührt hätte, mit Sir Patrick zurückbleiben können, um ihm ein Wort des Dankes zu sagen und ihn zu fragen, ob er das Benehmen Geoffrey’s wirklich so auffasse, wie Blanche es ihr gesagt hatte.

Sie hatten sich wohl zehn Minuten allein mit einander unterhalten. Sir Patrick hatte sie versichert, daß Blanche seine Auffassung ganz wiedergegeben habe. Er hatte es als seine Ueberzeugung ausgesprochen, daß ein rücksichtslos rasches Handeln in ihrem Falle am Platz sei und daß sie gut thun würde, unter seinem Beistand ihrerseits den ersten Schritt zur Trennung zu thun. »So lange er Sie unter demselben Dach bei sich festhalten kann«, hatte Sir Patrick gesagt, »so lange wird er auf unser ängstliches Verlangen speculiren, Sie aus Ihrer jetzigen unglücklichen Lage zu befreien, und so lange wird er seinem Bruder gegenüber die Rolle des reuigen Gatten fortspielen und bessere Bedingungen zu erwirken suchen. Setzen Sie das Licht vor’s Fenster, und unternehmen Sie die Sache diese Nacht. Wenn Sie nur erst einmal bis an die Gartenpforte gelangt sind, so unternehme ich es, Sie für ihn unerreichbar zu machen, bis er sich durch seine Unterschrift verpflichtet hat, in die Trennung zu willigen.«

Mit diesen Worten hatte er Anne zu einem raschen Handeln gedrängt, und sie hatte ihm versprochen, sich von seinem Rathe leiten zu lassen.

Als sie dann wieder in den Salon zurückgekehrt war, hatte Geoffrey keinerlei Bemerkung über ihr Ausbleiben gemacht; auch bei ihrer Rückfahrt, die sie mit ihm allein in dem Wagen seines Bruders machte, hatte er sie nichts gefragt. Was mußte sie nach den ihr zur Beurtheilung vorliegenden Thatsachen aus allen Diesem schließen? Konnte sie Sir Patrick in’s Herz schauen und darin lesen, daß er ihr absichtlich seine wahre Ueberzeugung verberge, aus Furcht, ihre Energie zu lähmen, wenn er ihr die Besorgniß, die er für sie empfand, wirklich eingestände? Nein, sie konnte Nichts thun, als dem falschen Schein, der sie in der Gestalt der Wahrheit umgab, trauen. Sie konnte sich nur in gutem Glauben Sir Patricks angebliche Auffassung der Sachlage aneignen und unter Zuhülfenahme ihrer eigenen Beobachtungen diese Auffassung für richtig halten.

Gegen Abend fing Anne an, die Erschöpfung zu fühlen, welche die natürliche Folge einer schlaflosen Nacht ist. Sie klingelte und verlangte Thee. Hester Dethridge erschien, statt aber das gewöhnliche Zeichen zu machen, stand sie eine Weile nachdenklich da und schrieb dann die folgenden Worte auf ihre Tafel: »Ich muß jetzt, so lange das Mädchen fort ist, alle Arbeit allein thun, wenn Sie Ihren Thee unten im Wohnzimmer nehmen wollten, würden Sie mir eine Treppe sparen.

Anne war sofort bereit, dieser Bitte zu willfahren.

»Sind Sie krank Z« fragte sie, indem sie trotz der Dämmerung eine sonderbare Veränderung in Hester’s Wesen bemerkte.

Ohne aufzusehen, schüttelte Hester den Kopf.

»Ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet?«

Hester schüttelte abermals den Kopf.

»Habe ich Sie beleidigt?«

Hester trat plötzlich einen Schritt vor, sah Anne in’s Gesicht, ließ dann wie ein Schmerzenslaut klingendes, dumpfes Stöhnen vernehmen und eilte zum Zimmer hinaus.

Anne glaubte annehmen zu müssen, daß sie unabsichtlich etwas gesagt oder gethan habe, wodurch sich Hester verletzt fühle und beschloß, bei erster passender Gelegenheit auf diesen Gegenstand zurückzukommen. Einstweilen ging sie hinunter. Durch die weitgeöffnete Thür des Speisezimmers sah sie Geoffrey am Tische, aus welchem vor ihm die verhängnißvolle Branntweinflasche stand, sitzen und einen Brief schreiben. Nach dem, was Mr. Speedwell ihr gesagt hatte, hielt sie es für ihre Pflicht, Geoffrey zu warnen, und erfüllte diese Pflicht, ohne einen Augenblick zu zaudern.

»Verzeih’, wenn ich Dich unterbreche«, sagte sie. »Du hast wohl vergessen, was Dir Mr. Speedwell gesagt hat.«

Dabei deutete sie auf die Branntweinflasche. Geoffrey warf einen Blick auf die Flasche, sah dann wieder auf seinen Brief und schüttelte ungeduldig den Kopf. Sie versuchte es zum zweiten Mal, ihm Vorstellungen zu machen, aber mit nicht besserem Erfolge. Er sagte nur mit leiserer Stimme als gewöhnlich: »Schon gut!« und fuhr fort, sich mit seinem Brief zu beschäftigen. Anne, der es völlig nutzlos erschien, sich zum dritten Mal abweisen zu lassen, ging in’s Wohnzimmer.

Der Brief, den Geoffrey schrieb, war an Mrs. Glenarm gerichtet und eine Antwort auf ihre Mittheilung, daß sie im Begriff sei, London zu verlassen. Er war grade mit seinen beiden Schlußsätzen fertig gewesen, als Anne ihn angeredet hatte. Dieselben lauteten wie folgt: »Vielleicht werde ich Dir binnen Kurzem eine Nachricht zu bringen haben, die Du nicht erwartest. Bleib bis morgen, wo Du bist, und warte, bis Du von mir hörst.«

Nachdem er den Brief gesiegelt hatte, leerte er sein vor ihm stehendes Glas mit Branntwein und Wasser und blieb dann, durch die offene Thür blickend und wie auf Etwas wartend, sitzen.

Als Hester mit dem Theebret über den Vorplatz in’s Wohnzimmer ging, gab er das zwischen ihnen verabredete Zeichen. Er klingelte Hester kam wieder aus dem Wohnzimmer und schloß die Thür desselben hinter sich.

»Trinkt sie jetzt ihren Thee und sind wir sicher vor ihr?« fragte er, indem er seine schweren Stiefel auszog und in die für ihn bereitstehenden Pantoffeln schlüpfte.

Hester nickte mit dem Kopf.

Er deutete nach oben. »Gehen Sie voran«, flüsterte er. »Machen Sie keine Geschichten und kein Geräusch!«

Sie gings hinauf und er folgte ihr langsamen Schritts. Obgleich er nun ein Glas Branntwein und Wasser getrunken hatte, war doch sein Gang bereits unsicher geworden. Die eine Hand gegen die Mauer, die andere auf das Treppengeländer gestützt, ging er die Treppe hinauf.

Oben angelangt, stand er einen Augenblick still, folgte dann Hester in sein Schlafzimmer und verschloß leise die Thür.

»Nun?« sagte er.

Regungslos stand sie in der Mitte des Zimmers, nicht wie ein lebendes Wesen, sondern wie eine Maschine, die der Hand harrt, die sie in Bewegung setzen soll.

Da er sie vergebens angeredet hatte, berührte er sie mit einem eigenthümlichen Widerwillen und deutete auf die Scheidewand. Die Berührung erweckte sie aus ihrer Erstarrung. Langsamen Schritts und mit stieren Augen, wie wenn sie nachtwandle, trat sie an die mit einer Tapete bekleidete Scheidewand heran, kniete an der Fußleiste nieder und zog zwei kleine scharfe Nägel, mit denen die Tapete an dieser Fußleiste befestigt war, heraus; hierauf einen langen Tapetenstreifen, der von der darunter befindlichen Gypswand abgelöst war, in die Höhe hebend, stieg sie auf einen Stuhl, und befestigte ihn oben mit den beiden Nägeln.

Bei dem letzten Schein der Abenddämmerung betrachtete Geoffrey mit stieren Blicken die Wand.

Sein Auge fiel auf einen leeren Raum. In einer Höhe von etwa drei Fuß vom Boden waren die Latten so weg gesägt und der Gyps so entfernt, daß ein Loch entstand, das hoch und weit genug war, um dem hindurchgesteckten Arm eines Mannes die freieste Bewegung nach allen Richtungen hin zu gestatten. Nur die an der anderen Seite des Loches befindliche Tapete hinderte noch Augen und Hände, von dieser Seite aus in das nächste Zimmer zu dringen.

Hester stieg wieder von dem Stuhl herab und deutete durch Zeichen an, daß sie ein Licht brauche.

Geoffrey nahm ein Zündholz aus einer kleinen Dose. Dieselbe sonderbare Unsicherheit, die sich vorher schon an seinem Gang bemerklich gemacht hatte, schien sich jetzt auch seiner Hände bemächtigt zu haben.

Er strich das Zündholz so heftig gegen das Sandpapier, daß es zerbrach. Er versuchte es mit einem zweiten, strich aber dieses Mal zu leise, um eine Flamme zu entzünden. Hester nahm ihm die Dose aus der Hand, zündete selbst das Licht an und deutete aus die Fußleiste. In der Nähe des Theiles der Wand, von welchem der Tapetenstreifen abgelöst war, waren zwei kleine Haken in den Fußboden befestigt. Zwei Stücke feinen starken Bindfadens waren um die Haken gewickelt.

Die losen unteren Enden des Bindfadens, die ziemlich weit herabhingen, waren wieder zierlich zusammengewickelt auf die Fußleiste gelegt. Die oberen Enden waren straff durch zwei kleine Löcher hindurchgezogen, die etwa einen Fuß hoch vom Boden in die Wand gebohrt waren.

Nachdem sie zuvor die Bindfaden von den Haken abgewickelt hatte, stand Hester auf und hielt das Licht so, daß das Loch in der Wand davon beleuchtet wurde. Hier lagen noch zwei Stücke feinen Bindfadens lose auf der unebenen Oberfläche, welche das Loch nach unten hin begrenzte. An diesen Bindfaden zog Hester den auch im Nebenzimmer von der Wand gelösten Tapetenstreifen in die Höhe, indem die unteren Bindfäden, welche bis dahin den Streifen an dem unversehrt gebliebenen Theil der Wand festgehalten hatten, in ihren Löchern nachgaben und die Tapete unbehindert in die Höhe gehen ließen. Während die Tapete so höher und höher gezogen wurde, bemerkte Geoffrey, daß auf die Rückseite derselben in gewissen Zwischenräumen dünne Streifen Watte geklebt waren, um so ein kratzendes Geräusch beim Aufziehen der Tapete zu vermeiden.

Langsam ging der Tapetenstreifen in die Höhe, bis derselbe durch die Höhlung gezogen und seitwärts festgesteckt werden konnte, wie es vorher mit dem diesseitigen Streifen geschehen war.

Hester trat bei Seite, um Geoffrey Platz zu machen, damit er bequem durch die Höhlung blicken könne. Da lag Anne’s Zimmer vor ihm. Leise nahm er die leichten Vorhänge, die über dem Bett hingen auseinander. Da lag das Kissen, auf welchem ihr Haupt in wenig Stunden ruhen sollte, für seine Hände erreichbar.

Die fürchterliche Geschicklichkeit, mit der diese Vorrichtung hergestellt war, machte, daß es ihm eiskalt überlief. Seine Nerven waren der Sache nicht gewachsen. Von schuldbewußter Angst ergriffen, fuhr er zurück und blickte im Zimmer umher. Auf dem Nachttisch neben seinem Bett lag ein Branntweinfläschchen. Er griff danach, leerte es auf einen Zug und fühlte sich wieder so kräftig wir zuvor.

Er winkte Hester zu ihm zu treten.

»Ehe wir weiter vorgehen«, sagte er. »muß ich noch Eins wissen. Wie bringen wir das Alles wieder in Ordnung? Wie, wenn dieses Zimmer untersucht würde? Diese Bindfaden würden gegen mich aussagen.«

Hester öffnete einen Schrank, holte einen verkorkten Krug aus demselben hervor und nahm den Pfropfen ab. In dem Krug befand sich eine dicke klebrige Flüssigkeit, die wie Leim aussah. Theils durch Zeichen, theils mit Hilfe ihrer Tafel, zeigte Hester Geoffrey, wie die Flüssigkeit auf die Rückseite des Tapetenstreifens im nächsten Zimmer gebracht, wie die Tapete durch Anziehen der Bindfaden auf den unteren unversehrten Theil der Wand festgeklebt und wie die Bindfaden, nachdem sie ihre Dienste geleistet, sicher entfernt werden könnten. Sie zeigte ihm, wie endlich dasselbe Verfahren in Geoffrey’s Zimmer beobachtet werden könne, nachdem zuvor die Höhlung mit den in der Aufwaschküche bereitliegenden Materialien wieder ausgefüllt sein würde oder auch zur Noth, falls es an Zeit fehlen sollte, ohne Wiederauffüllung derselben. In beiden Fällen würde die wieder an die Wand befestigte Tapete Alles verbergen und die Wand würde nichts verrathen.

Geoffrey war befriedigt. Jetzt deutete er auf die im Zimmer hängenden Handtücher.

»Nehmen Sie einmal eines davon«, sagte er, »und zeigen Sie mir mit Ihren eigenen Händen, wie Sie es gemacht haben.«

Während er diese Worte sprach, erklang Anne’s Stimme von unten, die nach Mrs. Dethridge rief.

Das war schlimm! Man mußte auf Alles gefaßt sein. Im nächsten Augenblick konnte Anne möglicherweise auf ihr Zimmer gehen und Alles entdecken. Geoffrey deutete auf die Wand und sagte. »Bringen Sie das wieder in Ordnung, auf der Stelle!«

Das war bald geschehen. Alles, was zu thun nöthig war, die beiden Tapetenstreifen wieder herabfallen zu lassen, den Streifen in Anne’s Zimmer durch Anziehen der untern Bindfaden wieder zu befestigen und dann die Nägel, mit welchen der abgelöste Streifen in Geoffrey’s Zimmer seitwärts befestigt war, wieder an ihre Stelle zu bringen. In einer Minute sah die Wand wieder aus, als ob nichts mit derselben vorgenommen wäre.

Hester und Geoffrey schlichen sich hinaus und blickten über das Treppengeländer auf den Vorplatz hinunter.

Nachdem sie zum zweiten Mal vergebens gerufen hatte, trat Anne auf den Vorplatz hinaus ging nach der Küche, kam mit dem Kessel in der Hand zurück, ging wieder in’s Wohnzimmer und schloß die Thür hinter sich.

Hester wartete in stumpfer Ruhe auf Geoffrey’s weitere Ordres. Aber er hatte keine weitere Ordres zugeben. Die scheußliche Vorstellung des von Hester begangenen Verbrechens, die Geoffrey verlangt hatte, war durchaus nicht mehr nothwendig; die Mittel zur Vollführung des Verbrechens lagen alle bereit und die Art ihrer Benutzung ergab sich von selbst. Es fehlte nichts mehr zur Ausführung als die Gelegenheit und der Entschluß, sich ihrer zu bedienen. Geoffrey gab Hester ein Zeichen, hinunter zu gehen, und sagte: »Gehen Sie wieder in die Küche, bevor sie nochmals herauskommt. Ich werde mich im Garten aufhalten. Sobald sie auf ihr Zimmer geht, um sich zu Bett zu legen, zeigen Sie sich an der Hinterthür und ich weiß Bescheid.«

Hester setzte ihren Fuß auf die erste Stufe, stand dann wieder still, wandte sich um, ließ ihre Blicke langsam längs der beiden Wände des Vorplatzes von einem Ende bis zum andern schaudernd hingleiten, schüttelte den Kopf und ging dann langsam die Treppe hinunter.

»Wonach haben Sie gesehen?« flüsterte er ihr zu.

Aber sie antwortete nicht, wandte sich auch nicht nach ihm um, sondern ging, ohne sich weiter aufzuhalten, hinunter und in die Küche. Er wartete einige Augenblicke und folgte ihr dann. Auf seinem Wege nach dem Garten trat er in’s Speisezimmer. Der Mond war aufgegangen und die Fensterläden noch nicht geschlossen. Es war ihm daher leicht, den Branntwein und die Wasserflasche auf dem Tisch zu finden. Er mischte sich ein Glas Branntwein und Wasser und leerte es aus einen Zug. »Mir ist sonderbar zu Muthe«, murmelte er vor sich hin, fuhr sich mit dem Taschentuch über das Gesicht und sagte: »Wie höllisch heiß es heute Abend ist!« Dann ging er nach der Thür, die offen stand und im Mondschein deutlich erkennbar war; gleichwohl verfehlte er sie und machte zwei Mal zu beiden Seiten der Thür den vergeblichen Versuch, durch die Wand zu gehen. Erst das dritte Mal gelang es ihm, hinauszukommen und den Garten zu erreichen. Ein sonderbares Gefühl bemächtigte sich seiner, während er im Garten unausgesetzt in die Runde ging. Er hatte nicht so viel getrunken, daß er davon hätte berauscht sein Können. Sein Geist war, wenn schon stumpf und matt, doch so frei wie immer, aber seine körperlichen Empfindungen waren die eines Betrunkenen.

Der Abend verging, die Thurmuhr schlug zehn. Anne trat wieder aus dem Wohnzimmer ihren Bettleuchter in der Hand. »Löschen Sie die Lichter aus«, rief sie Hester durch die Küchenthür zu, »ich gehe hinauf.«

Mit diesen Worten ging sie auf ihr Zimmer. Die durch die Schlaflosigkeit der vorigen Nacht hervorgebrachte Müdigkeit lastete mit unendlicher Schwere auf ihr. Sie verschloß ihre Thür unterließ es aber dieses mal, die Riegel vorzuschieben. Die Furcht vor einer unbekannten Gefahr beherrschte sie nicht mehr; während dagegen das Vorschieben der Riegel das geräuschlose Verlassen des Zimmers während der Nacht erschwert haben würde. Sie entkleidete sich, strich sich das Haar von den Schläfen zurück und ging erschöpft und nachdenklich im Zimmer auf und ab. Geoffrey war in seinen Lebensgewohnheiten sehr unregelmäßig, Hester ging selten früh zu Bett. Wenigstens zwei, vielleicht drei Stunden mußte Anne noch vergehen lassen, bevor sie gefahrlos das mit Sir Patrick verabredete Zeichen an’s Fenster stellen konnte, ihre Kräfte versagten ihr.

Wenn sie noch zwei bis drei Stunden der Ruhe entbehrte, deren sie so sehr bedurfte, so mußte sie befürchten, daß ihr in dem Augenblick, wo es gelten würde, der Gefahr in’s Angesicht zu sehen und den Versuch zu machen, zu entkommen, aus reiner Erschöpfung der Muth fehlen würde. Schon jetzt konnte sie sich des Schlafes kaum mehr erwehren, und doch war er ihr unentbehrlich. Daß sie den rechten Augenblick verschlafen würde, brauchte sie nicht zu fürchten Anne konnte sich, wie die meisten fein organisirten Menschen, fest darauf verlassen, daß sie, wenn sie mit dem Bewußtsein einschlief, zu einer bestimmten Zeit wieder erwachen zu müssen, instinctiv um jene Zeit aufwachen würde.

Sie stellte ihr brennendes Licht an eine ungefährliche Stelle und legte sich aufs Bett. In wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.

Die Uhr schlug ein Viertel vor elf. Hester Dethridge erschien an der zum Garten führenden Hinterthür des Hauses. Geoffrey kam über den Rasen her auf sie zu. Das Licht der auf dem Vorplatz brennenden Lampe fiel auf sein Gesicht. Sie fuhr bei seinem Anblick zurück.

»Was ist Ihnen?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf und deutete durch die geöffnete Thür des Speisezimmers auf die Branntweinflasche hin.

»Ich bin so nüchtern wie Sie, Sie Närrin!« sagte er. »Ich weiß nicht, was ich habe, aber das ist es nicht.«

Hester sah ihn wieder an. Er hatte Recht, wie unsicher auch sein Gang war, seine Sprache und seine Augen waren nicht die eines Betrunkenen.

»Ist sie zu Bett gegangen?«

Hester nickte.

Geoffrey ging, hin und her schwankend, die Treppe hinauf. Oben blieb er stehen und winkte Hester, ihm zu folgen. Darauf ging er in sein Zimmer und schloß, nachdem sie auf ein von ihm gegebenes Zeichen mit ihm hineingegangen war, die Thür. Hier blickte er auf die Scheidewand, ohne an dieselbe heranzutreten. Hester stand wartend hinter ihm.

Schläft sie?« fragte er.

Hester trat dicht an die Wand heran, horchte und nickte mit dem Kopf.

Er setzte sich nieder und sagte: »Mir ist sonderbar zu Ruthe, geben Sie mir ein Glas Wasser.« Er trank ein paar Schluck und goß sich den Rest über den Kopf. Hester ging nach der Thür, um das Zimmer zu verlassen aber er hielt sie zurück. »Ich kann die Bindfaden nicht abwickeln und die Tapete nicht aufziehen. Thun Sie das!« Aber sie weigerte sich dessen entschieden und öffnete entschlossen die Thür, um hinauszugehen.

»Wollen Sie Ihr Bekenntniß wiederhaben?« fragte er. Auf der Stelle schloß sie wieder die Thür mit einer stumpfergebenen Miene und ging aus die Scheidewand zu. Sie nahm die losen Tapetenstreifen auf beiden Seiten der Wand in die Höhe, deutete durch die Höhlung auf Anne’s Zimmer und trat dann wieder an das andere Ende des Zimmers zurück.

Er stand auf und ging unsicheren Schritts von seinem Stuhl an das Fußende seines Bettes, hielt sich hier an dem Bettpfosten fest und wartete ein wenig. Während dieser Zeit wurde er sich einer Veränderung in den eigenthümlichen Empfindungen die ihn beherrschten bewußt. Es war ihm, als ob ein kalter Luftzug die rechte Seite seines Kopfes anwehe. Sein Schritt wurde wieder sicher, er konnte die Entfernungen wieder berechnen, konnte seine Hände durch die Höhlung stecken, um die leichten Vorhänge, die von dem an der Decke befindlichen Haken auf das Kopfende von Anne’s Bett herabhingen, auseinanderziehen. Er konnte bei dem Schein des am andern Ende von Annes Zimmer brennenden Lichtes die Züge seines schlafenden Weibes erkennen. Der Ausdruck der Erschöpfung war von demselben verschwunden. Der tiefe Schlaf, der sie umfangen hielt, schien die reinsten und lieblichsten Züge, die ihr Antlitz in vergangenen Tagen getragen hatte, wie auf dasselbe gezaubert zu haben.

Bei dein trüben Schein des Lichtes sah sie in der friedlichen Ruhe, die sich über sie ergossen hatte, wieder jung und schön aus. Ihr Kopf ruhte gerade auf dem Kissen. Ihr Gesicht war in Folge dessen so nach aufwärts gewandt, daß sie ganz dem Manne preisgegeben war, der jetzt ihr schlafendes Antlitz mit dem erbarmungslosen Entschluß betrachtete, ihr das Leben zu nehmen.

Nach einer Weile trat er wieder zurück. »Sie sieht heute Abend mehr wie ein Kind, als wie eine Frau aus«, murmelte er vor sich hin. Dann warf er Hester Dethridge einen Blick zu. Das Licht, das sie mit hinaufgebracht hatte, brannte dicht neben ihr.

»Blasen Sie es aus!« flüsterte er.

Sie rührte sich nicht. Er wiederholte seine Weisung, aber sie schien taub für seine Worte zu sein. Ihre starren Blicke waren auf eine Ecke des Zimmers geheftet.

Er wandte sich abermals nach der Höhlung in der Wand um und blickte wieder auf das friedliche, auf dem Kopfkissen ruhende Gesicht. Geflissentlich hielt er sich die Schuld der Rache vor, die er an sie abzutragen habe.

»Wenn Du nicht wärst«, flüsterte er vor sich hin, »hätte ich das Wettrennen gewonnen; wenn Du nicht wärst, hätte ich mich mit meinem Vater ausgesöhnt; wenn Du nicht wärst, könnte ich Mrs. Glenarm heirathen.« Mit dem gesteigerten Gefühl seines Rachebedürfnisses trat er wieder von der Wand zurück, blickte im Zimmer nach allen Seiten umher, ergriff ein Handtuch, ging einen Augenblick mit sich zu Rathe und warf es wieder hin.

Ein neuer Gedanke fuhr ihm durch den Kopf. Mit einem Schritt stand er an seinem Bett, ergriff eines der Kopfkissen und blickte plötzlich wieder nach Hester hin. »Dieses Mal«, sagte er, »haben wir es nicht mit einer betrunkenen Bestie, sondern mit einem Weibe zu thun, das ihr Leben bis auf’s Aeußerste vertheidigen wird. Das Kissen ist sicherer als das Handtuch.«

Hester erwiderte weder seinen Blick noch seine Anrede. Wieder ging er auf die Höhlung in der Wand zu, blieb aber in der Mitte des Weges zwischen seinem Bett und der Höhlung stehen und blickte rückwärts über seine Schulter.

Jetzt endlich rührte sich Hester. Obgleich sich keine dritte Person im Zimmer befand, waren ihre Bewegungen und ihre Blicke doch durchaus so, als ob sie von der Ecke an, einer Person längs der Wand hin folge. Ihre Lippen waren wie von Entsetzen gelähmt, weit geöffnet, ihre unheimlich glänzenden Augen stierten nach der leeren Wand. Schritt für Schritt schlich sie sich, anscheinend noch immer einem Phantome folgend, näher und näher an Geoffrey heran. Er fragte sich, was das zu bedeuten haben könne? War das Weib von dem Entsetzen über die That, die er zu thun im Begriff stand, überwältigt? Mußte er fürchten, daß sie laut aufschreien und sein Weib wecken würde?

Er eilte rasch an die Höhlung in der Wand, um den Augenblick zu benutzen, so lange er noch sein war. Er ergriff das Kissen, bückte sich, um es durch die Oeffnung in der Wand hindurchzuschieben und hielt es über Anne’s schlafendes Gesicht. Aber in demselben Augenblick fühlte er, wie sich Hester Dethridge’s Hand von hinten her auf ihn legte. Bei der Berührung durchzuckte es ihn vom Kopf bis Fuß eiskalt. Erschreckt fuhr er zurück und sah ihr in’s Gesicht. Ihre Augen stierten fortwährend über seine Schultern weg, wie nach etwas hinter ihm Befindlichen, gerade wie sie damals in dem Garten von Windygates gestiert hatten.

Noch ehe er den Mund zum Reden öffnen konnte, fühlte er ihren Blick in seinen Augen. Zum dritten Mal hatte sie die Erscheinung hinter Ihm gesehen. Der Mordwahnsinn hatte sich ihrer wieder bemächtigt. Wie sein wildes Thier flog sie ihm an die Kehle, das schwache alte Weib griff den Athleten an!

Er warf das Kissen hin und erhob seinen gewaltigen rechten Arm, um sie wie ein lästiges Insect abzuschütteln. Aber in dem Moment, wo er seinen Arm erhob verzerrte sich plötzlich sein Gesicht in gräßlicher Weise, wie wenn eine unsichtbare Gewalt die Augenbrauen, das Augenlid und den Mund an der rechten Seite gewaltsam herabzöge. Der erhobene Arm sank hilflos nieder, die ganze rechte Seite des Körpers schien zusammenzubrechen und er sank zu Boden wie ein von einer Kugel zu Tode getroffener Mensch. Hester Dethridge stürzte sich auf den am Boden liegenden Körper, drückte die Kniee fest auf seine breite Brust und packte ihn mit den ausgespreizten Fingern beider Hände an der Gurgel. —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— —— ——

Das Geräusch des zu Boden fallenden Körpers erweckte Anne auf der Stelle. Sie fuhr auf, blickte umher und sah das Loch in der Wand über dem Kopfende ihres Bettes, und durch dasselbe den Schimmer des im nächsten Zimmer brennenden Lichtes. Vom Entsetzen ergriffen, einen Augenblick zweifelhaft, ob sie wache oder träume, fuhr sie wieder zurück und horchte scharf beobachtend. Sie sah nichts als das matt brennende Licht im andern Zimmer; sie hörte nichts als ein heiseres Keuchen, wie wenn Jemand nach Lust schnappe. Eine Weile war es ganz still; dann aber wurde der Kopf Hester Dethridge’s, die sich mit dem Ausdruck des Wahnsinns langsam erhob und Anne mit irren Blicken anstierte, durch die Höhlung sichtbar.

Anne stürzte an das Fenster, riß es auf und rief nach Hilfe.

Sir Patricks Stimme antwortete ihr von der an der Vorderseite des Gartens vorüberführenden Landstraße her.

»Warten Sie auf mich, um Gottes Willen!" rief sie.

Sie eilte zum Zimmer hinaus, die Treppe hinab. Im nächsten Augenblick war sie im Vordergarten. Während sie nach der Pforte lief, hörte sie die Stimme eines Fremden von Außen her. Sir Patrick rief ihr ermuthigende Worte zu. »Wir haben einen Polizeiofficianten bei uns«, sagte er, »der nächtliche Patrouille hier hat und einen Schlüssel zum Garten bei sich führt.«

Bei diesen Worten wurde die Pforte von Außen geöffnet und vor derselben standen Sir Patrick, Arnold und der Polizeiofficiant.

Anne schwankte ihnen entgegen, als sie in die Pforte eintraten, sie hatte gerade noch Kraft genug um zu sagen: »Oben!« Dann sank sie in Ohnmacht. Sir Patrick fing sie mit seinen Armen auf, legte sie auf die im Garten stehende Bank und blieb bei ihr, während Arnold und der Polizeiofficiant in das Haus eilten.

»Wohin sollen wir zuerst gehen?« fragte Arnold.

»In das Zimmer, von dem aus die Dame uns gerufen hat«, erwiderte der Polizeiofficiant.

Sie gingen die Treppe hinauf nach Anne’s Zimmer. Beide bemerkten auf der Stelle die Höhlung in der Wand. Sie saghen durch dieselbe hindurch. Da lag Geoffrey Delaman’s Leiche am Boden, während Hester Dethridge neben seinem Kopfe kniete und betete.


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