Mann und Weib



Achtundfünfzigstes Kapitel - Die Erscheinung

Es war schon fast Mitternacht, als Anne die Stimme der Magd vernahm, die sie durch die Thür bat, sie einen Augenblick sprechen zu dürfen.

»Was giebt es?«

»Der Herr wünscht Sie zu sprechen, Madame.«

»Meinen Sie Mr. Delamayn’s Bruder?«

»Ja.«

»Wo ist Mr. Delamayn?«

»Draußen im Garten, Madame«

Anne ging hinunter und fand Julius allein im Wohnzimmer.

»Es thut mir leid«, sagte er, »Sie stören zu müssen. Aber ich fürchte, Geoffrey ist krank. Die Wirthin ist, wie ich höre, zu Bett gegangen, und ich weiß nicht wie ich einen Arzt bekommen soll. Wissen Sie hier in der Nähe einen Arzt?«

Anne war in der Gegend eben so fremd wie Julius. Sie schlug ihm vor die Magd zu fragen.

Diese wußte, daß in einer Entfernung von zehn Minuten ein Arzt wohne. Sie erklärte, sie könne seine Adresse genau bezeichnen, möchte aber zu dieser späten Nachtstunde in dieser einsamen Gegend nicht selbst hingehen.

»Ist er ernsthaft krank?« fragte Anne.

»Er ist in einem solchen Zustand nervöser Reizbarkeit«, erwiderte Julius, »daß er es nicht zwei Minuten lang an derselben Stelle aushalten kann. Schon als er hier las, bemerkte ich eine auffallende Ruhelosigkeit an ihm. Ich überredete ihn, zu Bett zu gehen. Aber auch im Bett litt es ihn nicht, er kam alsbald von Fieberhitze glühend und noch ruheloser als vorher, wieder herunter. All’ meines Abrathens ungeachtet, ist er in den Garten gegangen, um, wie er sagt, zu versuchen sich durch Laufen zu curiren. Kommen Sie und urtheilen Sie selbst.«

Er führte Anne in’s Speisezimmer, öffnete den Fensterladen und wies nach dem Garten hinaus.

Die Wolken hatten sich verzogen, die Nacht war klar und schön. Es war hell genug um deutlich sehen zu können, wie Geoffrey bis auf Hemd und Beinkleider entkleidet, fortwährend in dem Garten herum lief. Offenbar glaubte er bei dem Wettrennen in Fulham zu sein. Von Zeit zu Zeit rief er im Laufen »Hurrah für den Süden.«

Das Langsamwerden seines Laufs, sein immer schwerer werdender Athem deuteten auf eine Abnahme seiner Kräfte. Eine Erschöpfung derselben mußte ihn, wenn sie keine schlimmeren Folgen nach sich zog, doch bald nöthigen in’s Haus zurückzukehren. »Wer konnte einem solchen Zustand nervöser Aufgeregtheit gegenüber sagen, was daraus entstehen würde, wenn man nicht rasch ärztliche Hilfe herbeischaffte?

»Ich will selbst zu dem Arzt gehen«, sagte Julius, »wenn es Ihnen nichts ausmacht so lange allein zu bleiben.«

Anne fühlte die Unmöglichkeit, ihre persönlichen Besorgnisse gegen die dringende Notwendigkeit, Hilfe herbei zu schaffen, geltend zu machen.

Sie fanden den Schlüssel zur Pforte oben in Geoffrey’s Rocktasche. Anne begleitete Julius durch den Garten, um ihn hinaus zu lassen.

»Wie soll ich-Ihnen danken«, sagte sie. »Was hätte ich ohne Sie anfangen sollen!«

»Ich werde so rasch« wie möglich wiederkommen«, antwortete er, und ging fort.

Sie verschloß die Pforte wieder und ging in’s Haus zurück. An der Thür trat ihr die Magd entgegen und schlug ihr vor, Hefter Dethridge zu wecken.

»Wir können nicht wissen«, sagte die Magd, »was mit dem Herrn werden mag, während sein Bruder fort ist. Und wir sind zu Dreien nicht zu viel, wo wir doch nur Frauen im Hause sind.«

»Sie haben ganz Recht«, entgegnete Anne, »wecken Sie Ihre Herrin.«

Sie gingen wieder nach dem ersten Stock hinauf und sahen durch das Fenster auf dem Vorplatz in den Garten hinab.

Geoffrey lief noch immer unausgesetzt rund herum, aber sehr langsam, sein Schritt war fast nur noch der eines Gehenden.

Anne ging wieder auf ihr Zimmer und setzte sich wartend in die Nähe der geöffneten Thür, bereit, dieselbe sofort zu schließen und zu verriegeln, wenn irgend etwas sie beunruhigen sollte.

»Wie ich mich verändert habe«, dachte sie, »alles erschreckt mich jetzt.«

Dieser Schluß war sehr natürlich, aber doch nicht richtig. Nicht sie, sondern ihre Lage hatte sich verändert.

Bei der Untersuchung in Lady Lundie’s Hause war nur ihr moralischer Muth auf die Probe gestellt worden. Jene Verhandlungen hatten nur jene edle Selbstaufopferung von ihr gefordert, deren Frauen in so hohem Grade fähig sind. Jetzt aber wurde ihr physischer Muth auf die Probe gestellt, hier trat die Aufforderung an sie heran, sich einer im Dunkeln lauernden, drohenden, körperlichen Gefahr gewachsen zu zeigen. Hier unterlag die weibliche Natur, hier konnte ihr Muth keine Kraft aus dem Quell ihrer Liebe schöpfen, hier handelte es sich um thierische Triebe, was hier von ihr gefordert wurde, war eine« Festigkeit, die der animalische Instinct nur dem männlichen Organismus gewährt.

Im nächsten Augenblick öffnete sich Hester Dethridge’s Thür sie ging direct in Anne’s Zimmer. Die gelbe Thonfarbe ihres Gesichts hatte einen Anflug von Röthe, in die steinerne Ruhe mischten sich Spuren von bewegtem Ausdruck. Die Augen waren zwar starr wie immer, hatten aber doch einen unheimlich, trüben Glanz. Ihr sonst so sauber geordnetes graues Haar drängte sich unordentlich unter ihrer Haube hervor. Alle ihre Bewegungen waren rascher als gewöhnlich. Irgend etwas mußte bei diesem Weibe die sonst stagnirende Lebenskraft geweckt haben, es arbeitete in ihr und das zeigte sich in dem Ausdruck ihres Gesichts. Die Dienstboten in Windygates hatten schon vor Zeiten diese Erscheinung bei Hester gekannt, und wohl gewußt, daß dieselbe als eine Warnung zu betrachten sei, Hester sich selbst zu überlassen. Anne fragte sie, ob sie gehört habe, was vorgefallen sei. Sie nickte mit dem Kopf.

»Ich hoffe, Sie sind nicht böse, daß man sie geweckt hat?«

Sie schrieb aus ihre Tafel: »Es ist mir lieb, daß man mich geweckt hat; ich hatte böse Träume. Es ist besser für mich, daß ich wach bin, wenn der Schlaf mich wieder in mein vergangenes Leben zurückführt. Was fehlt Ihnen denn? Fürchten Sie sich?«

»Ja.«

Sie schrieb abermals etwas auf ihre Tafel und deutete dann mit der einen Hand nach dem Garten, während sie mit der anderen die Tafel in die Höhe hielt. »Fürchten Sie sich vor ihm?«

»Entsetzlich!«

Nun schrieb Hester zum dritten Mal und hielt Anne die Tafel mit einem unheimlichen Lächeln unter die Augen. »Ich habe das Alles durchgemacht. Ich kenne das. Für Sie fängt die Sache jetzt erst an. Er wird schon dafür sorgen, daß Sie graue Haare und Runzeln bekommen. Es wird die Zeit kommen, wo Sie wünschen werden, sie wären todt und begraben. Aber es wird Ihnen nicht so gut werden, man stirbt nicht davon; sehen Sie nur mich an.«

In dem Augenblicke, wo Anne die letzten Worte las, hörte sie die nach dem Garten führende Hausthür sich öffnen und wieder schließen. Sie ergriff Hesters Arm und horchte. Man hörte Geoffrey’s schwere Fußtritte vom Vorplatz aus sich der Treppe nähern. Er sprach mit sich selbst, offenbar noch immer in der Vorstellung befangen, daß er beim Wettrennen sei. »Fünf gegen vier auf Delamayn! Delamayn gewinnt! Hurrah, und nochmals Hurrah für den Süden! Ein verflucht langes Rennen! Es ist schon dunkel! Perry! Wo ist Perry?«

Von einer Seite nach der anderen schwankend, ging er über den Vorplatz und stieg die Treppe hinauf, deren Stufen unter seinen Fußtritten knarrten. Hester machte sich von Anne los, ging mit ihrem Licht in der Hand nach Geoffrey’s Schlafzimmer, riß die Thür desselben weit auf, trat dann an die Treppe und wartete hier starr und fest wie ein steinernes Bild auf ihn. Als er bei dem nächsten Schritt aufblickend, Hester’s, von dem Kerzenlicht hell beleuchtetes auf ihn niederschauendes Gesicht sah, blieb er wie angewurzelt auf der Stufe stehen. »Geist! Hexe! Teufel!« schrie er, »sieh mich nicht so an!« Fluchend drohte er ihr mit geballter Faust, stürzte dann die Treppe wieder hinunter und schloß sich, um vor ihrem Anblick sicher zu sein, im Zimmer ein. Das Entsetzen, das ihn schon einmal in dem Küchengarten in Windygates bei dem Anblick der stummen Köchin ergriffen hatte, war jetzt abermals über ihn gekommen. Er fürchtete sich, fürchtete sich geradezu vor Hester Dethridge! In diesem Augenblick erscholl die Glocke an der Gartenpforte; Julius kam mit dem Arzt.

Anne gab der Magd den Schlüssel, um die Klingelnden einzulassen. Hester aber schrieb, vollkommen ruhig, als ob nichts vorgefallen wäre, auf ihre Tafel: »Wenn Sie smich brauchen, ich bin in meiner Küche; ich gehe nicht wieder in meine Schlafstube, ich fürchte mich vor den bösen Träumen.« Dann ging sie hinunter, während Anne oben an der Treppe stehen blieb und nach dem Vorplatz hinuntersah. »Ihr Bruder ist im Wohnzimmer«, rief sie dem eben eintretenden Julius von oben zu. »Sie finden die Wirthin, wenn Sie ihrer bedürfen sollten, in der Küche.« Darauf ging sie wieder in ihr Zimmer, um dort abzuwarten, was weiter geschehen werde.

Nach einer Weile hörte sie, wie die Thür des Wohnzimmers geöffnet wurde und vernahm gleich darauf die Stimmen der Männer auf dem Vorplatz. Sie schienen Mühe zu haben, Geoffrey zu überreden, die Treppe hinauf zu gehen; er weigerte sich beharrlich, weil, wie er erklärte, Hester Dethridge oben an der Treppe auf ihn warte.

Nach einer Weile gelang es ihnen endlich, ihn zu überzeugen, daß die Treppe jetzt frei sei. Anne hörte sie die Treppe herauf kommen und die Thür seines Schlafzimmers schließen. Es dauerte lange bis die Thür wieder geöffnet wurde. Der Arzt ging fort und sagte auf dem Vorplatz zu Julius:

»Sehen Sie während der Nacht von Zeit zu Zeit nach ihm und geben Sie ihm eine zweite Dosis von der beruhigenden Mixtur, wenn er aufwacht. Seine Ruhelosigkeit und sein Fieber sind an und für sich nicht beunruhigend, sind aber die Symptome eines tiefer liegenden ernsten Leidens. Schicken Sie morgen zu dem Arzt, der ihn zuletzt behandelt hat; in diesem Falle ist die Bekanntschaft mit der Constitution des Patienten von besonderer Wichtigkeit.« Als Julius, der dem Arzt die Pforte wieder geöffnet hatte, zurückkam, traf er Anne unten auf dem Vorplatz. Sie wurde sofort von dem übermüdeten Ausdruck seines Auges, und der Erschöpfung, die sich in seiner ganzen Haltung aussprach, frappirt.

»Sie bedürfen der Ruhe«, sagte sie, »bitte gehen Sie zu Bett: Ich habe gehört, was der Arzt Ihnen gesagt hat: überlassen Sie es der Wirthin und mir, aufzubleiben.«

Julius gestand, daß er die ganze vorige Nacht von Schottland her durchgereist sei, weigerte sich aber doch jemand Anderem die Verantwortlichkeit zu überlassen bei seinem Bruder zu wachen.

»Sie sind nicht stark genug, um das für mich zu übernehmen«, sagte er freundlich. »Und gegen die Wirthin hat Geoffrey einen unbegreiflichen Widerwillen, der es sehr wünschenswerth erscheinen läßt, daß er sie in seinem gegenwärtigen Zustande nicht wieder zu Gesicht bekommt. Ich will auf mein Zimmer gehen, und mich aufs Bett legen; wenn Sie etwas hören, brauchen Sie nur an meine Thür zu klopfen und mich zu rufen.«

Eine Stunde verging, ohne daß die im Hause herrschende Ruhe durch irgend Etwas gestört worden wäre.

Anne ging an Geoffrey’s Thür und horchte. Er wälzte sich unruhig in seinem Bette hin und her und sprach mit sich selbst. Dann ging sie an die Thür des nächsten Zinuners, welche Julius angelehnt gelassen hatte. Die Müdigkeit hatte ihn überwältigt; sie hörte das ruhige Athmen eines in gesundem Schlafe liegenden Mannes. Anne trat, entschlossen ihn nicht zu stören, wieder zurück, schwankte aber, was sie jetzt beginnen solle.

Das Entsetzen, das sie bei dem Gedanken ergriff, Geoffrey’s Zimmer allein zu betreten, war unüberwindlich. Aber wer anders sollte es thun? Die Magd war zu Bett gegangen. Gegen den von Julius angeführten Grund, aus welchem er sich des Beistands Hester Dethridge’s nicht bedienen wolle, ließ sich nichts einwenden. Sie horchte wieder an Geoffrey’s Thür. Jetzt war von außen kein Laut mehr zu hören. Sollte es nicht richtig sein, hineinzugehen und sich zu vergewissern, daß er nur wieder eingeschlafen sei? Sie zauderte abermals, als Hester Dethridge aus der Küche hinauf kam. Als sie oben angekommen, Anne’s ansichtig wurde, sah sie ihr in’s Gesicht« und schrieb dann auf ihre Tafel: »Fürchten Sie sich hinein zu gehen? Ueberlassen Sie’s mir.«

Die jetzt in Geoffrey’s Zimmer herrschende Stille rechtfertigte den Schluß, daß er schlafe. Jetzt konnte es also nichts schaden, wenn Hester hineinging. Anne nahm daher Hester’s Anerbieten an.

»Wenn Sie etwas nicht in Ordnung finden.« sagte sie, »stören Sie seinen Bruder nicht, sondern kommen Sie erst zu mir.« Nach dieser Weisung zog sie sich zurück. Es war fast zwei Uhr Morgens. Wie Julius wurde sie von der Müdigkeit überwältigt; nachdem sie ein wenig gewartet und nichts gehört hatte, warf sie sich auf das Sopha in ihrem Zimmer. Sie sagte sich, daß wenn etwas vorfallen sollte, ein Klopfen an der Thür sie augenblicklich erwecken würde.

Inzwischen öffnete Hester Dethridge die Thür von Geoffrey’s Schlafzimmer und trat ein. Die Bewegungen und die Worte, die Anne gehört, hatte er im Schlafe gemacht und gesprochen. Der von dem Arzt verschriebene beruhigende Trank, der anfänglich nicht hatte anschlagen wollen, hatte endlich in erwünschter Weise auf sein Gehirns gewirkt. Geoffrey lag im tiefen und ruhigen Schlaf. Hester blieb in der Nähe der Thür stehen und sah ihn an. Sie wollte eben wieder hinaus gehen, als sie plötzlich stehen blieb und ihre Augen fest auf eine Ecke des Zimmers heftete. Dieselbe unheimliche Veränderung, die schon früher einmal in Geoffrey’s Gegenwart, als sie ihn damals im Küchengarten in Windygates getroffen hatte, mit ihr vorgegangen war, kam jetzt wieder über sie. Ihre festgeschlossenen Lippen öffneten sich; ihre Augen erweiterten sich langsam, verfolgten Zoll für Zoll etwas, von der Ecke des Zimmers über die leere Wand hin in der Richtung des Bettes, blieben an einer Stelle am Kopfende gerade über dem Kopf des schlafenden Geoffrey haften und starrten, in unheimlichem Glanz, als ob sie von Schauer über einen furchtbaren Anblick ergriffen wurden. Geoffrey seufzte leise im Schlaf. Dieser leise Ton löste den Zauber, der sie gebannt hielt. Langsam erhob sie ihre welken Hände und rang sie über ihrem Kopf, eilte dann auf den Vorplatz hinaus, stürzte in ihr Zimmer, und sank an ihrem Bett auf die Kniee.

Und hier begab sich im Dunkel der Nacht etwas Merkwürdiges.

Hier in nächtlicher Stille enthüllte sich ein schreckliches Geheimniß.

Während alle übrigen Bewohner des Hauses um sie her schliefen, warf Hester im Heiligthum ihres Zimmers die geheimnißvolle und schreckliche Maske ab, unter der sie sich in den Tagesstunden absichtlich von ihren Mitmenschen abschloß. Hester Dethridge sprach. In leisen, schweren, erstickten Lauten betete sie. Sie flehte die Barmherzigkeit Gottes an, sie von sich selbst, von dem Teufel, von dem sie besessen sei, zu befreien; sie betete, daß Blindheit sie befallen, daß der Tod sie treffen möge, damit sie nur nicht mehr das namenlos Furchtbare zu schauen brauche! Das Weib, das zu anderen Zeiten durch Nichts aus ihrer steinernen Ruhe zu bringen war, lag wie aufgelöst, schluchzend da; über ihre eiskalten Wangen rannen Thränen während die verzweifelten Worte ihres Gebets langsam, eines nach dem andern über ihre Lippen kamen.

Zuckungen der Angst und des Schauders durchfuhren ihren Körper. Endlich erhob sie sich wieder in dem dunkeln Zimmer. Licht! Licht! Licht! Das namenlos Furchtbare hatte hinter ihr in seinem Zimmer gestanden; das namenlos Furchtbare starrte ihr aus seiner geöffneten Thür entgegen. Sie fand die Zündholzdose und zündete das auf dem Tische stehende Licht, sowie die beiden anderen nur zum Zierrath auf dem Kaminsims stehenden Lichter an und sah sich in dem hell erleuchteten kleinen Zimmer um: »O«, sagte sie erleichtert, indem sie sich den kalten Angstschweiß von der Stirn wischte: »Es ist fort, es ist fort.« Darauf ergriff sie eines der Lichter, ging mit gesenktem Kopf über den Vorplatz, schloß Geoffrey’s Thür, der sie den Rücken zukehrte, mit rückwärts gewandter Hand, rasch und leise, und zog sich darauf wieder in ihr Zimmer zurück.

Nachdem sie die Thür geschlossen hatte, nahm sie ein Dintenfaß und eine Feder vom»Kaminsims, hängte dann nach einer kurzen Ueberlegung ein Taschentuch über das Schlüsselloch und legte einen alten Shawl der Länge nach unten vor die Thür, um so das Licht in ihrem Zimmer vor den Augen eines Jeden zu verbergen, der etwa im Hause wachen und an ihrer Thür vorübergehen möchte. Als sie das gethan hatte, öffnete sie ihr Oberkleid, ließ die Finger in eine an der inneren Seite ihrer Schnürbrust verborgenen Tasche gleiten und zog aus derselben einige zierlich gefaltete dünne Blätter Papier. Dann breitete sie die Blätter vor sich auf den Tisch aus; sie waren bis auf das letzte sämmtlich von ihrer eigenen Hand dicht beschrieben. Das erste Blatt trug die Ueberschrift:

»Mein Bekenntniß, das, wenn ich sterbe, in meinen Sarg gelegt und mit mir begraben werden soll.«

Die letzte Seite war fast ganz leer, nur oben auf derselben standen einige von dem Tage ihrer Entlassung in Windygates datirte Zeilen, welche so lauteten:

»Heute habe ich Es wieder gesehen, zum ersten Mal seit zwei Monaten. Es war im Küchengarten, da stand es hinter dem jungen Mr. Delamayn. »Leiste dem Teufel Widerstand und er wird von Dir fleuchen.« Ich habe ihm durch Beten, durch Nachdenken in stiller Zurückgezogenheit und durch Lesen von guten Büchern Widerstand geleistet. Ich habe meine Stelle verlassen, und damit den jungen Herren für immer aus dem Gesicht verloren. Hinter wem wird das nächste Mal stehen? Gott, habe Erbarmen mit mir! Christus, habe Erbarmen mit mir!«

Unter diese Zeilen schrieb sie nun, nachdem sie zuvor das Datum genau angegeben hatte, das Folgende:

»Heute Nacht habe ich wieder gesehen. Ich muß eines schrecklichen Umstandes gedenken. Es ist mir nun zwei Mal hinter derselben Person erschienen; das war früher noch nie der Fall gewesen. Das macht die Versuchung fürchterlicher als je. In Mr. Delamayn’s Schlafzimmer, zwischen dem Kopfende des Bettes und der Wand, habe ich Es hinter ihm heute Nacht wieder gesehen, den Kopf grade über seinem Gesicht und mit dem Finger auf seine Kehle deutend. Zum ersten Mal zweimal hinter demselben Mann. Wenn ich Es zum dritten Mal hinter ihm sehe, dann Herr sei mir gnädig! Christus sei mir gnädig! Ich darf nicht daran denken, er soll mein Haus schon morgen verlassen. Ich hätte gern den Handel schon damals rückgängig gemacht, als der Fremde das Logis für einen Freund gemiethet hatte und es sich nachher herausstellte, daß dieser Freund Mr. Delamayn sei; mir war die Sache schon damals unangenehm. Nach der Erscheinung von heute Nacht bin ich aber entschlossen, er soll fort. er kann sein Geld wiederbekommen, wenn er will, aber er soll fort. Die Versuchung und die Angst waren diesmal so fürchterlich, wie ich es nie empfunden habe; auch dieses Mal habe ich durch Gebet Widerstand geleistet, und jetzt will ich hinuntergehen um in stiller Einsamkeit darüber nachzudenken und mich durch gute Bcher zu stärken. Herr, habe Erbarmen mit mir armen Sünderin!«

Mit diesen Worten schloß sie ihre heutige Auszeichnung und steckte das Manuscript wieder in die geheime Tasche ihrer Schnürbrust. Darauf ging sie in das nach dem Garten hinausliegende kleine Zimmer hinunter, welches einst das Arbeitszimmer ihres Bruders gewesen war. Hier zündete sie eine Lampe an und nahm einige Bücher von einem an der Wand hängenden Gestell herab: die Bibel, eine Sammlung von methodistischen Predigten und ein Packet, welches»Memoiren methodistischer Glaubenshelden enthielt. Nachdem sie diese letzteren sorgfältig um sich her aufgestellt hatte, setzte sie sich mit der Bibel auf dem Schooß nieder, um die Nacht über zu wachen.


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